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MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[274][Die Entwicklungsbedingungen des Rechts]

[B Db][WuG1 386]§ 1. Die Differenzierung der sachlichen Rechtsgebiete
a1
[274] Fehlt in A.

„Öffentliches“ und „Privatrecht“. [S. 274] – „Anspruchsverleihendes Recht und Reglement“. [S. 279] „Regierung“ und „Verwaltung“ [S. 280] – „Criminalrecht“ und „Zivilrecht“. [S. 286] „Unrechtmäßigkeit“ und „Delikt“. [S. 290]
c
Doppelter Gedankenstrich in B.
„Imperium“
d
In B folgt: ⟨und Gewalt⟩
. „Gewaltenbegrenzung“ und „Gewaltenteilung“. [S. 294] – „Recht“ und „Prozeß“. [S. 298] – Die Kategorien des rationalen Rechtsdenkens.
a2
Fehlt in A.
b
Die Inhaltsübersicht ist links mit eckiger Klammer und Satzanweisung von fremder Hand: Petit versehen.
[A 12][B 1]Die
e
In B geht am oberen Rand voraus: §. 1. Die Differenzierung der sachlichen Rechtsgebiete
ea
B: „Privates“ und „öffentliches“ Recht > Die Differenzierung der sachlichen Rechtsgebiete. Vor Textbeginn geht in B die Satzanweisung Max Webers voraus: Absatz
heutige Rechtstheorie und Rechtspraxis kennt als eine der wichtigsten Scheidungen diejenige von „öffentlichem“ und „Privatrecht“. Zwar über das Prinzip der Abgrenzung herrscht Streit.
1
[274] Die zeitgenössische Privat- und Staatsrechtsliteratur zeigt nach disziplinären, methodischen und sachlichen Ausgangspunkten verschiedene Abgrenzungsversuche – von der Subjektions- bzw. Koordinationslehre (z. B. Georg Jellinek, Paul Laband) über den Gedanken eines selbständigen Sozialrechts zwischen Privat- und öffentlichem Recht (vor allem Otto von Gierke, Hugo Preuss) bis hin zu der Auflösung des Gegensatzes mit Blick auf die formalrechtliche Verpflichtungsfunktion des Rechtssatzes (Hans Kelsen).
1. Das öffentliche
f
f–f (bis S. 278: nebeneinander stehen.) In B steht am linken Rand die Satzanweisung Max Webers: Petit bzw. Petit!
Recht einfach, der soziologischen Scheidung entsprechend,
2
Diese entspricht der von Weber in: Kategorien, S. 270, getroffenen Unterscheidung von „gesellschaftsbezogenem“ bzw. „gesellschaftsgeregeltem“ Handeln, die er ebd., S. 271 f., auf das Anstaltshandeln, speziell das Staatsanstaltshandeln, anwendet. „Gesellschaftsbezogen“ ist einerseits das „spezifische Gesellschaftshandeln der ,Organe‘“ und andererseits das „Gesellschaftshandeln der Vergesellschafteten, welches sinnhaft auf jenes Handeln der Organe bezogen ist.“ Auf die Anstalt, speziell die Staatsanstalt, bezogen, fährt Weber fort: „Speziell innerhalb der später zu erörternden Vergesellschaftungskategorie der ,Anstalten‘ (insbesondere des ,Staates‘) pflegt man diejenigen Ordnungen, welche zur Orientierung dieses Handelns geschaffen sind: das Anstaltsrecht (im Staat das ,öffentliche Recht‘) von den das sonstige Handeln der Vergesellschafteten regelnden Ordnungen zu scheiden.“
als den Inbegriff der Normen für das seinem von der Rechtsordnung zu unterstellendem Sinne nach staatsanstalts[275]bezogene, d. h.: dem Bestande, der Ausdehnung und der direkten Durchführung der jeweiligen[,] kraft Satzung oder einverständnismäßig geltenden
g
[275] Fehlt in A.
Zwecke der Staatsanstalt als solcher dienende
h
A, B: dienenden
Handeln zu definieren, das Privatrecht aber als den Inbegriff der Normen für das, seinem von der Rechtsordnung unterstelltem Sinne nach, nicht staatsanstaltsbezogene, sondern nur von der Staatsanstalt durch Normen geregelte Handeln anzusehen, scheint durch den unformalen Charakter dieser Scheidung technisch erschwert. Dennoch liegt diese Art der Unterscheidung letztlich fast allen Grenzabsteckungen zugrunde.
2. Diese Scheidung verschlingt sich oft
i
A: aber
mit einer anderen: Man könnte „öffentliches“ Recht identifizieren mit der Gesamtheit der „Reglements“
3
[275] Zu dem aus dem Verwaltungsrecht entlehnten Begriff vgl. Mayer, Otto, Deutsches Verwaltungsrecht (Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft, hg. von Karl Binding, Abt. 6), 2 Bände. – Leipzig: Duncker & Humblot 1895 und 1896, hier Band 1, S. 103 f.; Band 2, S. 234 f. (hinfort: Mayer, Verwaltungsrecht I und II).
, also:
j
Doppelpunkt fehlt in A.
der ihrem richtigen juristischen Sinn nach nur Anweisungen an die Staatsorgane enthaltenden, nicht aber erworbene subjektive Rechte einzelner begründenden Normen, im Gegensatz zu den „Anspruchsnormierungen“, welche solche subjektiven
k
A: ebensolche ; B: solche subjektive
Rechte begründen.
l
A: begründen sollen.
Der Gegensatz müßte aber zunächst richtig verstanden werden. Auch öffentlichrechtliche Normen, z. B. diejenigen über eine Präsidentenwahl, können subjektive und dabei dennoch „öffentliche“ Rechte einzelner begründen, im Beispiel: das Recht zu wählen.
4
Das Wahlrecht interpretiert Georg Jellinek gegen Paul Laband als subjektives öffentliches Recht; vgl. Laband, Paul, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches (in 4 Bänden), Band 1, 4., neubearb. Aufl. – Tübingen, Leipzig: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1901, S. 306–308 (hinfort: Laband, Staatsrecht I); Jellinek, System, S. 159–166. Zwar sieht auch Jellinek – wie Laband – im Wählen zunächst nur eine staatliche Funktion, den Vorgang der Wahl ausschließlich durch objektives Recht geregelt, den einzelnen als solchen dadurch nicht subjektiv berechtigt. Das Recht zu wählen sei soweit nur Reflexwirkung; andererseits behauptet Jellinek den individualisierbaren (subjektiv-rechtlichen) Kern des Wahlrechts im Anspruch des einzelnen auf Anerkennung seiner Organstellung als Wähler.
Aber dieses öffentliche Recht des einzelnen gilt heute
m
A: ist
allerdings dem juristischen Sinne nach nicht
n
A: nicht dem juristischen Sinne nach ; B: dem juristischen Sinne nicht nach
als
o
Fehlt in A, B; als sinngemäß ergänzt.
ein erworbenes Recht im gleichen Sinn wie etwa das Eigentum, welches prinzipiell als
p
Fehlt in A.
für den Gesetzgeber selbst unantastbar gilt
q
A: ist
[276]und eben deshalb von ihm anerkannt wird. Denn die subjektiven öffentlichen Rechte der Einzelnen gelten
r
[276]A: enthalten
dem juristischen Sinne nach in Wahrheit als
s
Fehlt in A.
subjektive Zuständigkeiten der Einzelnen
t
A: Zuständigkeiten,
für bestimmt begrenzte Zwecke als Organe der Staatsanstalt zu handeln.
5
[276] Nur indem dem einzelnen eine staatliche Organstellung verliehen wird („aktiver Status“), lassen sich nach Jellinek subjektive öffentliche Rechte begründen. Zur Statuslehre, speziell zum „Status der aktiven Zivität“, „aktiven Status“ oder „Zustand des Aktivbürgers“ vgl. Jellinek, System, S. 136 ff., bes. 139; ders., Allgemeine Staatslehre, S. 410.
Sie
a
A: des Staates aufzutreten,
können also trotz der Form des subjektiven Rechts, die sie annehmen, in Wahrheit dennoch als bloße Reflexe eines Reglements, nicht als Ausfluß einer objektiven Anspruchsnormierung angesehen werden.
