Wortbildmarke BAdW

MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[157][B 3]Politik als Beruf

Der Vortrag, den ich auf Ihren Wunsch zu halten habe, wird Sie nach verschiedenen Richtungen notwendig enttäuschen. In einer Rede über Politik als Beruf werden Sie unwillkürlich eine Stellungnahme zu aktuellen Tagesfragen erwarten. Das wird aber nur in einer rein formalen Art am Schlusse geschehen anläßlich bestimmter Fragen der Bedeutung des politischen Tuns innerhalb der gesamten Lebensführung. Ganz ausgeschaltet werden müssen dagegen in dem heutigen Vortrag alle Fragen, die sich darauf beziehen: welche Politik man treiben, welche Inhalte, heißt das, man seinem politischen Tun geben soll. Denn das hat mit der allgemeinen Frage: was Politik als Beruf ist und bedeuten kann, nichts zu tun. – Damit zur Sache! –
Was verstehen wir unter Politik?„Politik“ Der Begriff ist außerordentlich weit und umfaßt jede Art selbständig leitender Tätigkeit. Man spricht von der Devisenpolitik der Banken, von der Diskontpolitik(Diskontpolitik Dividenden- u[nd] Abschreibungs-Politik u.s.w.) der Reichsbank, von der Politik einer Gewerkschaft in einem Streik, man kann sprechen von der Schulpolitik einer Stadt- oder Dorfgemeinde, von der Politik eines Vereinsvorstandes bei dessen Leitung, ja schließlich von der Politik einer klugen Frau, die ihren Mann zu lenken trachtet. Ein derartig weiter Begriff liegt unseren Betrachtungen vom heutigen Abend natürlich nicht zugrunde. Wir wollen heute darunter nur verstehen: die LeitungLeitung oder Beeinflussung der Leitung e[ines] politischen] Verbandes (Staates) oder die Beeinflussung der Leitung eines politischen Verbandes, heute also: eines Staates.
Was ist nun aber vom Standpunkt der soziologischen Betrachtung aus ein „politischer“ Verband? Was ist: ein „Staat“? Auch er läßt sich soziologischCharakteristisch f[ür] Staat nicht Ziel, nicht definieren aus dem Inhalt dessen, was er tut. [158]Es gibt fast keine Aufgabe, die nicht ein politischer Verband hier und da in die Hand genommen hätte, anderseits auch keine, von der man sagen könnte, daß sie jederzeit, vollends: daß sie immer ausschließlich denjenigen Verbänden, die man als politische, heute: als Staaten, bezeichnet, oder welche geschichtlich die Vorfahren des modernen Staates waren, eigen gewesen wäre. Man kann vielmehr den modernen [B 4]Staat soziologisch letztlich nur definieren aus einem spezifischen Mittelsondern Mittel
Gewaltsamkeit (physische!)
cf. Trotzkij
, das ihm, wie jedem politischen Verband, eignet: der physischen Gewaltsamkeit. „Jeder Staat wird auf Gewalt gegründet,“ sagte seinerzeit Trozkij in Brest-Litowsk.
1
[158] Dies bezieht sich vermutlich auf eine Äußerung, die Lev D. Trockij in seiner Eigenschaft als Leiter der russischen Delegation bei den Friedensverhandlungen von Brest-Litovsk machte, wie die Frankfurter Zeitung berichtete: „Wenn General Hoffmann darauf hingewiesen habe, daß die russische Regierung sich auf ihre Machtstellung gründe und mit Gewalt vorgehe gegen alle Andersdenkenden, die sie als Gegenrevolutionäre und Bourgeoisie stempele, so müsse allerdings bemerkt werden, daß auch die russische Regierung auf der Macht fuße. In der ganzen Geschichte kenne man bisher keine anderen Regierungen. Solange die Gesellschaft aus kämpfenden Klassen bestehe, solange werde sich die Macht einer Regierung auf Kraft begründen und durch Gewalt ihre Herrschaft behaupten.“ Frankfurter Zeitung, Nr. 17 vom 17. Jan. 1918, 2. Mo.Bl., S. 1.
Das ist in der Tat richtig. Wenn nur soziale Gebilde beständen, denen die Gewaltsamkeit als Mittel unbekannt wäre, dann würde der Begriff „Staat“ fortgefallen sein, dann wäre eingetreten, was man in diesem besonderen Sinne des Wortes als „Anarchie“ bezeichnen würde. Gewaltsamkeit ist natürlich nicht etwa das normale oder einzige(nicht einziges, aber: spezifisches[)] Mittel des Staates: – davon ist keine Rede – , wohl aber: das ihm spezifische. Gerade heute ist die Beziehung des Staates zur Gewaltsamkeit besonders intim. In der Vergangenheit haben die verschiedensten Verbände – von der Sippe angefangen – physische Gewaltsamkeit als ganz normales Mittel gekannt. Heute dagegen werden wir sagen müssen: Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes – dies: das „Ge[159]biet“, gehört zum Merkmal – das Monopol legitimer Gewaltsamkeit. (dies fehlte ihm früher) Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht. Denn das der Gegenwart Spezifische ist: daß man allen anderen Verbänden oder Einzelpersonen das Recht zur physischen Gewaltsamkeit nur so weit zuschreibt, als der Staat sie von ihrer Seite zuläßt: er gilt als alleinige Quelle des „Rechts“ auf Gewaltsamkeit. „Politik“„Politik treiben“ würde für uns also heißen: Streben nach Machtanteil oder nach Anteil haben oder erstreben an spezifischen Machtmitteln
Verwendung
Beeinflussung ihrer Verwendung.
Das ist „politisch“ an einer Frage, einem Betrieb, einem Gesetz, e[iner] Leitung, einer Bestrebung, einem Beamten
was die Art der Machtverteilung betrifft.
Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt.
a
[159] In B folgt hier sachlich falsch plaziert: Jeder Herrschaftsbetrieb, welcher kontinuierliche Verwaltung erheischt, braucht einerseits die Einstellung menschlichen Handelns auf den Gehorsam gegenüber jenen Herren, welche Träger der legitimen Gewalt zu sein beanspruchen, und andrerseits, vermittelst dieses Gehorsams, die Verfügung über diejenigen Sachgüter, welche gegebenenfalls zur Durchführung der physischen Gewaltanwendung erforderlich sind: den personalen Verwaltungsstab und die sachlichen Verwaltungsmittel. Die Umstellung nach unten, S. 162f., entspricht der Abfolge der entsprechenden Stichworte im Stichwortmanuskript (oben, S. 139); sie wird im Editorischen Bericht oben, S. 137, näher begründet.
Das entspricht im wesentlichen ja auch dem Sprachgebrauch. Wenn man von einer Frage sagt: sie sei eine „politische“ [B 5]Frage, von einem Minister oder Beamten: er sei ein „politischer“ Beamter, von einem Entschluß: er sei „politisch“ bedingt, so ist damit immer gemeint: Machtverteilungs-, Machterhaltungs- oder Machtverschiebungsinteressen sind maßgebend für die Antwort auf jene Frage oder bedingen diesen Entschluß oder bestimmen die Tätigkeitssphäre des betreffenden Beamten. – Wer Politik treibt, erstrebt Macht, – MachtZweck kann sein: ideales Ziel
Macht als solche materielles Ziel
entweder als Mittel im Dienst anderer Ziele – idealer oder egoistischer – oder Macht „um ihrer selbst willen“: um das Prestigegefühl, das sie gibt, zu genießen.
Der Staat ist, ebenso wie die ihm geschichtlich vorausgehenden politischen Verbände, ein auf das Mittel der legitimen (das heißt: als legitim angese[160]henen) Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen. Damit er bestehe, müssen sich also die beherrschten Menschen der beanspruchten Autorität der jeweils herrschenden fügen. Wann und warum tun sie das? Auf welche inneren Rechtfertigungsgründe und auf welche äußeren Mittel stützt sich diese Herrschaft?
Es gibt der inneren Rechtfertigungen, also: der Legitimitätsgründe einer Herrschaft – um mit ihnen zu beginnen – im Prinzip drei. Einmal die Autorität des „ewig Gestrigen“: der durch unvordenkliche Geltung und gewohnheitsmäßige Einstellung auf ihre Innehaltung geheiligten Sitte: „traditionale" Herrschaft, wie sie der Patriarch und der Patrimonialfürst alten Schlages übten. Dann: die Autorität der außeralltäglichen persönlichen Gnadengabe (Charisma), die ganz persönliche Hingabe und das persönliche Vertrauen zu Offenbarungen, Heldentum oder anderen Führereigenschaften eines einzelnen: „charismatische“ Herrschaft, wie sie der Prophet oder – auf dem Gebiet des Politischen – der gekorene Kriegsfürst oder der plebiszitäre Herrscher, der große Demagoge und politische Parteiführer ausüben. Endlich: Herrschaft kraft „Legalität“, kraft des Glaubens an die Geltung legaler Satzung und der durch rational geschaffene Regeln begründeten sachlichen „Kompetenz“, also: der Einstellung auf Gehorsam in der Erfüllung satzungsmäßiger Pflichten: eine [B 6]Herrschaft, wie sie der moderne „Staatsdiener“ und alle jene Träger von Macht ausüben, die ihm in dieser Hinsicht ähneln. – Es versteht sich, daß in der Realität höchst massive Motive der Furcht und der Hoffnung – Furcht vor der Rache magischer Mächte oder des Machthabers, Hoffnung auf jenseitigen oder diesseitigen Lohn – und daneben Interessen verschiedenster Art die Fügsamkeit bedingen. Davon sogleich. Aber wenn man nach den „Legitimitäts“gründen dieser Fügsamkeit fragt, dann allerdings [161]stößt man auf diese drei „reinen“ Typen. Und diese Legitimitätsvorstellungen und ihre innere Begründung sind für die Struktur der Herrschaft von sehr erheblicher Bedeutung. Die reinen Typen finden sich freilich in der Wirklichkeit selten. Aber es kann heute auf die höchst verwickelten Abwandlungen, Übergänge und Kombinationen dieser reinen Typen nicht eingegangen werden: das gehört zu dem Problem der „allgemeinen Staatslehre“.
2
[161] Nach Georg Jellinek gliedert sich die allgemeine Staatslehre in eine allgemeine Staatsrechtslehre, die der „Erkenntnis der rechtlichen Natur des Staates und der staatsrechtlichen Grundbegriffe“ dient, und in eine allgemeine Soziallehre des Staates, deren Aufgabe es ist, „den Staat als gesellschaftliches Gebilde in der Totalität seines Wesens“ zu betrachten. Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre, 3. durchges. und erg. Aufl., hg. von Walter Jellinek. – Berlin: O. Häring 1914, S. 9ff. In einer Gedenkrede auf Georg Jellinek sagte Max Weber, daß dessen „Prägung des Begriffs der ‚sozialen Staatslehre‘ für die Klärung der verschwimmenden Aufgaben der Soziologie“ ihm „wesentlichste Anregungen“ geliefert habe. Zitiert nach: Max Weber zum Gedächtnis, hg. von René König und Johannes Winckelmann, 2. Aufl. – Köln/Opladen: Westdeutscher Verlag 1985, S. 15.
Uns interessiert hier vor allem der zweite von jenen Typen: die Herrschaft kraft Hingabe der Gehorchenden an das rein persönliche „Charisma“ des „Führers“. Denn hier wurzelt der Gedanke des Berufs in seiner höchsten Ausprägung. Die Hingabe an das Charisma des Propheten oder des Führers im Kriege oder des ganz großen Demagogen in der Ekklesia
3
In den griechischen Stadtstaaten war die „Ekklesia“ die Versammlung aller freien Bürger, in der wichtige Entscheidungen für die Polis getroffen wurden.
oder im Parlament bedeutet ja, daß er persönlich als der innerlich „berufene“ Leiter der Menschen gilt, daß diese sich ihm nicht kraft Sitte oder Satzung fügen, sondern weil sie an ihn glauben. Er selbst zwar lebt seiner Sache, „trachtet nach seinem Werk“,
4
Dies bezieht sich auf eine Passage in Nietzsches „Also sprach Zarathustra“: „[…] da giengen seine Thiere nachdenklich um ihn herum und stellten sich endlich vor ihn hin. ,Oh Zarathustra, sagten sie, schaust du wohl aus nach deinem Glücke?‘ – ,Was liegt am Glücke! antwortete er, ich trachte lange nicht mehr nach Glücke, ich trachte nach meinem Werke.‘“ Nietzsche’s Werke, I. Abt., Band 6. – Leipzig: C. G. Naumann 1896, S. 343. Ähnlich auch formuliert, ebd., S. 476.
wenn er mehr ist als ein enger und eitler Emporkömmling des Augenblicks. Seiner Person und ihren Qualitäten aber gilt die Hingabe seines Anhanges: der [162]Jüngerschaft, der Gefolgschaft, der ganz persönlichen Parteigängerschaft. In den beiden in der Vergangenheit wichtigsten Figuren: des Magiers und Propheten einerseits, des gekorenen Kriegsfürsten, Bandenführers, Condottiere anderseits, ist das Führertum in allen Gebieten und historischen Epochen aufgetreten. Dem Okzident eigentümlich ist aber, was uns näher angeht: das politische Führertum in der Gestalt zuerst des freien „Demagogen“, der auf dem Boden des nur dem Abendland, vor allem der mittelländischen Kultur, eigenen [B 7]Stadtstaates, und dann des parlamentarischen „Parteiführers“, der auf dem Boden des ebenfalls nur im Abendland bodenständigen Verfassungsstaates gewachsen ist.
Diese Politiker kraft „Berufes“ in des Wortes eigentlichster Bedeutung sind nun aber natürlich nirgends die allein maßgebenden Figuren im Getriebe des politischen Machtkampfes. Höchst entscheidend ist vielmehr die Art der Hilfsmittel, die ihnen zur Verfügung stehen. Wie fangen die politisch herrschenden Gewalten es an, sich in ihrer Herrschaft zu behaupten? Die Frage gilt für jede Art von Herrschaft, also auch für die politische Herrschaft in allen ihren Formen: für die traditionale ebenso wie für die legale und die charismatische.
Jeder Herrschaftsbetrieb, welcher kontinuierliche Verwaltung erheischt, Art der Machtmittel: braucht einerseits die Einstellung menschlichen Handelns auf den Gehorsam gegenüber jenen Herren, welche Träger der legitimen Gewalt zu sein beanspruchen, und andrerseits, vermittelst dieses Gehorsams, die Verfügung über diejenigen Sachgüter, 1) Einstellung von Menschen zum Gehorsam (Apparat) welche gegebenenfalls zur Durchführung der physischen Gewalt[163]anwendung erforderlich sind: den personalen Verwaltungsstab und die sachlichen Verwaltungsmittel.
b
[162] Fehlt in B an dieser Stelle. Vgl. oben, S. 159, Anm. a, sowie die Begründung für die Umstellung im Editorischen Bericht, oben, S. 137.
Der Verwaltungsstab, der den politischen Herrschaftsbetrieb wie jeden anderen Betrieb in seiner äußeren Erscheinung darstellt, ist nun natürlich nicht nur durch jene Legitimitätsvorstellung, von der eben die Rede war, an den Gehorsam gegenüber dem Gewalthaber gekettet. Der Apparat durch Interessen u[nd] Ehre am Gehorsam interessiert: Sondern durch zwei Mittel, welche an das persönliche Interesse appellieren: materieller Entgelt und soziale
c
[163]B: sozialer
Ehre. Lehen der Vasallen, Pfründen der Patrimonialbeamten, Gehalt der modernen Staatsdiener, a) Lehen – Pfründen – Ämter
b) Standesehre
– Ritterehre, ständische Privilegien, Beamtenehre bilden den Lohn, und die Angst, sie zu verlieren, die letzte entscheidende Grundlage für die Solidarität des Verwaltungsstabes mit dem Gewalthaber. Auch für die charismatische Führerherrschaft gilt das: Kriegsehre und Beute für die kriegerische, die „spoils“:
5
[163] In der amerikanischen Verfassungstradition des frühen 19. Jahrhunderts waren die „spoils“ vor allem Staatsämter, die nach den Präsidentschaftswahlen von den Anhängern der verlierenden Partei geräumt und von dem siegreichen Kandidaten an seine Gefolgsleute übertragen wurden. Vgl. dazu unten, S. 213, Anm. 91.
Ausbeutung der Beherrschten durch Ämtermonopol, politisch bedingte Profite und Eitelkeitsprämien für die demagogische Gefolgschaft.
Zur Aufrechterhaltung jeder gewaltsamen Herrschaft 2. Sachliche Veraltungsmittel u[nd] Kriegsmittel bedarf es gewisser materieller äußerer Sachgüter, ganz wie bei einem wirtschaftlichen Betrieb. Alle Staatsordnungen lassen sich nun danach gliedern, 2 Systeme: ob sie auf dem Prinzip beruhen, daß jener Stab von Menschen: – Beamte oder wer sie sonst sein mögen –, auf deren Gehorsam der Gewalthaber muß rechnen können, im eigenen Besitze der Verwaltungsmittel, a) Selbstequipierung
der Verwalter besitzt die Pr[oduktions-]M[ittel]
mögen sie bestehen in Geld, Gebäuden, Kriegsmaterial, Wagenparks, [B 8]Pfer[164]den, oder was sonst immer, sich befinden, oder ob der Verwaltungsstab von den Verwaltungsmitteln„getrennt“ ist, b) Trennung v[on] Prod[uktions-]Mitteln im gleichen Sinn, wie heute der Angestellte und Proletarier innerhalb des kapitalistischen Betriebes „getrennt“ ist von den sachlichen Produktionsmitteln.
6
[164] Vermutlich Anspielung auf die Analyse von Karl Marx: „Der Process, der das Kapitalverhältniss schafft, kann also nichts andres sein als der Scheidungsprocess des Arbeiters vom Eigenthum an seinen Arbeitsbedingungen, ein Process, der einerseits die gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsmittel in Kapital verwandelt, andrerseits die unmittelbaren Producenten in Lohnarbeiter.“ Marx, Karl, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Band 1, 5. Aufl., hg. von Friedrich Engels. – Hamburg: Otto Meissner 1903, S. 680.
Ob also der Gewalthaber die Verwaltung in eigener von ihm organisierter Regie hat und durch persönliche Diener oder angestellte Beamte α) Diener – β) Beamte oder persönliche Günstlinge und Vertraute verwalten läßt, welche nicht Eigentümer: Besitzer zu eigenem Recht, der sachlichen Betriebsmittel sind, sondern vom Herm darin dirigiert werden, oder ob das Gegenteil der Fall ist. Der Unterschied geht durch alle Verwaltungsorganisationen 2 Arten fürstl[icher] Herrschaft: der Vergangenheit hindurch.
Einen politischen Verband, bei dem die sachlichen Verwaltungsmittel ganz oder teilweise in der Eigenmacht des abhängigen Verwaltungsstabes sich befinden, wollen wir einen „ständisch“ gegliederten Verband nennen. a) ständisch – vornehm besitzende Schicht (Sippen, Adel) Der Vasall z. B. im Lehnsverband bestritt die Verwaltung und Rechtspflege des ihm verlehnten Bezirks aus eigener Tasche, equipierte und verproviantierte sich selbst für den Krieg; seine Untervasallen taten das gleiche. Das hatte natürlich Konsequenzen für die Machtstellung des Herrn, die nur auf dem persönlichen Treubund und darauf ruhte, daß der Lehnsbesitz und die soziale Ehre des Vasallen ihre „Legitimität“ vom Herrn ableiteten.
Überall aber, bis in die frühesten politischen Bildungen zurück, finden wir auch die eigene Regie des Herrn: durch persönlich von ihm Abhängige: b) patrimonial-bürokratisch
Sklaven, Hörige
Plebejer als Beamte
[165]Sklaven, Hausbeamte, Dienstleute, persönliche „Günstlinge“ und aus seinen Vorratskammern mit Natural- und Gelddeputaten entlohnte
d
[165]B: entlehnte
Pfründner[,] sucht er die Verwaltung in eigene Hand zu bekommen, die Mittel aus eigener Tasche, aus Erträgnissen seines Patrimoniums zu bestreiten, ein rein persönlich von ihm abhängiges, weil aus seinen Speichern, Magazinen, Rüstkammern equipiertes und verproviantiertes Heer zu schaffen. Während im „ständischen“ Verband der Herr mit Hilfe einer eigenständigen „Aristokratie“ herrscht, also mit ihr die Herrschaft teilt, stützt er sich hier entweder auf Haushörige oder auf Plebejer: besitzlose, der eigenen sozialen Ehre entbehrende Schichten, die materiell [B 9]gänzlich an ihn gekettet sind und keinerlei konkurrierende eigene Macht unter den Füßen haben. Alle Formen patriarchaler und patrimonialer Herrschaft, sultanistischer Despotie und bureaukratischer Staatsordnung gehören zu diesem Typus. Insbesondere: die bureaukratische Staatsordnung, also die, in ihrer rationalsten Ausbildung, auch und gerade dem modernen Staat charakteristische.
Überall kommt die Entwicklung des modernen Staates dadurch in Fluß, daß von Seiten des Fürsten Streben des Fürsten nach Enteignung der Stände.
Eigenbesitz der sachl[ichen] Verwaltungsmittel
Prozeß der Entstehung des modernen Staates.
die Enteignung der neben ihm stehenden selbständigen „privaten“ Träger von Verwaltungsmacht: jener Eigenbesitzer von Verwaltungs- und Kriegsbetriebsmitteln, Finanzbetriebsmitteln und politisch verwendbaren Gütern aller Art, in die Wege geleitet wird. Der ganze Prozeß ist eine vollständige Parallele zu der Entwicklung des kapitalistischen Betriebs durch allmähliche Enteignung der selbständigen Produzenten. Am Ende sehen wir, daß in dem modernen Staat tatsächlich in einer einzigen Spitze die Verfügung über die gesamten politischen [166]Betriebsmittel zusammenläuft, kein einziger Beamter mehr persönlicher Eigentümer des Geldes ist, das er verausgabt, oder der Gebäude, Vorräte, Werkzeuge, Kriegsmaschinen, über die er verfügt. Vollständig durchgeführt ist also im heutigen „Staat“ – das ist ihm begriffswesentlich – die „Trennung“ des Verwaltungsstabes: der Verwaltungsbeamten und Verwaltungsarbeiter, von den sachlichen Betriebsmitteln. Hier setzt nun die allermodernste Entwicklung ein und versucht vor unseren Augen die Expropriation dieses Expropriateurs
7
[166] Max Weber nimmt hier eine Wendung von Karl Marx auf. Dieser hatte prognostiziert, daß einmal die „Stunde des kapitalistischen Privateigenthums“ schlagen werde: „Die Expropriateurs werden expropriirt.“ Marx, Kapital, Band 1, S. 728.
der politischen Mittel und damit der politischen Macht in die Wege zu leiten. Das hat die Revolution wenigstens insofern geleistet, als an die Stelle der gesatzten Obrigkeiten Führer getreten sind, welche durch Usurpation oder Wahl sich in die Verfügungsgewalt über den politischen Menschenstab und Sachgüterapparat gesetzt haben und ihre Legitimität – einerlei mit wieviel Recht – vom Willen der Beherrschten ableiten. Eine andere Frage ist, ob sie auf Grund dieses – wenigstens scheinbaren – Erfolges mit Recht die Hoffnung hegen kann: auch die Expropriation innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsbetriebe durch[B 10]zuführen, deren Leitung sich trotz weitgehender Analogien im Innersten nach ganz anderen Gesetzen richtet als die politische Verwaltung. Dazu nehmen wir heute nicht Stellung. Ich stelle für unsere Betrachtung nur das rein Begriffliche fest: daß der moderne Staat ein anstaltsmäßiger Herrschaftsverband ist, der innerhalb eines Gebietes die legitime physische Gewaltsamkeit als Mittel der Herrschaft zu monopolisieren mit Erfolg getrachtet hat und zu diesem Zweck die sachlichen Betriebsmittel in der Hand seiner [167]Leiter vereinigt, die sämtlichen eigenberechtigten ständischen Funktionäre aber, die früher zu Eigenrecht darüber verfügten, enteignet und sich selbst in seiner höchsten Spitze an deren Stelle gesetzt hat.
Im Verlaufe dieses politischen Enteignungsprozesses nun, der in allen Ländern der Erde mit wechselndem Erfolge spielte, sind, und zwar zuerst im Dienste des Fürsten, die ersten Kategorien von „Berufspolitikern“ in einem zweiten Sinn auf getreten, von Leuten, die nicht selbst Herren sein wollten, wie die charismatischen Führer, sondern in den Dienst von politischen Herren traten. Sie stellten sich in diesem Kampfe dem
e
[167]B: den
Fürsten zur Verfügung und machten aus der Besorgung von dessen Politik einen materiellen Lebenserwerb einerseits, einen ideellen Lebensinhalt anderseits. Wieder nur im Okzident finden wir diese Art von Berufspolitikern auch im Dienst anderer Mächte als nur der Fürsten. In der Vergangenheit waren sie deren wichtigstes Macht- und politisches Expropriationsinstrument.
Machen wir uns, ehe wir näher auf sie eingehen, den Sachverhalt, den die Existenz solcher „Berufspolitiker“ darstellt, nach allen Seiten unzweideutig klar. Man kann „Politik“ treiben – also: die Machtverteilung zwischen und innerhalb politischer Gebilde zu beeinflussen trachten – sowohl als „Gelegenheits“politiker Gelegenheits-Pol[itiker] wie als nebenberuflicher oder hauptberuflicher Politiker, genau wie beim ökonomischen Erwerb. „Gelegenheits“politiker sind wir alle, wenn wir unseren Wahlzettel abgeben oder (Abstimmung gelegentl[iche] Dienste) eine ähnliche Willensäußerung: etwa Beifall oder Protest in einer „politischen“ Versammlung, vollziehen, eine „politische“ Rede halten usw., – und bei vielen Menschen beschränkt sich [B 11]ihre ganze Beziehung zur Politik darauf. „Nebenberufliche“ Politiker sind heute z. B. alle jene Vertrauensmän[168]ner
8
[168] Die „Vertrauensmänner“ bildeten insbesondere auf dem Lande oder in Gebieten, wo ein Wahlkreis eine große Zahl von Gemeinden umfaßte, das Bindeglied zwischen einer Partei und ihren Wählern. Die Aufgabe der Vertrauensmänner lag vor allem in der Werbung für die Partei sowie in der organisatorischen Vorbereitung der Wahlen, wie etwa der Ausgabe von Wahlzetteln.
und Vorstände von parteipolitischen Vereinen, welche diese Tätigkeit – wie es durchaus die Regel ist – nur im Bedarfsfalle ausüben und weder materiell noch ideell in erster Linie daraus „ihr Leben machen“. Ebenso jene Mitglieder von Staatsräten und ähnlichen Beratungskörperschaften, die nur auf Anfordern in Funktion treten. Ebenso aber auch ziemlich breite Schichten unserer Parlamentarier, die nur in Zeiten der Session Politik treiben. In der Vergangenheit finden wir solche Schichten namentlich unter den Ständen. „Stände“ sollen uns heißen die eigenberechtigten Besitzer militärischer oder für die Verwaltung wichtiger sachlicher Betriebsmittel oder persönlicher Herrengewalten. Ein großer Teil von ihnen war weit davon entfernt, sein Leben ganz oder auch nur vorzugsweise oder mehr als gelegentlich in den Dienst der Politik zu stellen. Sie nützten vielmehr ihre Herrenmacht im Interesse der Erzielung von Renten oder auch geradezu von Profit und wurden politisch, im Dienst des politischen Verbandes, nur tätig, wenn der Herr oder wenn ihre Standesgenossen dies besonders verlangten. Nicht anders auch ein Teil jener Hilfskräfte, die der Fürst im Kampf um die Schaffung eines politischen Eigenbetriebes, der nur ihm zur Verfügung stehen sollte, heranzog. Die „Räte von Haus aus“
9
Vom späteren Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert in einigen deutschen Territorien Bezeichnung für die Mitglieder des fürstlichen Rates, die nicht ständig am Hof des Landesherrn lebten, sondern ihre Dienste von ihrem Haus aus leisteten und am Rat nur teilnahmen, wenn der Fürst in ihrer Gegend weilte.
und, noch weiter zurück, ein erheblicher Teil der in der „Curia“
10
Die „curia regis“ war eine am jeweiligen Aufenthaltsort des Königs tagende Versammlung, an der sowohl die Großen des Reiches als auch persönliche Berater des Königs und seine obersten Beamten teilnahmen. Insbesondere im hochmittelalterlichen Frankreich [169]und England suchten die Könige den Einfluß der Kronvasallen zurückzudrängen, und sie gingen allmählich dazu über, bestimmte Fragen in einem „engeren Rat“ innerhalb der curia regis zu behandeln, dem nur ihre eigenen Beamten und besonderen Vertrauensleute angehörten. Damit bahnte sich eine Spezialisierung der Geschäfte und deren Behandlung durch Sachverständige an.
und den anderen beratenden [169]Körperschaften der Fürsten zusammentretenden Ratgeber hatten diesen Charakter. Aber mit diesen nur gelegentlichen oder nebenberuflichen Hilfskräften kam der Fürst natürlich nicht aus. Er mußte sich einen Stab von ganz und ausschließlich seinem Dienst gewidmeten, also hauptberuflichen, Gewohnheits-Pol[itiker] Hilfskräften zu schaffen suchen. Davon, woher er diese nahm, hing zum sehr wesentlichen Teil die Struktur des entstehenden dynastischen politischen Gebildes und nicht nur sie, sondern das ganze Gepräge der betreffenden Kultur ab. Erst recht in die gleiche Notwendigkeit versetzt waren diejenigen politischen Verbände, welche unter völliger Beseitigung oder weitgehender Beschränkung der Fürstenmacht sich als (sogenannte) „freie“ [B 12]Gemeinwesen politisch konstituierten, – „frei“ nicht im Sinne der Freiheit von gewaltsamer Herrschaft, sondern im Sinne von: Fehlen der kraft Tradition legitimen (meist religiös geweihten) Fürstengewalt als ausschließlicher Quelle aller Autorität. Sie haben geschichtlich ihre Heimstätte durchaus im Okzident, und ihr Keim war: die Stadt als politischer Verband, als welche sie zuerst im mittelländischen Kulturkreis aufgetreten ist. Wie sahen in allen diesen Fällen die „hauptberuflichen“ Politiker aus?
Es gibt zwei Arten, aus der Politik seinen Beruf2 Arten von Gewohnheits- u[nd] Dauer-„Politikern“.
a) für die Pol[itik] leben
b) von der Pol[itik] leben
zu machen. Entweder: man lebt „für“ die Politik – oder aber: „von“ der Politik. Der Gegensatz ist keineswegs ein exklusiver. In aller Regel vielmehr tut man, mindestens ideell, meist aber auch materiell, beides: wer „für“ die Politik lebt, macht im innerlichen Sinne „sein Leben daraus“: Moderner Berufspolitiker ist Parteimann,
der für und – eventuell – von der Politik lebt.
ideell: macht sein Leben daraus
materiell: macht seine Existenz daraus
DieseBerufspol[itiker]“ (Beruf ideell
materiell)
er genießt entweder den nackten Besitz der Macht, die er [170]ausübt, oder er speist sein inneres Gleichgewicht und Selbstgefühl aus dem Bewußtsein, durch Dienst an einer „Sache“ seinem Leben einen Sinn zu verleihen. In diesem innerlichen Sinn lebt wohl jeder ernste Mensch, der für eine Sache lebt, auch von dieser Sache. Die Unterscheidung bezieht sich also auf eine viel massivere Seite des Sachverhaltes: auf die ökonomische. „Von“ der Politik als Beruf lebt, wer danach strebt, daraus eine dauernde Einnahmequelle zu machen, – „für“ die Politik der, bei dem dies nicht der Fall ist. Damit jemand in diesem ökonomischen Sinn „für“ die Politik leben könne, müssen unter der Herrschaft der Privateigentumsordnung einige, wenn Sie wollen, sehr triviale Voraussetzungen vorliegen: er muß – unter normalen Verhältnissen – ökonomisch von den Einnahmen, welche die Politik ihm bringen kann, unabhängig sein. Das heißt ganz einfach: er muß vermögend oder in einer privaten Lebensstellung sein, im Nebenberuf:
Honoratioren
ihm auskömmliche Einkünfte abwirft. So steht es wenigstens unter normalen Verhältnissen. Zwar die Gefolgschaft des Kriegsfürsten fragt ebensowenig nach den Bedingungen normaler Wirtschaft wie die Gefolgschaft des revolutionären Helden der Straße. Beide leben von Beute, Raub, Konfiskationen, Kontributionen, Aufdrängung von wert[B 13]losen Zwangszahlungsmitteln: – was dem Wesen nach alles das Gleiche ist. Aber das sind notwendig außeralltägliche Erscheinungen: in der Alltagswirtschaft leistet nur eigenes Vermögen diesen Dienst. Aber damit allein nicht genug: er muß überdies wirtschaftlich „abkömmlich“ sein, Abkömmlichkeit
Erfordernis
d. h. seine Einkünfte dürfen nicht davon abhängen, daß er ständig persönlich seine Arbeitskraft und sein Denken voll oder doch weit überwiegend in den Dienst ihres Erwerbes stellt. Abkömmlich in diesem Sinne ist nun am unbedingtesten: der Rentner, derjenige also, der vollkommen arbeitsloses Einkommen, sei es, wie die Grundherren der Vergangenheit, Grundherr – Rentner die [171]Großgrundbesitzer und die Standesherren der Gegenwart, aus Grundrenten – in der Antike und im Mittelalter auch Sklaven- oder Hörigenrenten – oder aus Wertpapier- oder ähnlichen modernen Rentenquellen bezieht. Weder der Arbeiter nicht: Unternehmer – Arbeiter noch – was sehr zu beachten ist – der Unternehmer –, auch und gerade der moderne Großunternehmer – ist in diesem Sinn abkömmlich. Denn auch und gerade der Unternehmer – der gewerbliche sehr viel mehr als, bei dem Saisoncharakter der Landwirtschaft, der landwirtschaftliche Unternehmer – ist an seinen Betrieb gebunden und nicht abkömmlich. Es ist für ihn meist sehr schwer, sich auch nur zeitweilig vertreten zu lassen. Ebensowenig ist dies z. B. der Arzt, Redakteur – Beamter (Gewerkschaft) – Advokat – nicht: Arzt.
Welcher Typus?
je hervorragender und beschäftigter er ist, desto weniger. Leichter schon, aus rein betriebstechnischen Gründen, der Advokat – der deshalb auch als Berufspolitiker eine ungleich größere, oft eine geradezu beherrschende Rolle gespielt hat. – Wir wollen diese Kasuistik nicht weiter verfolgen, sondern wir machen uns einige Konsequenzen klar.
Die Leitung eines Staates oder einer Partei durch Leute, welche (im ökonomischen Sinn des Wortes) ausschließlich für die Politik und nicht von der Politik leben, Aristokratie lebt für die Politik bedeutet notwendig eine „plutokratische“ Rekrutierung der politisch führenden Schichten. Damit ist freilich nicht auch das Umgekehrte gesagt: daß eine solche plutokratische Leitung auch zugleich bedeutete, daß die politisch herrschende Schicht nicht auch „von“ der Politik zu leben trachtete, also ihre politische Herrschaft [B 14]nicht auch für ihre privaten ökonomischen Interessen auszunutzen pflegte. Davon ist natürlich gar keine Rede. Es hat keine Schicht gegeben, die das nicht irgendwie getan hätte. Nur dies bedeutet es: daß die Berufspolitiker nicht unmittelbar für ihre politische Leistung Entgelt zu suchen genötigt sind, wie das jeder Mittellose schlechthin in Anspruch nehmen muß. Und andrerseits bedeutet es nicht etwa, daß vermö[172]genslose Politiker lediglich oder auch nur vornehmlich ihre privatwirtschaftliche Versorgung durch die Politik im Auge hätten, nicht oder doch nicht vornehmlich „an die Sache“ dächten. Nichts wäre unrichtiger. Dem vermögenden Mann ist die Sorge um die ökonomische „Sekurität“ seiner Existenz erfahrungsgemäß – bewußt oder unbewußt – ein Kardinalpunkt seiner ganzen Lebensorientierung. Der ganz rücksichts- und voraussetzungslose politische Idealismus findet sich, wenn nicht ausschließlich, so doch wenigstens gerade, bei den infolge ihrer Vermögenslosigkeit ganz außerhalb der an der Erhaltung der ökonomischen Ordnung einer bestimmten Gesellschaft Interessierten
f
[172] Fehlt in B. Interessierten sinngemäß ergänzt.
stehenden Schichten: Demokratisierung notwendige Folge: leben von der Politik. das gilt zumal in außeralltäglichen, also revolutionären, Epochen. Sondern nur dies bedeutet es: daß eine nicht plutokratische Rekrutierung der politischen Interessenten, der Führerschaft und ihrer Gefolgschaft, an die selbstverständliche Voraussetzung gebunden ist, daß diesen Interessenten aus dem Betrieb der Politik regelmäßige und verläßliche Einnahmen zufließen. Die Politik kann entweder „ehrenamtlich“ und dann von, wie man zu sagen pflegt, „unabhängigen“, d. h. vermögenden Leuten, Rentnern vor allem, geführt werden. Oder aber ihre Führung wird Vermögenslosen zugänglich gemacht, und dann muß sie entgolten werden. Der von der Politik lebende Berufspolitiker kann sein: reiner „Pfründner“ oder besoldeter „Beamter“. Entweder bezieht er dann Einnahmen aus Gebühren und Sporteln
11
[172] Sporteln hießen seit dem Mittelalter die Gebühren, die für Amtshandlungen zu entrichten waren.
für bestimmte Leistungen – Trinkgelder und Bestechungssummen sind nur eine regellose und formell illegale Abart dieser Kategorie von Einkünften –, oder er bezieht ein [173]festes Naturaliendeputat oder Geldgehalt, oder beides nebeneinander. Er kann den Charakter eines „Unternehmers“ annehmen, wie der Kondottiere oder der Amts[B 15]pächter oder Amtskäufer der Vergangenheit
12
[173] Im 17. und 18. Jahrhundert war das System des „Ämterhandels“ als Verkauf von Ämtern unter Privatleuten sowie das der „Ämterkäuflichkeit“ als staatlich organisierter und institutionalisierter Handel mit Ämtern in weiten Teilen Europas verbreitet.
oder wie der amerikanische Boss,
13
Zur Figur und Funktion des „boss“ vgl. Webers eigene Ausführungen, unten, S. 215ff.
der seine Unkosten wie eine Kapitalanlage ansieht, die er durch Ausnutzung seines Einflusses Ertrag bringen läßt. Oder er kann einen festen Lohn beziehen, wie ein Redakteur oder Parteisekretär oder ein moderner Minister oder politischer Beamter. In der Vergangenheit waren Lehen, Bodenschenkungen, Pfründen aller Art, mit Entwicklung der Geldwirtschaft aber besonders Sportelpfründen der typische Entgelt von Fürsten, siegreichen Eroberern oder erfolgreichen Parteihäuptern für ihre Gefolgschaft; heute sind es Ämter aller Art in Parteien, Zeitungen, Genossenschaften, Krankenkassen, Gemeinden und Staaten, welche von den Parteiführern für treue Dienste vergeben werden. Alle Parteikämpfe sind nicht nur Kämpfe um sachliche Ziele, sondern vor allem auch: um Ämterpatronage. Alle Kämpfe zwischen partikularistischen und zentralistischen Bestrebungen in Deutschland drehen sich vor allem auch darum, welche Gewalten, ob die Berliner oder die Münchener, Karlsruher, Dresdener, die Ämterpatronage in der Hand haben. Zurücksetzungen in der Anteilnahme an den Ämtern werden von Parteien schwerer empfunden als Zuwiderhandlungen gegen ihre sachlichen Ziele. Ein parteipolitischer Präfektenschub
14
Im Zuge der Verwaltungsreformen der Französischen Revolution war Frankreich in eine Vielzahl von Départements unterteilt worden. An die Spitze der Départements traten die Präfekten, die von der Zentralregierung vor allem nach ihrer politischen Zuverlässigkeit ausgewählt wurden. Sie sollten nicht nur für die Einhaltung der Gesetze sorgen, sondern [174]auch die lokalen Verhältnisse im Sinne der offiziellen Regierungspolitik kontrollieren und beeinflussen. Deshalb waren die Präfekten von einer Veränderung der Machtverhältnisse in der Zentrale in besonderem Maße betroffen; so wurden beispielsweise im September 1870 alle Präfekten, die unter Napoléon III. im Zweiten Kaiserreich berufen worden waren, abgelöst. Max Weber spielt hier vermutlich auf die „Präfektenschübe“ in der Dritten Republik an; nach den Wahlen von 1898 wurde beispielsweise mehr als ein Drittel aller Präfekten ausgewechselt. Vor allem in der regionalen Presse wurden die Möglichkeit eines Präfektenschubs und dessen Folgen für das jeweilige Département ausführlich kommentiert.
in Frankreich galt immer als eine größere [174]Umwälzung und erregte mehr Lärm als eine Modifikation des Regierungsprogramms, welches fast rein phraseologische Bedeutung hatte. Manche Parteien, so namentlich die in Amerika, sind seit dem Schwinden der alten Gegensätze über die Auslegung der Verfassung reine Stellenjägerparteien, welche ihr sachliches Programm je nach den Chancen des Stimmenfangs abändern. In Spanien wechselten bis in die letzten Jahre in Gestalt der von obenher fabrizierten „Wahlen“ die beiden großen Parteien in konventionell feststehendem Turnus ab,
15
Max Weber spielt hier auf das nach der Restauration der Bourbonenherrschaft in Spanien zwischen dem Führer der Liberal-Konservativen Antonio Cánovas de Castillo (1828–1897) und dem der Liberalen Don Práxedes Mateo Sagasta (1827–1903) ausgehandelte System des „turno pacífico“ an, wonach sich liberal-konservative und liberale Kabinette in steter Folge abwechselten. Ermöglicht wurde dieses System dadurch, daß die Krone in aller Regel Minderheitenkabinette ernannte, die sich anschließend über Neuwahlen eine Parlamentsmehrheit beschafften. Diese wurde dann sowohl durch Fälschung von Wählerstimmen als auch durch die Steuerung des Wählerverhaltens mit Hilfe örtlicher Parteiführer, den „caciques“, erreicht, in deren Händen die Amtspatronage auf lokaler Ebene lag.
um ihre Gefolgschaft in Ämtern zu versorgen. In den spanischen Kolonialgebieten handelt es sich sowohl bei den sogenannten „Wahlen“ wie den sogenannten „Revolutionen“ stets um die Staatskrippe, an der die Sieger gefüttert zu werden wünschen.
16
Gemeint sind offenbar nicht die 1919 noch in spanischem Besitz befindlichen Reste des ehemaligen spanischen Kolonialreichs, sondern die Nachfolgestaaten in Mittel- und Südamerika und in der Karibik, insbesondere Kolumbien, Venezuela und Kuba. Hier kam es im 19. und frühen 20. Jahrhundert zu einer nicht abreißenden Folge von Revolutionen, die, auch wenn sie demokratische Verhältnisse wiederherzustellen vorgaben, faktisch nur auf die Auswechselung schmaler Führungscliquen durch andere hinausliefen, die sämtlich den Staat in erster Linie als Mittel zur persönlichen Bereicherung betrachteten.
In der Schweiz repartieren die Parteien im [175]Wege des Proporzes die Ämter friedlich unter[B 16]einander,
17
[175] Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ging in einigen Kantonen der Schweiz die jeweilige Mehrheitspartei zum Prinzip des „freiwilligen Proporzes“ über, indem sie den Oppositionsparteien Sitze in der Exekutive überließ und diese damit an der Regierung beteiligte.
und manche unserer „revolutionären“ Verfassungsentwürfe, so z. B. der erste für Baden aufgestellte, wollte dies System auf die Ministerstellen ausdehnen
18
Gemeint ist der von dem sozialdemokratischen Karlsruher Stadtrat Eduard Dietz (1866–1940) Ende 1918 vorgelegte Verfassungsentwurf, in dem die Zusammensetzung des Staatsministeriums dergestalt geregelt war, „daß alle Parteien oder Gruppen von Abgeordneten, welche allein oder zusammen mindestens der Landtagssitze umfassen, für jedes volle je ein Mitglied des Staatsministeriums benennen.“ Entwurf einer neuen badischen Verfassung. Von Stadtrat Dr. Dietz in Karlsruhe. Sonderabdruck aus dem Karlsruher „Volksfreund“. – Karlsruhe: Geck 1919, § 60, S. 78.
und behandelte so den Staat und seine Ämter als reine Pfründnerversorgungsanstalt. Vor allem die Zentrumspartei begeisterte sich dafür und machte in Baden die proportionale Verteilung der Ämter nach Konfessionen, also ohne Rücksicht auf die Leistung, sogar zu einem Programmpunkt.
19
Ob die badische Zentrumspartei als Reaktion auf den Verfassungsentwurf von Eduard Dietz (siehe Anm. 18) die Forderung einer Besetzung der Staatsämter nach konfessionellem Proporz aufgestellt hat, ist nicht bekannt. Allerdings war die Forderung nach „gleichmäßiger Berücksichtigung der Angehörigen und Anstalten der verschiedenen Glaubensbekenntnisse auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens“ bereits in den Mitte Dezember 1918 von Vertretern des rheinisch-westfälischen und des Berliner Zentrums aufgestellten „Leitsätzen für die Politik des neuen Zentrums“ enthalten. Vgl. dazu Morsey, Rudolf, Die deutsche Zentrumspartei 1917–1923. – Düsseldorf: Droste 1966, S. 128ff.
Mit steigender Zahl der Ämter infolge der allgemeinen Bureaukratisierung und steigendem Begehr nach ihnen als einer Form spezifisch gesicherter Versorgung steigt für alle Parteien diese Tendenz und werden sie für ihre Gefolgschaft immer mehr Mittel zum Zweck, derart versorgt zu werden.
Dem steht nun aber gegenüber die Entwicklung des modernen Beamtentums zu einer spezialistisch durch langjährige Vorbildung fachgeschulten hochqualifizierten geistigen Arbeiterschaft mit einer im Interesse der Integrität hochentwickelten ständischen Ehre, ohne welche die Gefahr furchtbarer [176]Korruption und gemeinen Banausentums als Schicksal über uns schweben und auch die rein technische Leistung des Staatsapparates bedrohen würde, dessen Bedeutung für die Wirtschaft, zumal mit zunehmender Sozialisierung, stetig gestiegen ist und weiter steigen wird. Die Dilettantenverwaltung durch Beutepolitiker, welche in den Vereinigten Staaten Hunderttausende von Beamten, bis zum Postboten hinunter, je nach dem Ausfall der Präsidentenwahl, wechseln ließ und den lebenslänglichen Berufsbeamten nicht kannte, ist längst durch die Civil Service Reform durchlöchert.
20
[176] Mit der „Civil Service Reform“ (sog. Pendleton Act) von 1883 begann der Übergang vom herkömmlichen „spoils system“ (vgl. oben, S. 163, Anm. 5) zum „merit system“, womit die Grundlage für die Entstehung eines Berufsbeamtentums in den Vereinigten Staaten geschaffen wurde. Zahlreiche Stellen im öffentlichen Dienst wurden nurmehr aufgrund von Eignungsprüfungen besetzt, und die erfolgreichen Bewerber besaßen dann den hervorgehobenen Status eines civil servant. Anfänglich erstreckte sich das „merit“-System aber nur auf rund ein Zehntel aller im Bundesdienst Beschäftigten.
Notwendigkeit geschulten Fachbeamtentums zufolge Art der Verwaltungsaufgaben Rein technische, unabweisliche, Bedürfnisse der Verwaltung bedingen diese Entwicklung. In Europa ist das arbeitsteilige Fachbeamtentum in einer Entwicklung von einem halben Jahrtausend allmählich entstanden. Die italienischen Städte und Signorien machten den Anfang; von den Monarchien die normannischen Erobererstaaten. Bei den Finanzen der Fürsten geschah der entscheidende Schritt. Bei den Verwaltungsreformen des Kaisers Max kann man sehen, wie schwer selbst unter dem Druck der äußersten Not und Türkenherrschaft
21
Gemeint ist die kriegerische Expansion des Osmanischen Reiches, die gegen Ende des 15. Jahrhunderts über den Balkan hinaus auf Teile Ungarns und zeitweise auch auf die österreichischen Erblande Übergriff und die als gesamteuropäische Gefahr empfunden wurde.
es den Beamten gelang, auf diesem Gebiet, welches ja den [B 17]Dilettantismus eines Herrschers, der damals noch vor allem: ein Ritter war, am wenigsten vertrug, den Fürsten zu depossedieren.
22
Max Weber spielt hier auf die von Kaiser Maximilian in den habsburgischen Erblanden geschaffenen kollegialen Finanzbehörden an, deren Effizienz der Kaiser selbst jedoch durch ständige eigenmächtige Eingriffe schwächte.
Die Entwicklung [177]der Kriegstechnik bedingte den Fachoffizier, die Verfeinerung des Rechtsganges den geschulten Juristen. Auf diesen drei Gebieten siegte das Fachbeamtentum in den entwickelteren Staaten endgültig im 16. Jahrhundert. Damit war gleichzeitig mit dem Aufstieg des Absolutismus der Fürsten gegenüber den Ständen die allmähliche Abdankung seiner Selbstherrschaft an die Fachbeamten, durch die ihm jener Sieg über die Stände erst ermöglicht wurde, eingeleitet.
Gleichzeitig mit dem Aufstieg des fachgeschulten Beamtentums vollzog sich auch – wennschon in weit unmerklicheren Übergängen – die Entwicklung der „leitenden Politiker. Von jeher und in aller Welt hatte es, selbstverständlich, solche tatsächlich maßgeblichen Berater der Fürsten gegeben. Im Orient hat das Bedürfnis, den Sultan von der persönlichen Verantwortung für den Erfolg der Regierung möglichst zu entlasten, die typische Figur des „Großwesirs“
23
[177] Das Amt des Wesirs wurde in den islamischen Ländern in der Mitte des 8. Jahrhunderts n. Chr. von den Kalifen eingeführt. Die Wesire standen an der Spitze der Verwaltung und sollten in der Öffentlichkeit als Stellvertreter des Kalifen auftreten. Im Osmanischen Reich entstand im 14. Jahrhundert das Amt des Großwesirs, der die anderen Wesire auf den Rang von reinen Hofbeamten, die er selbst ernannte, hinabdrückte. Allein der Großwesir durfte das Siegel des Sultans führen, und er übte als dessen offizieller Vertreter in allen Zweigen der Verwaltung zeitweise die eigentliche Herrschaft aus.
geschaffen. Im Abendland wurde die Diplomatie, vor allem unter dem Einfluß der in diplomatischen Fachkreisen mit leidenschaftlichem Eifer gelesenen venezianischen Gesandtschaftsberichte,
24
Gemeint sind die umfangreichen Depeschen und Berichte, die die venezianischen Diplomaten bei ihrer Heimkehr der Signorie vortrugen. Diese Gesandtschaftsberichte wurden zunächst archiviert und später vielfach in allgemeinen Quellensammlungen veröffentlicht. Sie dienten vor allem dazu, die venezianische Oberschicht politisch zu erziehen. Vgl. dazu u. a. Andreas, Willy, Staatskunst und Diplomatie der Venezianer im Spiegel ihrer Gesandtenberichte. – Leipzig: Köhler & Amelang 1943.
im Zeitalter Karls V. – der Zeit Macchiavellis – zuerst eine bewußt gepflegte Kunst, deren meist humanistisch gebildete Adepten sich untereinander als eine geschulte Schicht von Eingeweihten behan[178]delten, ähnlich den humanistischen chinesischen Staatsmännern der letzten Teilstaatenzeit.
25
[178] Max Weber spielt hier vermutlich auf die Zeit von 770–221 v. Chr., insbesondere auf die Epoche der „kämpfenden Staaten“ (475–221 v. Chr.), an. Ein prägnantes Beispiel für die Bedeutung der literarischen Bildung als Amtsqualifikation ist Shang Yang (ca. 390–338 v. Chr.), der als Berater und Minister des Fürsten Hsiao von Ch’in die Verwaltung reformierte.
Die Notwendigkeit einer formell einheitlichen Leitung der gesamten Politik, einschließlich der inneren, durch einen führenden Staatsmann entstand endgültig und zwingend erst durch die konstitutionelle Entwicklung. Bis dahin hatte es zwar selbstverständlich solche Einzelpersönlichkeiten als Berater oder vielmehr – der Sache nach – Leiter der Fürsten immer wieder gegeben. Aber die Organisation der Behörden war zunächst, auch in den am weitesten vorgeschrittenen Staaten, andere Wege gegangen. Kollegiale höchste Verwaltungsbehörden waren entstanden. Der Theorie und, in allmählich abnehmendem Maße, der Tatsache nach tagten sie unter dem Vorsitz des Fürsten persön[B 18]ich, der die Entscheidung gab. Durch dieses kollegialische System, welches zu Gutachten, Gegengutachten und motivierten Voten der Mehrheit und Minderheit führte[,] und ferner dadurch, daß er neben den offiziellen höchsten Behörden sich mit rein persönlichen Vertrauten – dem „Kabinett“ – umgab und durch diese seine Entscheidungen auf die Beschlüsse des Staatsrats – oder wie die höchste Staatsbehörde sonst hieß – abgab, suchte der Fürst, der zunehmend in die Lage eines Dilettanten geriet, dem unvermeidlich wachsenden Gewicht der Fachschulung der Beamten sich zu entziehen und die oberste Leitung in der Hand zu behalten: dieser latente Kampf zwischen dem Fachbeamtentum und der Selbstherrschaft bestand überall. Erst gegenüber den Parlamenten und den Machtaspirationen ihrer Parteiführer änderte sich die Lage. Sehr verschie[179]den gelagerte Bedingungen führten doch zu dem äußerlich gleichen Ergebnis. Freilich mit gewissen Unterschieden. Wo immer die Dynastien reale Macht in der Hand behielten – wie namentlich in Deutschland –, waren nun die Interessen des Fürsten mit denen des Beamtentums solidarisch verknüpft gegen das Parlament und seine Machtansprüche. Die Beamten hatten das Interesse daran, daß auch die leitenden Stellen, also die Ministerposten, aus ihren Reihen besetzt, also Gegenstände des Beamtenavancements, wurden. Der Monarch seinerseits hatte das Interesse daran, die Minister nach seinem Ermessen und aus den Reihen der ihm ergebenen Beamten ernennen zu können. Beide Teile aber waren daran interessiert, daß die politische Leitung dem Parlament einheitlich und geschlossen gegenübertrat, also: das Kollegialsystem durch einen einheitlichen Kabinettschef ersetzt wurde. Der Monarch bedurfte überdies, schon um dem Parteikampf und den Parteiangriffen rein formell enthoben zu bleiben, einer ihn deckenden verantwortlichen, das heißt: dem Parlament Rede stehenden und ihm entgegentretenden, mit den Parteien verhandelnden Einzelpersönlichkeit. Alle diese Interessen wirkten hier zusammen in der gleichen Richtung: ein einheitlich führender Beamtenminister entstand. Noch stärker wirkte in der Richtung der Vereinheitlichung die Entwicklung der Parlamentsmacht da, [B 19]wo sie – wie in England – die Oberhand gegenüber dem Monarchen gewann. Hier entwickelte sich das „Kabinett“ mit dem einheitlichen Parlamentsführer, dem „Leader“, an der Spitze,
26
[179] Im Zuge der schrittweisen Durchsetzung des parlamentarischen Systems entstand im 19. Jahrhundert das Amt des „Leader of the House of Commons“. Dieses Amt wurde in aller Regel vom Premierminister – sofern er dem Unterhaus angehörte – selbst wahrgenommen. Dem „Leader of the House of Commons“ oblag die Koordinierung des legislatorischen Programms, und in dieser Funktion besaß er maßgebenden Einfluß auf den Gang der parlamentarischen Beratungen.
als ein Ausschuß der von den offiziellen [180]Gesetzen ignorierten, tatsächlich aber allein politisch entscheidenden Macht: der jeweils im Besitz der Mehrheit befindlichen Partei. Die offiziellen kollegialen Körperschaften waren eben als solche keine Organe der wirklich herrschenden Macht: der Partei, und konnten also nicht Träger der wirklichen Regierung sein. Eine herrschende Partei bedurfte vielmehr, um im Innern die Gewalt zu behaupten und nach außen große Politik treiben zu können, eines schlagkräftigen, nur aus ihren wirklich führenden Männern zusammengesetzten, vertraulich verhandelnden Organes: eben des Kabinetts, der Öffentlichkeit, vor allem der parlamentarischen Öffentlichkeit gegenüber aber eines für alle Entschließungen verantwortlichen Führers: des Kabinettschefs. Dies englische System ist dann in Gestalt der parlamentarischen Ministerien auf den Kontinent übernommen worden, und nur in Amerika und den von da aus beeinflußten Demokratien wurde ihm ein ganz heterogenes System gegenübergestellt, welches den erkorenen Führer der siegenden Partei durch direkte Volkswahl
27
[180] Der Präsident der USA wird zwar von einem Wahlmännerkollegium („Electoral College“) gewählt, doch sind die Wahlmänner bei ihrer Stimmabgabe in aller Regel an den bei der vorhergehenden allgemeinen Wahl formulierten Wählerwillen gebunden.
an die Spitze des von ihm ernannten Beamtenapparates stellte und ihn nur in Budget und Gesetzgebung an die Zustimmung des Parlamentes band.