6
Vgl. Jellinek, System, S. 138, 159–166; ders., Allgemeine Staatslehre, S. 408, sowie oben, S. 275, Anm. 4. – Die „Entdeckung“ der subjektiven öffentlichen Rechte fällt in die Zeit nach 1848. Sie sind das, was von den politisch brisanten Grundrechtskatalogen der Revolutionszeit und des Frühkonstitutionalismus übrigblieb, durch die Rechtswissenschaft auch weitgehend anerkannt und rechtsstaatlich ausformuliert wurde. Georg Jellinek leistete mit seiner Studie von 1892 die noch fehlende systematische Durchdringung dieses Rechtskomplexes.
Allein auch bei weitem nicht alle jeweils in einer Rechtsordnung bestehenden, in dem oben unter 2.
b
A, B: 1)
bezeichneten Sinn privatrechtlichen Ansprüche sind „erworbene“
7
„Erworbene“ Rechte werden im Umfeld des naturrechtlichen Denkens von den „angeborenen“ Rechten unterschieden. Nur für die erworbenen Rechte entsteht bei Verlust ein Entschädigungsanspruch.
subjektive Rechte. Selbst der jeweils zugelassene Inhalt des Eigentums[A 13][B 2]rechts kann als
c
A: ist
„Reflex“
8
Zur juristischen Konstruktion von Rechten als „Reflexwirkungen“ vgl. oben, S. 200 f. mit Anm. 27.
der Rechtsordnung gelten,
d
Fehlt in A.
und die Frage, ob ein Recht als „erworben“ gilt, reduziert sich oft praktisch nur
e
Fehlt in A.
auf die Frage: ob seine Beseitigung Entschädigungsansprüche nach sich ziehe. Man könnte also vielleicht behaupten, daß alles öffentliche Recht dem juristischen
f
Fehlt in A.
Sinne nach nur Reglement sei, nicht aber, daß jedes Reglement nur öffentliches Recht schaffe. In Rechtsordnungen aber, wo die Regierungsgewalt als erworbenes patrimoniales Recht eines Monarchen gilt,
9
Nach der auf Hallers „Restauration der Staats-Wissenschaft“ zurückgehenden Patrimonialtheorie ist der Herrschaftsanspruch faktisch auf den Territorialbesitz gegründet (vgl. Haller, Carl Ludwig von, Restauration der Staats-Wissenschaft oder Theorie des natürlich-geselligen Zustands der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesetzt, 6 Bände, 2. Aufl. – Winterthur: Steiner 1820–1825). Dem Monarchen wird ein [277]originäres Recht auf Herrschaft zugeschrieben, das ihm selbst außerhalb einer staatlichen Rechtsordnung zusteht, weshalb die Herrschaftsbeziehungen als „privatrechtliche“ konstruiert sind. „Patrimonialismus“ und „Patriarchale Herrschaft“ fallen bei Haller zusammen; vgl. dazu Below, Georg von, Der deutsche Staat des Mittelalters, Band 1: Die allgemeinen Fragen. – Leipzig: Quelle & Meyer 1914, Teil 1, S. 6 ff. (hinfort: Below, Der deutsche Staat). Einer der prominenteren Vertreter dieser rückwärtsgewandten Staatsphilosophie war der Bonner Staatsrechtslehrer Romeo Maurenbrecher, der in seinem staatsrechtlichen System ebenfalls den Staat als Objekt der privaten Verfügungsgewalt des Fürsten begriff (vgl. ders., Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts. – Frankfurt a.Μ.: Varrentrapp 1837, bes. S. 57, 244 ff.).
oder [277]wo umgekehrt ge[WuG1 387]wisse subjektive
g
[277] Fehlt in A.
Bürgerrechte als schlechthin in gleichem Sinn wie das „erworbene“ Privatrecht
h
Fehlt in A.
unentziehbar gelten (z. B.
i
Fehlt in A.
kraft „Naturrecht“), träfe auch nicht einmal dies zu.
j
A: trifft auch dies nicht zu.
3. Und endlich könnte
k
A: kann
man die Scheidung so vornehmen, daß man alle die
l
Fehlt in A.
Rechtsangelegenheiten, bei denen einander mehrere, dem juristischen Sinne nach als „gleichgeordnet“ geltende
m
A: gleichgeordnete
Parteien gegenübertreten, deren Rechtssphären abzugrenzen der juristisch
n
Fehlt in A.
„richtige“ Sinn der Tätigkeit, sei es des Gesetzgebers, sei es des Richters, sei es der betreffenden
o
A: betr.
Parteien selbst (durch Rechtsgeschäft) sei,
p
A: ist,
als „privatrechtliche“ von dem öffentlichrechtlichen
r
B: öffentlichen rechtlichen
scheidet,
q
A: öffentlichen rechtlichen Teil,
bei welchem ein, dem juristischen Sinne nach, präeminenter Gewaltenträger mit autoritärer Befehlsgewalt anderen ihm, dem juristischen Sinn der Normen nach, „unterworfenen“ Personen gegenübertritt.
10
Gemeint ist die staatsrechtliche „Unterordnung“ bzw. „Gleichordnung“ als Unterscheidungsmerkmal von öffentlichem Recht und Privatrecht; Varianten dieser Lehre z. B. bei Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 384; Hänel, Staatsrecht (wie oben, S. 210, Anm. 48), S. 97; Laband, Staatsrecht I (wie oben, S. 275, Anm. 4), S. 64.
Allein nicht jedes Organ der Staatsanstalt hat Befehlsgewalt und das öffentlichrechtlich geregelte
s
Fehlt in A.
Handeln der staatlichen Organe ist nicht immer ein Befehl. Sodann
t
A: Und endlich
ist offenkundig grade die Regulierung der Beziehungen zwischen mehreren Staatsorganen, also gleichmäßig präeminenten Gewaltenträgern, die eigentlich interne Sphäre des „öffentlichen“ Rechts. Und ferner müssen nicht nur die unmittelbar zwischen Gewaltenträgern und Gewaltunterworfenen bestehenden Beziehungen, sondern auch dasjenige Handeln der Gewaltunterworfenen, welches der Bestellung und Kontrolle des oder der präeminenten Gewal[278]tenträger dient, zur Sphäre des „öffentlich-rechtlich“ regulierten Handelns geschlagen werden. Dann aber führt diese Art der Scheidung offenbar
a
[278] Fehlt in A.
weitgehend in die Bahnen der oben zuerst angegebenen zurück. Sie
b
A: Denn sie
behandelt nicht jede autoritäre Befehlsgewalt und deren
c
A: ihre
Beziehungen zu den
d
Fehlt in A.
Gewaltunterworfenen als öffentlich-rechtlich. Diejenige des Arbeitgebers offenbar deshalb nicht, weil sie durch „Rechtsgeschäfte“ zwischen formal „Gleichgeordneten“ entsteht.
11
[278] Zur formell freien Vereinbarung der Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer als Rechtsgeschäft, d. h. Arbeitsvertrag, vgl. unten, S. 425–427; vgl. auch Weber, Arbeitsvertrag, MWG I/8, S. 40–42.
Aber auch diejenige des Hausvaters wird als privatrechthche Autorität behandelt, offenbar nur deshalb, weil die Staatsanstalt allein als Quelle legitimer Gewalt gilt
12
Dies ist die communis opinio der zeitgenössischen Staatsrechtswissenschaft, vgl. z. B. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 180 f., 183, 256, 429–432; ders., Gesetz (wie oben, S. 234, Anm. 5), S. 191, Laband, Staatsrecht I (wie oben, S. 275, Anm. 4), S. 64–67; Hänel, Staatsrecht (wie oben, S. 209 f., Anm. 48), S. 114, 800 f.
und daher nur dasjenige Handeln, welches seinem [A 14][B 3]von der Rechtsordnung zu unterstellendem Sinn nach auf die Erhaltung der Staatsanstalt und die Durchführung der von ihr sozusagen in eigene Regie genommenen Interessen bezogen ist, als „öffentlich“-rechtlich relevant gilt. Welche Interessen nun jeweils als von der Staatsanstalt selbst wahrzunehmende gelten, ist bekanntlich auch heute wandelbar. Und vor allem kann ein Interessengebiet durch gesatztes Recht absichtlich derart geregelt werden, daß die Schaffung von Privatansprüchen einzelner und von Befehlsgewalten oder anderen Funktionen
e
A: Tätigkeiten
von Staatsorganen sogar
f
A: selbst
für ein- und denselben Sachverhalt konkurrierend
g
Fehlt in A.
nebeneinander stehen.
f
f(ab S. 274: 1. Das öffentliche)f In B steht am linken Rand die Satzanweisung Max Webers: Petit bzw. Petit!