Die Entwicklung der Politik zu einem „Betrieb“, der eine Schulung im Kampf um die Macht und in dessen Methoden erforderte, so wie sie das moderne Parteiwesen entwickelte, bedingte nun die Scheidung der öffentlichen Funktionäre in zwei, allerdings keineswegs schroff, aber doch deutlich geschiedene Kategorien: Fachbeamte einerseits, „politische Beamte“ anderseits. Die im eigentlichen Wortsinn „politischen“ Beamten sind äußerlich in der Regel daran kenntlich, daß sie jederzeit [181]beliebig versetzt und entlassen oder doch „zur Disposition gestellt“ werden können, wie die französischen Präfekten
28
[181] Vgl. dazu oben, S. 173f., Anm. 14.
und die ihnen gleichartigen Beamten anderer Länder, im schroffsten Gegensatz gegen die „Unabhängigkeit“ der Beamten mit richterlicher Funktion. In England gehören jene Beamten [B 20]dazu, die nach fester Konvention bei einem Wechsel der Parlamentsmehrheit und also des Kabinetts aus den Ämtern scheiden. Besonders diejenigen pflegen dahin zu rechnen, deren Kompetenz die Besorgung der allgemeinen „inneren Verwaltung“ umfaßt; und der „politische“ Bestandteil daran ist vor allem die Aufgabe der Erhaltung der „Ordnung“ im Lande, also: der bestehenden Herrschaftsverhältnisse. In Preußen hatten diese Beamten nach dem Puttkamerschen Erlaß,
29
Der preußische Minister des Innern Robert von Puttkamer bemühte sich seit 1879, die liberalen Elemente aus der preußischen Beamtenschaft zu eliminieren und diese auf eine bedingungslose Loyalität gegenüber der Regierung einzuschwören. Höhepunkt dieser Entwicklung war der von Bismarck gegengezeichnete, aber mit dem Namen Puttkamers verbundene Erlaß Wilhelms I. vom 4. Januar 1882 an die preußische Beamtenschaft. Die entsprechende Passage lautet: „Es ist die Aufgabe Meiner Minister, Meine verfassungsmäßigen Rechte durch Verwahrung gegen Zweifel und Verdunkelung zu vertreten; das Gleiche erwarte Ich von allen Beamten, welche Mir den Amtseid geleistet haben. Mir liegt es fern, die Freiheit der Wahlen zu beeinträchtigen, aber für diejenigen Beamten, welche mit der Ausführung Meiner Regierungsakte betraut sind und deshalb ihres Dienstes nach dem Disziplinargesetz enthoben werden können, erstreckt sich die durch den Diensteid beschworene Pflicht auf Vertretung der Politik Meiner Regierung auch bei den Wahlen.“ Vgl. Huber, Ernst Rudolf (Hg.), Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Band 2. – Stuttgart: W. Kohlhammer 1964, Nr. 220, S. 307.
bei Vermeidung der Maßregelung, die Pflicht, „die Politik der Regierung zu vertreten“, und wurden, ebenso wie in Frankreich die Präfekten, als amtlicher Apparat zur Beeinflussung der Wahlen benutzt. Die meisten „politischen“ Beamten teilten zwar nach deutschem System – im Gegensatz zu anderen Ländern – die Qualität aller anderen insofern, als die Erlangung auch dieser Ämter an akademisches Studium, Fachprüfungen und einen bestimmten Vorbereitungsdienst gebunden war. Dieses spezifische [182]Merkmal des modernen Fachbeamtentums fehlt bei uns nur den Chefs des politischen Apparates: den Ministern. Preußischer Kultusminister konnte man schon unter dem alten Regime sein, ohne selbst jemals eine höhere Unterrichtsanstalt besucht zu haben, während man Vortragender Rat grundsätzlich nur auf Grund der vorgeschriebenen Prüfungen werden konnte. Der fachgeschulte Dezernent und Vortragende Rat war selbstverständlich – z. B. unter Althoff im preußischen Unterrichtsministerium
30
[182] Friedrich Althoff, zunächst Vortragender Rat, später Ministerialdirektor im Preußischen Kultusministerium, prägte als Leiter der Hochschulabteilung unter fünf Kultusministern das preußische und auch deutsche Hochschulwesen einschließlich der Berufung von Professoren, so daß für seine Amtszeit von 1882 bis 1907 sogar von einem „System Althoff“ gesprochen werden kann. Vgl. dazu Brocke, Bernhard vom, Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882–1907: das „System Althoff“, in: Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs, hg. von Peter Baumgart. – Stuttgart: Klett-Cotta 1980, S. 9–118.
– unendlich viel informierter über die eigentlichen technischen Probleme des Faches als sein Chef. In England stand es damit nicht anders. Er war infolgedessen auch für alle Alltagsbedürfnisse der Mächtigere. Das war auch nichts an sich Widersinniges. Der Minister war eben der Repräsentant der politischen Machtkonstellation, hatte diese politischen Maßstäbe zu vertreten und an die Vorschläge seiner unterstellten Fachbeamten anzulegen oder ihnen die entsprechenden Direktiven politischer Art zu geben.
Ganz ähnlich steht es ja in einem privaten Wirtschaftsbetrieb: der eigentliche „Souverän“, die Aktionärversammlung, ist in der Betriebsführung ebenso einflußlos wie ein von Fach[B 21]beamten regiertes „Volk“, und die für die Politik des Betriebes ausschlaggebenden Persönlichkeiten, der von Banken beherrschte „Aufsichtsrat“, geben nur die wirtschaftlichen Direktiven und lesen
g
[182]B: liest
die Persönlichkeiten für die Verwaltung aus, ohne aber selbst [183]imstande zu sein, den Betrieb technisch zu leiten. Insofern bedeutet auch die jetzige Struktur des Revolutionsstaates, welcher absoluten Dilettanten, kraft ihrer Verfügung über die Maschinengewehre, die Macht über die Verwaltung in die Hand gibt und die fachgeschulten Beamten nur als ausführende Köpfe und Hände benutzen möchte,
31
[183] Anspielung auf die Tatsache, daß die Arbeiter- und Soldatenräte während der Revolution 1918/19 weithin die bisherigen Verwaltungsbehörden bestehen ließen und zur Durchsetzung ihrer Ziele zu benutzen suchten. In der Regel entsandten die Arbeiter- und Soldatenräte Vertrauensleute in die Behörden, die die laufenden Geschäfte kontrollieren sollten, ohne direkt in deren Gang einzugreifen.
keine grundsätzliche Neuerung. Die Schwierigkeiten dieses jetzigen Systems liegen anderswo als darin, sollen uns aber heute nichts angehen. –
Wir fragen vielmehr nun nach der typischen Eigenart der Berufspolitiker, sowohl der „Führer“ wie ihrer Gefolgschaft. Sie hat gewechselt und ist auch heute sehr verschieden.
„Berufspolitiker“ Berufspolitiker: haben sich in der Vergangenheit, wie wir sahen, im Kampf der Fürsten mit den Ständen entwickelt im Dienst der ersteren. Sehen wir uns ihre Haupttypen kurz an.
Gegen die Stände stützte sich der Fürst auf politisch verwertbare Schichten 1. Cleriker – in der ganzen Welt! nichtständischen Charakters. Dahin gehörten in Vorder- und Hinterindien, cf Indien im buddhistischen China und Japan und in der lamaistischen Mongolei ganz ebenso wie in den christlichen Gebieten des Mittelalters zunächst: die Kleriker. Technisch deshalb, weil sie schriftkundig waren. Überall ist der Import von Brahmanen,
32
Als Priester und Schriftgelehrte bilden die Brahmanen in der klassischen Vierkastenordnung Indiens die oberste Kaste, doch wird diese Stellung bisweilen angefochten.
Buddhisten
Brahmanen
christl[icher] Clerus
buddhistischen Priestern, Lamas
33
Bezeichnung für die Vollmönche im tibetischen Buddhismus, die in Klöstern lebten. Dabei bildeten die Klöster in Tibet nicht nur die religiösen, sondern auch die wirtschaftlichen und politischen Machtzentren des Landes.
und die Verwendung von Bischöfen und Priestern als politische Berater unter dem Gesichtspunkt erfolgt, schreib[184]kundige Verwaltungskräfte zu bekommen, die im Kampf des Kaisers oder Fürsten oder Khans gegen die Aristokratie verwertet werden konnten. Der Kleriker, zumal der zölibatäre Kleriker, stand außerhalb des Getriebes der normalen politischen und ökonomischen Interessen und kam nicht in Versuchung, für seine Nachfahren eigene politische Macht gegenüber seinem Herrn zu erstreben, wie es der Lehnsmann tat. Er war von den Betriebsmitteln der fürstlichen Verwaltung durch seine eigenen ständischen Qualitäten „getrennt“.
Eine zweite derartige Schicht3. Humanisten in D[eutschland] u[nd] Italien, Frankreich waren die humanistisch ge[B 22]bildeten Literaten. Es gab eine Zeit, wo man lateinische Reden und griechische Verse machen lernte, zu dem Zwecke, politischer Berater und vor allen Dingen politischer Denkschriftenverfasser eines Fürsten zu werden. Das war die Zeit der ersten Blüte der Humanistenschulen und der fürstlichen Stiftungen von Professuren der „Poetik“:
34
[184] Mit Hilfe fürstlicher Mäzene wurden in Italien im 15. Jahrhundert zahlreiche Akademien gegründet, in denen die Humanisten, die an den traditionellen Universitäten kaum Möglichkeiten zur Entfaltung fanden, ihren wissenschaftlichen Arbeiten, insbesondere ihrer Beschäftigung mit Autoren der Antike, nachgehen konnten. Nach diesem Modell gründete beispielsweise Kaiser Maximilian im Jahre 1501 in Wien das „Collegium poetarum“.
bei uns eine schnell vorübergehende Epoche, die immerhin auf unser Schulwesen nachhaltig eingewirkt hat, politisch freilich keine tieferen Folgen hatte. Anders in Ostasien. Der chinesischecf. China Mandarin ist oder vielmehr: war ursprünglich annähernd das, was der Humanist unserer Renaissancezeit war: ein humanistisch an den Sprachdenkmälern der fernen Vergangenheit geschulter und geprüfter Literat. Wenn Sie die Tagebücher des Li-Hung-Tschang lesen, finden Sie, daß noch er am meisten stolz darauf ist, daß er Gedichte machte und ein guter Kalligraph war.
35
Memoiren des Vizekönigs Li Hung Tschang. Ins Deutsche übertragen von Gräfin Μ. vom Hagen. – Berlin: Karl Siegismund 1915. Darin sind zahlreiche poetische Schriften Li Hung-changs abgedruckt. Den Memoiren zufolge soll Li Hung-chang es als den Traum seiner Jugend bezeichnet haben, der „gekrönte Dichter“ seines Landes zu werden. Ebd., [185]S. 149f. Vermutlich sind die zunächst in den USA publizierten Memoiren jedoch eine Fälschung. Siehe dazu Trevor-Roper, Hugh, The Hermit of Peking. The Hidden Life of Sir Edmund Backhouse. – London: Macmillan 1979, S. 236.
Diese Schicht mit [185]ihren an der chinesischen Antike entwickelten Konventionen hat das ganze Schicksal Chinas bestimmt, und ähnlich wäre vielleicht unser Schicksal gewesen, wenn die Humanisten seinerzeit die geringste Chance gehabt hätten, mit gleichem Erfolge sich durchzusetzen.
Die dritte Schicht war: der Hofadel. 4. Hofadel Nachdem es den Fürsten gelungen war, den Adel in seiner ständischen politischen Macht zu enteignen, zogen sie ihn an den Hof und verwendeten ihn im politischen und diplomatischen Dienst. Der Umschwung unseres Erziehungswesens im 17. Jahrhundert war mit dadurch bedingt, daß an Stelle der humanistischen Literaten hofadelige Berufspolitiker in den Dienst der Fürsten traten.
Die vierte Kategorie war ein spezifisch englisches Gebilde; 5. Patriziat: []Gentry“ in England ein den Kleinadel und das städtische Rentnertum umfassendes Patriziat, technisch „gentry“ genannt: – eine Schicht, die ursprünglich der Fürst gegen die Barone heranzog und in den Besitz der Ämter des „selfgovernment“ setzte,
36
Das englische System des „selfgovernment“ überließ die öffentlichen Aufgaben auf den unteren Ebenen der staatlichen Ordnung traditionsgemäß in weitem Umfang Angehörigen des lokalen Adels, die überwiegend ehrenamtlich tätig waren. Insbesondere das Amt des Justice of the Peace (vgl. unten, S. 210, Anm. 85) und das des Guardian of the Poor wurden in aller Regel von Angehörigen der sog. Gentry, d. h. des niederen, bodenständigen Adels, ausgeübt.
um später zunehmend von ihr abhängig zu werden. Sie hielt sich im Besitz der sämtlichen Ämter der lokalen Verwaltung, indem sie dieselben gratis übernahm im Interesse ihrer eigenen sozialen Macht. Sie hat England vor der Bureaukratisierung bewahrt, die das Schicksal sämtlicher Kontinentalstaaten war.
[B 23]Eine fünfte Schicht war dem Okzident, 2. Juristen[–]Stand – dies occidental, nur dort. vor allem auf dem europäischen Kontinent, eigentümlich und [186]war für dessen ganze politische Struktur von ausschlaggebender Bedeutung: die universitätsgeschulten Juristen. Die gewaltige Nachwirkung des römischen Rechts, wie es der bureaukratische spätrömische Staat umgebildet hatte, tritt in nichts deutlicher hervor als darin: daß überall die Revolutionierung des politischen Betriebs im Sinne der Entwicklung zum rationalen Staat von geschulten Juristen getragen wurde. Auch in England, obwohl dort die großen nationalen Juristenzünfte die Rezeption des römischen Rechts hinderten.
37
[186] Der englische Juristenstand, schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts auf einem vergleichsweise hohen Organisationsniveau, verteidigte das von ihm praktizierte „common law“ erfolgreich gegen den Einfluß des Römischen Rechts und bestimmte mit den von ihm beherrschten Rechtsschulen, wie den Londoner Inns of Court, in diesem Sinne maßgeblich die Rechtsentwicklung Englands.
Man findet in keinem Gebiet der Erde dazu irgendeine Analogie. Alle Ansätze rationalen juristischen Denkens in der indischen Mimamsa-Schule
38
Philosophische Lehre, die sich mit der Erörterung der heiligen Texte des Veda, insbesondere mit der Auslegung ihrer rituellen Vorschriften, befaßt. Die auf Klarheit und Folgerichtigkeit angelegte Interpretationskunst der Mīmāṃsakas wurde in Indien etwa auch für die Analyse juristischer Sachverhalte beispielhaft.
und alle Weiterpflege des antiken juristischen Denkens im Islam haben die Überwucherung des rationalen Rechtsdenkens durch theologische Denkformen nicht hindern können. Vor allem wurde das Prozeßverfahren nicht voll rationalisiert. Das hat nur die Übernahme der antik römischen Jurisprudenz, des Produkts eines aus dem Stadtstaat zur Weltherrschaft aufsteigenden politischen Gebildes ganz einzigartigen Charakters, durch die italienischen Juristen zuwege gebracht, der „Usus modernus“ der spätmittelalterlichen Pandektisten und Kanonisten
39
Die Pandekten sind Teil der Justinianischen Rechtssammlung aus dem 6. Jahrhundert n. Chr., die mit der Rezeption des Römischen Rechts auch in den deutschen Territorien allgemein Geltung erlangte. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts begann sich eine Richtung innerhalb der deutschen Rechtswissenschaft zu entwickeln, die sich durch einen freieren Umgang mit den römisch-rechtlichen Quellen auszeichnete. An dieser Entwicklung waren auch Kirchenrechtslehrer beteiligt. Diese Periode einer zeitgemäßen Praxis des Römi[187]schen Rechts in der deutschen Rechtswissenschaft wird als „Usus modernus pandectarum“ bezeichnet.
und die aus juristischem und christlichem [187]Denken geborenen und später säkularisierten Naturrechtstheorien. Im italienischen Podestat,
40
Der Podestà, zumeist ein juristisch geschulter Adliger, ist seit dem 12. Jahrhundert in den ober- und mittelitalienischen Städten das Oberhaupt der Verwaltung. Der Podestà mußte grundsätzlich aus einer anderen Stadt stammen und wurde entweder von der Kommune für eine begrenzte Zeit gewählt oder, in den vom Reich abhängigen Städten, vom Kaiser ernannt.
Podestat in Italien in den französischen Königsjuristen, welche die formellen Mittel zur Untergrabung der Herrschaft der Seigneurs durch die Königsmacht schufen, in den Kanonisten und naturrechtlich denkenden Theologen des Konziliarismus,
41
Die Theorie des Konziliarismus entstand als Reaktion auf die Krise des Papsttums im 14./15. Jahrhundert. Ihrzufolge besitzt nicht allein der Papst, sondern auch das die Gesamtkirche repräsentierende Konzil die Vollmacht, verbindliche Normen für Lehre und Leben der Kirche zu erlassen.
in den Hofjuristen und gelehrten Richtern der kontinentalen Fürsten, in den niederländischen Naturrechtslehrern
h
[187]B: Naturrechtslehren
42
Max Weber wird sich hier in erster Linie auf den Philosophen Justus Lipsius (1547–1606) und den Rechtsdenker Hugo Grotius (1583–1645) beziehen. Grotius entwickelte in seinen Schriften ein naturrechtlich begründetes, von der Moraltheologie der Spätscholastik emanzipiertes System des Völkerrechts und beeinflußte als Begründer des modernen Naturrechts sowohl die niederländische als auch die europäische Rechtsgeschichte maßgeblich.
und den Monarchomachen,
43
„Monarchomachos“ („Monarchenbekämpfer“) nannte der katholische Royalist William Barclay (1543–1608) jene politischen Kräfte, die eine Beschränkung der königlichen Macht und ein verfassungsmäßiges Widerstandsrecht forderten. In einem engeren Sinne wird damit gewöhnlich eine Gruppe französischer Publizisten, wie etwa François Hotman, Théodore de Bèze, Hubert Languet sowie Philippe Duplessis-Mornay, bezeichnet, die nach den hugenottenfeindlichen Ausschreitungen der Bartholomäusnacht im Jahre 1572 unter Berufung auf ein vom Prinzip der Volkssouveränität abgeleitetes Widerstandsrecht die Beseitigung tyrannischer, ihrem Glauben feindlicher Herrscher postulierten.
in den englischen Kron- und den Parlamentsjuristen, in der Noblesse de Robe
44
Bezeichnung für den Amtsadel in Frankreich. Er entstand dadurch, daß bei der Verleihung bestimmter Ämter der Inhaber stets geadelt wurde, so daß schließlich der Adelstitel als mit dem Amt verbunden galt. Im Laufe der Zeit wurden Amt und Adelstitel erblich.
Noblesse de Robe in Frankreich der französischen Parlamente, endlich in den Advokaten der Revolutionszeit hat dieser juristische Rationalismus seine großen Repräsentanten gehabt. Ohne ihn ist das Entstehen des absoluten [188]Staates so wenig denkbar wie die Revolution. Wenn Sie die Remonstrationen der französischen Parlamente
45
[188] Aus ihrer Aufgabe, als oberste Gerichtshöfe des Landes die königlichen Erlasse in ihre Register einzutragen und ihnen damit Rechtskraft zu verleihen, leiteten die französischen Parlamente das sog. „droit de remontrance“, d. h. das Recht ab, diese Erlasse einer Überprüfung zu unterziehen und gegebenenfalls schriftlich Beschwerde einzulegen.
oder die Cahiers der französischen General[B 24]stände
46
Gemeint sind die Cahiers de doléances, in denen bei den Wahlen zu den Generalständen Beschwerden und Wünsche der Wähler niedergelegt wurden. Diese Beschwerdehefte wurden – nach Ständen zusammengefaßt – dem König vorgelegt.
seit dem 16. Jahrhundert bis in das Jahr 1789 durchsehen, finden Sie
i
[188]B: sie
überall: Juristengeist. Und wenn Sie die Berufszugehörigkeit der Mitglieder des französischen Konvents durchmustern,
47
Entsprechende Angaben finden sich bei Kuscinski, Auguste, Dictionnaire des conventionnels. – Paris: Au Siège de la Société et à la Librairie F. Rieder 1916.
so finden Sie da – obwohl er nach gleichem Wahlrecht gewählt war – einen einzigen Proletarier, sehr wenige bürgerliche Unternehmer, dagegen massenhaft Juristen aller Art, ohne die der spezifische Geist, der diese radikalen Intellektuellen und ihre Entwürfe beseelte, ganz undenkbar wäre. Der moderne Advokat und die moderne Demokratie gehören seitdem schlechthin zusammen, – und Advokaten in unserem Sinn, als ein selbständiger Stand, existieren wiederum nur im Okzident, seit dem Mittelalter, wo sie aus dem „Fürsprech“
48
Der „Fürsprech“ war der Wortführer (nicht der Anwalt) einer Partei vor Gericht. Er hatte vor allem die Aufgabe, der sog. „Gefahr“ zu begegnen, die sich für die Partei aus dem starren Formalismus des mittelalterlichen Prozeßverfahrens ergeben konnte.
des formalistischen germanischen Prozeßverfahrens unter dem Einfluß der Rationalisierung des Prozesses sich entwickelten.
Die Bedeutung der Advokaten in der okzidentalen Politik seit dem Aufkommen der Parteien ist nichts Zufälliges. Der politische Betrieb durch Parteien bedeutet eben: Interessentenbetrieb – wir werden bald sehen, was das besagen will. Und eine Sache für Interessenten wirkungsvoll zu führen ist [189]das Handwerk des geschulten Advokaten. Er ist darin – das hat uns die Überlegenheit der feindlichen Propaganda
49
[189] Die Propaganda der westlichen Mächte, die sich auf das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker beriefen und insbesondere den deutschen Einfall in Belgien als krasse Verletzung des Völkerrechts brandmarkten, erwies sich in den neutralen Ländern als ungewöhnlich wirksam. Demgegenüber bemühte sich die Reichsleitung um eine Rechtfertigung der deutschen Kriegspolitik. Der im Oktober 1914 eingerichteten „Zentralstelle für Auslandsdienst“, die die deutsche Propaganda im Ausland organisieren und koordinieren sollte, ist es jedoch nie gelungen, den Vorsprung, den die westlichen Mächte auf diesem Gebiet besaßen, einzuholen.
lehren können – jedem „Beamten“ überlegen. Gewiß kann er eine durch logisch schwache Argumente gestützte, in diesem Sinn: „schlechte“ Sache dennoch siegreich, also technisch „gut“, führen. Aber auch nur er führt eine durch logisch „starke“ Argumente zu stützende, in diesem Sinn „gute“ Sache siegreich, also in diesem Sinn „gut“. Der Beamte als Politiker macht nur allzu oft durch technisch „schlechte“ Führung eine in jenem Sinn „gute“ Sache zur „schlechten“: – das haben wir erleben müssen.
50
Dies bezieht sich auf das Scheitern der deutschen Politik in der Zeit des späten Kaiserreichs; nach damaligem Usus wurden die leitenden Minister Preußens und des Reichs sowie der Reichskanzler in aller Regel aus der hohen Beamtenschaft rekrutiert. Zu Max Webers Kritik an diesen Verhältnissen vgl. u. a. Weber, Max, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens. – München/Leipzig: Duncker & Humblot 1918, insb. dort das Kapitel II: „Beamtenherrschaft und politisches Führertum“ , S. 13–55 (MWG I/15, S. 450–486).
Denn die heutige Politik wird nun einmal in hervorragendem Maße in der Öffentlichkeit mit den Mitteln des gesprochenen oder geschriebenen Wortes geführt. Dessen Wirkung abzuwägen, liegt im eigentlichsten Aufgabenkreise des Advokaten, gar nicht aber des Fachbeamten, der kein Demagoge ist und, seinem Zweck nach, sein soll, und wenn er es doch zu werden unternimmt, ein sehr schlechter Demagoge zu werden pflegt.
[B 25]Der echte Beamte – das ist für die Beurteilung unseres früheren Regimes entscheidend – soll seinem eigentlichen Beruf nach nicht Politik treiben, sondern: „verwalten“, unparteiisch vor allem, – [190]auch für die sogenannten „politischen“ Verwaltungsbeamten gilt das, offiziell wenigstens, soweit nicht die „Staatsräson“, d. h. die Lebensinteressen der herrschenden Ordnung, in Frage stehen. Sine ira et studio,
51
[190] Tacitus, Annales, 1,1.
„ohne Zorn und Eingenommenheit“ soll er seines Amtes walten. Er soll also gerade das nicht tun, was der Politiker, der Führer sowohl wie seine Gefolgschaft, immer und notwendig tun muß: kämpfen. Denn Parteinahme, Kampf, Leidenschaft – ira et studium – sind das Element des Politikers. Und vor allem: des politischen Führers. Dessen Handeln steht unter einem ganz anderen, gerade entgegengesetzten Prinzip der Verantwortung, als die des Beamten ist. Ehre des Beamten ist die Fähigkeit, wenn – trotz seiner Vorstellungen – die ihm vorgesetzte Behörde auf einem ihm falsch erscheinenden Befehl beharrt, ihn auf Verantwortung des Befehlenden gewissenhaft und genau so auszuführen, als ob er seiner eigenen Überzeugung entspräche: ohne diese im höchsten Sinn sittliche Disziplin und Selbstverleugnung
k
B: Selbverleugnung
zerfiele der ganze Apparat. Ehre des politischen Führers, also: des leitenden Staatsmannes, ist dagegen gerade die ausschließliche Eigenverantwortung für das, was er tut, die er nicht ablehnen oder abwälzen kann und darf. Gerade sittlich hochstehende Beamtennaturen sind schlechte, vor allem im politischen Begriff des Wortes verantwortungslose und in diesem Sinn: sittlich tiefstehende Politiker: – solche, wie wir sie leider in leitenden Stellungen immer wieder gehabt haben: das ist es, was wir „Beamtenherrschaft“ nennen; und es fällt wahrlich kein Flecken auf die Ehre unseres Beamtentums, wenn wir das politisch, vom Standpunkt des Erfolges aus gewertet, Falsche dieses Systems bloßlegen. Aber kehren wir noch [191]einmal zu den Typen der politischen Figuren zurück.
Der „Demagoge“ ist seit dem Verfassungsstaat und vollends seit der Demokratie der Typus des führenden Politikers im Okzident. Der unangenehme Beigeschmack des Wortes darf [B 26]nicht vergessen lassen, daß nicht Kleon, sondern Perikles der erste war, der diesen Namen trug. Amtlos oder mit dem – im Gegensatz zu den durchs Los besetzten Ämtern der antiken Demokratie – einzigen Wahlamt: dem des Oberstrategen, betraut, leitete er die souveräne Ekklesia
52
[191] Vgl. oben, S. 161, Anm. 3.
des Demos von Athen. Die moderne Demagogie bedient sich zwar auch der Rede: in quantitativ ungeheuerlichem Umfang sogar, wenn man die Wahlreden bedenkt, die ein moderner Kandidat zu halten hat. Aber noch nachhaltiger doch: des gedruckten Worts. Der politische Publizist und vor allem der Journalist ist der wichtigste heutige Repräsentant der Gattung.
Die Soziologie der modernen politischen Journalistik auch nur zu skizzieren wäre im Rahmen dieses Vortrags ganz unmöglich und ist in jeder Hinsicht ein Kapitel für sich.
53
Bereits auf dem Soziologentag von 1910 hatte Max Weber eine wissenschaftliche Untersuchung der „Soziologie des Zeitungswesens“ im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie angekündigt, die unter anderem nach dem „Schicksal und der Situation des Journalistenstandes fragen“ sollte. Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.–22. Oktober 1910 in Frankfurt a.Μ. – Tübingen: J.C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1911, S. 39–62 (MWG I/13).
Nur weniges gehört unbedingt hierher. Der Journalist teilt mit allen Demagogen und übrigens – wenigstens auf dem Kontinent und im Gegensatz zu den englischen und übrigens auch zu den früheren preußischen Zuständen – auch mit dem Advokaten (und dem Künstler) das Schicksal: der festen sozialen Klassifikation zu entbehren. Er gehört zu einer Art von Pariakaste, die in der „Gesellschaft“ stets nach ihren ethisch tiefststehenden Repräsentanten sozial eingeschätzt wird. Die seltsamsten Vorstellungen über die Jour[192]nalisten und ihre Arbeit sind daher landläufig. Daß eine wirklich gute journalistische Leistung mindestens so viel „Geist“ beansprucht wie irgendeine Gelehrtenleistung – vor allem infolge der Notwendigkeit, sofort, auf Kommando, hervorgebracht zu werden und: sofort wirken zu sollen, bei freilich ganz anderen Bedingungen der Schöpfung, ist nicht jedermann gegenwärtig. Daß die Verantwortung eine weit größere ist, und daß auch das Verantwortungsgefühl jedes ehrenhaften Journalisten im Durchschnitt nicht im mindesten tiefer steht als das des Gelehrten: – sondern höher, wie der Krieg gelehrt hat –, wird fast nie gewürdigt, weil naturgemäß gerade die verantwortungslosen journalistischen Leistungen, ihrer oft furchtbaren Wirkung wegen, im Gedächtnis haften. Daß vollends die Diskretion der irgendwie tüchtigen Journalisten durchschnittlich höher steht als die anderer [B 27]Leute, glaubt niemand. Und doch ist es so. Die ganz unvergleichlich viel schwereren Versuchungen, die dieser Beruf mit sich bringt, und die sonstigen Bedingungen journalistischen Wirkens in der Gegenwart erzeugen jene Folgen, welche das Publikum gewöhnt haben, die Presse mit einer Mischung von Verachtung und – jämmerlicher Feigheit zu betrachten. Über das, was da zu tun ist, kann heute nicht gesprochen werden. Uns interessiert hier die Frage nach dem politischen Berufsschicksal der Journalisten, ihrer Chance, in politische Führerstellungen zu gelangen. Sie war bisher nur in der sozialdemokratischen Partei günstig. Aber innerhalb ihrer hatten Redakteurstellen weit überwiegend den Charakter einer Beamtenstellung, nicht aber waren sie die Grundlage einer Führerposition.
54
[192] Die Arbeit der fest angestellten Redakteure der sozialdemokratischen Blätter wurde von den jeweiligen Parteiinstanzen streng kontrolliert. Der Parteivorstand und die sog. „Preßkommissionen“ überwachten nicht nur die taktische und prinzipielle Haltung der Parteipresse, sondern entschieden auch über Anstellung und Entlassung des Redaktionspersonals. Immerhin stellte die deutsche Sozialdemokratie vor Reichstagswahlen im [193]Gegensatz zu den übrigen Parteien in außerordentlich großer Zahl Journalisten als Kandidaten auf.
[193]In den bürgerlichen Parteien hatte sich, im ganzen genommen, gegenüber der vorigen Generation die Chance des Aufstiegs zur politischen Macht auf diesem Wege eher verschlechtert. Presseeinfluß und also Pressebeziehungen benötigte natürlich jeder Politiker von Bedeutung. Aber daß Parteiführer aus den Reihen der Presse hervorgingen, war – man sollte es nicht erwarten – durchaus die Ausnahme. Der Grund liegt in der stark gestiegenen „Unabkömmlichkeit“ des Journalisten, vor allem des vermögenslosen und also berufsgebundenen Journalisten, welche durch die ungeheure Steigerung der Intensität und Aktualität des journalistischen Betriebes bedingt ist. Die Notwendigkeit des Erwerbs durch tägliches oder doch wöchentliches Schreiben von Artikeln hängt Politikern wie ein Klotz am Bein, und ich kenne Beispiele, wo Führernaturen dadurch geradezu dauernd im Machtaufstieg äußerlich und vor allem: innerlich gelähmt worden sind. Daß die Beziehungen der Presse zu den herrschenden Gewalten im Staat und in den Parteien unter dem alten Regime dem Niveau des Journalismus so abträglich wie möglich waren, ist ein Kapitel für sich. Diese Verhältnisse lagen in den gegnerischen Ländern anders. Aber auch dort und für alle modernen Staaten galt, scheint es, der Satz: daß der journalistische Arbeiter immer weniger, der kapitalistische Pressemagnat – nach Art etwa [B 28]des „Lord“ Northcliffe
55
Alfred Charles William Harmsworth, seit 1905 Baron Northcliffe, seit 1917 Viscount, schuf mit der Gründung und dem Erwerb zahlreicher Zeitungen, u. a. der „Times“, zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen der einflußreichsten Pressekonzerne Europas. Als Förderer und Berater von Lloyd George war er bemüht, mit Hilfe seiner Zeitungen dessen Politik der Kriegführung unter Einsatz aller verfügbaren Kräfte eine breite publizistische Basis zu verschaffen.