Auch heute also ist die Abgrenzung der Sphäre von öffentlichem und privatem Recht nicht überall eindeutig. Noch weit weniger
h
A: mehr
war dies in der Vergangenheit der Fall.
13
Zum heftigen Streit der Rechtshistoriker über das Verhältnis von Privatrecht und öffentlichem Recht im Mittelalter vgl. Below, Der deutsche Staat (wie oben, S. 276 f., Anm. 9), S. 101–111.
Die Möglichkeit der Scheidung kann gradezu fehlen. Dann nämlich, wenn alles Recht und alle Zuständigkeiten, insbesondere auch alle Befehlsgewalten gleichmäßig den Charakter des persönlichen Privilegs (beim Staats[279]oberhaupt meist „Prärogative“ genannt)
i
Fehlt in A.
an sich tragen. Dann ist die Befugnis, in einer bestimmten Sache Recht zu sprechen oder jemanden zum Kriegsdienst aufzubieten oder von ihm sonst Gehorsam zu verlangen, genau so ein „erworbenes“ subjektives Recht und eventuell ganz ebenso Gegenstand eines
j
[279]A: privaten
Rechtsgeschäfts, einer
k
A: durch
Veräußerung oder Vererbung, wie etwa die Befugnis, ein bestimmtes Stück Acker zu nutzen. Die politische Gewalt hat dann eben juristisch keine anstaltsmäßige Struktur, sondern wird durch konkrete Vergesellschaftungen und
l
A: Vergesellschaftungen,
Kompromisse der verschiedenen Inhaber und
m
Fehlt in A.
Prätendenten subjektiver Befehlsbefugnisse dargestellt. Die politische Befehlsgewalt gilt dann als von derjenigen des Hausvaters, Grundherrn, Leibherrn nicht wesensverschieden:
14
[279] Weber parallelisiert hier rechtssoziologisch, was er herrschaftssoziologisch klar differenziert. Gegenüber Georg von Below bemerkt er in einem Brief vom 21. Juni 1914 (MWG II/8, S. 723–725, hier S. 725) zur vergleichenden Behandlung politischer Verbände in seinem Grundrißbeitrag unmißverständlich: „Terminologisch werde ich am Begriff des ,Patrimonialismus‘ auch und gerade für gewisse Arten politischer Herrschaft festhalten müssen. Aber die absolute Scheidung zwischen haus-, leib- und grundherrlicher Gewalt und politischer Herrschaft – für die es ja gar kein anderes Kriterium gibt, als daß sie jenes alles eben nicht ist (sondern Militär- und Gerichtsgewalt), werden Sie hoffentlich genügend betont finden.“
der Zustand des „Patrimonialismus“.
n
A: wesensverschieden.
15
Der Begriff geht dogmengeschichtlich auf die „Patrimonialtheorie“ des Staates zurück; vgl. oben, S. 276 f., Anm. 9. Im staatsrechtlichen Diskurs des 19. und noch des frühen 20. Jahrhunderts wird diese Lehre als Herrschertheorie des Staates vielfach variiert; über die Patrimonialtheorie und ihre Vertreter vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 145–147, 199–201.
Soweit eine solche Struktur des Rechts jeweils reicht – und sie war niemals in alle letzten Konsequenzen durchgeführt –[,] soweit ist juristisch alles, was unserem „öffentlichen“ Recht entspricht, Gegenstand von subjektivem Recht konkreter Gewalthaber, genau wie ein Privatrechtsanspruch.
Die Gestaltung des Rechts kann aber auch den grad entgegengesetzten Charakter annehmen und das in dem zuletzt verwendeten Sinn „private“ Recht auf weiten Gebieten, die ihm heut zufallen, gänzlich fehlen.
o
A: Die Scheidung von privatem und öffentlichem Recht kann aber auch aus dem grade entgegengesetzten Grunde wegfallen.
Dann nämlich, wenn alle Normen fehlen, welche den Charakter anspruchsverleihenden objektiven Rechts haben, wenn also der gesamte überhaupt geltende Normenkom[280]plex juristisch [WuG1 388]den Charakter des „Reglements“ hat, das heißt also:
p
[280]A: von Reglements und also
alle privaten Interessen nicht als garantierte subjektive Ansprüche, sondern nur als Reflexe der Geltung jener Reglements die Chance des Schutzes [A 15][B 4]besitzen. Soweit dieser Zustand reicht–
q
A, B: reicht, –
und auch er hat nie universell geherrscht –[,] soweit löst sich alles Recht in einen Zweck der Verwaltung: die „Regierung“ auf.
16
[280] Zu der auffälligen gattungsmäßigen Verwendung des „Verwaltungsbegriffs“ vgl. vor allem Jellinek, Gesetz (wie oben, S. 235, Anm. 5), S. 213–225, hier S. 220 f.; ders., Allgemeine Staatslehre, S. 595–624, hier S. 616 ff. Im Anschluß an die konstitutionelle Gewaltenteilungslehre unterscheidet Jellinek die materiellen Staatsfunktionen in Rechtsetzung, Rechtsprechung und Verwaltung. Doch beinhalte die „Verwaltung“ zwei in der äußeren Verwaltungstätigkeit zu einer Einheit verbundene Momente: das der „Regierung“ und das der „Vollziehung“. „Regierung“ umfasse die an praktischen Staatszwecken orientierte Organtätigkeit im Rahmen der Rechtsordnung, „Vollziehung“ dagegen lediglich die Durchführung rechtlich gebotenen Verwaltungshandelns. – Webers ursprüngliche Formulierung „regierende Verwaltung“ macht die Referenz wahrscheinlich, denn die sonstige Staats- und Verwaltungsrechtsliteratur spricht dem Begriff der „Regierung“ – bis ins 18. Jahrhundert hinein immerhin Ausdruck für die Staatstätigkeit insgesamt – rechtsinhaltliche Bestimmtheit im Blick auf die Staatsfunktionen ab; vgl. hierzu Anschütz, Gerhard, Deutsches Staatsrecht, in: EdR7, Band 4, 1914, S. 1–192, hier S. 169 (hinfort: Anschütz, Staatsrecht); Schoen, Paul, Deutsches Verwaltungsrecht. Allgemeine Lehren und Organisation, in: EdR7, Band 4, 1914, S. 193–315, hier S. 195 (hinfort: Schoen, Verwaltungsrecht); Mayer, Verwaltungsrecht I (wie oben, S. 275, Anm. 3), S. 4.
Verwaltung“ ist
r
A: regierende Verwaltung auf. Verwaltung ist heute
kein Begriff nur des öffentlichen Rechts. Es gibt private Verwaltung, etwa des eigenen Haushalts oder eines Erwerbsbetriebs, und öffentliche, d. h. durch die
s
Fehlt in A.
Anstaltsorgane des Staats oder anderer, durch ihn dazu legitimierter, also
t
A: legitimierter
heteronomer öffentlicher Anstalten,
a
A: Anstalten als solcher
geführte Verwaltung. Der Kreis der „öffentlichen“
b
A: Begriff öffentliche ; B: Begriff: „öffentliche“ > Kreis der „öffentlichen“
Verwaltung umfaßt nun in seinem weitesten Sinne dreierlei: Rechtsschöpfung, Rechtsfindung und das, was an öffentlicher Anstaltstätigkeit nach Abzug jener beiden Sphären übrig bleibt: „Regierung“, wollen wir hier sagen. Die „Regierung“ kann
c
A: bleibt, regierender Verwaltung. Die regierende Verwaltung kann ebenso wie die Rechtsschöpfung und Rechtsfindung
an Rechtsnormen gebunden und durch erworbene subjektive Rechte beschränkt sein. Dies teilt sie dann
d
Fehlt in A.
mit der Rechtsschöpfung und Rechtsfindung. Aber darin liegt nur
e
A: nun
zweierlei: 1. positiv:
f
Doppelpunkt fehlt in A.
der Legitimitätsgrund ihrer eigenen Zuständigkeit: eine mo[281]derne Regierung
g
[281]A: regierende Verwaltung
entfaltet ihre Tätigkeit kraft legitimer „Kompetenz“, welche juristisch letztlich stets als
h
Fehlt in A.
auf der Ermächtigung durch die „Verfassungs-“Normen
i
A: Normen
der Staatsanstalt beruhend gedacht wird.
j
A: beruht.
Und ferner ergibt jene Gebundenheit an geltendes Recht und erworbene Rechte 2. negativ: die
k
A: negativ 2. die
Schranken ihrer freien Bewegung, mit denen sie sich abzufinden hat. Ihr spezifisches eigenes Wesen aber besteht positiv
l
Fehlt in A.
grade darin, daß sie nicht nur die Respektierung oder Realisierung von geltendem objektivem Recht, lediglich deshalb, weil es einmal als solches
m
Fehlt in A.
gilt und erworbene Rechte darauf beruhen, zum Objekt hat, sondern die Realisierung von anderen, materialen, Zwecken: politischen, sittlichen, utilitarischen oder welchen Charakters immer. Der Einzelne und seine Interessen sind für die „Regierung“, dem
n
A: Verwaltung, ihrem
juristischen Sinn nach, grundsätzlich Objekt, nicht Rechtssubjekt.
17
[281] Dieser Standpunkt einer obrigkeitlichen Staatsauffassung entspricht juristisch der Auffassung der Gerber-Labandschen Staatsrechtsdogmatik, nach der die außerrechtliche staatliche Willensgewalt die Freiräume der einzelnen rechtlich setzt, welche dann als bloße Reflexe des Staatswillens erscheinen (vgl. Gerber, Grundzüge (wie oben, S. 235, Anm. 6), S. 227 ff.; Laband, Staatsrecht I (wie oben, S. 275, Anm. 4), S. 128 f.). Er widerspricht freilich den verschiedenen Ausprägungen liberal-konstitutionellen Staatsrechtsdenkens im späten Kaiserreich, für welche die Über- und Unterordnungsverhältnisse zwischen dem Staat und seinen Organen auf der einen, den Verbandsmitgliedern oder Herrschaftsunterworfenen auf der anderen Seite Rechtsverhältnisse sind, welche beiderseits handelnde „Rechtssubjekte“ voraussetzen; soweit übereinstimmend z. B. Jellinek, System, S. 10; Mayer, Verwaltungsrecht I (wie oben, S. 275, Anm. 3), S. 14; Loening, Staat (wie oben, S. 209 f., Anm. 48), S. 702 f., 708; Hänel, Staatsrecht (wie oben, S. 209, Anm. 48), S. 96. Auch mit einer in der Tradition der älteren Staatslehre des 19. Jahrhunderts stehenden genossenschaftstheoretisch-organizistischen Staatslehre, wie sie etwa Hugo Preuss im Anschluß an Otto Gierke vertrat, war die reine Objektstellung der Staatsbürger gegenüber der „herrschenden“ Staatsgewalt unvereinbar; vgl. Preuss, Hugo, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf Grundlage der Genossenschaftstheorie. – Berlin: Julius Springer 1889, S. 176 ff., bes. 178, 182.
Grade im modernen Staat besteht allerdings die Tendenz, Rechtsfindung und „Verwaltung“ (im Sinn von „Regierung“)
o
Fehlt in A.
einander formal anzunähern. Innerhalb der Rechtspflege nämlich
p
Fehlt in A.
wird dem heutigen Richter teils durch positive Rechtsnormen, teils durch Rechtstheorien
18
So u. a. die ,Theorien‘ der „Freirechtsschule“; vgl. dazu auch Webers Ausführungen in § 8, unten, S. 623–631.
nicht selten zugemutet, nach materialen Grundsätzen, Sitt[282]lichkeit, Billigkeit, Zweckmäßigkeit[,] zu entscheiden. Und gegenüber der „Verwaltung“ gibt die heutige Staatsorganisation dem einzelnen, der im Prinzip nur ihr Objekt ist, dennoch
q
[282] Fehlt in A.
Mittel der Wahrung seiner Interessen an die Hand, welche mindestens formell denjenigen der Rechtsfindung gleichartig sind: die „Verwaltungsgerichtsbarkeit“.
19
[282] Eine deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit entwickelte sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nach der bis in die sechziger Jahre vorherrschenden Auffassung – einflußreich vertreten durch Otto Bähr, Der Rechtsstaat. Eine publicistische Skizze. – Cassel, Göttingen: Wigand 1864, bes. S. 45–73 – sollte die Verwaltung prinzipiell der Rechtskontrolle der ordentlichen Gerichte unterworfen sein. Die andere, später herrschende Meinung – namentlich vorgetragen von Rudolf von Gneist, Die heutige englische Communalverfassung und Communalverwaltung oder das System des Selfgovernment (Das heutige englische Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Hauptteil 2). – Berlin: Julius Springer 1860, S. 887 ff., bes. S. 894–897 – lehnte die Bährsche „Justizstaats“-Konzeption ab und forderte eine Lösung des Problems durch eine Reform der Verwaltung selbst, speziell durch Schaffung von „formell“ justizartigen Verwaltungsbehörden (Verwaltungsgerichten); vgl. dazu Schoen, Verwaltungsrecht (wie oben, S. 280, Anm. 16), bes. S. 291–295; Mayer, Verwaltungsrecht I (wie oben, S. 275, Anm. 3), S. 161–210; Anschütz, Gerhard, Verwaltungsrecht I. Justiz und Verwaltung, in: Stammler, R[udolf] u. a., Systematische Rechtswissenschaft (Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hg. von Paul Hinneberg, Teil II, Abt. VIII), 2., verb. Aufl. – Leipzig, Berlin: B. G. Teubner 1913, S. 372–421, hier S. 382–393; Fleiner, Fritz, Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts, 2., verm. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1912, S. 215–246.
[A 16][B 5]Aber alle diese Garantien vermögen dennoch den erwähnten letzten Gegensatz von Rechtspflege und „Regierung“
r
A: Verwaltung
nicht zu beseitigen. Der Rechtsschöpfung andererseits nähert sich die „Regierung“
s
A: regierende Verwaltung
überall da an, wo sie[,] auf die ganz freie Verfügung von Fall zu Fall verzichtend[,] generelle Reglements für die Art der Erledigung typischer Geschäfte schafft, und zwar in einem gewissen Grad selbst dann,
t
A: schafft. Dies ist selbst dann der Fall,
wenn sie selbst sich an diese nicht gebunden hält.
a
A: förmlich bindet.
Denn immerhin wird diese Bindung als das Normale auch dann
b
A: trotzdem
von ihr erwartet und das Gegenteil als „Willkür“ normalerweise zum mindesten konventionell mißbilligt.
Der urwüchsige Träger aller
c
A: der
„Verwaltung“ ist die Hausherrschaft. In ihrer primitiven Schrankenlosigkeit gibt es subjektive Rechte der Gewaltunterworfenen dem Hausherrn gegenüber nicht und objektive Normen für sein Verhalten ihnen gegenüber nur allenfalls als heteronomen
d
A: nur als
Reflex sakraler Schranken seines Han[283]delns. Urwüchsig ist demgemäß auch
e
[283] Fehlt in A.
das Nebeneinanderstehen der prinzipiell ganz schrankenlosen Verwaltung
f
A: regierenden Verwaltung
des Hausherrn innerhalb der Hausgemeinschaft auf der einen Seite und des auf Sühne- und Beweisvertrag beruhenden Schiedsverfahrens zwischen den Sippen
20
[283] An die Stelle des ursprünglichen Fehde- und Blutracherechts der Sippe des Verletzten trat eine vertragliche Vereinbarung mit der Sippe des Schädigers, die eine Schuldablösung in Geld ermöglichte. Dieser Sühnevertrag umfaßte nun seinerseits eine Reihe von rechtsförmlichen Parteihandlungen auf beiden Seiten, als wesentlichen Bestandteil aber vor allem den sog. Beweisvertrag, in dem die Parteien vereinbarten, auf welche Weise (Parteieid, Gottesurteil) die ,Schuld‘ und ggf. die Schadensersatzpflicht des Beklagten überhaupt festgestellt werden sollte, während die Erfüllung des Beweisvertrages eine außergerichtliche Angelegenheit war; vgl. für die germanischen Verhältnisse insbesondere die Darstellung bei Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 85 f., 160 f., 181–183, 221.
andererseits. Nur
g
A: Auch
hier wird über „Ansprüche“, subjektive Rechte also, verhandelt und ein Wahrspruch abgegeben. Nur hier finden sich – wir werden sehen weshalb
21
Siehe unten, S. 447 ff., S. 326.
h
A, B: sich, – wir werden sehen weshalb, –
feste Formen, Fristen, Beweisregeln, kurz die Anfänge
i
In A folgt: von
einer „juristischen“ Behandlung. Das Verfahren des Hausvaters im Umkreis seiner Gewalt weiß von alledem
j
A: davon
nichts. Es ist ebenso die primitive Form der „Regierung“,
k
A: regierenden Verwaltung,
wie jenes die der [WuG1 389]Rechtsfindung. Beide scheiden sich auch der Sphäre nach von einander.
l
A: Rechtsfinder.