– immer mehr politischen Einfluß gewinnt.
Bei uns waren allerdings bisher die großen kapitalistischen Zeitungskonzerne, welche sich vor al[194]lern der Blätter mit „kleinen Anzeigen“, der „Generalanzeiger“, bemächtigt hatten, in aller Regel die typischen Züchter politischer Indifferenz. Denn an selbständiger Politik war nichts zu verdienen, vor allem nicht das geschäftlich nützliche Wohlwollen der politisch herrschenden Gewalten. Das Inseratengeschäft ist auch der Weg, auf dem man während des Krieges den Versuch einer politischen Beeinflussung der Presse im großen Stil gemacht hat
56
[194] Max Weber denkt hier vermutlich an die von Kreisen der deutschen Großindustrie finanzierte „Allgemeine Anzeigen-Gesellschaft m.b.H.“ (Ala). Diese im Jahre 1917 eingerichtete Anzeigenvermittlungsstelle war zwar offiziell politisch neutral, stützte aber die ihr nahestehenden rechtsgerichteten Zeitungen, indem sie diese bei der Vergabe von Inseraten bevorzugte. Die Frankfurter Zeitung sprach schon bald nach der Gründung der „Ala“ von einem „Inseratenterrorismus“, der das Ziel habe, sich „die Zeitungen hörig zu machen“. (Nr. 296 vom 26. Okt. 1917, 1. Mo.Bl.).
und jetzt, wie es scheint, fortsetzen will. Wenn auch zu erwarten ist, daß die große Presse sich dem entziehen wird, so ist die Lage für die kleinen Blätter doch weit schwieriger. Jedenfalls aber ist bei uns zurzeit die journalistische Laufbahn, so viel Reiz sie im übrigen haben und welches Maß von Einfluß und Wirkungsmöglichkeit, vor allem: von politischer Verantwortung, sie einbringen mag, nicht – man muß vielleicht abwarten, ob: nicht mehr oder: noch nicht – ein normaler Weg des Aufstiegs politischer Führer. Ob die von manchen – nicht allen – Journalisten für richtig gehaltene Aufgabe des Anonymitätsprinzips
57
Der Streit über das Anonymitätsprinzip, also die Frage, ob Zeitungsartikel mit oder ohne Namenszeichnung erscheinen sollten, hatte seit Ende des 19. Jahrhunderts im deutschen Pressewesen eine wichtige Rolle gespielt. In einer 1892 vom Verband deutscher Journalisten und Schriftsteller veranstalteten Umfrage hatte sich die Mehrheit der Journalisten und Verleger für die Beibehaltung dieses Prinzips ausgesprochen, ohne daß die Kontroverse damit beendet gewesen wäre. Zu den Kritikern des Anonymitätsprinzips gehörte der mit Max Weber gut bekannte Nationalökonom Karl Bucher; vgl. dazu Bücher, Karl, Die Anonymität in der Presse, in: Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft, Jg. 72, Heft 3, 1916/17, S. 289–327.
darin etwas ändern würde, läßt sich schwer sagen. Was wir in der deutschen Presse während des Krieges an „Leitung“ von Zeitungen durch besonders angeworbene schriftstel[195]lerisch begabte Persönlichkeiten,
58
[195] Dieser Sachverhalt konnte nicht aufgeklärt werden.
die dabei stets ausdrücklich unter ihrem Namen auftraten, erlebten, hat in einigen bekannteren Fällen leider gezeigt: daß ein erhöhtes Verantwortungsgefühl auf diesem Wege nicht so sicher gezüchtet wird, wie man glauben könnte. Es waren – ohne Parteiunterschied – zum Teil gerade die notorisch übelsten Boulevard-Blätter, die damit einen erhöhten Absatz erstrebten und auch erreichten. Vermögen haben die betreffenden Herren, die Verleger wie auch die Sensationsjournalisten, gewonnen, – Ehre gewiß nicht. Damit soll nun gegen das Prinzip nichts gesagt sein; die Frage liegt sehr verwickelt, und jene Erscheinung gilt auch nicht allgemein. Aber es ist bisher nicht der Weg zu echtem Führertum oder verantwort[B 29]lichem Betrieb der Politik gewesen. Wie sich die Verhältnisse weiter gestalten werden, bleibt abzuwarten. Unter allen Umständen bleibt aber die journalistische Laufbahn einer der wichtigsten Wege der berufsmäßigen politischen Tätigkeit. Ein Weg nicht für jedermann. Am wenigsten für schwache Charaktere, insbesondere für Menschen, die nur in einer gesicherten ständischen Lage ihr inneres Gleichgewicht behaupten können. Wenn schon das Leben des jungen Gelehrten auf Hasard gestellt ist, so sind doch feste ständische Konventionen um ihn gebaut und hüten ihn vor Entgleisung. Das Leben des Journalisten aber ist in jeder Hinsicht Hasard schlechthin, und zwar unter Bedingungen, welche die innere Sicherheit in einer Art auf die Probe stellen wie wohl kaum eine andere Situation. Die oft bitteren Erfahrungen im Berufsleben sind vielleicht nicht einmal das Schlimmste. Gerade an den erfolgreichen Journalisten werden besonders schwierige innere Anforderungen gestellt. Es ist durchaus keine Kleinigkeit, in den Salons der [196]Mächtigen der Erde auf scheinbar gleichem Fuß, und oft allgemein umschmeichelt, weil gefürchtet, zu verkehren und dabei zu wissen, daß, wenn man kaum aus der Tür ist, der Hausherr sich vielleicht wegen seines Verkehrs mit den „Pressebengeln“
59
[196] Seit dem 19. Jahrhundert wurden in der deutschsprachigen Literatur Journalisten häufig abschätzig als „Pressebengel“ bezeichnet. Belege dazu finden sich sowohl in den Werken Jean Pauls und Georg Christoph Lichtenbergs als auch bei Heinrich Heine, der 1841 in einem Zeitungsartikel „gegen die schöde Preßbengelei“ polemisiert hatte. Abgedruckt in: Heinrich Heines Sämtliche Werke, Band 8, hg. von Oskar Walzel. – Leipzig: Insel-Verlag 1913, S. 552ff.
bei seinen Gästen besonders rechtfertigen muß, – wie es erst recht keine Kleinigkeit ist, über alles und jedes, was der „Markt“ gerade verlangt, über alle denkbaren Probleme des Lebens, sich prompt und dabei überzeugend äußern zu sollen, ohne nicht nur der absoluten Verflachung, sondern vor allem der Würdelosigkeit der Selbstentblößung und ihren unerbittlichen Folgen zu verfallen. Nicht das ist erstaunlich, daß es viele menschlich entgleiste oder entwertete
l
[196]B: entgleisten oder entwerteten
Journalisten gibt, sondern daß trotz allem gerade diese Schicht eine so große Zahl wertvoller und ganz echter Menschen in sich schließt, wie Außenstehende es nicht leicht vermuten.
Wenn der Journalist als Typus des Berufspolitikers auf eine immerhin schon erhebliche Vergangenheit zurückblickt, so ist die Figur des Parteibeamten eine solche, die erst der Entwicklung der letzten Jahrzehnte und, teilweise, Jahre [B 30]angehört. Wir müssen uns einer Betrachtung des Parteiwesens Parteien und der Parteiorganisation zuwenden, um diese Figur in ihrer entwicklungsgeschichtlichen Stellung zu begreifen.
In allen irgendwie umfangreichen, Änderung durch Entstehung der Wahl zur Macht das heißt über den Bereich und Aufgabenkreis kleiner ländlicher Kantone hinausgehenden politischen Verbänden
m
B: Verbände
mit periodischen Wahlen der Gewalthaber ist der politische Betrieb notwendig: Interessentenbetrieb.Interessentenbetrieb. [197]Das heißt, eine relativ kleine Zahl primär am politischen Leben, also an der Teilnahme an der politischen Macht, Interessierter Partei e[in] unter Führern zusammengeschlossener Verband zur Erringung der Macht in e[inem] Verband
Mittel: freie Werbung.
Dies das Moderne
schaffen sich Gefolgschaft durch freie Werbung, präsentieren sich oder ihre Schutzbefohlenen als Wahlkandidaten, sammeln die Geldmittel und gehen auf den Stimmenfang. Es ist unerfindlich, wie in großen Verbänden Wahlen ohne diesen Betrieb überhaupt sachgemäß zustande kommen sollten. Praktisch bedeuteter die Spaltung der wahlberechtigten Staatsbürger in politisch aktive und politisch passive Elemente, und da dieser Unterschied auf Freiwilligkeit beruht, so kann er durch keinerlei Maßregeln, wie Wahlpflicht oder „berufsständische“ Vertretung oder dergleichen ausdrücklich oder tatsächlich gegen diesen Tatbestand und damit gegen die Herrschaft der Berufspolitiker gerichtete
n
[197]B: gerichteten
Vorschläge[,] beseitigt werden. Führerschaft und Gefolgschaft, als aktive Elemente freier Werbung: der Gefolgschaft sowohl wie, durch diese, der passiven Wählerschaft für die Wahl des Führers, sind notwendige Lebenselemente jeder Partei. Verschieden aber ist ihre Struktur. Die „Parteien“ etwa der mittelalterlichen Städte, wie die Guelfen und Ghibellinen,
60
[197] Die Bezeichnung „Guelfen“ und „Ghibellinen“ für die Parteien im mittelalterlichen Italien geht auf die Zeit des Machtkampfes zwischen den vom Papst unterstützten Welfen und den Staufern zu Anfang des 13. Jahrhunderts zurück. Die Guelfen bildeten die papstfreundliche Gruppierung, während die Ghibellinen – nach der Stauferburg in Waiblingen benannt – kaisertreu waren. Seit Ende des 13. Jahrhunderts waren diese Parteinamen als Bezeichnung für rivalisierende gesellschaftliche Gruppen vor allem in den ober- und mittelitalienischen Städten verbreitet.
waren rein persönliche Gefolgschaften.Anfang: als Gefolgschaft
parte Guelfa
Wenn man das Statuto
o
B: Statuta
della parte
p
B: perta
Guelfa
61
Das älteste überlieferte Statut stammt aus dem Jahre 1335; in ihm sind die sozialpolitischen und organisatorischen Grundsätze der parte Guelfa fixiert (Statuto della Parte Guelfa di Firenze, hg. von F. Bonaini, in: Giornale Storico degli Archivi Toscani, Band 1, 1857, S. 4–41). Im folgenden bezieht sich Max Weber vermutlich auf die im Jahre 1293 unter der Herrschaft des Popolo in Florenz erlassenen „Ordinamenti di giustizia“, die strenge gegen den Adel gerichtete Bestimmungen enthielten.
ansieht, die Kon[198]fiskation der Güter der Nobili – das hieß ursprünglich aller derjenigen Familien, die ritterlich lebten, also lehnsfähig waren –, ihren Ausschluß von Ämtern und Stimmrecht, die interlokalen Parteiausschüsse und die streng militärischen Organisationen und ihre Denunziantenprämien, so fühlt man sich an den Bolschewismus mit seinen Sowjets, seinen streng gesiebten Militär- und – in Rußland vor allem – Spitzelorganisationen,
62
[198] Gemeint ist vermutlich die Ende 1917 von der Sowjetregierung eingerichtete „Außerordentliche Kommission („Črezvyčajnaja komissija“; abgekürzt: ČK = Tscheka) für den Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage“, eine Geheimpolizei, die vor allem mutmaßliche Anhänger des alten Regimes verfolgte.
der Entwaffnung und politischen Entrechtung der „Bürger“, das heißt [B 31]der Unternehmer, Händler, Rentner, Geistlichen, Abkömmlinge der Dynastie, Polizeiagenten, und seinen
q
[198]B: ihren
Konfiskationen erinnert. Und wenn man auf der einen Seite sieht, daß die Militärorganisation der Partei ein nach Matrikeln zu gestaltendes reines Ritterheer war und Adlige fast alle führenden Stellen einnahmen, die Sowjets aber ihrerseits den hochentgoltenen Unternehmer, den Akkordlohn, das Taylorsystem,
63
Bezeichnung für die von dem amerikanischen Ingenieur Frederick Winslow Taylor (1856–1915) entwickelte „wissenschaftliche Betriebsführung“, die durch funktionale Zerlegung und exakte Messung der Arbeitsabläufe maximale Arbeitsleistungen zu erreichen suchte.
die Militär- und Werkstattdisziplin beibehalten oder vielmehr wieder einführen und nach ausländischem Kapital Umschau halten, mit einem Wort also: schlechthin alle von ihnen
r
B: ihr
als bürgerliche Klasseneinrichtungen bekämpften Dinge wieder annehmen mußten, um überhaupt Staat und Wirtschaft in Betrieb zu erhalten, und daß sie überdies als Hauptinstrument ihrer Staatsgewalt die Agenten der alten Ochrana
64
Gemeint ist die 1881 gegründete Geheimpolizei des Zaren. Sie unterhielt ein weitverzweigtes Agentennetz in ganz Europa und war insbesondere in Frankreich und im Deutschen Reich aktiv.
wie[199]der in Betrieb genommen haben, so wirkt diese Analogie noch frappanter. Wir haben es aber hier nicht mit solchen Gewaltsamkeitsorganisationen zu tun, sondern mit Berufspolitikern, welche durch nüchterne „friedliche“ Werbung der Partei auf dem Wahlstimmenmarkt zur Macht zu gelangen streben.
Auch diese Parteien in unserem üblichen Sinn waren zunächst, z. B. in England, Engl[ische] Parteien reine Gefolgschaften der Aristokratie. Mit jedem aus irgendeinem Grunde erfolgenden Wechsel der Partei seitens eines Peer
65
[199] Als Peers werden gemeinhin die Mitglieder des britischen Oberhauses bezeichnet; traditionell waren dies in aller Regel die Spitzen der Hocharistokratie, die dank eines ausgedehnten Grundbesitzes über eine eigenständige Machtbasis im Lande verfügten.
trat alles, was von ihm abhängig war, gleichfalls zur Gegenpartei über. Die großen Familien des Adels, nicht zuletzt der König, hatten bis zur Reformbill die Patronage einer Unmasse von Wahlkreisen.
66
Das bis zur Reformbill von 1832 bestehende System der parlamentarischen Repräsentation knüpfte die Ausübung des Wahlrechts an herkömmliche Rechte und Privilegien unterschiedlichster Art. Damit waren der Patronage der grundbesitzenden Hocharistokratie und auch der Krone Tür und Tor geöffnet, zumal die Zahl der Wahlberechtigten im Regelfall verschwindend gering war. Es kam hinzu, daß vor allem im Süden und Südwesten Englands aufgrund der demographischen Veränderungen zahlreiche fast menschenleere Wahlkreise (sog. rotten boroughs) entstanden waren, deren wenige Wähler durch politische Einflußnahme und durch finanzielle oder sonstige Zuwendungen leicht zur Abgabe ihrer Stimme im jeweils gewünschten Sinne gebracht werden konnten. Häufig wurden die Abgeordneten solcher Wahlkreise von den dort ansässigen Adelsfamilien gleichsam nach deren Belieben bestimmt. Der Wahlpatronage des hohen Adels, der überwiegend der Partei der Whigs angehörte, stand jene der Krone gegenüber, die in zahlreichen Wahlkreisen, in denen sie lukrative Staatsämter zu vergeben hatte, die Wahlen ebenfalls mühelos zugunsten eigener Kandidaten zu beeinflussen vermochte.
Diesen Adelsparteien nahe stehen die Honoratiorenparteien, wie sie mit Aufkommen der Macht des Bürgertums sich überall entwickelten. Die Kreise von „Bildung und Besitz“ unter der geistigen Führung der typischen Intellektuellenschichten des Okzidents schieden sich, teils nach Klasseninteressen, teils nach Familientradition, teils rein ideologisch bedingt, in Parteien, die sie leiteten. Geistliche, Lehrer, Professoren, Advoka[200]ten, Ärzte, Apotheker, vermögliche Landwirte, Fabrikanten – in England jene ganze Schicht, die sich zu den gentlemen rechnet – bildeten zunächst Gelegenheits[B 32]verbände, allenfalls lokale politische Klubs; in erregten Zeiten meldete sich das Kleinbürgertum, gelegentlich einmal das Proletariat, wenn ihm Führer erstanden, die aber in aller Regel nicht aus seiner Mitte stammten. In diesem Stadium bestehen interlokal organisierte Parteien als Dauerverbände draußen im Lande überhaupt noch nicht. Den Zusammenhalt schaffen lediglich die Parlamentarier; maßgebend für die Kandidatenaufstellung sind die örtlichen Honoratioren. Die Programme entstehen teils durch die Werbeaufrufe der Kandidaten, teils in Anlehnung an Honoratiorenkongresse oder Parlamentsparteibeschlüsse. Nebenamtlich und ehrenamtlich läuft, als Gelegenheitsarbeit, die Leitung der Klubs oder, wo diese fehlen (wie meist), der gänzlich formlose Betrieb der Politik seitens der wenigen dauernd daran Interessierten in normalen Zeiten; nur der Journalist ist bezahlter Berufspolitiker, nur der Zeitungsbetrieb kontinuierlicher politischer Betrieb überhaupt. Daneben nur die Parlamentssession. Die Parlamentarier und parlamentarischen Parteileiter wissen zwar, an welche örtlichen Honoratioren man sich wendet, wenn eine politische Aktion erwünscht erscheint. Aber nur in großen Städten bestehen dauernd Vereine der Parteien mit mäßigen Mitgliederbeiträgen und periodischen Zusammenkünften und öffentlichen Versammlungen zum Rechenschaftsbericht des Abgeordneten. Leben besteht nur in der Wahlzeit.
Das Interesse der Parlamentarier an der Möglichkeit interlokaler Wahlkompromisse und an der Schlagkraft einheitlicher, von breiten Kreisen des ganzen Landes anerkannter Programme und einheitlicher Agitation im Lande überhaupt bildet die Triebkraft des immer strafferen Parteizusam[201]menschlusses. Aber wenn nun ein Netz von örtlichen Parteivereinen auch in den mittleren Städten und daneben von „Vertrauensmännern“
67
[201] Vgl. dazu oben, S. 168, Anm. 8.
Vertrauensmänner-Apparat.
Regelmäßig Ehrenamt.
Daneben bezahlte Sekretäre.
Lokale Honoratioren präparieren f[ür] Wahlclub
Also: Honoratioren + Beamte
über das Land gespannt wird, mit denen ein Mitglied der Parlamentspartei als Leiter des zentralen Parteibureaus in dauernder Korrespondenz steht, bleibt im Prinzip der Charakter des Parteiapparates als eines Honoratiorenverbandes unverändert. Bezahlte Beamte fehlen außerhalb des Zentralbureaus noch; es sind durchweg „angesehene“ Leute, welche [B 33]um der Schätzung willen, die sie sonst genießen, die örtlichen Vereine leiten: die außerparlamentarischen „Honoratioren“, die neben der politischen Honoratiorenschicht der einmal im Parlament sitzenden Abgeordneten Einfluß üben. Die geistige Nahrung für Presse und örtliche Versammlungen beschafft allerdings zunehmend die von der Partei herausgegebene Parteikorrespondenz. Regelmäßige Mitgliederbeiträge werden unentbehrlich; ein Bruchteil muß den Geldkosten der Zentrale dienen. In diesem Stadium befanden sich noch vor nicht allzu langer Zeit die meisten deutschen Parteiorganisationen. In Frankreich vollends herrschte teilweise noch das erste Stadium: der ganz labile Zusammenschluß der Parlamentarier und im Lande draußen die kleine Zahl der örtlichen Honoratioren, Programme durch die Kandidaten oder für sie von ihren Schutzpatronen im Einzelfall bei der Bewerbung aufgestellt, wenn auch unter mehr oder minder örtlicher Anlehnung an Beschlüsse und Programme der Parlamentarier. Erst teilweise war dies System durchbrochen. Die Zahl der hauptberuflichen Politiker war dabei gering und setzte sich im wesentlichen aus den gewählten Abgeordneten, den wenigen Angestellten der Zentrale, den Journalisten und – in Frankreich – im übrigen aus [202]jenen Stellenjägern zusammen, die sich in einem „politischen Amt“ befanden oder augenblicklich ein solches erstrebten. Die Politik war formell weit überwiegend Nebenberuf. Auch die Zahl der „ministrablen“ Abgeordneten war eng begrenzt, aber wegen des Honoratiorencharakters auch die der Wahlkandidaten. Die Zahl der indirekt an dem politischen Betrieb, vor allem materiell, Interessierten war aber sehr groß. Denn alle Maßregeln eines Ministeriums und vor allem alle Erledigungen von Personalfragen ergingen unter der Mitwirkung der Frage nach ihrem Einfluß auf die Wahlchancen, und alle und jede Art von Wünschen suchte man durch Vermittlung des örtlichen Abgeordneten durchzusetzen, dem der Minister, wenn er zu seiner Mehrheit gehörte – und das erstrebte daher jedermann – wohl oder übel Gehör schenken mußte. Der einzelne Deputierte hatte die Amtspatronage und überhaupt jede Art von Patronage in allen Angelegenheiten [B 34]seines Wahlkreises und hielt seinerseits, um wiedergewählt zu werden, Verbindung mit den örtlichen Honoratioren.
Diesem idyllischen Zustand der Herrschaft von Honoratiorenkreisen und vor allem: der Parlamentarier, stehen nun die modernsten Formen der Parteiorganisation scharf abweichend gegenüber. Sie sind Kinder der Demokratie, des Massenwahlrechts, der Notwendigkeit der Massenwerbung und Massenorganisation, der Entwicklung höchster Einheit der Leitung und strengster Disziplin. Die Honoratiorenherrschaft und die Lenkung durch die Parlamentarier hört auf. „Hauptberufliche“ Politiker außerhalb der Parlamente nehmen den Betrieb in die Hand. Entweder als „Unternehmer“ – wie der amerikanische Boss
68
[202] Zur Figur und Funktion des „boss“ vgl. Webers eigene Ausführungen, unten, S. 215ff.
und auch der englische „Election agent“
69
Auch nach der Wahlreform von 1832 war es durchgängig üblich, die zumeist immer [203]noch wenigen Wahlberechtigten durch finanzielle oder sonstige Zuwendungen zur Abgabe ihrer Stimme für einen bestimmten Kandidaten zu bewegen. Demgemäß spielten Geld und Patronage aller Art in den Wahlkämpfen weiterhin eine äußerst wichtige Rolle. Dabei kam den Elections Agents, die im Auftrag der jeweils dominierenden aristokratischen Familien oder der Krone die Gewinnung von Wählern im jeweiligen Wahlkreis betrieben, eine Schlüsselfunktion zu. Davon abgesehen setzte die Ausübung des Wahlrechts jeweils die Eintragung der Wähler in ein Wahlregister voraus; dies erfolgte aufgrund eines vergleichsweise komplizierten Verfahrens, das nur von juristisch qualifizierten Personen durchgeführt werden konnte. Es war Sache der Election Agents, für die rechtlich unanfechtbare Eintragung einer möglichst großen Zahl von Wählern der eigenen Partei zu sorgen, bzw. die Wahlberechtigung von Wählern der gegnerischen Partei wo immer möglich anzufechten. Vielfach vollzogen sich die Wahlkämpfe deshalb in der Form von Auseinandersetzungen zwischen den Election Agents der rivalisierenden Parteien über die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit der Eintragungen in die Election Lists, durch die das Wahlergebnis gleichsam vorweggenommen wurde. Unter solchen Umständen wuchs den Election Agents, die in aller Regel professionelle Juristen waren, in den Wahlkämpfen in den Wahlkreisen häufig eine ausschlaggebende Bedeutung zu.
es der Sache nach waren – oder [203]als fest besoldeter Beamter. Formell findet eine weitgehende Demokratisierung statt. Nicht mehr die Parlamentsfraktion schafft die maßgeblichen Programme, und nicht mehr die örtlichen Honoratioren haben die Aufstellung der Kandidaten in der Hand, sondern Versammlungen der organisierten Parteimitglieder wählen die Kandidaten aus und delegieren Mitglieder in die Versammlungen höherer Ordnung, deren es bis zum allgemeinen „Parteitag“ hinauf möglicherweise mehrere gibt. Der Tatsache nach liegt aber natürlich die Macht in den Händen derjenigen, Art der Auslese der Pol[itiker], insbes[ondere] der Führer
1. Parlamentarier
2. Partei-Betriebs-Leiter im Lande (Wahl-Apparat)
welche kontinuierlich innerhalb des Betriebes die Arbeit leisten, oder aber derjenigen, von welchen – z. B. als Mäcenaten oder Leitern mächtiger politischer Interessentenklubs (Tammany-Hall)
70
Hauptquartier der autokratisch organisierten „Tammany Society“. Diese Vereinigung politischer Interessenten kontrollierte die Demokratische Partei in New York und hatte entscheidenden Einfluß auf die Nominierung der Kandidaten und, bei erfolgreicher Wahl, auf die Besetzung der Stellen. Siehe dazu Bryce, James, The American Commonwealth, Vol. 3. – London: Macmillan 1888, S. 179ff.
– der Betrieb in seinem Gang pekuniär oder personal abhängig ist. Das Entscheidende ist, daß dieser ganze Menschenapparat – die „Maschine“, wie man ihn in den angelsächsischen Ländern bezeichnenderweise nennt
71
Zum Begriff „Maschine“ für die Parteiapparate in den USA vgl. Bryce, The American Commonwealth, Vol. 2, S. 419–449.
– oder viel[204]mehr diejenigen, die ihn leiten, den Parlamentariern Schach bieten und ihnen ihren Willen ziemlich weitgehend aufzuzwingen in der Lage sind. Und das hat besonders Bedeutung für die Auslese der Führung der Partei. Führer wird nun derjenige, dem die Maschine folgt, auch über den Kopf des Parlaments. Die Schaffung solcher Maschinen bedeutet, mit anderen Worten, den Einzug der plebiszitären Demokratie.
[B 35]Die Parteigefolgschaft, vor allem der Parteibeamte und -unternehmer, erwarten vom Siege ihres Führers selbstverständlich persönlichen Entgelt: Ämter oder andere Vorteile. Von ihm – nicht oder doch nicht nur von den einzelnen Parlamentariern: das ist das Entscheidende. Sie erwarten vor allem: daß die demagogische Wirkung der Führerpersönlichkeit im Wahlkampf der Partei Stimmen und Mandate, damit Macht zuführen und dadurch jene Chancen ihrer Anhänger, für sich den erhofften Entgelt zu finden, möglichst ausweiten werde. Und ideell ist die Genugtuung, für einen Menschen in gläubiger persönlicher Hingabe und nicht nur für ein abstraktes Programm einer aus Mittelmäßigkeiten bestehenden Partei zu arbeiten: – dies „charismatische“ Element allen Führertums, – eine der Triebfedern.
In sehr verschiedenem Maß und in stetem latentem Kampf mit den um ihren Einfluß ringenden örtlichen Honoratioren und den Parlamentariern rang sich diese Form durch. In den bürgerlichen Parteien zuerst in den Vereinigten Staaten, dann in der sozialdemokratischen Partei vor allem Deutschlands. Stete Rückschläge treten ein, sobald einmal kein allgemein anerkannter Führer da ist, und Konzessionen aller Art müssen, auch wenn er da ist, der Eitelkeit und Interessiertheit der Parteihonoratioren gemacht werden. Vor allem aber kann auch die Maschine unter die Herrschaft der Parteibeamten geraten, in deren Händen die regel[205]mäßige Arbeit liegt. Nach Ansicht mancher sozialdemokratischer Kreise sei ihre Partei dieser „Bureaukratisierung“ verfallen gewesen.
72
[205] Weber bezieht sich hier vermutlich auf Michels, Robert, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens. – Leipzig: Dr. Werner Klinkhardt 1911. Michels, der damals noch der SPD angehörte, hatte argumentiert, daß der von ihm konstatierte Bürokratisierungsprozeß die revolutionären Impulse der Partei entscheidend geschwächt habe.
Indessen „Beamte“ fügen sich einer demagogisch stark wirkenden Führerpersönlichkeit relativ leicht: ihre materiellen und ideellen Interessen sind ja intim mit der durch sie
s
[205]B: ihn
erhofften Auswirkung der Parteimacht verknüpft, und die Arbeit für einen Führer ist an sich innerlich befriedigender. Weit schwerer ist der Aufstieg von Führern da, wo – wie in den bürgerlichen Parteien meist – neben den Beamten die „Honoratioren“ den Einfluß auf die Partei in Händen haben. Denn diese „machen“ ideell „ihr Leben“ aus dem Vorstands- oder Ausschußmitgliedspöstchen, das sie innehaben. Ressentiment [B 36]gegen den Demagogen als homo novus, die Überzeugung von der Überlegenheit parteipolitischer „Erfahrung“ – die nun einmal auch tatsächlich von erheblicher Bedeutung ist – und die ideologische Besorgnis vor dem Zerbrechen der alten Parteitraditionen bestimmen ihr Handeln. Und in der Partei haben sie alle traditionalistischen Elemente für sich. Vor allem der ländliche, aber auch der kleinbürgerliche Wähler sieht auf den ihm von altersher vertrauten Honoratiorennamen und mißtraut dem ihm unbekannten Mann, um freilich, wenn dieser einmal den Erfolg für sich gehabt hat, nun ihm um so unerschütterlicher anzuhängen. Sehen wir uns an einigen Hauptbeispielen dieses Ringen der beiden Strukturformen und das namentlich von Ostrogorski
73
Siehe Ostrogorski, Μ., Democracy and the Organization of Political Parties, 2 Vols. – [206]London: Macmillan 1902. Zu dem angesprochenen Problemkreis vgl. für England, Vol. 1, S. 135ff., für die USA, Vol. 2, S. 39ff.
geschilderte Hochkommen der plebiszitären Form einmal an.