An der Schwelle des Hauses machte noch die antike römische Justiz unbedingt Halt. Wir werden sehen,
22
Siehe unten, S. 560 ff. und Weber, MWG I/22-4 (Patrimonialismus), S. 259 ff.
wie
m
A: daß
das Hausherrschaftsprinzip über seinen ursprünglichen Umkreis hinaus auch auf gewisse Arten der politischen Gewalt: das Patrimonialfürstentum,
n
A: Gewalt
23
Vgl. oben, S. 279 mit Anm. 14.
und dadurch auch der Rechtsfindung übertragen worden ist. Wo immer
o
In A folgt: aber
dies der Fall ist, wird die Schranke zwischen Rechtsschöpfung, Rechtsfindung und Regierung
p
A: Verwaltung
durchbrochen. Die Folge kann aber eine doppelte sein: entweder die Rechtsfindung nimmt formal und sachlich den Charakter von „Verwaltung“ an, vollzieht sich wie diese ohne feste Formen und Fristen, nach Zweckmäßigkeits- und Billigkeitsgesichtspunkten durch einfache Bescheide und Befehle des Herrn an die Unterworfenen. In voller Durchführung findet sich dieser Zustand nur in Grenzfällen, Annäherungen daran aber bietet der [284]„Inquisitions“-Prozeß
24
[284] Die Ursprünge des Inquisitionsprozesses reichen zurück bis in 12. Jahrhundert, als die katholische Kirche begann, durch Inquisitoren in einem gerichtsförmigen Verfahren gegen sog. Ketzer vorzugehen. Diese Inquisitoren ermittelten und verhandelten unabhängig und von Amts wegen, waren Ankläger und Richter in einer Person. Fundamente des Inquisitionsprozesses waren demzufolge die Prinzipien amtlicher Verfahrenseröffnung und Beweiserhebung, die als Prozeßrechtsgrundsätze (Offizial- bzw. Instruktionsmaxime) nach dem Untergang des eigentlichen Inquisitionsprozesses im modernen Prozeßrecht fortgelten.
und jede Anwendung der „Offizialmaxime“. Oder umgekehrt: „Verwaltung“ nimmt die Form eines Prozeßverfahrens an – dies war sehr weitgehend in England der Fall und ist es teilweise noch. Das englische Parlament verhandelt über „private bills“, d. h. reine Verwaltungsakte (Conzessionen und dergl[eichen]) im Prinzip ganz so wie über „Gesetzentwürfe“, und die Nichtscheidung beider Sphären ist dem älteren Parlamentsverfahren durchweg eigentümlich, für die Stellung des Parlaments gradezu entscheidend gewesen:
25
Weber stützt sich vermutlich vor allem auf Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 233–241, 503–514, 370 f., der sowohl die Gleichförmigkeit von „private“- und „public bill“-Verfahren im englischen Parlament hervorhebt wie deren juridische Form. Beides erklärt sich nach Hatscheks Auffassung aus der mittelalterlichen Stellung des Parlaments als oberster Gerichtshof.
es war eben als eine Gerichtsbehörde entstanden
26
So lagen nach Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 233–239, die Ursprünge des englischen Parlaments in der normannischen curia regis, die sich bis zum 14. Jahrhundert durch Ausdifferenzierung einer Reihe höchstrichterlicher, aber auch reiner Verwaltungs-Funktionen zur zentralen Verwaltungs- und Justizbehörde des Reiches entwickelt hatte.
und wurde in Frankreich ganz zu einer solchen.
27
Während in England das Parlament die für seine Stellung charakteristische Doppelfunktion als Reichsgerichtshof und Ständeversammlung behielt, fielen in der französischen Entwicklung die Funktionen einer obersten Gerichtsversammlung und die einer Repräsentantenversammlung dauerhaft auseinander. Das Parlament fungierte fortan wesentlich als Gerichtshof; vgl. Holtzmann, Robert, Französische Verfassungsgeschichte von der Mitte des neunten Jahrhunderts bis zur Revolution (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, hg. von G[eorg] v[on] Below und F[riedrich] Meinecke, Abt. III). – München, Berlin: R. Oldenbourg 1910, S. 235–239, 335–341.
Politische Umstände bedingten diese Verwischung der Grenzen. Aber auch bei uns wird das Budget, eine Verwaltungsangelegenheit, nach englischem Muster und aus politischen Gründen, als „Gesetz“ behandelt.
28
Gem. Art. 69 RV sind alle Einnahmen und Ausgaben des Reiches für jedes Jahr zu veranschlagen und auf den Reichshaushaltsetat zu bringen; dieser ist vor Beginn des Etatjahres durch Gesetz festzustellen. Für das Etatgesetz gelten dieselben Formerfordernisse wie für die anderen Reichsgesetze. Es kommt durch übereinstimmenden Beschluß von Reichstag und Bundesrat zustande und ist vom Kaiser unter Verantwort[285]lichkeit des Reichskanzlers auszufertigen und zu verkündigen. Zum Doppelcharakter des Etatgesetzes als „Gesetz“ im formellen, „Verwaltungsakt“ im materiellen Sinn vgl. Jellinek, Gesetz (wie oben, S. 234 f., Anm. 5), S. 130–177, S. 276–309; ders., „Budgetrecht“, in: HdStW3, Band 3, 1909, S. 308–323, hier S. 320–322.
Flüssig wird andrerseits der Gegensatz [285]vοn „Verwaltung“
r
[285]B: zwischen „Verwaltung“ ⟨und „privatem“ Handeln⟩
gegenüber dem „Privatrecht“ da, wo das Organhandeln der Verbandsorgane die gleichen Formen wie die Vergesellschaftung
s
B: Vereinbarung > Vergesellschaftung
zwischen Einzelnen annimmt: wenn also Verbandsorgane kraft ihrer Pflicht als solche eine „Vereinbarung“ (Contrakt) mit Einzelnen, sei es
t
B: es sei
Verbandszugehörigen oder Andren, schließen über Leistungen und Gegenleistungen zwischen Verbandsvermögen und Vermögen der Einzelnen. Diese Beziehungen werden dann nicht selten den Normen des „Privatrechts“ entzogen und,
a
B: entzogen, und
abweichend sowohl inhaltlich wie in der Art ihrer Garantie geordnet, den Normen der „Verwaltung“ unterstellt. Dadurch hören die Ansprüche der beteiligten Einzelnen, falls sie nur durch Zwangschancen garantiert sind, nicht auf, „subjektive Rechte“ zu sein
29
Zum Begriff des „subjektiven Rechts“ als zwangsgarantierter Chance zur Interessendurchsetzung, als „subjektives Recht“ im materiellen Sinne also, vgl. oben, S. 200.
und die Unterscheidung ist insoweit nur technischer Natur[.] Als solche kann sie freilich praktisch erhebliche Tragweite gewinnen. Aber es bedeutet doch eine völlige Verkennung der Gesammtstruktur des römischen (antiken) „Privatrechts“, wenn man zu diesem nur die mittelst des ordentlichen Geschworenenverfahrens auf Grund der „lex“ zu verfolgenden Ansprüche und nicht die durch magistratische Cognition zu erledigenden Rechte einbezieht, welchen zeitweilig eine praktisch ungeheuer überwiegende ökonomische Bedeutung zukam.
30
Dies richtet sich gegen die in der zeitgenössischen Romanistik verbreitete Auffassung, daß bis zur Einführung des den entwickelteren Verkehrsverhältnissen besser angepaßten Formularverfahrens der römische Bürger Rechtsschutz nur im Rahmen des altrömischen ordentlichen Geschworenenverfahrens, des starren Legisaktionenprozesses, hätte erlangen können. Vor allem Ludwig Mitteis wies darauf hin, daß nicht nur die Anfänge der magistratischen Jurisdiktion hinter die Ursprünge der Legisaktionen zurückreichen, sondern der prätorische Rechtsschutz in weitem Umfang im Fremdenprozeß und vielleicht im Klientenprozeß Fuß gefaßt habe, wo den Petenten das Bürgerrecht nicht zustand und die legis actio folglich unanwendbar war. Die lex Aebutia als gesetzliche Grundlage des Formularprozesses vollziehe lediglich die Anerkennung einer aus dem Fremdenprozeß rezipierten, aber auch früher schon den Bürgern zugänglichen freien magistratischen Rechtsweisung; vgl. Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 42–58, und unten, S. 556.
q
Fehlt in A.