[206]Zunächst England: Entwicklung in England: bis 1868: Honoratioren = Gefolgschaft im Lande u[nd] deren Gefolge dort war die Parteiorganisation bis 1868 eine fast reine Honoratioren-Organisation.
74
Weber spielt hier auf die Wahlrechtsreform von 1867 an, die weitreichende Konsequenzen für die Organisation der englischen Parteien hatte. Vor dieser Zeit beruhte die Parteiorganisation vor allem in den ländlichen Wahlkreisen nahezu ausschließlich auf den persönlichen Beziehungen von Mitgliedern der Hocharistokratie zu den lokalen Honoratioren. Die Wahlrechtsreform von 1867 führte infolge der Absenkung der Besitzqualifikation und der Veränderung der Wahlkreiseinteilung nahezu zu einer Verdoppelung der Zahl der Wahlberechtigten. Dies zwang die englischen Parteien, straffere Organisationen aufzubauen, um damit ihre Erfolgsaussichten bei den kommenden Wahlen zu erhöhen.
Die Tories stützten sich auf dem Lande Ört[liche] Honoratioren
Tories: /Pfarrer /Schulmeister /leading men
etwa auf den anglikanischen Pfarrer, daneben – meist – den Schulmeister und vor allem die Großbesitzer der betreffenden county, die Whigs meist auf solche Leute Whigs /Pfarrer (Dissenter) /Posthalter /Schreiner /Seiler /Schneider. wie den nonconformistischen Prediger (wo es ihn gab), den Posthalter, Schmied, Schneider, Seiler, solche Handwerker also, von denen – weil man mit ihnen am meisten plaudern kann – politischer Einfluß ausgehen konnte. In der Stadt schieden sich die Parteien teils nach ökonomischen, teils nach religiösen, teils einfach nach in den Familien überkommenen Parteimeinungen. Immer aber waren Honoratioren die Träger des politischen Betriebes. Darüber schwebte das Parlament und die Parteien mit dem Kabinett und mit dem „leader“,
75
Vgl. dazu oben, S. 179, Anm. 26.
der der Vorsitzende des Ministerrates oder der Opposition war. Parlamentar[ische] leader
whip. (patronage secr[etary])
Vergiebt Ämter
Dieser leader hatte neben sich die wichtigste berufspolitische Persönlichkeit der Parteiorganisation: den „Einpeitscher“ (whip).
76
Die Hauptaufgabe des „Whip“ besteht darin, für die Geschlossenheit seiner Partei bei Abstimmungen im Parlament zu sorgen. Vor den Reformen des 19. Jahrhunderts verwaltete der „Chief Whip“ der Regierungspartei, der traditionell zugleich auch ein hohes Kronamt bekleidete, die von der Regierung zu vergebenden Stellen und Pfründen. Überdies stand ihm in seiner Funktion als Parlamentssekretär des Schatzamtes ein Dispositionsfonds („Secret Service Money“) zur Verfügung, mit dessen Hilfe er – etwa durch Stimmenkauf in bestimmten Wahlkreisen oder Bestechung einzelner Abgeordneter – die Majorität seiner Partei im Parlament zu erhalten bemüht war.
In seinen Händen lag die Ämterpatronage; Chef des Apparats an ihn hatten sich also die Stellenjäger zu wenden, er benahm [207]sich darüber mit den Deputierten (Einfluß der Deputierten) der einzelnen Wahlkreise. In diesen begann sich langsam eine Berufspolitikerschicht zu entwickeln, Maschine: Lokal-Agent unbezahlt indem lokale Agenten geworben waren, die zunächst unbezahlt waren und ungefähr die Stellung unserer „Ver[B 37]trauensmänner“
77
[207] Vgl. dazu oben, S. 168, Anm. 8.
einnahmen. Daneben aber entwickelte sich für die Wahlkreise eine kapitalistische Unternehmergestalt: Avancement bezahlter Unternehmer (fancy prior)
Wahl-Agent
der „Election Agent“, dessen Existenz in der modernen, die Wahlreinheit sichernden Gesetzgebung Englands unvermeidlich war. Diese Gesetzgebung versuchte die Wahlkosten zu kontrollieren und der Macht des Geldes entgegenzutreten, indem sie den Kandidaten verpflichtete, anzugeben, was ihn die Wahl gekostet hatte:
78
Dies bezieht sich vermutlich auf die „Corrupt and Illegal Practise Act“ von 1883, die der bisher von den Kandidaten und ihren Helfern, den sog. „Election Agents“, geübten Praxis der Wahlbeeinflussung mit Hilfe finanzieller Aufwendungen (vgl. oben, S. 202f., Anm. 69) durch eine Begrenzung der Wahlausgaben im jeweiligen Wahlkreis einen Riegel vorzuschieben suchte. Seither ist die Höhe der Wahlkampfausgaben eines jeden Kandidaten gesetzlich fixiert. Der Election Agent wurde insofern in das britische Verfassungsrecht eingebunden, als er nun offiziell mit der Verwaltung der vom Kandidaten eingebrachten Geldmittel beauftragt wurde; nach der Wahl hatte er vor einer Prüfungskommission über deren Verwendung Rechenschaft abzulegen.
denn der Kandidat hatte – weit mehr, als dies früher auch bei uns vorkam – außer den Strapazen seiner Stimme auch das Vergnügen, den Geldbeutel zu ziehen. Finanz: Kandidat zahlt Der Election Agent ließ sich von ihm eine Pauschalsumme zahlen, wobei er ein gutes Geschäft zu machen pflegte. – In der Machtverteilung zwischen „leader“ und Parteihonoratioren, Alles v[on] oben organisiert. im Parlament und im Lande, hatte der erstere in England von jeher, aus zwingenden Gründen der Ermöglichung einer großen und dabei stetigen Politik, eine sehr bedeutende Stellung. Immerhin war aber der Einfluß auch der Parlamentarier d[urch] Parlamentarier und Parteihonoratioren noch erheblich.
So etwa sah die alte Parteiorganisation aus, halb Honoratiorenwirtschaft, halb bereits Angestellten- und Unternehmerbetrieb. Seit 1868 1868/77: Caucus.
Schnadhorst – Chamberlain
zuerst: Birmingham lokal
aber entwickel[208]te sich zuerst für lokale Wahlen in Birmingham, dann im ganzen Lande, das „Caucus“-System.
79
[208] Die englische Wahlreform von 1867 wies unter anderem den großen Industriestädten im Norden Englands erstmals eigene Wahlkreise zu. Um sicherzustellen, daß auch die Minorität eine Repräsentation erhielt, wurden sog. Mehrerwahlkreise mit jeweils drei Mandaten eingerichtet, jedoch mit der Maßgabe, daß jeder Wähler nur zwei Stimmen abgeben konnte. Mit Hilfe eines zentral organisierten Parteiapparats („caucus") auf Wahlkreisebene suchten die Liberalen in Birmingham unter Leitung Joseph Chamberlains diese Bestimmungen zu unterlaufen. Im Jahre 1868 gelang es ihnen erstmals, durch präzise Instruktion der Wähler deren Wahlverhalten so zu steuern, daß den Liberalen alle drei Mandate zufielen.
Ein nonconformistischer Pfarrer
80
Wie aus dem Stichwortmanuskript hervorgeht, ist damit der langjährige Mitarbeiter Chamberlains, Francis Schnadhorst, gemeint. Dieser wurde allerdings erst 1873 als Nachfolger von William Harris zum Sekretär der „Birmingham Liberal Association“ gewählt. In den folgenden Jahren hat Schnadhorst dann auch die Organisation der Liberal Party in anderen Städten nach dem Modell des Birmingham-„Caucus“ umgestaltet. Seine Bezeichnung als „nonconformistischer Pfarrer“ bezieht sich vermutlich darauf, daß sich Schnadhorst, der von Beruf Tuchhändler war und nicht der anglikanischen Hochkirche angehörte, zu Beginn seiner politischen Laufbahn als Mitglied des „Central Nonconformist Committee“ in Birmingham einen Namen gemacht hatte. Vgl. dazu McGill, Barry, Francis Schnadhorst and Liberal Party Organization, in: The Journal of Modern History, Vol. 34, 1962, S. 19–39.
und neben ihm Josef Chamberlain riefen dieses System ins Leben. Anlaß war die Demokratisierung des Wahlrechts. Quartierwahl der Komitee’s
Zutritt, Cooptation
Massen herangezogen
Folge der Demokratisierung des Wahlrechts
Bürokratisierung
Zur Massengewinnung wurde es notwendig, einen ungeheuren Apparat von demokratisch aussehenden Verbänden ins Leben zu rufen, in jedem Stadtquartier einen Wahlverband zu bilden, unausgesetzt den Betrieb in Bewegung zu halten, alles straff zu bureaukratisieren: zunehmend angestellte bezahlte Beamte, von den lokalen Wahlkomitees, in denen bald im ganzen vielleicht 10% der Wähler organisiert waren, gewählte Hauptvermittler mit Kooptationsrecht als formelle Träger der Parteipolitik. Die treibende Kraft waren die lokalen, vor allem die an der Kommunalpolitik – überall der Quelle der fettesten materiellen Chancen – interessierten Kreise, die auch die Finanzmittel in erster Linie aufbrachten. Diese neuentstehende, nicht mehr parlamentarisch geleitete [B 38]Maschine hatte sehr bald Kämpfe mit den bisherigen Machthabern [209]zu führen, vor allen mit dem whip, bestand aber, gestützt auf die lokalen Interessenten, den Kampf derart siegreich, daß der whip sich fügen und mit ihr paktieren
t
[209]B: praktieren
mußte. Das Resultat war eine Zentralisation der ganzen Gewalt Aber nur scheinbare Demok[ratisierung] der Partei in der Hand der wenigen und letztlich der einen Person, die an der Spitze der Partei stand. Denn in der liberalen Partei war das ganze System aufgekommen in Verbindung mit dem Emporsteigen Gladstones zur Macht. Das Faszinierende der Gladstoneschen „großen“ Demagogie, Faktisch: Plebiszitäre Führerschaft.
Gladstone
der feste Glaube der Massen an den ethischen Gehalt seiner Politik und vor allem an den ethischen Charakter seiner Persönlichkeit war es, der diese Maschine so schnell zum Siege über die Honoratioren führte. Ein cäsaristisch-plebiszitäres Element in der Politik: der Diktator des Wahlschlachtfeldes, trat auf den Plan. Das äußerte sich sehr bald. 1877 wurde der Caucus zum erstenmal bei den staatlichen Wahlen tätig.
81
[209] 1877 fanden keine allgemeinen Wahlen statt. Vermutlich spielt Weber mit dieser Bemerkung auf den 1877 erfolgten Zusammenschluß einer Vielzahl lokaler liberaler Parteiorganisationen zur „National Liberal Federation“ an. Deren Tätigkeit schuf die Basis für den Erfolg der Liberalen bei den Wahlen von 1880.
Mit glänzendem Erfolg: Disraelis Sturz mitten in seinen großen Erfolgen war das Resultat.
82
Bei den Wahlen von 1880 mußte die von Disraeli geführte Konservative Partei eine empfindliche Niederlage hinnehmen; Disraeli, der mit seiner Politik der imperialen Konsolidierung die Weltmachtstellung Großbritanniens gesichert hatte, trat daraufhin zurück und machte einer liberalen Regierung unter Gladstone Platz.
1886
u
B: 1866
war die Maschine bereitsSchon 1886 Caucus ohne sachl[iches] Programm.
nur Person.
derart vollständig charismatisch an der Person orientiert, daß, als die Home-rule-Frage aufgerollt wurde,
83
Die irische Nationalpartei unter Führung von Charles Parnell, die in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts eine Schlüsselstellung im Unterhaus besaß, machte ihre Zusammenarbeit mit den Liberalen von der Gewährung der „Home Rule“, d. h. eines autonomen Status für Irland mit eigener Regierung und eigenem Parlament im Rahmen des Vereinigten Königreichs, abhängig. Um sich die parlamentarische Unterstützung der irischen Abgeordneten zu sichern, brachte die Regierung Gladstone im Juni 1886 einen Gesetzentwurf zugunsten der „Home Rule“ ein.
der ganze Apparat von oben bis unten nicht fragte: Stehen wir sachlich auf dem Boden [210]Gladstones?, sondern einfach auf das Wort Gladstones mit ihm abschwenkte und sagte: Was er tut, wir folgen ihm – und seinen eigenen Schöpfer, Chamberlain, im Stich ließ.
84
[210] Gladstones Eintreten für die Gewährung der „Home Rule“ an Irland führte innerhalb der Liberalen Partei zu erheblichen Konflikten. Chamberlain und Dilke, die Führer des radikalen Flügels der Liberalen Partei, wandten sich entschieden gegen die Gewährung der Autonomie an Irland und drohten mit einer Parteispaltung. Die in der 1877 gegründeten „National Liberal Federation“ (siehe oben, S. 209, Anm. 81) zusammengeschlossenen liberalen Organisationen unterstützten jedoch Gladstone. Daraufhin gründete eine Minderheit unter Führung Chamberlains eine eigene Fraktion, die sog. „liberalen Unionisten“, die später mit der Konservativen Partei verschmolz.
Diese Maschinerie bedarf eines erheblichen Personenapparates. Es sind immerhin wohl 2000 Personen in England, die direkt von der Politik der Parteien leben. Sehr viel zahlreicher sind freilich diejenigen, die rein als Stellenjäger oder als Interessenten in der Politik mitwirken, namentlich innerhalb der Gemeindepolitik. Neben den ökonomischen Chancen stehen für den brauchbaren Caucus-Politiker Eitelkeitschancen. „J.P.“
85
Justice of the Peace. Der Friedensrichter war seit Ende des 13. Jahrhunderts der Vertrauensmann der Krone zur Wahrung des Friedens im Land. Neben seiner strafrichterlichen Zuständigkeit besaß er anfänglich auch ausgedehnte Verwaltungsbefugnisse. Das Amt des Friedensrichters war ein unbesoldetes Ehrenamt, das zumeist von Angehörigen der lokalen Gentry wahrgenommen wurde.
oder gar „M.P.“
86
Member of Parliament. Auch nach der schrittweisen Demokratisierung des Wahlrechts blieb der aristokratische Charakter des englischen Staatslebens im wesentlichen erhalten. Das Unterhaus galt weiterhin als eine Vereinigung von „gentlemen“, und ein Abgeordnetenmandat brachte gesellschaftliches Ansehen und hob den sozialen Status.
zu werden, ist naturgemäß Streben des höchsten (normalen) Ehrgeizes, und solchen Leuten, die eine gute Kinderstube aufzuweisen hatten, „gentlemen“ waren, wird das zuteil. Als Höchstes winkte, insbesondere für große Geldmäzenaten – die Finanzen der Parteien beruhten zu [B 39]vielleicht 50 % auf Spenden ungenannt bleibender Geber –[,] die Peers-Würde.
Was war nun der Effekt des ganzen Systems? Daß heute die englischen Parlamentarier mit Ausnahme der paar Mitglieder des Kabinetts (und eini[211]ger Eigenbrödler) normalerweise nichts andres als gut diszipliniertes Stimmvieh sind. Bei uns im Reichstag pflegte man zum mindesten durch Erledigung von Privatkorrespondenz auf dem Schreibtisch vor seinem Platz zu markieren, daß man für das Wohl des Landes tätig sei. Derartige Gesten werden in England nicht verlangt; das Parlamentsmitglied hat nur zu stimmen und nicht Parteiverrat zu begehen; es hat zu erscheinen, wenn die Einpeitscher rufen, zu tun, was je nachdem das Kabinett oder was der leader der Opposition verfügt. Die Caucus-Maschine draußen im Lande vollends ist, wenn ein starker Führer da ist, fast gesinnungslos und ganz in den Händen des leader. Über dem Parlament steht also damit der faktisch plebiszitäre Diktator, der die Massen vermittelst der „Maschine“ hinter sich bringt, und für den die Parlamentarier nur politische Pfründner sind, die in seiner Gefolgschaft stehen.
Wie findet nun die Auslese dieser Führerschaft statt? Zunächst: nach welcher Fähigkeit? Dafür ist – nächst den überall in der Welt entscheidenden Qualitäten des Willens – natürlich die Macht der demagogischen Rede vor allem maßgebend. Ihre Art hat sich geändert von den Zeiten her, wo sie sich, wie bei Cobden, an den Verstand wandte, zu Gladstone, der ein Techniker des scheinbar nüchternen „die-Tatsachen-sprechen-lassens“ war, bis zur Gegenwart, wo vielfach rein emotional mit Mitteln, wie sie auch die Heilsarmee verwendet, gearbeitet wird, um die Massen in Bewegung zu setzen. Den bestehenden Zustand darf man wohl eine „Diktatur, beruhend auf der Ausnutzung der Emotionalität der Massen“,
87
[211] Als Zitat nicht nachgewiesen.
nennen. – Aber das sehr entwickelte System der Komiteearbeit im englischen Parlament ermöglicht es und zwingt auch [212]jeden Politiker, der auf Teilnahme an der Führung reflektiert, dort mitzuarbeiten. Alle erheblichen Minister der letzten Jahrzehnte haben diese sehr reale und wirksame Arbeitsschulung [B 40]hinter sich, und die Praxis der Berichterstattung und öffentlichen Kritik an diesen Beratungen bedingt es, daß diese Schule eine wirkliche Auslese bedeutet und den bloßen Demagogen ausschaltet.
So in England. Das dortige caucus-System war aber nur eine abgeschwächte Form, verglichen mit der amerikanischen Parteiorganisation, die das plebiszitäre Prinzip besonders früh und besonders rein zur Ausprägung brachte. Das Amerika Washingtons sollte nach seiner Idee ein von „gentlemen“ verwaltetes Gemeinwesen sein.
88
[212] Der amerikanische Verfassungskonvent, der unter der Führung George Washingtons im Mai 1787 zusammentrat, setzte sich fast ausschließlich aus Mitgliedern der Oberschicht zusammen, deren politisches Denken von der Überzeugung bestimmt war, daß die Geschicke des jungen Staates besser bei den „gentlemen“ als bei den „common people“ aufgehoben seien.
Ein gentleman war damals auch drüben ein Grundherr oder ein Mann, der Collegeerziehung hatte. So war es auch zunächst. Als sich Parteien bildeten, nahmen anfangs die Mitglieder des Repräsentantenhauses in Anspruch, Leiter zu sein wie in England zur Zeit der Honoratiorenherrschaft. Die Parteiorganisation war ganz locker. Das dauerte bis 1824. Schon vor den zwanziger Jahren war in manchen Gemeinden – die auch hier die erste Stätte der modernen Entwicklung waren – die Parteimaschine im Werden. Aber erst die Wahl von Andrew Jackson zum Präsidenten, des Kandidaten der Bauern des Westens, warf die alten Traditionen über den Haufen.
89
Nach der Präsidentschaftswahl von 1824, bei der John Quincy Adams nur knapp vor Andrew Jackson gesiegt hatte, bauten die Anhänger Jacksons eine straffe Parteiorganisation auf, aus der sich später die „Demokratische Partei“ entwickelte. Mit Hilfe einer großangelegten Wahlkampagne schlug Jackson Adams in der Wahl des Jahres 1828, bei der die Wahlmänner in den meisten Staaten erstmals nicht mehr von den Parlamenten der Einzelstaaten, sondern vom Volk direkt bestimmt wurden.
Das formelle Ende der Leitung der Parteien [213]durch führende Parlamentarier ist bald nach 1840 eingetreten, als die großen Parlamentarier – Calhoun, Webster – aus dem politischen Leben ausschieden, weil das Parlament gegenüber der Parteimaschine draußen im Lande fast jede Macht verloren hatte. Daß die plebiszitäre „Maschine“ in Amerika sich so früh entwickelte, hatte seinen Grund darin, daß dort, und nur dort, das Haupt der Exekutive und – darauf kam es an – der Chef der Amtspatronage ein plebiszitär gewählter Präsident und daß er infolge der „Gewaltenteilung“
90
[213] Das klassische Prinzip der Gewaltenteilung sieht eine scharfe Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative vor. In dem präsidentiellen System der USA, in dem die Exekutive, d. h. der Präsident, vom Volk gewählt wird, ist dieses Prinzip stärker als in den meisten parlamentarischen Systemen Europas ausgebildet, in denen die Regierung aus der Parlamentsmehrheit hervorgeht.
in seiner Amtsführung vom Parlament fast unabhängig war. Ein richtiges Beuteobjekt von Amtspfründen winkte also als Lohn des Sieges gerade bei der Präsidentenwahl. Durch das von Andrew Jackson nun ganz systematisch zum Prinzip erhobene „spoils system“
v
[213]B: „spoil system“
91
Die Formulierung des Prinzips, Regierungsämter als Amtspfründen für eigene Anhänger anzusehen und dementsprechend zu besetzen, geht auf John Learned Marcy zurück, der 1832 vor dem amerikanischen Senat davon sprach, daß Politiker „see nothing wrong in the rule that to the victor belong the spoils of the enemy.“ Vgl. Bryce, The American Commonwealth, Vol. 2, S. 480f., Anm. 1.
wurde die Konsequenz daraus gezogen.
Was bedeutet dies spoils system
w
B: spoil system
– die Zuwendung aller Bundesämter an die Gefolgschaft des siegreichen Kandidaten – für die Parteibildung heute? Daß ganz gesinnungslose Parteien [B 41]einander gegenüberstehen, reine Stellenjägerorganisationen, die für den einzelnen Wahlkampf ihre wechselnden Programme je nach der Chance des Stimmenfanges machen – in einem Maße wechselnd, wie dies trotz aller Analogien doch anderwärts sich nicht findet. Die Parteien sind eben ganz und gar [214]zugeschnitten auf den für die Amtspatronage wichtigsten Wahlkampf: den um die Präsidentschaft der Union und um die Governorstellen der Einzelstaaten. Programme und Kandidaten werden in den „Nationalkonventionen“ der Parteien ohne Intervention der Parlamentarier festgestellt: – von Parteitagen also, die formell sehr demokratisch von Delegiertenversammlungen beschickt wurden, welche ihrerseits ihr Mandat den „primaries“, den Urwählerversammlungen der Partei, verdanken.
92
[214] In den USA erfolgt die Nominierung des Präsidentschaftskandidaten einer Partei in den sog. „National Conventions“, die wenige Monate vor der Präsidentschaftswahl stattfinden und deren Delegierte den Willen der jeweiligen Parteianhänger repräsentieren. Im 19. Jahrhundert erfolgte die Delegiertenauswahl dabei durch ein abgestuftes System, dessen unterste Ebene die „primaries“, d. h. die Wahlversammlungen der Anhänger einer Partei auf Ortsebene, bildeten.
Schon in den primaries werden die Delegierten auf den Namen der Staatsoberhauptskandidaten gewählt; innerhalb der einzelnen Parteien tobt der erbittertste Kampf um die Frage der „Nomination“. In den Händen des Präsidenten liegen immerhin 300 000–400 000 Beamtenernennungen, die von ihm, nur unter Zuziehung von Senatoren der Einzelstaaten, vollzogen werden. Die Senatoren sind also mächtige Politiker. Das Repräsentantenhaus dagegen ist politisch relativ sehr machtlos, weil ihm die Beamtenpatronage entzogen ist, und die Minister, reine Gehilfen des vom Volk gegen jedermann, auch das Parlament, legitimierten Präsidenten, unabhängig von seinem Vertrauen oder Mißtrauen ihres Amtes walten können: eine Folge der „Gewaltenteilung“.
Das dadurch gestützte spoils system
x
[214]B: spoil system
war in Amerika technisch möglich, weil bei der Jugend der amerikanischen Kultur eine reine Dilettantenwirtschaft ertragen werden konnte. Denn 300 000–400 000 solcher Parteileute, die nichts für [215]ihre Qualifikation anzuführen hatten als die Tatsache, daß sie ihrer Partei gute Dienste geleistet hatten, – dieser Zustand konnte selbstverständlich nicht bestehen ohne ungeheure Übelstände: Korruption und Vergeudung ohnegleichen, die nur ein Land mit noch unbegrenzten ökonomischen Chancen ertrug.
Diejenige Figur nun, die mit diesem System der plebiszitären [B 42]Parteimaschine auf der Bildfläche erscheint, ist: der „Boss“. Was ist der Boss? Ein politischer kapitalistischer Unternehmer, der für seine Rechnung und Gefahr Wahlstimmen herbeischafft. Er kann als Rechtsanwalt oder Kneipwirt oder Inhaber ähnlicher Betriebe oder etwa als Kreditgeber seine ersten Beziehungen gewonnen haben. Von da aus spinnt er seine Fäden weiter, bis er eine bestimmte Anzahl von Stimmen zu „kontrollieren“ vermag. Hat er es so weit gebracht, so tritt er mit den Nachbarbosses in Verbindung, erregt durch Eifer, Geschicklichkeit und vor allen Dingen: Diskretion die Aufmerksamkeit derjenigen, die es in der Karriere schon weiter gebracht haben, und steigt nun auf. Der Boss ist unentbehrlich für die Organisation der Partei. Die liegt zentralisiert in seiner Hand. Er beschafft sehr wesentlich die Mittel. Wie kommt er zu ihnen? Nun, teilweise durch Mitgliederbeiträge; vor allem durch Besteuerung der Gehälter jener Beamten, die durch ihn und seine Partei ins Amt kamen. Dann durch Bestechungs- und Trinkgelder. Wer eines der zahlreichen Gesetze ungestraft verletzen will, bedarf der Konnivenz der Bosses und muß sie bezahlen. Sonst erwachsen ihm unweigerlich Unannehmlichkeiten. Aber damit allein ist das erforderliche Betriebskapital noch nicht beschafft. Der Boss ist unentbehrlich als direkter Empfänger des Geldes der großen Finanzmagnaten. Die würden keinem bezahlten Parteibeamten oder irgend einem öffentlich rechnunglegenden Menschen überhaupt Geld für Wahl[216]zwecke anvertrauen. Der Boss mit seiner klüglichen Diskretion in Geldsachen ist selbstverständlich der Mann derjenigen kapitalistischen Kreise, welche die Wahl finanzieren. Der typische Boss ist ein absolut nüchterner Mann. Er strebt nicht nach sozialer Ehre; der „professional“ ist verachtet innerhalb der „guten Gesellschaft“. Er sucht ausschließlich Macht, Macht als Geldquelle, aber auch: um ihrer selbst willen. Er arbeitet im Dunklen, das ist sein Gegensatz zum englischen leader. Man wird ihn selbst nicht öffentlich reden hören; er suggeriert den Rednern, was sie in zweckmäßiger Weise zu sagen haben, er selbst aber schweigt. Er nimmt in aller Regel kein Amt an, außer dem des Senators [B 43]im Bundessenat. Denn da die Senatoren an der Amtspatronage kraft Verfassung beteiligt sind, sitzen die leitenden Bosses oft in Person in dieser Körperschaft. Die Vergebung der Ämter erfolgt in erster Linie nach der Leistung für die Partei. Aber auch der Zuschlag gegen Geldgebote kam vielfach vor, und es existierten für einzelne Ämter bestimmte Taxen: ein Ämterverkaufssystem, wie es die Monarchien des 17. und 18. Jahrhunderts mit Einschluß des Kirchenstaates ja auch vielfach kannten.
93
[216] Vgl. dazu oben, S. 173, Anm. 12.
Der Boss hat keine festen politischen „Prinzipien“, er ist vollkommen gesinnungslos und fragt nur: Was fängt Stimmen? Er ist nicht selten ein ziemlich schlecht erzogener Mann. Er pflegt aber in seinem Privatleben einwandfrei und korrekt zu leben. Nur in seiner politischen Ethik paßt er sich naturgemäß der einmal gegebenen Durchschnittsethik des politischen Handelns an, wie sehr viele von uns in der Zeit des Hamsterns
94
Während des Ersten Weltkrieges hatte sich im Deutschen Reich infolge der wirtschaftlichen Blockade der Entente-Mächte die Nahrungsmittelversorgung dramatisch verschlechtert. Insbesondere die Stadtbevölkerung litt unter dem Mangel und versuchte, durch sog. Hamsterfahrten zu den Bauern auf dem Land ihre Lage zu verbessern.
auch auf dem [217]Gebiete der ökonomischen Ethik getan haben dürften. Daß man ihn als „professional“, als Berufspolitiker, gesellschaftlich verachtet, ficht ihn nicht an. Daß er selbst nicht in die großen Ämter der Union gelangt und gelangen will, hat dabei den Vorzug: daß nicht selten parteifremde Intelligenzen: Notabilitäten also, und nicht immer wieder die alten Parteihonoratioren wie bei uns, in die Kandidatur hineinkommen, wenn die Bosses sich davon Zugkraft bei den Wahlen versprechen. Gerade die Struktur dieser gesinnungslosen Parteien mit ihren gesellschaftlich verachteten Machthabern hat daher tüchtigen Männern zur Präsidentschaft verholfen, die bei uns niemals hochgekommen wären. Freilich, gegen einen Outsider, der ihren Geld- und Machtquellen gefährlich werden könnte, sträuben sich die Bosses. Aber im Konkurrenzkampf um die Gunst der Wähler haben sie nicht selten sich zur Akzeptierung gerade von solchen Kandidaten herbeilassen müssen, die als Korruptionsgegner galten.
Hier ist also ein stark kapitalistischer, von oben bis unten straff durchorganisierter Parteibetrieb vorhanden, gestützt auch durch die überaus festen, ordensartig organisierten Klubs von der Art von Tammany Hall,
95
[217] Vgl. dazu oben, S. 203, Anm. 70.
die ausschließlich die Profiterzielung [B 44]durch politische Beherrschung vor allem von Kommunalverwaltungen – auch hier des wichtigsten Ausbeutungsobjektes – erstreben. Möglich war diese Struktur des Parteilebens infolge der hochgradigen Demokratie der Vereinigten Staaten als eines „Neulandes“. Dieser Zusammenhang nun bedingt, daß dies System im langsamen Absterben begriffen ist. Amerika kann nicht mehr nur durch Dilettanten regiert werden. Von amerikanischen Arbeitern bekam man noch vor 15 Jahren auf die [218]Frage, warum sie sich so von Politikern regieren ließen, die sie selbst zu verachten erklärten, die Antwort: „Wir haben lieber Leute als Beamte, auf die wir spucken, als wie bei euch eine Beamtenkaste, die auf uns spuckt.“
96
[218] Als Zitat nicht nachgewiesen. Max Weber hat die bürokratiefeindliche Haltung der amerikanischen Arbeiter auch in seinem 1918 in Wien gehaltenen Vortrag „Der Sozialismus“ eingehend beschrieben. Weber, Max, Der Sozialismus. – Wien: „Phöbus“ Kommissionsverlag Dr. Victor Pimmer [1918], S. 6f. (MWG I/15, S. 604). Max Weber dürfte derartige Äußerungen im Jahre 1904 gehört haben, als er sich anläßlich seiner Teilnahme an einem im Rahmen der Weltausstellung organisierten wissenschaftlichen Kongreß in St. Louis mehrere Monate in den USA aufhielt und quer durch das Land reiste.
Das war der alte Standpunkt amerikanischer „Demokratie“: die Sozialisten dachten schon damals völlig anders. Der Zustand wird nicht mehr ertragen. Die Dilettantenverwaltung reicht nicht mehr aus, und die Civil Service Reform
97
Vgl. dazu oben, S. 176, Anm. 20.
schafft lebenslängliche pensionsfähige Stellen in stets wachsender Zahl, und bewirkt so, daß auf der Universität geschulte Beamte, genau so unbestechlich und tüchtig wie die unsrigen[,] in die Ämter kommen. Rund 100 000 Ämter sind schon jetzt nicht mehr im Wahlturnus Beuteobjekt, sondern pensionsfähig und an Qualifikationsnachweis geknüpft. Das wird das spoils system
a
[218]B: spoil system
langsam mehr zurücktreten lassen, und die Art der Parteileitung wird sich dann wohl ebenfalls umbilden, wir wissen nur noch nicht, wie.
In Deutschland In Deutschland.waren die entscheidenden Bedingungen des politischen Betriebes bisher im wesentlichen folgende. Erstens: Machtlosigkeit der Parlamente. 1) Machtlose Parlamente.
Ministerien Beamtenpfründen
Keine Auslesestätte f[ür] Politiker.
Die Folge war: daß kein Mensch, der Führerqualität hatte, dauernd hineinging. Gesetzt den Fall, man wollte hineingehen, – was konnte man dort tun? Wenn eine Kanzleistelle frei wurde, konnte man dem betreffenden Verwaltungschef sagen: ich habe in meinem Wahlkreis einen sehr tüch[219]tigen Mann, der wäre geeignet, nehmen Sie
b
[219]B: sie
den doch. Und das geschah gern. Das war aber so ziemlich alles, was ein deutscher Parlamentarier für die Befriedigung seiner Machtinstinkte erreichen konnte, – wenn er solche hatte. Dazu trat – und dies zweite Moment bedingte das erste –: die ungeheure Bedeutung des geschulten Fachbeamtentums in Deutschland. [B 45]Wir waren darin die ersten der Welt. Diese Bedeutung brachte es mit sich, daß dies Fachbeamtentum nicht nur die Fachbeamtenstellen, sondern auch die Ministerposten für sich beanspruchte. Im bayerischen Landtag ist es gewesen, wo im vorigen Jahre, als die Parlamentarisierung zur Diskussion stand, gesagt wurde: die begabten Leute werden dann nicht mehr Beamte werden, wenn man die Parlamentarier in die Ministerien setzt.
98
[219] In den Jahren 1917/18 war es im bayerischen Landtag wiederholt zu Verhandlungen über eine Parlamentarisierung der bayerischen Verfassung gekommen. Siehe dazu u. a. Albrecht, Willy, Landtag und Regierung in Bayern am Vorabend der Revolution von 1918. Studien zur gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklung Deutschlands von 1912–1918. – Berlin: Duncker & Humblot 1968, S. 259ff. Der Sachverhalt als solcher ließ sich nicht aufklären.
Die Beamtenverwaltung entzog sich überdies systematisch einer solchen Art von Kontrolle, wie sie die englischen Komitee-Erörterungen bedeuten, und setzte so die Parlamente außer stand – von wenigen Ausnahmen abgesehen –, wirklich brauchbare Verwaltungschefs in ihrer Mitte heranzubilden.
Das dritte war, daß wir in Deutschland, im Gegensatz zu Amerika, gesinnungspolitische Parteien 2) Gesinnungs-Parteien hatten, die zum mindesten mit subjektiver bona fides behaupteten, daß ihre Mitglieder „Weltanschauungen“ vertraten. Die beiden wichtigsten dieser Parteien: Darunter: Kathol[ische] Partei
Sozialisten
geborene Minoritäten-Parteien
das Zentrum einerseits, die Sozialdemokratie andererseits, waren nun aber geborene Minoritätsparteien und zwar nach ihrer eigenen Absicht. Die führenden Zentrumskreise im Reich [220]haben nie ein Hehl daraus gemacht, daß sie deshalb gegen den Parlamentarismus seien, weil sie fürchteten, in die Minderheit zu kommen und ihnen dann die Unterbringung von Stellenjägern wie bisher, durch Druck auf die Regierung, erschwert würde.
99
[220] Bereits kurz vor den Reichstagswahlen von 1907, die wegen der scharfen Kritik des Zentrums an der Kolonialpolitik des Reichs, einschließlich der Benachteiligung der katholischen Missionen in den afrikanischen Kolonien, herbeigeführt worden waren, hatte Max Weber der Zentrumsführung vorgeworfen, daß diese „nicht die Controlle der Colonialverwaltung durch den Reichstag […], sondern die Aufrechterhaltung der hinter den Coulissen herlaufenden ‚parlamentarischen Patronage‘“ verlangt habe, daß sie also, mit anderen Worten, nicht „reale Macht der Volksvertretung gegenüber der Krone, sondern persönliche Bonbons“ aus deren Händen angestrebt habe. In diesem Zusammenhang bezeichnete er das Zentrum als „die Partei des Scheinkonstitutionalismus“. Vgl. Brief an Friedrich Naumann vom 14. Dez. 1906, ZStA Potsdam, Nl. Friedrich Naumann, Nr. 106 (MWG II/5, S. 201ff.). In diesem Urteil sah er sich durch die Unentschiedenheit des Zentrums in der Reichstagsdebatte vom November 1909 über eine Änderung der Reichsverfassung zwecks Beseitigung des „persönlichen Regiments“ Wilhelms II. bestätigt. In der Tat betrachtete die Zentrumspartei „die Abwehr der gegen den katholischen Volksteil gerichteten Maßnahmen auf dem Gebiete der Gesetzgebung und Verwaltung“ als ihre „erste und dringendste Aufgabe“ und die Wahrung „der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung der katholischen Minderheit“ als eine ihrer „vornehmsten Pflichten“, während sie sich ansonsten ausdrücklich als „auf dem Boden der Verfassung“ des Deutschen Reiches stehend bezeichnete und demgemäß eine Parlamentarisierung nicht für vordringlich hielt. Siehe: Berliner Erklärung der Zentrumspartei vom 28. November 1909, in: Mommsen, Wilhelm (Hg.), Deutsche Parteiprogramme, 2. Aufl. – München: Isar Verlag 1960, S. 245f.
Die Sozialdemokratie war prinzipielle Minderheitspartei und ein Hemmnis der Parlamentarisierung, weil sie sich mit der gegebenen politisch-bürgerlichen Ordnung nicht beflecken wollte. Die Tatsache, daß beide Parteien sich ausschlossen vom parlamentarischen System, machte dieses unmöglich.
Was wurde dabei aus den deutschen Berufspolitikern? 3) Berufspolitiker keine Honoratioren
keine Verantwortung
keine Chancen
Sie hatten keine Macht, keine Verantwortung, konnten nur eine ziemlich subalterne Honoratiorenrolle spielen und waren infolgedessen neuerlich beseelt von den überall typischen Zunftinstinkten
c
[220]B: Zunftsinstinkten
. Es war unmöglich, im Kreise dieser Honoratioren, die ihr Leben aus ihrem kleinen Pöstchen machten, hoch zu steigen für einen ihnen nicht [221]gleichgearteten Mann. Ich könnte aus jeder Partei, selbstverständlich die Sozialdemokratie [B 46]nicht aus¬Vor der Revol[ution] Soz[ial-]Dem[okratie] rein bürokratisierte Partei genommen, zahlreiche Namen nennen, die Tragödien der politischen Laufbahn bedeuteten, weil der Betreffende Führerqualitäten hatte und um eben deswillen von den Honoratioren nicht geduldet wurde. Diesen Weg der Entwicklung zur Honoratiorenzunft sind alle unsere Parteien gegangen. Bebel z. B. war noch ein Führer,Bebel letzter Führer (Märtyrer) dem Temperament und der Lauterkeit des Charakters nach, so bescheiden sein Intellekt war. Die Tatsache, daß er Märtyrer war,
100
[221] Dies bezieht sich darauf, daß August Bebel für seine politische Überzeugung wiederholt Gefängnisstrafen hatte auf sich nehmen müssen, so bereits im Jahre 1869 eine dreiwöchige Gefängnisstrafe in Leipzig wegen der Verlesung eines Aufrufs „An das spanische Volk“ und 1870/71 101 Tage Untersuchungshaft wegen seiner Opposition gegen die Reichsgründungspolitik Bismarcks, was seine Wahl in den ersten Reichstag jedoch nicht verhinderte. Im sog. Leipziger Hochverratsprozeß im März 1872 wurde Bebel zu zwei Jahren Festungshaft unter Anrechnung von zwei Monaten Untersuchungshaft verurteilt. Noch im gleichen Jahr erfolgte eine Verurteilung wegen Majestätsbeleidigung zu neun Monaten Gefängnis, doch wurde diese Strafe als durch die Festungshaft abgegolten betrachtet. 1877 wurde Bebel dann wegen angeblicher Beleidigung Bismarcks erneut zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Bebel hat diese Haftstrafen und die ihnen vorangehenden Gerichtsverhandlungen von Anfang an mit größtem Erfolg agitatorisch ausgenutzt. Vgl. Bebel, August, Aus meinem Leben, 3 Bände. – Stuttgart: J. H. W. Dietz Nachf. 1910–1914, hier Band 1, 1910, S. 214ff., und Band 2, 1911, S. 205ff., 245ff., 257f. und 390ff.
daß er das Vertrauen der Massen niemals täuschte (in deren Augen), hatte zur Folge, daß er sie schlechthin hinter sich hatte und es keine Macht innerhalb der Partei gab, die ernsthaft gegen ihn hätte auftreten können. Nach seinem Tode hatte das ein Ende, und die Beamtenherrschaft begann. Gewerkschaftsbeamte, Parteisekretäre, Gewerkschafts- u[nd] Parteibeamte u[nd] Journalisten
ehrenhaft (cf Amerika)
aber keinerlei Führer.
Hochkommen erschwert.
Journalisten kamen in die Höhe, Beamteninstinkte beherrschten die Partei, ein höchst ehrenhaftes Beamtentum – selten ehrenhaft darf man, mit Rücksicht auf die Verhältnisse anderer Länder, besonders im Hinblick auf die oft bestechlichen Gewerkschaftsbeamten in Amerika, sagen –, aber die früher erörterten Konsequenzen der Beamtenherrschaft traten auch in der Partei ein.
[222]Die bürgerlichen Parteien bürgerl[iche] Parteien: noch Honoratioren-Parteien wurden seit den achtziger Jahren vollends Honoratiorenzünfte. Gelegentlich zwar mußten die Parteien zu Reklame zwecken außerparteiliche Intelligenzen heranziehen, Ausnahmsweise einmal e[ine] Notabilität um sagen zu können: „diese und diese Namen haben wir.“ Möglichst vermieden sie es, dieselben in die Wahl hineinkommen zu lassen, und nur wo es unvermeidlich war, der Betreffende es sich nicht anders gefallen ließ, geschah es.
101
[222] Vermutlich Anspielung darauf, daß die Deutsche Demokratische Partei Max Weber ungeachtet seines Engagements im Wahlkampf nicht für die Nationalversammlung nominiert hatte. Vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 119f.
Im Parlamente der gleiche Geist. Unsere Parlamentsparteien waren und sind Zünfte. Fraktion im Parlament: Zunft
Reden zensiert
Fraktions-Turnus dabei Fraktionszwang.
Führer perhorresziert.
Jede Rede, die gehalten wird im Plenum des Reichstages, ist vorher durchrezensiert in der Partei. Das merkt man ihrer unerhörten Langweile an. Nur wer als Redner bestellt ist, kann zu Wort kommen. Ein stärkerer Gegensatz gegen die englische, aber auch – aus ganz entgegengesetzten Gründen – die französische Gepflogenheit ist kaum denkbar.
102
Nach den Prinzipien des englischen Parlamentsverfahrens ist die gesamte parlamentarische Beratung grundsätzlich Debatte, also keine Aneinanderreihung von Monologen, sondern Rede und Gegenrede über ein konkretes, auf der Tagesordnung stehendes Thema. Dabei gibt es im englischen Parlament keine Rednerliste; über die Abfolge der Redner entscheidet der „Speaker“, dem die Abgeordneten ihren Wunsch zu sprechen signalisiert haben. Das französische Parlamentssystem der Dritten Republik kannte zwar durchaus Fraktionen, doch waren diese vergleichsweise lose organisiert. Insbesondere das Prinzip des von Weisungen unabhängigen, nur der Nation verpflichteten Abgeordneten hinderte lange Zeit erfolgreich die Durchsetzung eines Fraktionszwanges.
Jetzt Jetzt: Alles in Umordnung ist infolge des gewaltigen Zusammenbruchs, den man Revolution zu nennen pflegt, vielleicht eine Umwandlung im [B 47]Gange. Vielleicht – nicht sicher. Zunächst traten Ansätze zu neuen Arten von Parteiapparaten auf. Apparate nun (neben Honoratioren u[nd] Beamten) von 2erlei Art
1. Ideologen (Studenten)
2. Geschäftsleute
Erstens Amateurapparate. Besonders oft vertreten durch Studenten der verschiedenen Hochschulen, die einem Mann,dem sie Führerqualitäten zuschreiben, sagen: wir wollen für Sie die nötige Arbeit versehen, führen Sie sie aus. Zweitens geschäftsmännische Appara[223]te. Es kam vor, daß Leute zu Männern kamen, denen sie Führerqualitäten zuschrieben, und sich erboten, gegen feste Beträge für jede Wahlstimme die Werbung zu übernehmen. – Wenn Sie mich ehrlich fragen würden, welchen von diesen beiden Apparaten ich unter rein technisch-politischen Gesichtspunkten für verläßlicher halten wollte, bei Wahl: Nr. 2 sowürde ich, glaube ich, den letzteren vorziehen. Aber beides waren schnell aufsteigende Blasen, die rasch wieder verschwanden. Die vorhandenen Apparate schichteten sich um, arbeiteten aber weiter. Jene Erscheinungen waren nur ein Symptom dafür, daß die neuen Apparate sich vielleicht schon einstellen würden, wenn nur – die Führer da wären. Aber schon die technische Eigentümlichkeit des Verhältniswahlrechts
103
[223] Nach einer damals weitverbreiteten, auch von Max Weber geteilten Ansicht beschneidet das Verhältniswahlrecht – im Unterschied zum Mehrheitswahlrecht – die Chancen herausragender Persönlichkeiten, sich gegenüber dem Parteiapparat durchzusetzen und kraft ihrer persönlichen Führungsqualitäten gewählt zu werden, da die Aufstellung der Kandidatenlisten, zwischen denen allein der Wähler entscheiden kann, in die alleinige Kompetenz der Parteiapparate fällt.
schloß deren Hochkommen aus. Nur ein paar Diktatoren der Straße Führer: nur auf der Straße (Liebknecht)
Diktatur
entstanden und gingen wieder unter.
104
Max Weber denkt hier, wie aus dem Stichwortmanuskript hervorgeht, an Karl Liebknecht und vermutlich auch an Rosa Luxemburg, die Ende Dezember 1918 die Kommunistische Partei Deutschlands mitbegründet hatten. Beide wurden im Anschluß an den Januaraufstand der äußersten Linken in Berlin, der den Sturz des von den Mehrheitssozialdemokraten kontrollierten Rats der Volksbeauftragten zum Ziel hatte und zeitweilig große Massen der Berliner Arbeiterschaft zu mobilisieren vermochte, verhaftet und am 15. Januar 1919 von Freikorpsangehörigen ermordet.
Und nur die Gefolgschaft der Straßendiktatur ist in fester Disziplin organisiert: daher die Macht dieser verschwindenden Minderheiten.
Nehmen wir an, das änderte sich, so muß man sich nach dem früher Gesagten klarmachen: die Leitung der Parteien durch plebiszitäre Führer bedingt die „Entseelung" der Gefolgschaft, ihre geistige Proletarisierung, könnte man sagen. Um für den Führer als Apparat brauchbar zu sein, muß sie [224]blind gehorchen, Maschine im amerikanischen Sinne sein, nicht gestört durch Honoratioreneitelkeit und Prätensionen eigener Ansichten. Lincolns Wahl war nur durch diesen Charakter der Parteiorganisation möglich, und bei Gladstone trat, wie erwähnt,
105
[224] Vgl. oben, S. 209f.
das gleiche im Caucus ein. Es ist das eben der Preis, womit man die Leitung durch Führer zahlt. Aber es gibt nur die Wahl: Führerdemokratie mit „Maschine“ oder führerlose Demokratie, das heißt: die Herrschaft der „Berufspolitiker“ ohne Beruf, ohne die inneren, charismatischen Qualitäten, die [B 48]eben zum Führer machen. Und das bedeutet dann das, was die jeweilige Parteifronde gewöhnlich als Herrschaft des „Klüngels“ bezeichnet. Vorläufig haben wir nur dies letztere in Deutschland. Und für die Zukunft Maßgebend f[ür] Zukunft wird der Fortbestand, im Reich wenigstens, begünstigt einmal dadurch, daß doch wohl der Bundesrat1. Bundesrat. Also: im Reich kein Parlamentarismus wiedererstehen
106
Max Weber hielt es für ausgeschlossen, bei der Schaffung einer neuen Reichsverfassung die faktische Machtposition, die die Länder auch nach 1918 besaßen, zu vernachlässigen, wie dies unter anderen Hugo Preuß gewollt hatte. So hat er in einer im November/Dezember 1918 in der Frankfurter Zeitung veröffentlichten Artikelserie, die wenig später als eigenständige Broschüre erschien, die Ansicht vertreten, daß „vielleicht die einfache Übernahme des jetzigen Bundesrats die reinlichste Lösung“ wäre. Weber, Max, Deutschlands künftige Staatsform. – Frankfurt a.Μ.: Verlag der Frankfurter Societäts-Druckerei 1919, S. 22 (MWG I/16, S. 123). Bei den unter der Leitung von Hugo Preuß im Dezember 1918 stattfindenden Verfassungsberatungen im Reichsamt des Innern (siehe MWG I/16, S. 49–90) gab er dem dort vorherrschenden Trend zum Unitarismus insofern nach, als er „soviel Unitarismus als möglich in eine föderalistische Verfassung“ aufnehmen wollte (ebd., S. 57). Er setzte sich demgemäß dort nicht für eine Beibehaltung des von den einzelstaatlichen Regierungen beschickten und mit weitreichenden Rechten ausgestatteten Bundesrates ein, sondern erklärte sich mit der Schaffung eines Staatenhauses als dem „Mindeste[n], was den Einzelstaaten geboten werden müsse“ (ebd., S. 74), einverstanden. Über die Möglichkeit einer Abschaffung des Bundesratssystems äußerte sich Max Weber jedoch weiterhin skeptisch; so war er sich Ende Dezember 1918 „völlig“ sicher, „daß der Bundesrat – so oder so – unbedingt wiederkommt […]. Nie werden die Einzelstaaten-Regierungen sich aus der mit beschließenden Stellung auch in der Verwaltung herausdrängen lassen.“ (Brief an Hugo Preuß vom 25. Dez. [1918], ZStA Potsdam, Reichsamt des Innern, Nr. 16 807, Bl. 262–263.) Dies hatte nach Weber die Konsequenz, daß der Bundesrat, nicht der Reichstag, weiterhin das eigentliche Zentrum der politischen Entscheidungen bleiben und deshalb ein rein parlamentarisches System unmöglich sein [225]werde. Zu Webers Haltung in dieser Frage vgl. auch Mommsen, Wolfgang J., Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 2. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1974, S. 360ff. Allerdings setzten Preuß und die Reichsregierung gegen den Widerstand der Einzelstaaten schließlich doch eine weit unitarischere Verfassung durch, als Weber dies für möglich gehalten hatte. Zwar wurde mit dem „Reichsrat" eine Vertretungskörperschaft geschaffen, die dem „Bundesrat“ äußerlich glich, doch lag das Schwergewicht des politischen Prozesses hinfort im Reichstag.
und notwendig die Macht des Reichstages [225]und damit seine Bedeutung als Auslesestelle von Führern beschränken wird. Ferner durch das Verhältniswahlrecht, 3. Verhältniswahl. Also: Interessenten so, wie es jetzt gestaltet ist: eine typische Erscheinung der führerlosen Demokratie, nicht nur weil es den Kuhhandel der Honoratioren um die Placierung begünstigt, sondern auch weil es künftig den Interessentenverbänden die Möglichkeit gibt, die Aufnahme ihrer Beamten in die Listen zu erzwingen und so ein unpolitisches Parlament zu schaffen, in dem echtes Führertum keine Stätte findet. Das einzige Ventil 5. Entscheidend: Reichspräsident?
Landespräsidenten?
Kommunalpräsidenten?
für das Bedürfnis nach Führertum könnte der Reichspräsident werden, wenn er plebiszitär, nicht parlamentarisch, gewählt wird.
107
Max Weber setzte sich im Winter 1918/19 entschieden für die Wahl des Reichspräsidenten durch das Volk ein. Siehe dazu u. a. seinen Artikel „Der Reichspräsident“, der in mehreren deutschen Zeitungen, u. a. in der Königsberger Hartungschen Zeitung, Nr. 126 vom 15. März 1919, 1. Ab. Bl., S. 1, abgedruckt wurde (MWG I/16, S. 220–224).
Führertum auf dem Boden der Arbeitsbewährung könnte entstehen und ausgelesen werden vor allem dann, wenn in den großen Kommunen, wie in den Vereinigten Staaten überall da, wo man der Korruption ernstlich zu Leibe wollte, der plebiszitäre Stadtdiktator mit dem Recht, sich seine Bureaus selbständig zusammenzustellen, auf der Bildfläche erscheinen würde. Das würde eine auf solche Wahlen zugeschnittene ParteiorganisationAuslese in Parteien
Dem[okratie]
Aber: anders als in Amerika.
bedingen. Aber die durchaus kleinbürgerliche Führerfeindschaft aller Parteien, mit Einschluß vor allem der Sozialdemokratie, läßt die künftige Art der Gestaltung der Parteien und damit all dieser Chancen noch ganz im Dunkel liegen.
Es ist daher heute noch in keiner Weise zu über[226]sehen, wie sich äußerlich der Betrieb der Politik als „Beruf“ gestalten wird, noch weniger infolgedessen: auf welchem Wege sich Chancen für politisch Begabte eröffnen, vor eine befriedigende politische Aufgabe gestellt zu werden. Für den, der „von“ der Politik zu leben durch seine Vermögenslage genötigt ist, wird wohl immer die Alternative: Journalistik oder Parteibeamtenstellung als die typischen direkten Wege, oder eine der Interessenvertretungen: bei einer Gewerkschaft, Handelskammer, Land[B 49]wirtschaftskammer, Handwerkskammer, Arbeitskammer, Arbeitgeberverbänden usw., oder geeignete kommunale Stellungen in Betracht kommen. Weiteres läßt sich über die äußere Seite nichts sagen als nur dies: daß der Parteibeamte mit dem Journalisten das Odium der „Deklassiertheit“ trägt. „Lohnschreiber“ dort – „Lohnredner“ hier wird es leider immer, sei es noch so unausgesprochen, in die Ohren klingen; wer dagegen innerlich wehrlos ist und sich selbst nicht die richtige Antwort zu geben vermag, bleibe dieser Laufbahn fern, die in jedem Falle neben schweren Versuchungen ein Weg ist, der fortwährende Enttäuschungen bringen kann. Was vermag sie nun an inneren Freuden zu bieten, und welche persönlichen Vorbedingungen setzt sie bei dem voraus, der sich ihr zuwendet?
Nun, sie gewährt zunächst: Machtgefühl. Selbst in den formell bescheidenen Stellungen vermag den Berufspolitiker das Bewußtsein von Einfluß auf Menschen, von Teilnahme an der Macht über sie, vor allem aber: das Gefühl, einen Nervenstrang historisch wichtigen Geschehens mit in Händen zu halten, über den Alltag hinauszuheben. Aber die Frage ist nun für ihn: durch welche Qualitäten Wer hat Beruf zur Politik (Eisner) kann er hoffen, dieser (sei es auch im Einzelfall noch so eng umschriebenen) Macht und also der Verantwortung, die sie auf ihn legt, gerecht zu werden? Damit betreten wir das Gebiet ethischer Fragen; Ethik – Politik. denn dahin gehört die Frage: was für ein Mensch [227]man sein muß, um seine Hand in die Speichen des Rades der Geschichte legen zu dürfen.
Man kann sagen, daß drei Qualitäten vornehmlich entscheidend Politik bedarf: sind für den Politiker: Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß. Leidenschaft im Sinn von Sachlichkeit: leidenschaftliche Hingabe an eine „Sache“, an den Gott oder Dämon, der ihr Gebieter ist. Echte Leidenschaft – nicht sterile Aufgeregtheit. Nicht im Sinne jenes inneren Gebarens, welches mein verstorbener Freund Georg Simmel als „sterile Aufgeregtheit“ zu bezeichnen pflegte,
108
[227] Max Weber spielt hier möglicherweise auf eine Äußerung Georg Simmels in seinem Essay „Der Begriff und die Tragödie der Kultur“ an. Darin hatte Simmel unter anderem „das fortwährende ‚Angeregtsein' des Kulturmenschen, den dies doch nicht zu eigenem Schöpfertum anregt“, als eines der „spezifischen Kulturleiden“ bezeichnet. Siehe Simmel, Georg, Philosophische Kultur. Gesammelte Essais. – Leipzig: Dr. Werner Klinkhardt 1911, S. 276.
wie sie einem bestimmten Typus vor allem russischer Intellektueller (nicht etwa: allen von ihnen!) eignete[,] und welches jetzt in diesem Karneval, den man mit dem
d
[227]B: den
stolzen Namen einer „Revolution“ [B 50]schmückt, eine so große Rolle auch bei unsern Intellektuellen spielt: eine ins Leere verlaufende „Romantik des intellektuell Interessanten“
109
Als Zitat nicht nachgewiesen.
ohne alles sachliche Verantwortungsgefühl. Denn mit der bloßen, als noch so echt empfundenen, Leidenschaft ist es freilich nicht getan. Sie macht nicht zum Politiker, wenn sie nicht, als Dienst an
e
B: in
einer „Sache“, auch die Verantwortlichkeit gegenüber ebendieser Sache zum entscheidenden Leitstern des Handelns macht. Und dazu bedarf es – und das ist die entscheidende psychologische Qualität des Politikers – des Augenmaßes, Augenmaß = Distanz zu den Dingen
Gewachsenheit den Realitäten (nicht aus der Bahn!)
der Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen, also: der Distanz zu den Dingen und Menschen. „Distanzlosigkeit“, rein als solche, ist eine der Todsünden jedes Politikers und eine jener Qualitäten, deren Züch[228]tung bei dem Nachwuchs unserer Intellektuellen sie zu politischer Unfähigkeit verurteilen wird. Denn das Problem ist eben: wie heiße Leidenschaft und kühles Augenmaß miteinander in derselben Seele zusammengezwungen werden können? Politik wird mit dem Kopfe gemacht, nicht mit anderen Teilen des Körpers oder der Seele. Und doch kann die Hingabe an sie, wenn sie nicht ein frivoles intellektuelles Spiel, sondern menschlich echtes Handeln sein soll, nur aus Leidenschaft geboren und gespeist werden. Jene starke Bändigung der Seele aber, die den leidenschaftlichen Politiker auszeichnet und ihn von dem bloßen „steril aufgeregten“ politischen Dilettanten unterscheidet, ist nur durch die Gewöhnung an Distanz – in jedem Sinn des Wortes – möglich. Die „Stärke“ einer politischen „Persönlichkeit“ bedeutet in allererster Linie den Besitz dieser Qualitäten.
Einen ganz trivialen, allzu menschlichen Feind hat daher der Politiker täglich und stündlich in sich zu überwinden: die ganz gemeine Eitelkeit, die Todfeindin aller sachlichen Hingabe und aller Distanz, in diesem Fall: der Distanz sich selbst gegenüber.