[286]Ähnlich frei von Beschränkungen durch subjektive Rechte und objektive Normen wie die primitive Macht des Hausherrn kann die Autorität von Magiern und Propheten
b
[286] In A folgt: sein
und unter Umständen auch
c
Fehlt in A.
die Macht der Priester sein, soweit ihre Quelle konkrete Offenbarung ist. Davon ist teils schon gesprochen, teils wird davon noch zu reden sein.
d
Fehlt in A; B: Wir werden davon später noch reden > Davon ist teils schon gesprochen, teils wird davon noch zu reden sein.
31
[286] Siehe Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 157–161, 177–194, sowie unten, S. 446 f.
Der magische Glaube ist aber auch eine der urwüchsigen Quellen des „Strafrechts“ im Gegensatz zum „Zivilrecht“. Die
e
A: Diese
uns heute geläufige Sonderung:
f
A: Sonderung ist in dem Sinne,
daß in der Strafjustiz ein öffentliches, sei es sitt[A 17][B 6]liches oder utilitarisches Interesse an der Sühnung eines Verstoßes gegen objektive Normen durch Strafe von seiten der Organe der Staatsanstalt gegen den Verdächtigen unter den Garantien einer geordneten Prozedur wahrgenommen wird, während die Wahrnehmung privater Ansprüche dem Verletzten überlassen bleibt und nicht Strafe, sondern Herstellung des vom Recht garantierten Zustandes zur Folge hat, ist selbst heute nicht ganz eindeutig durchgeführt. Der urwüchsigen Rechtspflege ist sie fremd. Wir werden sehen,
32
Siehe unten, S. 321.
daß bis tief in sonst sehr
h
B: historis[ch] > sonst sehr
entwickelte Rechtszustände hinein ursprünglich schlechthin jede Klage eine Klage ex delicto war[,] „Verpflichtungen“ und „Ver[WuG1 390]träge“ dem Recht ursprünglich gänzlich unbekannt waren. Ein
i
In B folgt: ⟨⟨so⟩ sonst [leidlich] entwickeltes⟩
Recht wie das chinesische
33
Den „deliktivistisch-pönalistischen“ Geist des chinesischen Vermögensrechts zeigt etwa Theodor Sternberg, Der Geist des chinesischen Vermögensrechts. Ein konstruktiv-vergleichender Versuch, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 26, 1911, S. 143–153, hier S. 144–147 (hinfort: Sternberg, Vermögensrecht).
zeigt noch heute die Nachwirkungen dieses in allen Rechtsentwicklungen sehr wichtigen Thatbestandes.
g
Fehlt in A.
Jede Verletzung
k
In B folgt: ⟨des Rechts oder⟩
der Prätentionen der eignen Sippe auf Unverletzlichkeit von Person und beanspruchtem Besitz durch Sippenfremde
j
A: Verletzung
erheischt im Prinzip Rache oder Sühne
l
A: Rache
und diese sich zu verschaffen ist Sache des Verletzten unter dem Beistand seiner Sippe. Das Sühneverfahren zwischen den Sippen kennt zunächst eine Schei[287]dung des racheheischenden Frevels von bloßen restitutionspflichtigen Unrechtmäßigkeiten nicht oder nur in Ansätzen.
m
A: eine Scheidung von Unrechtmäßigkeiten nicht und Fortsetzung des Satzes, unten, S. 293, textkritische Anm. m.
Die Ungeschiedenheit
n
[287]n–n (bis S. 293: Rechtsgrundsätze obwalteten. –) Fehlt in A.
von bloßer[,]
o
In B folgt: ⟨⟨priv⟩ Rechtsverfolgung⟩
nach unsren Begriffen „civilrechtlicher“ Anspruchsverfolgung und der Erhebung einer auf „Strafe“ antragenden Anklage in dem einheitlichen Begriff der „Sühne“ für geschehenes Unrecht findet ihre Stütze in zwei Eigentümlichkeiten des primitiven Rechts und Rechtsgangs: 1) dem Fehlen der Berücksichtigung der „Schuld“ und also auch des durch die „Gesinnung“ deflnierten Schuldgrades. Der Rachedurstige fragt nicht nach dem subjektiven Motiv, sondern nach dem sein Gefühl beherrschenden objektiven Erfolg des sein Rachebedürfnis erregenden fremden Handelns. Sein Zorn wüthet gegen tote Naturobjekte,
p
In B folgt: ⟨⟨(wie selbst Jesus gegen den Feigenbaum)⟩ ebenso: [??]⟩
an denen er sich unerwartet beschädigt, gegen Tiere, die ihn unerwartet verletzen (so auch im ursprünglichen Sinn der römischen actio de pauperie! – Haftung dafür, daß das Tier sich anders verhält als es sollte! – und der noxae datio
34
[287] Vgl. die Glossareinträge „actio de pauperie“ und „noxae datio“.
von Tieren zur Rache) und gegen Menschen, die ihn unwissentlich, fahrlässig, vorsätzlich kränken, ganz gleichmäßig. Jedes Unrecht ist daher sühnepflichtiges „Delikt“ und kein Delikt ist etwas mehr als ein sühnepflichtiges „Unrecht“. Ferner aber 2) wirkt die Art der „Rechtsfolgen“ des „Urteils“, der „Exekution“ – wie wir sagen würden –[,] im Sinn der Erhaltung dieser Ungeschiedenheit. Denn sie ist die gleiche, mag es sich um den Streit um ein Grundstück oder um Totschlag handeln. Eine Exekution des Urteils „von Amtswegen“ giebt es ursprünglich, oft auch bei schon leidlich fest geordnetem Sühneverfahren, nicht. Man erwartet von dem unter Benutzung von Orakeln und Zaubermitteln, eidlicher Anrufung der magischen oder göttlichen Gewalten zu stande gekommenen Wahrspruch, daß seine durch Scheu vor bösem Zauber geschützte Autorität
q
B: Autorität,
sich Geltung verschaffe, weil seine Verletzung ein schwerer Frevel ist. Da, wo – infolge bestimmter bald zu erwähnender
35
Siehe unten, S. 465–469.
militärischer Entwicklungen [–] dies Sühneverfahren die Form eines Rechtsgangs vor einer Dinggenossenschaft angenommen hat und diese als „Umstand“ an der Entstehung des Urteils beteiligt ist –
r
B: ist, –
wie bei den Germanen in histo[288]rischer Zeit –,
s
[288]B: Zeit, –
N
Korrektur von MWG-Druckfassung: Zeit –[,] zu: Zeit –, in MWG digital; veränderte Stellung des Komma durch textkritische Anmerkung abgedeckt.
36
[288] Brunner legt dar, wie bei den germanischen Volksstämmen die Landesgemeinde, Gaugemeinde und Hundertschaft vor allem auch als Gerichtsversammlungen (Dingversammlung) fungierten, zu denen prinzipiell alle freien und wehrhaften Volksgenossen geladen waren. Dabei bestand ursprünglich eine Funktionenteilung zwischen rechtsfragendem und rechtsverkündendem Richter und urteilsfindender Gerichtsgemeinde. Die Urteilsfindung ging später auf verschiedene besondere Organe über, bei den Franken etwa auf einen vom Richter bestellten Ausschuß der Dinggemeinde, die sog. Rachimburgen. Ein „rechtskräftiges“ Urteil kam aber weiterhin nur im Zusammenwirken mit der Gerichtsgemeinde, die den „Umstand“ bildete, zustande; vgl. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 144–156, 177–184.
darf überdies auch als Folge dieser Assistenz
t
B: als Erfolg des Urteils > auch als Folge dieser Assistenz
gewärtigt werden, daß kein Dinggenosse dem Vollzug des einmal gesprochenen und nicht oder nicht mit Erfolg gescholtenen Urteils
37
Jeder Dinggenosse konnte den Urteilsvorschlag als Unrecht „schelten“. Die „Urteilsschelte“ leitete zunächst eine Art Zwischenverfahren zwischen Scheltendem und Gescholtenen ein, von dessen Ausgang auch das weitere Verfahren in der Hauptsache abhing; vgl. Sohm, Rudolph, Die Fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung (Die Altdeutsche Reichs- und Gerichtsverfassung, Band 1). – Weimar: Hermann Böhlau 1871, S. 130 f., 373 f. (hinfort: Sohm, Gerichtsverfassung); Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte II, S. 355–361; Schröder, Lehrbuch, S. 365 f., 756 f. Zu germanischem Rechtsgang und dinggenossenschaftlicher Justiz vgl. unten, S. 464–475.
etwas in den Weg legen werde.
a
B: werde, ⟨⟨Ab⟩ denn das wäre Frevel.⟩
Aber mehr als dies passive Verhalten hat der obsiegende Teil nicht zu erwarten. Es ist an ihm und seiner Sippe, durch Selbsthilfe dem ihnen günstigen Urteil Nachachtung zu verschaffen, wenn diese nicht alsbald von selbst erfolgt, und bei den Germanen wie in Rom erfolgt diese Selbsthülfe normalerweise – einerlei ob Streit um ein Sachgut oder um Totschlag vorlag – durch Pfandnahme der Person des Verurteilten bis zur Begleichung der durch den Wahrspruch festgesetzten oder aber nunmehr erst zu vereinbarenden Sühne. Das imperium des Fürsten oder Magistrats erst schreitet im politischen Interesse der Befriedung gegen den ein, der die Vollstreckung stört[,] und bedroht von sich aus den Widerstand des Verurteilten mit Rechtsnachteilen bis zur völligen Friedloslegung,
38
Mit der Friedloslegung zog sich der Täter die „Feindschaft allen Volkes“ und den durch förmliche Handlungen bekräftigten Ausschluß aus der Friedens- und Rechtsgemeinschaft zu. Die Friedlosigkeit erfaßte Person und Vermögen und oblag mangels eines Exekutionsstabes prinzipiell jedermann; zur germanischen Friedlosigkeit vgl. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 166–177; zur römischen „Sazertät“ als religiöser und weltlicher Acht vgl. Ihering, Römisches Recht I, S. 279–287.
stellt schließlich direkt amtliche Apparate zur Vollstreckung zur Verfügung. Alles aber zunächst [289]ohne Scheidung „zivilrechtlicher“ von „criminellen“ Prozeduren. Diese ursprüngliche völlige Ungeschiedenheit wirkt in denjenigen Rechten, welche, unter dem Einfluß spezifischer Rechtshonoratioren, wie wir sehen werden,
39
[289] Siehe unten, S. 478–488 und S. 495 ff.
am längsten gewisse Elemente der Continuität der Entwicklung aus der alten Sühnejustiz
b
[289]B: dinggenossenschaftlichen Justiz > Sühnejustiz
bewahrten und am wenigsten „bürokratisiert“ wurden: dem römischen und dem englischen, z. B. auch noch in
c
In B folgt: ⟨dem Prinzip der Geldcondemnation und der d. h. der Verurteilung nicht zur realen⟩ Ablehnung ⟨⟨Ableh⟩ der Realexekution.⟩
der Ablehnung der Realexekution zur Wiedererlangung konkreter Objekte.
40
Über den Grundsatz der Personalhaft und den Ausschluß der Realexekution vgl. für die altrömischen Verhältnisse etwa Sohrn, Institutionen, S. 333–335. Das englische Common Law kannte ursprünglich die Klage auf Realerfüllung, doch trat im Laufe der Zeit eine Klage auf Schadensersatz (damage) regelmäßig an ihre Stelle. Lediglich die Equity-Gerichte ließen in ihren Zuständigkeitsgrenzen specific performance, d. h. Realerfüllung, zu. Erst seit 1854 war das in bestimmten Fällen auch den Common Law-Gerichten möglich und wurde durch die Judicature Acts von 1873 und 1883 (36 & 37 Vict. c. 66; 46 & 47 Vict. c. 30) generell in das Ermessen des Gerichts gestellt; vgl. dazu Heymann, Überblick, S. 332, 338, 324.
Die Verurteilung erfolgt grundsätzlich, bei einer
d
In B folgt: ⟨Grundstücksklage z. B.⟩
Eigentumsklage um ein [WuG1 391]Grundstück z. B., in Geld. Dies ist nicht etwa Folge einer vorgeschrittenen Marktentwicklung,
e
B: weitgetriebenen „Geldwirtschaft“, > vorgeschrittenen Marktentwicklung,
die Alles in Geld abzuschätzen gelehrt hat, sondern Consequenz des
f
In B folgt: ⟨alten⟩
urwüchsigen Prinzips, daß Unrechtmäßigkeit, auch unrechtmäßiger Besitz, Sühne und nur Sühne heischt und der Einzelne dafür mit seiner Person einzustehen hat. Die Realexekution ist auf dem Continent im frühen Mittelalter[,] entsprechend der schnell steigenden Macht des fürstlichen imperium[,] relativ früh durchgeführt worden. Dagegen ist bekannt, durch welche eigentümlichen Fiktionen sich der englische Prozeß bis in die neueste Zeit half, um sie bei Grundstücken zu ermöglichen.
41
Weber spielt auf die rechtsgeschichtliche Bedeutung der einflußreichsten englischen Grundbesitzklage an, der Mitte des 12. Jahrhunderts eingeführten „assisa novae disseisinae“. Mit ihr konnten besitzentsetzte Pächter eines freehold (freies Lehnsgut) gegen den Besitzentsetzer Wiedereinsetzung in den Besitz sowie Schadensersatz beanspruchen. Den zahlenmäßig weit überwiegenden Bodenpächtern minderen Besitzrechts (estate less than freehold) wurde seit der letzten Regierungszeit Heinrichs III. (1216–1272) mit dem Writ of trespass ein entsprechendes Rechtsmittel zugestanden. Mit der Behauptung „vi et armis“ in dem Besitzrecht gestört worden zu sein, ging [290]dieses Writ of trespass ursprünglich nur auf Schadensersatz, allmählich aber auch auf Besitzrestitution. Zunächst lediglich Klage des besitzgestörten Pächters wurde dann bei späteren Klagen aus dem Grundbesitz die Besitzentsetzung des Pächters einfach fingiert. Erst 1852 und durch die Judicature Act von 1873 (36 & 37 Vict. c. 66) wurde das Verfahren dieser Fiktion entkleidet, die Klage nunmehr als „action for the recovery of possession of land“ bezeichnet; vgl. dazu Heymann, Überblick, S. 309 ff., 324 f.; Pollock/Maitland, English Law I, S. 145 f.; Il, S. 29 ff., bes. S. 47–56; 511 ff., bes. 523–528; Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte, S. 184 f.
In Rom war die allgemeine Minimisierung der [290]Offizialthätigkeit –
g
[290]B: Offizialthätigkeit, –
wie wir später sehen werden,
42
Siehe unten, S. 493; auch Weber, Bürokratismus, MWG I/22-4, S. 180 f.
eine Folge der Honoratiorenherrschaft –
h
B: Honoratiorenherrschaft, –
der Grund für das Fortbestehen der Geldcondemnation statt der Realexekution[.]
43
Der Grundsatz der Geldkondemnation herrschte bis zum Ende der klassischen Zeit; der Beklagte konnte nur indirekt – über die in Geld ablösbare persönliche Schuldhaftung – herangezogen werden. Die für den Kläger häufig ungünstige, für den Eigentümer geradezu paradoxe Folge hat Sohm, Institutionen, S. 309, herausgestellt: „Der Erfolg der siegreich durchgeführten Eigentumsklage ist die Enteignung des Klägers, der Verlust des Eigentums. […] Die siegreich durchgeführte Klage führt aber infolge des Grundsatzes der Geldkondemnation nicht zur Befriedigung, sondern zur Abfindung des klägerischen Rechts.“
Der gleiche Umstand: daß grundsätzlich eine Klage ursprünglich stets nicht nur ein objektiv bestehendes Unrecht, sondern einen Frevel des Verklagten voraussetzte, hat auch das materielle Recht sehr tiefgehend beeinflußt. Alle „Obligationen“ ohne Ausnahme waren ursprünglich Delikt-Obligationen; die Contraktobligationen sind daher, wie wir noch sehen werden,
44
Siehe unten, S. 320 f.
durchweg zuerst deliktartig konstruiert worden, in England noch im Mittelalter formell an fiktive Delikte angeknüpft worden.
45
Weber denkt hier an das Ende des 13. Jahrhunderts aufkommende neue Rechtsmittel des Writ of trespass (siehe hierzu oben, S. 289, Anm. 41). Seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert fungierte der Writ of trespass als Grundlage einer Reihe von Rechtsmitteln für neu auftretende Schuldformen. Das wichtigste unter ihnen, das sog. Writ of trespass on the care of assumpsit (ausgehend also von der Übernahme einer Sache zur Bearbeitung oder sonstigen bestimmten Behandlung (assumpsit)), wurde allmählich für alle Fälle des Bruchs formloser Verträge (simple contracts) verwendbar und zur wichtigsten Vertragsklage überhaupt. (Ihr deliktischer Ursprung war zugleich wesentlicher Grund dafür, daß aus Verträgen bis in die neueste Zeit nur auf Schadenersatz und nicht auf Realerfüllung geklagt werden konnte.) Vgl. Heymann, Überblick, S. 328 f.; Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte, S. 184 f.