Eitelkeit ist eine sehr verbreitete Eigenschaft, und vielleicht ist niemand ganz frei davon. Und in akademischen und Gelehrtenkreisen ist sie eine Art von Berufskrankheit. Aber gerade beim [B 51]Gelehrten ist sie, so antipathisch sie sich äußern mag, relativ harmlos in dem Sinn: daß sie in aller Regel den wissenschaftlichen Betrieb nicht stört. Ganz anders beim Politiker. Er arbeitet mit dem Streben nach Macht als unvermeidlichem Mittel. „Machtinstinkt“ – wie man sich auszudrücken pflegt – gehört daher in der Tat zu seinen normalen Qualitäten. – Die Sünde gegen den heiligen Geist seines Berufs aber beginnt da, wo dieses Machtstreben unsachlich und ein Gegenstand rein persönlicher Selbstberauschung wird, anstatt ausschließlich in den Dienst der „Sache“ zu treten. Denn es gibt letztlich nur [229]zwei Arten von Todsünden auf dem Gebiet der Politik: Unsachlichkeit und – oft, aber nicht immer, damit identisch – Verantwortungslosigkeit. Die Eitelkeit: das Bedürfnis, selbst möglichst sichtbar in den Vordergrund zu treten, führt den Politiker am stärksten in Versuchung, eine von beiden, oder beide zu begehen. Um so mehr, als der Demagoge auf „Wirkung“ zu rechnen gezwungen ist, – er ist eben deshalb stets in Gefahr, sowohl zum Schauspieler zu werden wie die Verantwortung für die Folgen seines Tuns leicht zu nehmen und nur nach dem „Eindruck“ zu fragen, den er macht. Prakt[ische] Bedeutung?
Machtpolitik?
Selbstzweck Macht?
Nein.
Seine Unsachlichkeit legt ihm nahe, den glänzenden Schein der Macht statt der wirklichen Macht zu erstreben, seine Verantwortungslosigkeit aber: die Macht lediglich um ihrer selbst willen, ohne inhaltlichen Zweck, zu genießen. Denn obwohl, oder vielmehr: gerade weil Macht das unvermeidliche Mittel, und Machtstreben daher eine der treibenden Kräfte aller Politik ist, gibt es keine verderblichere Verzerrung der politischen Kraft, als das parvenumäßige Bramarbasieren mit Macht und die eitle Selbstbespiegelung in dem Gefühl der Macht, überhaupt jede Anbetung der Macht rein als solcher. Der bloße „Machtpolitiker“, wie ihn ein auch bei uns eifrig betriebener Kult zu verklären sucht, mag stark wirken, aber er wirkt in der Tat ins Leere und Sinnlose. Darin haben die Kritiker der „Machtpolitik“ vollkommen recht. An dem plötzlichen inneren Zusammenbruche typischer Träger dieser Gesinnung haben wir erleben können, welche innere Schwäche und Ohnmacht sich hinter dieser protzigen, aber gänzlich leeren Geste verbirgt. Sie ist Produkt [B 52]einer höchst dürftigen und oberflächlichen Blasiertheit gegenüber dem Sinn menschlichen Handelns, welche keinerlei Verwandtschaft hat mit dem Wissen um die Tragik, in die alles Tun, zumal aber das politische Tun, in Wahrheit verflochten ist.
[230]Es ist durchaus wahr und eine – jetzt hier nicht näher zu begründende – Grundtatsache aller Geschichte, daß das schließliche Resultat politischen Handelns oft, nein: geradezu regelmäßig, in völlig unadäquatem, oft in geradezu paradoxem Verhältnis zu seinem ursprünglichen Sinn steht. Aber deshalb darf dieser Sinn: der Dienst an einer Sache, doch nicht etwa fehlen, wenn anders das Handeln inneren Halt haben soll. Wie die Sache auszusehen hat, in deren Dienst der Politiker Macht erstrebt und Macht verwendet, ist Glaubenssache. Er
f
[230]B: Es
kann nationalen oder menschheitlichen, sozialen und ethischen oder kulturlichen, innerweltlichen oder religiösen Zielen dienen, er kann getragen sein von starkem Glauben an den „Fortschritt“ – gleichviel in welchem Sinn – oder aber diese Art von Glauben kühl ablehnen, kann im Dienst einer „Idee“ zu stehen beanspruchen oder unter prinzipieller Ablehnung dieses Anspruches äußeren Zielen des Alltagslebens dienen wollen, – immer muß irgendein Glaube da sein. Sonst lastet in der Tat – das ist völlig richtig – der Fluch kreatürlicher Nichtigkeit auch auf den äußerlich stärksten politischen Erfolgen.
Mit dem Gesagten sind wir schon in der Erörterung des letzten uns heute abend angehenden Problems begriffen: des Ethos der Politik als „Sache“. Welchen Beruf kann sie selbst, ganz unabhängig von ihren Zielen, innerhalb der sittlichen Gesamtökonomie der Lebensführung ausfüllen? Welches ist, sozusagen, der ethische Ort, an dem sie beheimatet ist? Da stoßen nun freilich letzte Weltanschauungen aufeinander, zwischen denen schließlich gewählt werden muß. Gehen wir resolut an das neuerdings wieder – nach meiner Ansicht in recht verkehrter Art –
110
[230] Auf welche aktuelle Publikation hier Bezug genommen wird, ist nicht mit Zuverlässigkeit zu ermitteln. Es könnte sich dabei um Friedrich Wilhelm Foersters dritte Auflage der „Staatsbürgerlichen Erziehung“ handeln, die 1918 unter dem Titel „Politische Ethik und [231]politische Pädagogik“ erschien (vgl. dazu unten, S. 241, Anm. 130) oder um die ebenfalls 1918 veröffentlichte Schrift von Siegfried Marck „Imperialismus und Pazifismus als Weltanschauungen“ (vgl. dazu unten, S. 248, Anm. 147). Auf beide Schriften hat Max Weber weiter unten Bezug genommen. (Siehe den Text, unten, S. 240f. und S. 248)
aufgerollte Problem heran.
[231]Befreien wir es aber zunächst von einer ganz trivialen Verfälschung. Es kann nämlich zunächst1. Ethik funktioniert: als Legitimierung
Beispiel: Ehemann
(Schicksal)
die Ethik auftreten in einer sittlich höchst fatalen Rolle. Nehmen wir Beispiele. Sie werden selten finden, daß ein Mann, dessen Liebe sich von [B 53]einer Frau ab- und einer andern zuwendet, nicht das Bedürfnis empfindet, dies dadurch vor sich selbst zu legitimieren, daß er sagt: sie war meiner Liebe nicht wert, oder sie hat mich enttäuscht, oder was dergleichen „Gründe“ mehr sind. Eine Unritterlichkeit, die zu dem schlichten Schicksal: daß er sie nicht mehr liebt, und daß die Frau das tragen muß, in tiefer Unritterlichkeit sich eine „Legitimität“ hinzudichtet, kraft deren er für sich ein Recht in Anspruch nimmt und zu dem Unglück noch das Unrecht auf sie zu wälzen trachtet. Ganz ebenso verfährt der erfolgreiche erotische Konkurrent: der Gegner muß der wertlosere sein, sonst wäre er nicht unterlegen. Nichts anderes ist es aber selbstverständlich, wenn nach irgendeinem siegreichen Krieg der Sieger in würdeloser Rechthaberei beansprucht: ich siegte, denn ich hatte recht. Oder, wenn jemand unter den Fürchterlichkeiten des Krieges seelisch zusammenbricht und nun, anstatt schlicht zu sagen: es war eben zu viel, jetzt das Bedürfnis empfindet, seine Kriegsmüdigkeit Kriegsmüdigkeit. (Recht)
Schuldgefühl
Nur starke gelten!
vor sich selbst zu legitimieren, indem er die Empfindung substituiert: ich konnte das deshalb nicht ertragen, weil ich für eine sittlich schlechte Sache fechten mußte. Und ebenso bei dem im Kriege Besiegten. Statt nach alter Weiber Art nach einem Kriege nach dem „Schuldigen“ zu suchen, – wo doch die Struktur der Gesellschaft den Krieg erzeugte –, wird jede männliche und herbe Haltung [232]dem Feinde sagen: „Wir verloren den Krieg – ihr habt ihn gewonnen. Das ist nun erledigt: nun laßt uns darüber reden, welche Konsequenzen zu ziehen sind entsprechend den sachlichen Interessen, die im Spiel waren, und – die Hauptsache – angesichts der Verantwortung vor der Zukunft, die vor allem den Sieger belastet.“
111
[232] Ähnlich hat Max Weber in seinem Artikel „Zum Thema der ,Kriegsschuld‘“, Frankfurter Zeitung, Nr. 43 vom 17. Jan. 1919, 1. Mo.Bl., S. 1 (MWG I/16, S. 179–190) argumentiert. Hier wies er unter anderem auf die Verantwortung der Sieger hin und bezeichnete einen möglichen „Gewaltfrieden“ als „Schuld an der Zukunft“.
Alles andere ist würdelos und rächt sich. Verletzung ihrer Interessen verzeiht eine Nation, nicht aber Verletzung ihrer Ehre, am wenigsten eine solche durch pfäffische Rechthaberei. Jedes neue Dokument, das nach Jahrzehnten ans Licht kommt, läßt das würdelose Gezeter, den Haß und Zorn wieder aufleben, statt daß der Krieg mit seinem Ende wenigstens sittlich begraben würde. Das ist nur durch Sachlichkeit und Ritterlichkeit, vor allem nur: durch Würde Würde!: nicht auf den Straßenecken
schweigen können würdig.
möglich. Nie aber durch eine „Ethik“, die in Wahrheit eine [B 54]Würdelosigkeit beider Seiten bedeutet. Anstatt sich um das zu kümmern, was den Politiker angeht: die Zukunft und die Verantwortung vor ihr, befaßt sie sich mit politisch sterilen, weil unaustragbaren Fragen der Schuld in der Vergangenheit. Dies zu tun, ist politische Schuld, wenn es irgendeine gibt. Und dabei wird überdies die unvermeidliche Verfälschung des ganzen Problems durch sehr materielle Interessen übersehen: Interessen des Siegers am höchstmöglichen Gewinn – moralischen und materiellen –, Hoffnungen des Besiegten darauf, durch Schuldbekenntnisse Vorteile einzuhandeln:
112
Max Weber spielt hier auf die Politik des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner in der Kriegsschuldfrage an. Eisner und mit ihm große Teile der USPD waren überzeugt, daß ein rückhaltloses Eingeständnis der Schuld Deutschlands am Ausbruch des Ersten Weltkriegs die deutsche Position bei den anstehenden Friedensverhandlungen verbessern würde. Eisner ließ deshalb im November 1918 Auszüge aus den Berichten der bayerischen Gesandtschaft in Berlin von Juli und August 1914 veröffentlichen, um zu [233]zeigen, daß die deutsche Regierung Österreich-Ungarn zu einer unnachgiebigen Haltung gegenüber Serbien gedrängt habe und das Risiko einer Ausweitung des begrenzten Konflikts mit Serbien bewußt eingegangen sei. Ein quellenkritischer Abdruck der von Eisner veröffentlichten Berichte findet sich in: Bayerische Dokumente zum Kriegsausbruch und zum Versailler Schuldspruch, hg. von Pius Dirr. – München: Oldenbourg 1922, S. 3ff.
wenn es irgend etwas gibt, was „gemein[233]ist, dann dies, und das ist die Folge dieser Art von Benutzung der „Ethik“ als Mittel des „Rechthabens“.
Wie steht es denn aber mit der wirklichen Beziehung zwischen Ethik und Politik? Haben sie, wie man gelegentlich gesagt hat, gar nichts miteinander zu tun? Oder ist es umgekehrt richtig, daß „dieselbe“ Ethik für das politische Handeln wie für jedes andre gelte? Man hat zuweilen geglaubt, zwischen diesen beiden Behauptungen bestehe eine ausschließliche Alternative; entweder die eine oder die andre sei richtig. Aber ist es denn wahr: daß für erotische und geschäftliche, familiäre und amtliche Beziehungen, für die Beziehungen zu Ehefrau, Gemüsefrau, Sohn, Konkurrenten, Freund, Angeklagten die inhaltlich gleichen Gebote von irgendeiner Ethik der Welt aufgestellt werden könnten? Sollte es wirklich für die ethischen Anforderungen an die Politik so gleichgültig sein, daß diese mit einem sehr spezifischen Mittel: Macht, hinter der Gewaltsamkeit steht, arbeitet? Sehen wir nicht, daß die bolschewistischen und spartakistischen Ideologen, eben weil sie dieses Mittel der Politik anwenden,
113
Vgl. dazu oben, S. 158, Anm. 1. In einem von Rosa Luxemburg verfaßten Programm des Spartakusbundes heißt es beispielsweise, daß die proletarische Revolution zwar keineswegs „die Welt mit Gewalt nach ihrem Ideal“ modeln wolle, daß aber der sich ihr entgegensetzende Widerstand „Schritt um Schritt mit eiserner Faust, mit rücksichtsloser Energie gebrochen werden“ müsse. Siehe Mommsen (Hg.), Parteiprogramme, S. 430–439, Zitat S. 434.
genau die gleichen Resultate herbeiführen wie irgendein militaristischer Diktator? Wodurch als eben durch die Person der Gewalthaber und ihren Dilettantismus unterscheidet sich die Herrschaft der Arbeiter- und Soldatenräte von der eines [234]beliebigen Machthabers des alten Regimes? Wodurch die Polemik der meisten Vertreter der vermeintlich neuen Ethik selbst gegen die von ihnen kritisierten Gegner von der irgendwelcher anderer Demagogen? Durch die edle Absicht! wird gesagt werden. Gut. [B 55]Aber das Mittel ist es, wovon hier die Rede ist, und den Adel ihrer letzten Absichten nehmen die befehdeten Gegner mit voller subjektiver Ehrlichkeit ganz ebenso für sich in Anspruch. „Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen,“
114
[234] Bei Matthäus 26,52 heißt es: „Da sprach JEsus zu ihm: Stecke dein Schwert an seinen Ort; denn wer das Schwert nimmt, der soll durch’s Schwert umkommen.“
und Kampf ist überall Kampf. Also: – die Ethik der Bergpredigt? 2. Bergpredigt
Christl[iche] Ethik radikal
Mit der Bergpredigt – gemeint ist: die absolute Ethik des Evangeliums – ist es eine ernstere Sache, als die glauben, die diese Gebote heute gern zitieren. Mit ihr ist nicht zu spaßen. Von ihr gilt, was man von der Kausalität in der Wissenschaft gesagt hat: sie ist kein Fiaker, Ist kein Fiaker! den man beliebig halten lassen kann, um nach Befinden ein- und auszusteigen.
115
Dieses Bild geht auf Arthur Schopenhauer zurück, der in seiner Schrift „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“ bemerkt hatte: „Das Gesetz der Kausalität ist also nicht so gefällig, sich brauchen zu lassen, wie ein Fiaker, den man, angekommen wo man hingewollt, nach Hause schickt.“ Arthur Schopenhauer’s sämmtliche Werke, Band 1, hg. von Julius Frauenstädt, 2. Aufl., neue Ausg. – Leipzig: F. A. Brockhaus 1891, S. 38.
Sondern: ganz oder gar nicht, das gerade ist ihr Sinn, wenn etwas anderes als Trivialitäten herauskommen soll. Also z. B.: der reiche Jüngling: b) Reicher Jüngling – unbedingt
ich: Expropriation geordnet.
„er aber ging traurig davon, denn er hatte viele Güter“.
116
Bei Matthäus 19,22 heißt es: „Da der Jüngling das Wort hörte, ging er betrübt von ihm; denn er hatte viele Güter.“
Das evangelische Gebot ist unbedingt und eindeutig: gib her, was du hast – alles, schlechthin. Der Politiker wird sagen: eine sozial sinnlose Zumutung, solange es nicht für alle durchgesetzt wird. Also: Besteuerung, Wegsteuerung, Konfiskation, – mit einem Wort: Zwang und Ordnung gegen alle. [235]Das ethische Gebot aber fragt darnach gar nicht, das ist sein Wesen. Oder: „halte den anderen Backen hin!“
117
[235] Bei Matthäus 5,39 heißt es: „Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern so dir Jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar.“
a) Andere Backe.
ich: würdelos (Heiliger)
Unbedingt, ohne zu fragen, wieso es dem andern zukommt, zu schlagen. Eine Ethik der Würdelosigkeit – außer: für einen Heiligen. Das ist es: man muß ein Heiliger sein in allem, zum mindesten dem Wollen nach, muß leben wie Jesus, die Apostel, der heilige Franz heiliger Franz. und seinesgleichen, dann ist diese Ethik sinnvoll und Ausdruck einer Würde. Sonst nicht. Denn wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik
118
Max Weber versteht unter „akosmistischer Liebesethik“ eine „eigentümliche Weltflucht in Gestalt objektloser Hingabe an jeden Beliebigen, nicht um des Menschen, sondern rein um der Hingabe als solcher“ willen. Weber, Max, Zwischenbetrachtung, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1920, S. 546 (MWG I/19, S. 490).
heißt: d) Widerstehe nicht dem Übel mit Gewalt (absoluter Pazifismus) widerstehen mit Gewalt“,
119
Vgl. oben, Anm. 117.
„dem Übel nicht – so gilt für den Politiker umgekehrt der Satz: du sollst dem Übel gewaltsam widerstehen,Widerstehe dem Übel mit Gewalt
sonst: verantwortlich f[ür] Folgen.
sonst – bist du für seine Überhandnahme verantwortlich. Wer nach der Ethik des Evangeliums handeln will, der enthalte sich der Streiks Streiks (Gelbe) – denn sie sind: Zwang – und gehe in die gelben Gewerkschaften.
120
Als „gelbe“ Gewerkschaften werden die sog. „wirtschaftsfriedlichen“ Gewerkschaften bezeichnet, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich entstanden und seit 1905 auch in Deutschland – häufig mit Unterstützung der Arbeitgeber – als Werkvereine aufkamen. Anders als die den Klassenkampf propagierenden „roten“, sozialistischen Gewerkschaften betonten die „gelben“ die Übereinstimmung der Interessen von Unternehmern und Arbeitern und lehnten demgemäß den Streik als Mittel zur Durchsetzung der Interessen der Arbeitnehmerschaft ab.
Er rede aber vor allen Dingen nicht von „Revolution“. Revolution Denn jene Ethik will doch wohl nicht lehren: daß gerade der Bürgerkrieg der einzig legitime Krieg sei. Der [B 56]nach dem Evangelium handelnde Pazifist wird die Waffen ablehnen oder fortwerfen, wie es in Deutschland empfohlen wurde, als ethische Pflicht, um dem Krieg und damit: jedem Krieg, ein Ende zu machen. Der [236]Politiker wird sagen: das einzig sichere Mittel, den Krieg Krieg?
Status quo
dann: sinnlos!
für alle absehbare Zeit zu diskreditieren, wäre ein status-quo-Friede gewesen. Dann hätten sich die Völker gefragt: wozu war der Krieg? Er wäre ad absurdum geführt gewesen, – was jetzt nicht möglich ist. Denn für die Sieger – mindestens für einen Teil von ihnen – wird er sich politisch rentiert haben. Und dafür ist jenes Verhalten verantwortlich, das uns jeden Widerstand unmöglich machte.
121
[236]Im Oktober 1918 war zeitweise der Gedanke aufgetaucht, die zu erwartenden drückenden Bedingungen des Waffenstillstands und Friedensvertrags durch eine nationale „levée en masse“ abzuwehren; siehe dazu etwa den Artikel Walter Rathenaus: „Ein dunkler Tag“, in der Vossischen Zeitung, Nr. 512 vom 7. Okt. 1918, Mo.BI. Angesichts der Friedenssehnsucht der breiten Massen erwies sich dies jedoch als undurchführbar.
Nun wird – wenn die Ermattungsepoche vorbei sein wird – der Frieden diskreditiert sein, nicht der Krieg: eine Folge der absoluten Ethik.
Endlich: die Wahrheitspflicht. Sie ist für die absolute Ethik unbedingt. Also, hat man gefolgert: Publikation aller, vor allem der das eigne Land belastenden Dokumente und auf Grund dieser einseitigen Publikation: Schuldbekenntnis, einseitig,c) Kriegsschuld: – unbedingt
(„responsibility is separate“)
bedingungslos, ohne Rücksicht auf die Folgen.
122
Vgl. dazu oben, S. 232, Anm. 112.
Der Politiker wird finden, daß im Erfolg dadurch die Wahrheit nicht gefördert, sondern durch Mißbrauch und Entfesselung von Leidenschaft sicher verdunkelt wird; daß nur eine allseitige planmäßige Feststellung durch Unparteiische ich: auf Gegenseitigkeit Frucht bringen könnte,
123
Die Forderung nach Einsetzung einer neutralen Untersuchungskommission zur Prüfung der Schuldfrage war bereits unmittelbar nach Erscheinen der Aktenpublikation Eisners (siehe oben, S. 232, Anm. 112) von der Reichsregierung erhoben worden (siehe Schultheß’ Europäischer Geschichtskalender, hg. von Hans Delbrück, 1918, 1. Teil, S. 531). Max Weber hat diese Forderung unterstützt, so etwa in der von ihm mitunterzeichneten Erklärung der „Arbeitsgemeinschaft für Politik des Rechts (Heidelberger Vereinigung)“ vom Februar 1919, Preußische Jahrbücher, Band 175, März 1919, Heft 3, S. 319f. (MWG I/16, S. 523–525), sowie in seinem offenen Brief „Die Untersuchung der Schuldfrage“, Frankfurter Zeitung, Nr. 218 vom 22. März 1919, 1. Mo.Bl., S. 1 (MWG I/16, S. 230–232).
jedes andre Vorgehen für die Nation, die derartig verfährt, Folgen haben kann, die in Jahr[237]zehnten nicht wieder gut zu machen sind. Aber nach „Folgen“ fragt eben die absolute Ethik nicht.
Da liegt der entscheidende Punkt. Wir müssen uns klar machen, daß alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen,2 Arten von Ethik: unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann „gesinnungsethisch“ oder „verantwortungsethisch“ orientiert sein. Nicht daß Gesinnungsethik mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre. Davon ist natürlich keine Rede. Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt 1) Gesinnung []Christ thut Recht
2) Verantwortung f[ür] Folgen.
– religiös geredet –: „der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott [B 57]anheim“,
124
[237] Vermutlich bezieht Max Weber sich hier auf Luthers Genesis-Vorlesung, in der es heißt: „Fac tuum officium, et eventum Deo permitte.“ D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Band 44. – Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1915, S. 78.
oder unter der verantwortungsethischen: daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat. Sie mögen einem überzeugten gesinnungsethischen Syndikalisten
125
Der Syndikalismus wollte die Befreiung der Arbeiterschaft vom Kapitalismus in erster Linie mit Hilfe der Strategie der „direkten Aktion“ gegen den unmittelbaren Klassengegner, vornehmlich die Unternehmerschaft, erreichen, sei es durch Generalstreik oder Demonstrationen, sei es durch gewaltsame Aktionen gegen Sachen oder Personen, nicht aber mit Hilfe parlamentarischer oder gewerkschaftlicher Methoden herkömmlicher Art. Obwohl von solchen Aktionen eine unmittelbare Änderung der Verhältnisse nicht erwartet werden konnte, zielten diese auf eine allmähliche Erschütterung der bestehenden Sozialordnung ab. Das Fernziel war eine grundlegende Reorganisation der Gesellschaft auf der Basis dezentralisierter gewerkschaftlicher Produktionseinheiten, nicht aber ein sozialistisches System bürokratischen Typs.
ad 1: Verantwortung f[ür] Folgen abgelehnt
Syndikalist.
noch so überzeugend darlegen: daß die Folgen seines Tuns die Steigerung der Chancen der Reaktion, gesteigerte Bedrückung seiner Klasse, Hemmung ihres Aufstiegs sein werden, – und es wird auf ihn gar keinen Eindruck machen. Wenn die Folgen einer aus reiner Gesinnung fließenden Handlung üble sind, so gilt ihm nicht der Handelnde, sondern die Welt dafür verantwortlich, Nur die Welt ist dumm, wenn Folgen schlecht. die Dummheit der anderen Menschen oder – der Wille [238]des Gottes, der sie so schuf. Der Verantwortungsethiker dagegen rechnet ad 2: rechnet damit, daß die Welt dumm ist mit eben jenen durchschnittlichen Defekten der Menschen, – er hat, wie Fichte richtig gesagt hat, gar kein Recht, ihre Güte und Vollkommenheit vorauszusetzen,
126
[238] Fichte zitiert in seinem Aufsatz „Über Macchiavelli, als Schriftsteller, und Stellen aus seinen Schriften“ eine Passage aus Machiavellis „Discorsi“, in der dieser jedem Staatsmann rät, die Bösartigkeit der Menschen als Grundtatsache vorauszusetzen und stets zu bedenken, daß die Menschen diese innere Bösartigkeit sofort zeigen, sobald sich ihnen eine sichere Gelegenheit biete. Fichte bemerkt dazu, daß dieser „Hauptgrundsatz der Macchiavelli’schen Politik“ für jede „Staatslehre, die sich selbst versteht“, seine Gültigkeit nicht verloren habe. Johann Gottlieb Fichtes nachgelassene Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Band 3. – Bonn: Adolph-Markus 1835, S. 420.
er fühlt sich nicht in der Lage, die Folgen eigenen Tuns, soweit er sie voraussehen konnte, auf andere abzuwälzen. Er wird sagen: diese Folgen werden meinem Tun zugerechnet. „Verantwortlich“ fühlt sich der Gesinnungsethiker nur dafür, Verantwortung für Gesinnung des Protestes daß die Flamme der reinen Gesinnung, die Flamme z. B. des Protestes gegen die Ungerechtigkeit der sozialen Ordnung, nicht erlischt. Sie stets neu anzufachen, ist der Zweck seiner, vom möglichen Erfolg her beurteilt, ganz irrationalen Taten, die nur exemplarischen Wert haben können und sollen.
Aber auch damit ist das Problem noch nicht zu Ende. Keine Ethik der Welt Also: Verschiedene Ethik?
Ja – aber ganz generell
1. Mittel zum Zweck
2. Nebenerfolge
kommt um die Tatsache herum, daß die Erreichung „guter“ Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, daß man sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in den Kauf nimmt, und keine Ethik der Welt kann ergeben:Zweck heiligt die Mittel wann und in welchem Umfang der ethisch gute Zweck die ethisch gefährlichen Mittel und Nebenerfolge „heiligt“.
Für die Politik ist das entscheidende Mittel: Für Politik:
Mittel die Gewaltsamkeit v[on] Menschen g[e]g[en] Menschen
dieGewaltsamkeit, und wie groß die Tragweite der Spannung zwischen Mittel und Zweck, ethisch angesehen, ist, mögen Sie daraus entnehmen, daß, [239]wie jedermann weiß, sich die revolutionären [B 58]Sozialisten (Zimmerwalder Richtung)
127
[239] Gemeint ist die radikale sozialistische Oppositionsgruppe, die sich anläßlich einer vom 5. bis 8. September 1915 in Zimmerwald bei Bern stattfindenden internationalen Konferenz unter anderem auf ein gemeinsames Antikriegsprogramm geeinigt hatte.
schon während des Krieges zu dem Prinzip bekannten, welches man dahin prägnant formulieren konnte: „Wenn wir vor der Wahl stehen, entweder noch einige Jahre Krieg und dann Revolution oder jetzt Friede und keine Revolution, so wählen wir: Max Adler (3 Jahre Krieg) noch
g
[239]B: wir noch:
einige Jahre Krieg!“
128
Diese Äußerung schrieb Max Weber an anderer Stelle – so in seinen Bemerkungen zu einer Denkschrift Max von Badens anläßlich der Gründung der „Heidelberger Vereinigung“ am 3. Februar 1919 (siehe MWG I/16, S. 206) – der Wiener Ärztin Jenny Adler zu, der Frau des österreichischen Sozialisten Max Adler. Möglicherweise hat Weber von einer solchen Äußerung während seines Aufenthalts in Wien im Sommer 1918 Kenntnis erhalten. Weber hatte in dieser Zeit Kontakt zu Max Adler; siehe dazu den Brief Max Webers an Marianne Weber, undat. [6. Juni 1918], Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446.
Auf die weitere Frage: „Was kann diese Revolution mit sich bringen?“ würde jeder wissenschaftlich geschulte Sozialist geantwortet haben:Spartakus (nur Vermögensverschiebung) daß von einem Übergang zu einer Wirtschaft, die man sozialistisch nennen könne in seinem Sinne, keine Rede sei, sondern daß eben wieder eine Bourgeoisiewirtschaft entstehen würde, die nur die feudalen Elemente und dynastischen Reste abgestreift haben könnte. – Für dies bescheidene Resultat also: „noch einige Jahre Krieg“! Man wird doch wohl sagen dürfen, daß man hier auch bei sehr handfest sozialistischer Überzeugung den Zweck ablehnen könne, der derartige Mittel erfordert. Beim Bolschewismus und Spartakismus, überhaupt bei jeder Art von revolutionärem Sozialismus, liegt aber die Sache genau ebenso, und es ist natürlich höchst lächerlich, wenn von dieser Seite die „Gewaltpolitiker“ des alten Regimes wegen der Anwendung des gleichen Mittels sittlich verworfen werden, – so durchaus berechtigt die Ablehnung ihrer Ziele sein mag.
[240]Hier, an diesem Problem der Heiligung der Mittel durch den Zweck, scheint nun auch die Gesinnungsethik überhaupt scheitern zu müssen. Und in der Tat hat sie logischerweise nur die Möglichkeit: jedes Handeln, welches sittlich gefährliche Mittel anwendet, zu verwerfen. Logischerweise. In der Welt der Realitäten machen wir freilich stets erneut die Erfahrung, daß der Gesinnungsethiker plötzlich umschlägt in den chiliastischen Propheten, daß z. B. diejenigen, die soeben „Liebe gegen Gewalt“ gepredigt haben, im nächsten Augenblick zur Gewalt aufrufen, – zur letzten Gewalt, die dann den Zustand der Vernichtung aller Gewaltsamkeit bringen würde, – wie unsere Militärs den Soldaten bei jeder Offensive sagten: es sei die letzte, sie werde den Sieg und dann den Frieden bringen. Der Gesinnungsethiker erträgt die ethische Irrationalität der Welt nicht. Er ist kosmisch-ethischer „Ratio[B 59]nalist“. Sie erinnern sich, jeder von Ihnen, der Dostojewski kennt, (Dostojewski’s Großinquisitor) der Szene mit dem Großinquisitor,
129
[240] Gemeint ist die gleichnamige Erzählung in Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“. Max Weber hat sich mit den darin aufgeworfenen Fragen eingehend beschäftigt. In seinem Exemplar: F. Μ. Dostojewski, Die Brüder Karamasow. Deutsch von H. von Samson-Himmelstjerna, 2. Aufl., Band 2. – Leipzig: O. Gracklauer 1901, S. 48–73, (Besitz von Max Weber-Schäfer, Konstanz), finden sich hier zahlreiche Anstreichungen mit Rotstift.
wo das Problem treffend auseinandergelegt ist. Es ist nicht möglich, Gesinnungsethik und Verantwortungsethik unter einen Hut zu bringen oder ethisch zu dekretieren: welcher Zweck welches Mittel heiligen solle, wenn man diesem Prinzip überhaupt irgendwelche Konzessionen macht.
Der von mir der zweifellosen Lauterkeit seiner Gesinnung nach persönlich hochgeschätzte, als Politiker Absolut abzulehnen nur:
Förster: „aus Gutem kann nur Gutes kommen.“
aus Bösem Böses
freilich unbedingt abgelehnte Kollege F. W. Förster glaubt in seinem Buche um die Schwierigkeit herumzukommen durch die einfache These: aus Gutem kann nur Gutes, aus Bösem nur Böses [241]folgen.
130
[241] Bei Foerster, Friedrich Wilhelm, Politische Ethik und politische Pädagogik. Mit besonderer Berücksichtigung der kommenden deutschen Aufgaben, 3., stark erw. Aufl. der „Staatsbürgerlichen Erziehung“. – München: Ernst Reinhardt 1918, heißt es auf S. 202, man müsse „sich zunächst die grundlegende Wahrheit klar machen, daß aus Gutem nie Böses, aus Bösem nie Gutes kommen kann.“ In der 4. Auflage dieses Buches, die 1956 bei Paulus in Recklinghausen erschien, setzt sich Foerster, S. 323, Anm. 26a, explizit mit der Kritik Webers an seiner Position auseinander.
Dann existierte freilich diese ganze Problematik nicht. Grades Gegenteil richtig Aber es ist doch erstaunlich, daß 2500 Jahre nach den Upanischaden
131
Die Upaniṣaden sind altindische philosophisch-theologische Schriften und bilden die jüngste Gruppe der vedischen Literatur; die älteren Upaniṣaden entstanden vermutlich um 800–600 v. Chr. in Nordindien. Ihrer Lehre zufolge ist das künftige Dasein des Menschen abhängig von seinem sittlichen Handeln und Denken.
eine solche These noch das Licht der Welt erblicken konnte. Nicht nur der ganze Verlauf der Weltgeschichte, Weltgeschichte dag[e]g[en]
Erfahrung des Alltags
sondern jede rückhaltlose Prüfung der Alltagserfahrung sagt ja das Gegenteil. Die Entwicklung aller Religionen der Erde beruht ja darauf, Entwicklung aller Religionen!
Denken der Jahrtausende:
Theodizee
daß das Gegenteil wahr ist. Das uralte Problem der Theodicee ist ja die Frage: Wie kommt es, daß eine Macht, die als zugleich allmächtig und gütig hingestellt wird, eine derartig irrationale Welt des unverdienten Leidens, des ungestraften Unrechts und der unverbesserlichen Dummheit hat erschaffen können. Entweder ist sie das eine nicht oder das andere nicht, oder es regieren gänzlich andere Ausgleichs- und Vergeltungsprinzipien das Leben, solche, die wir metaphysisch deuten können oder auch solche, die unserer Deutung für immer entzogen sind. Dies Problem: die Erfahrung von der Irrationalität der Welt war ja die treibende Kraft aller Religionsentwicklung. Die indische Karmanlehre Indien
Persien
Calvin – Deuterojesaja
altes Christentum:
Dämonen
und der persische Dualismus, die Erbsünde, die Prädestination und der Deus absconditus sind alle aus dieser Erfahrung herausgewachsen. Auch die alten Christen wußten sehr genau, daß die Welt von Dämonen regiert sei, und daß, wer mit der Politik, das heißt: mit Macht und Gewaltsamkeit als Mitteln, sich einläßt, mit diabolischen Mächten einen Pakt schließt, und daß für sein Handeln es nicht wahr ist: daß aus [242]Gutem nur Gutes,Wer das nicht sieht, sieht Lebensproblem nicht.
ist Leben nicht gewachsen
ist politisch nicht reif, sondern Kind
aus Bösem nur [B 60]Böses kommenkönne, sondern oft das Gegenteil. Wer das nicht sieht, ist in der Tat politisch ein Kind.
Die religiöse Ethik hat sich mit der Tatsache, daß wir in verschiedene, untereinander verschiedenen Gesetzen unterstehende Lebensordnungen hineingestellt sind, verschieden abgefunden. Der hellenische Polytheismus Verfolgen d[urch] Typen:
Hellene Polytheist.
opferte der Aphrodite ebenso wie der Hera, dem Dionysos wie dem Apollon und wußte: sie lagen untereinander nicht selten im Streit. Die hinduistische Lebensordnung machte jeden der verschiedenen Berufe zum Gegenstand eines besonderen ethischen Gesetzes, eines Dharma, und schied sie kastenmäßig für immer voneinander, stellte sie dabei in eine feste Ranghierarchie, aus der es für den Hieringeborenen kein Entrinnen gab, außer in der Wiedergeburt im nächsten Leben[,] und stellte sie dadurch in verschieden große Distanz zu den höchsten religiösen Heilsgütern. So war es ihr möglich, das Dharma jeder einzelnen Kaste, von den Asketen und Brahmanen bis zu den Spitzbuben und Dirnen, den immanenten Eigengesetzlichkeiten des Berufs entsprechend auszubauen. Darunter auch Krieg und Politik. Die Einordnung des Krieges in die Gesamtheit der Lebensordnungen finden Sie vollzogen im Bhagavadgita, Indien: Bhagavadgita in der Unterredung zwischen Krischna und Arjuna
h
[242]B: Arduna
.
132
[242] „Bhagavadgītā“ (Gesang der Erhabenen) ist ein Teil des rund 100 000 Doppelverse umfassenden indischen Epos „Mahābhārata“. Angesichts einer bevorstehenden Schlacht betrachtet Arjuna von seinem Streitwagen aus die vielen Verwandten im gegnerischen Lager und wird von Zweifeln über die Richtigkeit seines Unternehmens erfaßt. Er wird von seinem Wagenlenker, der sich im Laufe des nun folgenden Dialogs als der Allgott Kṛṣṇa offenbart, zum Kampf aufgefordert, da dies nun einmal seine durch Geburt gegebene Lebensaufgabe sei. Kṛṣṇa entwickelt in dem Gespräch eine ethisch-philosophische Lehre der vorbehaltlosen Hingabe an Gott bei gleichzeitiger innerweltlicher Pflichterfüllung des Menschen. Die Bhagavadgītā. Aus dem Sanskrit übersetzt von Richard Garbe. – Leipzig: H. Haessel 1905, S. 67ff.
„Tue das notwendige“ – d. h. das nach dem [243]Dharma der Kriegskaste und ihren Regeln pflichtmäßige, dem Kriegszweck entsprechend sachlich notwendige – „Werk“:
133
[243] Bhagavadgītā, III, 8. Ebd., S. 81.
das schädigt das religiöse Heil nach diesem Glauben nicht, sondern dient ihm. Indras
134
Als Gewitter- und Regengott war Indra die Hauptgestalt in der indischen Götterwelt.
Himmel Krieger in Indras Walhall war dem indischen Krieger beim Heldentod von jeher ebenso sicher wie Walhall dem Germanen. Nirwana aber hätte jener ebenso verschmäht, wie dieser das christliche Paradies mit seinen Engelchören. Diese Spezialisierung der Ethik ermöglichte der indischen Ethik eine gänzlich ungebrochene, nur den Eigengesetzen der Politik folgende, ja diese radikal steigernde Behandlung dieser königlichen Kunst. Der wirklich radikale „Macchiavellismus“ im populären Sinn dieses Wortes ist in der indischen Literatur im Kautaliya Arthasastra,
135
Der „Arthaśāstra“ ist ein in der Endredaktion wohl auf das 3. Jahrhundert n. Chr. zurückgehendes Handbuch der Staatsführung, das nach indischer Tradition einem Minister namens Kauṭilya zugeschrieben wird. Es gibt dem Herrscher praktische Anregungen zur Festigung und zum Ausbau seiner Macht. Dabei empfiehlt es strenge Verteidigungsmaßnahmen gegen innere und äußere Feinde. Zur Textgeschichte und zum Inhalt des „Arthaśāstra“ vgl. Kühnhard, Ludger, Staatsordnung und Macht in indischer Perspektive. Chanakya Kautilya als Klassiker der politischen Ideengeschichte, in: Historische Zeitschrift, Band 247, 1988, S. 333–355.
(lange vorchristlich, angeblich aus Tschandraguptas
i
[243]B: Tschandva-guptas
Zeit), klassisch vertreten; dagegen ist Macchiavellis „Principe“
136
Il Principe di Niccolò Machiavelli al Magnifico Lorenzo di Piero de’ Medici. – Rom: Antonio Blado 1532.
Μacchiavellismus. harmlos. In der katholischen Ethik, der Pro[B 61]fessor Förster sonst nahesteht, sind bekanntlich die „consilia evangelica“
137
Die „consilia evangelica“ sind Anweisungen für ein Leben in der Nachfolge Christi; sie gebieten Ehelosigkeit, Armut und Gehorsam.
Kathol[ische] Kirche:
Evangel[ische] Ratschläge.
eine Sonderethik für die mit dem Charisma des heiligen Lebens Begabten
k
B: begabten [246]
. Da steht neben dem Mönch, der kein Blut vergießen und keinen Erwerb suchen darf, der fromme Ritter und Bürger, die, der eine dies, der andere jenes, dürfen. [244]Die Abstufung der Ethik und ihre Einfügung in einen Organismus der Heilslehre ist minder konsequent als in Indien, mußte und durfte dies auch nach den christlichen Glaubensvoraussetzungen sein. Die erbsündliche Verderbtheit der Welt gestattete eine Einfügung der Gewaltsamkeit in die Ethik als Zuchtmittel gegen die Sünde und die seelengefährdenden Ketzer relativ leicht. – Die rein gesinnungsethischen, akosmistischen Forderungen der Bergpredigt Ethik der Bergpredigt: aber und das darauf ruhende religiöse Naturrecht als absolute Forderung behielten ihre revolutionierende Gewalt und traten in fast allen Zeiten sozialer Erschütterung mit elementarer Wucht auf den Plan. Sie schufen insbesondere die radikal-pazifistischen Sekten, deren eine in Pennsylvanien das Experiment eines nach außen gewaltlosen Staatswesens machte, – tragisch in seinem Verlauf insofern, als die Quäker, als der Unabhängigkeitskrieg ausbrach, für ihre Ideale, die er vertrat, nicht mit der Waffe eintreten konnten.
138
[244] Die Quäker lehnen den Kriegsdienst strikt ab. Aufgrund ihrer pazifistischen Haltung blieben sie im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg 1775–83 neutral und begünstigten keine der beiden kriegführenden Parteien. Dies führte nicht nur zu Verfolgungen, insbesondere seitens amerikanischer Truppen und Revolutionäre, sondern auch zur politischen und gesellschaftlichen Isolierung der Quäker, die sich dadurch für die nächsten Jahrzehnte zu einer zurückgezogenen, strengen Sekte entwickelten.
– Der normale Protestantismus dagegen legitimierte den Staat, also: das Mittel der Gewaltsamkeit; als göttliche Einrichtung absolut und den legitimen Obrigkeitsstaat insbesondere. Die ethische Verantwortung für den Krieg nahm Luther dem einzelnen ab und wälzte sie auf die Obrigkeit, der zu gehorchen in anderen Dingen als Glaubenssachen niemals schuldhaft sein konnte. Der Kalvinismus wieder kannte prinzipiell die Gewalt als Mittel der Glaubensverteidigung, also den Glaubenskrieg, der im Islam von Anfang an Lebenselement war. Man sieht: es ist durchaus nicht moderner, aus dem [245]Heroenkult der Renaissance
139
[245] Nach dem „Heiligen“-Kult des Mittelalters setzte in der Renaissance die Bewunderung ein für „berühmte Männer, welche keine Heiligen gewesen sind, jedoch durch ausgezeichneten Geist und hohe Kraft (virtus) verdient haben, den Heiligen angeschlossen zu werden.“ Siehe Burckhardt, Jakob, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Band 1, 10. Aufl., hg. von Ludwig Geiger – Leipzig: E. A. Seemann 1908, S. 152–165, Zitat S. 159.
geborener Unglaube, der das Problem der politischen Ethik aufwirft. Alle Religionen haben damit gerungen, mit höchst verschiedenem Erfolg, – und nach dem Gesagten konnte es auch nicht anders sein. Das spezifische Mittel der legitimen Gewaltsamkeit rein als solches in der Hand [B 62]menschlicher Verbände ist es, was die Besonderheit aller ethischen Probleme der Politik bedingt.
Wer immer mit diesem Mittel paktiert, zu welchen Zwecken immer – und jeder Politiker tut das –, der ist seinen spezifischen Konsequenzen ausgeliefert. In besonders hohem Maß ist es der Glaubenskämpfer, der religiöse wie der revolutionäre. Nehmen wir getrost die Gegenwart als Beispiel an. Wer die absolute Gerechtigkeit auf Erden mit Gewalt herstellen will, der bedarf dazu der Gefolgschaft: des menschlichen „Apparates“. Diesem muß er die nötigen inneren und äußeren Prämien – himmlischen oder irdischen Lohn – in Aussicht stellen, sonst funktioniert er nicht. Also innere: unter der Bedingung des modernen Klassenkampfes, Befriedigung des Hasses und der Rachsucht, vor allem: des Ressentiments und des Bedürfnisses nach pseudoethischer Rechthaberei, also des Verlästerungs- und Verketzerungsbedürfnisses gegen die Gegner. Äußere: Abenteuer, Sieg, Beute, Macht und Pfründen. Von dem Funktionieren dieses seines Apparates ist der Führer in seinem Erfolg völlig abhängig. Daher auch von dessen – nicht: von seinen eigenen – Motiven. Davon also, daß der Ge[246]folgschaft: der roten Garde,
140
[246] Die Roten Garden waren bewaffnete Arbeitermilizen, die in der Februarrevolution 1917 zuerst in Petrograd entstanden und deren Aufgabe es war, für die öffentliche Sicherheit zu sorgen und die Revolution zu schützen.
den Spitzeln, den Agitatoren, deren
l
[246]B: die
er bedarf, jene Prämien dauernd gewährt werden können. Was er unter solchen Bedingungen seines Wirkens tatsächlich erreicht, steht daher nicht in seiner Hand, sondern ist ihm vorgeschrieben durch jene ethisch überwiegend gemeinen Motive des Handelns seiner Gefolgschaft, die nur im Zaum gehalten werden, solange ehrlicher Glaube an seine Person und seine Sache wenigstens einen Teil der Genossenschaft: wohl nie auf Erden auch nur die Mehrzahl, beseelt. Aber nicht nur ist dieser Glaube, auch wo er subjektiv ehrlich ist, in einem sehr großen Teil der Fälle in Wahrheit nur die ethische „Legitimierung“ der Rache-, Macht-, Beute- und Pfründensucht: – darüber lassen wir uns nichts vorreden, denn die materialistische Geschichtsdeutung ist auch kein beliebig zu besteigender Fiaker
141
Vgl. dazu oben, S. 234, Anm. 115.
und macht vor den Trägern von Revolutionen nicht halt! – sondern vor allem: der traditionalistische Alltag kommt nach der emotionalen Revolution, der Glaubensheld und vor allem der Glaube selbst [B 63]schwindet oder wird – was noch wirksamer ist – Bestandteil der konventionellen Phrase der politischen Banausen und Techniker. Diese Entwicklung vollzieht sich gerade beim Glaubenskampf besonders schnell, weil er von echten Führern: Propheten der Revolution, geleitet oder inspiriert zu werden pflegt. Denn wie bei jedem Führerapparat, so auch hier ist die Entleerung und Versachlichung, die seelische Proletarisierung im Interesse der „Disziplin“, eine der Bedingungen des Erfolges. Die herrschend gewordene Gefolgschaft eines Glaubenskämpfers pflegt daher beson[247]ders leicht in eine ganz gewöhnliche Pfründnerschicht zu entarten.
Wer Politik überhaupt und wer vollends Politik als Beruf betreiben will, hat sich jener ethischen Paradoxien und seiner Verantwortung für das, was aus ihm selbst unter ihrem Druck werden kann, bewußt zu sein. Er läßt sich, ich wiederhole es, mit den diabolischen Mächten ein, die in jeder Gewaltsamkeit lauern. Die großen Virtuosen der akosmistischen Menschenliebe und Güte, mochten sie aus Nazareth oder aus Assisi oder aus indischen Königsschlössern stammen, haben nicht mit dem politischen Mittel: der Gewalt, gearbeitet, ihr Reich war „nicht von dieser Welt“,
142
[247] Bei Johannes 18,36 heißt es: „JEsus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“
und doch wirkten und wirken sie in dieser Welt, und die Figuren des Platon Karatajew
143
Nebenfigur in Tolstojs Roman „Krieg und Frieden“ (Leo N. Tolstoj. Sämtliche Werke, hg. von Raphael Löwenfeld, III. Serie, Bände 11–14. – Jena: Eugen Diederichs 1911), die das Prinzip der Einfalt und Wahrheit verkörpert.
und der Dostojewskischen
m
[247]B: Dostejewskischen
Heiligen sind immer noch ihre adäquatesten Nachkonstruktionen. Wer das Heil seiner Seele und die Rettung anderer Seelen sucht, der sucht das nicht auf dem Wege der Politik, die ganz andere Aufgaben hat: solche, die nur mit Gewalt zu lösen sind. Der Genius, oder Dämon der Politik lebt mit dem Gott der Liebe, auch mit dem Christengott in seiner kirchlichen Ausprägung, in einer inneren Spannung, die jederzeit in unaustragbarem Konflikt ausbrechen kann. Das wußten die Menschen auch in den Zeiten der Kirchenherrschaft. Wieder und wieder lag das Interdikt – und das bedeutete damals eine für die Menschen und ihr Seelenheil weit massivere Macht als die (mit Fichte zu reden) „kalte Billigung“
144
Fichte, Johann Gottlieb, Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre, in: Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Band 4. – Berlin: Veit & Comp. 1845, S. 167. Fichte zufolge beruht das sittliche [248]Leben auf der Überzeugung des Einzelnen von seiner Pflicht. Dieses Gesetz bedarf, so Fichte, der Anerkennung durch ein unmittelbares Gefühl, das er im Gegensatz zu den „‚ästhetischen Gefühlen‘ der Lust“ als „kalte Billigung“ bezeichnet. Vgl. dazu auch Rickert, Heinrich, Fichtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie. Eine Säkularbetrachtung. – Berlin: Reuther & Reichard 1899, S. 8f.
des kantianischen ethischen Urteils – [248]auf Florenz,
145
Im 14./15. Jahrhundert war es mehrfach zu Konflikten und kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Florenz und der Kurie gekommen. Dabei wurde Florenz wiederholt mit dem Interdikt belegt, wodurch den Bewohnern der Stadt der Empfang der Sakramente sowie Gottesdienste und christliche Begräbnisse untersagt waren.
die Bürger aber fochten gegen den Kirchenstaat. Und mit Bezug auf solche Situationen läßt Macchiavelli Macchiavelli: Liebe zum Vaterland in einer [B 64]schönen Stelle, irre ich nicht: der Florentiner Geschichten, einen seiner Helden jene Bürger preisen, denen die Größe der Vaterstadt höher stand als das Heil ihrer Seele.
146
Niccolò Machiavelli’s Florentinische Geschichten, übersetzt von Alfred Reumont, Erster Theil, 3. Buch. – Leipzig : F. A. Brockhaus 1846, S. 195.
Wenn Sie statt Vaterstadt oder „Vaterland“, bei Marck: statt Vaterland: Sozialismus – Pazifismus. was ja zurzeit nicht jedem ein eindeutiger Wert sein mag, sagen: „die Zukunft des Sozialismus“ oder auch der „internationalen Befriedung“, – dann haben Sie das Problem in der Art, wie es jetzt liegt. Denn das alles, erstrebt durch politisches Handeln, welches mit gewaltsamen Mitteln und auf dem Wege der Verantwortungsethik arbeitet, gefährdet das „Heil der Seele“.
147
Wie sich aus dem Stichwortmanuskript ergibt, denkt Max Weber bei diesen Bemerkungen insbesondere an Siegfried Marck, der sich kurz zuvor in seinem Buch „Imperialismus und Pazifismus als Weltanschauungen“. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1918, mit diesem Problemkreis aus sozialistischer Sicht beschäftigt hatte. Marck beschreibt darin Imperialismus und Pazifismus als „die beiden Grundgegensätze, die heute um die zukünftige äußere Gestaltung der Menschheit, mehr noch um ihre Seele ringen“ (S. 1). Dabei geht Marck davon aus, daß sich im Pazifismus „die Freiheit des Einzelnen […] trotzig dem Zwange der Gesamtheit gegenüber“ setze (S. 24), daß jedoch auch der Pazifismus durch die „Forderungen der Realpolitik“ begrenzt werde. Daraus folgt, daß der Pazifismus „selbst zu einer politischen Macht werden“ müsse (S. 53) und daß auch hier die staatliche Ordnung nicht auf dem Prinzip einer „von allen Zwangsformen freien menschlichen Brüderlichkeit“ aufgebaut werden könne: „Nur als technischer Organisator politischer Wirklichkeit, nicht als religiöser Apostel kann der Pazifist zu seinem Ziele gelangen“ (S. 54).
Wenn ihm aber mit reiner Gesinnungsethik im Glaubenskampf nachgejagt wird, dann kann es Schaden leiden und diskreditiert werden auf Generationen hinaus, weil die Verantwor[249]tung für die Folgen fehlt. Denn dann bleiben dem Handelnden Aber: wer Pol[itik] treibt, verbündet s[ich] mit diabolischen Mächten jene diabolischen Mächte, die im Spiel sind, unbewußt. Sie sind unerbittlich und schaffen Konsequenzen für sein Handeln, auch für ihn selbst innerlich, denen er hilflos preisgegeben ist, wenn er sie nicht sieht. „Der Teufel, der ist alt.“ „Der Teufel der ist alt…“ Und nicht die Jahre, nicht das Lebensalter ist bei dem Satz gemeint: „so werdet alt, ihn zu verstehen“.
148
[249] Goethe, Faust, Teil 2, Vers 6817/18.
Mit dem Datum des Geburtsscheines bei Diskussionen überstochen zu werden, habe auch ich mir nie gefallen lassen; aber die bloße Tatsache, daß einer 20 Jahre zählt und ich über 50 bin, kann mich schließlich auch nicht veranlassen, zu meinen, das allein wäre eine Leistung, vor der ich in Ehrfurcht ersterbe. Nicht das Alter macht es. Aber allerdings: die geschulte Rücksichtslosigkeit des Blickes in die Realitäten des Lebens, und die Fähigkeit, sie zu ertragen und ihnen innerlich gewachsen zu sein.
Wahrlich: Politik wird zwar mit dem Kopf, aber ganz gewiß nicht nur mit dem Kopf gemacht. Darin haben die Gesinnungsethiker durchaus recht. Ob man aber als Gesinnungsethiker oder als Verantwortungsethiker Gesinnungs – Verantwortungspolitik nicht entscheidbar. handeln soll, und wann das eine und das andere, darüber kann man niemandem Vorschriften machen. Nur eins kann man sagen: wenn jetzt in diesen Zeiten einer, wie Sie glauben, nicht „sterilen“ Aufgeregtheit
149
Vgl. dazu oben, S. 227, Anm. 108.
– aber Aufgeregtheit ist eben doch und durchaus [B 65]nicht immer echte Leidenschaft –, wenn da plötzlich die Gesinnungspolitiker massenhaft in das Kraut schießen mit der Parole: „die Welt ist dumm und gemein, nicht ich, die Verantwortung für die Folgen trifft nicht mich, sondern die andern, in deren Dienst ich arbeite, und deren Dummheit oder Gemeinheit ich ausrotten werde“,
150
Vgl. oben, S. 237f.
so sage ich offen: daß ich zunächst [250]einmal nach dem Maße des inneren Schwergewichts frage, was hinter dieser Gesinnungsethik steht,„Gesinnungspolitiker“ in 9 von 10 Fällen Windbeutel und den Eindruck habe: daß ich es in neun von zehn Fällen mit Windbeuteln zu tun habe, die nicht real fühlen, was sie auf sich nehmen, sondern sich an romantischen Sensationen berauschen. Das interessiert mich menschlich nicht sehr und erschüttert mich ganz und gar nicht. Während es unermeßlich erschütternd ist, wenn ein reifer Mensch – einerlei ob alt oder jung an Jahren –, der diese Verantwortung für die Folgen real und mit voller Seele empfindet und verantwortungsethisch handelt, Nur bei voller Übersicht über Verantwortung an irgend einem Punkt: „ich kann nicht anders“
das erschütternd – u[nd] menschlich echt.
an irgendeinem Punkte sagt: „ich kann nicht anders, hier stehe ich“.
151
[250] Anspielung auf Luthers Schlußworte bei seiner Rede vor dem Reichstag zu Worms im April 1521: „Ich kan nicht anderst, hie stehe ich, Got helff mir, Amen.“ (Werke, Band 7, 1897, S. 838). Die Authentizität dieser Worte ist allerdings umstritten.
Das ist etwas, was menschlich echt ist und ergreift. Denn diese Lage muß freilich für jeden von uns, der nicht innerlich tot ist, irgendwann eintreten können. Insofern sind Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen, die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den, der den „Beruf zur Politik“ haben kann.
Und nun, verehrte Anwesende, wollen wir uns nach zehn Jahren Nach 10 Jahren über diesen Punkt einmal wieder sprechen. Wenn dann, wie ich leider befürchten muß, aus einer ganzen Reihe von Gründen, die Zeit der Reaktion längst hereingebrochen und von dem, was gewiß viele von Ihnen und, wie ich offen gestehe, auch ich gewünscht und gehofft haben, wenig, vielleicht nicht gerade nichts, aber wenigstens dem Scheine nach wenig in Erfüllung gegangen ist – das ist sehr wahrscheinlich, es wird mich nicht zerbrechen, aber es ist freilich eine innerliche Belastung, das zu wissen –, dann wünschte ich wohl zu sehen, was aus denjenigen von Ihnen, die jetzt sich als echte „Gesinnungspolitiker“ fühlen und an dem [251]Rausch teilnehmen, den diese Revolution bedeutet, – was aus denen im inneren Sinne [B 66]des Wortes „geworden“ ist. Es wäre ja schön, wenn die Sache so wäre, daß dann Shakespeares 102. Sonett gelten würde:
  • Damals war Lenz und unsere Liebe grün, Ich wollte gern: „Damals war Lenz…“
  • Da grüßt’ ich täglich sie mit meinem Sang,
  • So schlägt die Nachtigall in Sommers Blühn
  • Und schweigt den Ton in reifrer Tage Gang.
    152
    [251]Weber zitiert hier die 2. Strophe in der Übertragung von Stefan George, ohne allerdings dessen charakteristische Kleinschreibung zu übernehmen. Siehe: Shakespeare. Sonnette. Umdichtung von Stefan George. – Berlin: Georg Bondi 1909, S. 108.
Aber so ist die Sache nicht. Nicht das Blühen des Sommers liegt vor uns, sondern zunächst eine Polarnacht Aber: Polarnacht! von eisiger Finsternis und Härte, mag äußerlich jetzt siegen welche Gruppe auch immer. Denn: wo nichts ist, da hat nicht nur der Kaiser, sondern auch der Proletarier sein Recht verloren. Wenn diese Nacht langsam weichen wird, wer wird dann von denen noch leben, Was geblieben? Was aus Ihnen geworden?
Verbitterung – Banausen – Indifferenz
Weltflucht.
deren Lenz jetzt scheinbar so üppig geblüht hat? Und was wird aus Ihnen allen dann innerlich geworden sein? Verbitterung oder Banausentum, einfaches stumpfes Hinnehmen der Welt und des Berufes oder, das dritte und nicht Seltenste: mystische Weltflucht bei denen, welche die Gabe dafür haben, oder – oft und übel – sie als Mode sich anquälen? In jedem solchen Fall werde ich die Konsequenz ziehen: die sind ihrem eigenen Tun nicht gewachsen gewesen, nicht gewachsen auch der Welt, weil der Welt nicht gewachsen. so wie sie wirklich ist, und ihrem Alltag: sie haben den Beruf zur Politik, den sie für sich in sich glaubten, objektiv und tatsächlich im innerlichsten Sinn nicht gehabt. Sie hätten besser getan, die Brüderlichkeit schlicht und einfach von Mensch zu Mensch zu pflegen und im übrigen rein sachlich an ihres Tages Arbeit zu wirken.
Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Au[252]genmaß zugleich. Es ist ja durchaus richtig, und alle geschichtliche Erfahrung bestätigt es, daß man das Mögliche nicht erreichte, wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre. Aber der, der das tun kann, muß ein Führer und nicht nur das, sondern auch – in einem sehr schlichten Wortsinn – ein Held sein. Und auch die, welche beides nicht sind, müssen sich wappnen mit jener Festigkeit des [B 67]Herzens, die auch dem Scheitern aller Hoffnungen gewachsen ist, jetzt schon, sonst werden sie nicht imstande sein, auch nur durchzusetzen, was heute möglich ist. Nur wer sicher ist, daß er daran nicht zerbricht, wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will, daß er all dem gegenüber: „dennoch!“ zu sagen vermag, nur der hat den „Beruf“ zur Politik.