Daß Schulden ursprünglich nicht auf den „Erben“ als solchen übergehen, hat, neben dem Fehlen der Vorstellung von einem „Erbrecht“ überhaupt, auch darin seinen Grund, und nur auf dem Wege
i
B: Umweg > Wege
über die Mithaftung zuerst [291]der Sippengenossen, dann der Hausgenossen und Gewaltunterworfenen oder Gewalthaber für Unrecht ist, mit höchst verschiednem Resultat, wie wir sehen,
46
[291] Vgl. hierzu die Erörterungen zum Gesamthandsprinzip, unten, S. 385.
die Erbenhaftung für Contraktschulden construiert worden.
47
So nimmt z. B. Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 97–99 und S. 98 mit Anm. 11, für das römische Recht an, daß es wohl – entsprechend der These vom deliktischen Ursprung aller Obligationen – eine Phase in der Rechtsentwicklung gegeben habe, in der das Delikt eine rein persönliche, unvererbliche Haftung erzeugte. Doch müsse im Zusammenhang mit den ältesten Vertragsobligationen bereits der Gedanke der Haftbarkeit der Erben aufgetreten sein und die Spuren jenes früheren Rechtszustandes sehr bald unkenntlich gemacht haben. Am Ende der Entwicklung steht die von Weber genannte Erbenhaftung für Schulden des Erblassers. So im griechischen Recht, wonach die Erben für Privatschulden mit dem Nachlaß, für öffentliche darüber hinaus persönlich haften; im römischen Recht, das die erst durch Justinian modifizierte unbeschränkte Erbenhaftung für sämtliche Nachlaßverbindlichkeiten verlangt; im frühmittelalterlichen deutschen Recht, das Erbenhaftung, wenn auch lediglich bis zum Wert des übernommenen Nachlasses, vorsieht; im englischen Recht, in dem beschränkte Haftung des gesamten (Mobiliar- und lmmobiliar-)Nachlasses für Schulden des Erblassers seit alters besteht. Vgl. Heymann, Überblick, S. 342; Brunner, Heinrich, Quellen und Geschichte des deutschen Rechts, in: EdR7, Band 1, 1915, S. 67–174, hier S. 140 (hinfort: Brunner, Quellen); ders., Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, 3. Aufl. – Leipzig: Duncker & Humblot 1908, S. 203 (hinfort: Brunner, Grundzüge).
Ein solcher Rechtssatz ferner, wie das dem heutigen Handelsverkehr angeblich unentbehrliche Prinzip „Hand muß Hand wahren“
48
Das Rechtssprichwort „Hand muß Hand wahren“ bedeutet in seiner gebräuchlichsten Anwendung, daß der Eigentümer einer (zur Leihe, Miete, Verwahrung) überlassenen Sache einen Herausgabeanspruch nur dem gegenüber besitzt, dem sie überlassen wurde, nicht aber gegen einen gutgläubigen dritten Erwerber. In dieser Bedeutung wird der Grundsatz dem altdeutschen Fahrnisrecht (Fahrhabe-Mobiliarbesitz) – im Unterschied zum Liegenschaftsrecht – zugeschrieben.
– der Schutz des gutgläubigen Erwerbers von Sachen gegen den Zugriff des Eigentümers – folgte ursprünglich ganz direkt aus dem Grundsatz, daß man eine Klage nur ex delicto gegen den Dieb oder Hehler hatte, hat dann freilich mit der Entwicklung der Contraktsklagen und der Scheidung „dinglicher“ und „persönlicher“ Klagen in den einzelnen Rechtssystemen sehr verschiedene Schicksale durchgemacht.
j
[291] In B folgt: ⟨(er galt z. B., außer für Käufer auf offenem Markt, im englischen Recht bis in die Neuzeit ebensowenig wie im römischen)⟩ –
So hatte ihn sowohl das antik römische, wie das englische[,] wie das, im Gegensatz zum chinesischen, relativ rational entwickelte indische Recht, zu Gunsten der Vindikation beseitigt,
49
Im römischen Formularprozeß führte der Grundsatz der Geldkondemnation selbst [292]bei erfolgreicher Eigentumsklage praktisch zur Enteignung des Klägers – seine Abfindung durch eine Geldentschädigung einerseits, die Besitzwahrung des (widerrechtlichen) Besitzers der Sache andererseits. Dagegen setzte sich mit der petitorischen Eigentumsklage, einem magistratischen Rechtsmittel, der absolute Eigentumsbegriff durch. Gegenüber der actio rei vindicatio ging die formula petitoria nicht nur auf bloße Klarstellung des Eigentums und Geldkondemnation, sondern auf Restitution, Herausgabe des Besitzes an den Eigentümer; vgl. dazu Sohrn, Institutionen, S. 390–398, 309 f., 312 ff.; Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 87 f.
und er ist
k
B: beseitigt und ist er
in den beiden [292]letzteren dann erst wieder, und zwar nun rational, im Interesse der Verkehrssicherheit, zu Gunsten des Kaufs auf dem offenen Markt, neu geschaffen worden.
50
Grundsätzlich rechtsgeschützt war in England schon früh der Erwerb vom Nichteigentümer „vor allem in dem […] Fall des gutgläubigen Kaufs auf offenem Markt […], sofern nicht die Sache durch kriminell bestraften Diebstahl abhanden gekommen ist […]“ (Heymann, Überblick, S. 326; vgl. zum Ganzen ebd., S. 324–327). – Über den Wechsel von Herausgabeanspruch (Eviktionsprinzip) und Schutz des gutgläubigen Erwerbs von Sachen unter den Bedingungen sich entwickelnder Verkehrsverhältnisse in Indien handelt z. B. Kohler, Josef, Indische Gewohnheitsrechte, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 8, 1889, S. 89–147, 262–273, hier S. 123.
Seine Nichtgeltung im römischen und englischen im Gegensatz zum deutschen Recht ist wiederum ein Beispiel
l
[292]B: Beweis > Beispiel
für die Möglichkeit der Anpassung der Verkehrsinteressen an sehr verschieden geartetes materielles Recht und die weitgehende Eigengesetzlichkeit der Rechtsentwicklung. Auch das „malo ordine tenes“ der Grundstücksklage in den fränkischen Formeln hat man – unbestimmt mit welchem Recht – auf das Erfordernis eines Delikts für den Prozeß gedeutet.
51
Mit der Formel „malo ordine tenes“ (Du besitzt mit schlechtem Recht) wurde im fränkischen Liegenschaftsprozeß der unrechtmäßige Landbesitz bezeichnet, ursprünglich wegen widerrechtlicher Landnahme, später – und mit entsprechend modifizierter Klageformel – wegen rechtswidriger Vorenthaltung des Grundstücks gegenüber dem Eigentümer. Entsprechend hatte „die Klage um Liegenschaften […] ebenso wie die Fahrnisklage ursprünglich den Charakter einer Deliktsklage“ (Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte II, S. 512 f., 516, Zitat S. 512). Ähnlich betont Schröder, Lehrbuch, S. 378, die deliktische Komponente des Liegenschaftsprozesses, in dem „nicht das dingliche Recht des Klägers, sondern der dem Beklagten gemachte Vorwurf des malo ordine tenere oder iniuste invasisse den Schwerpunkt des Verfahrens bildete.“
Immerhin lassen die doppelseitige römische Vindikation und die hellenische Diadikasie ebenso wie die germanischen, ganz anders construierten Grundbesitzklagen
52
Der Rechtsgang um Liegenschaften wurde nach den deutschen Rechten entweder mittels rechtsförmlicher Ladung des Beklagten durch den Kläger (die fränkische mannitio), durch eine Streitvereinbarung zwischen den Parteien (Streitgedinge) oder durch den sog. Anefang eingeleitet. Auf die Anefangsklage um Grundstücke zielt Webers Vergleich mit der römischen rei vindicatio sacramento und der hellenischen Dia[293]dikasie. Der Anefang war zunächst rechtsförmliche Besitzergreifung (hier des Grundstücks) und geschah regelmäßig durch Anfassen des Türpfostens. Ursprünglich primäre Besitzergreifung, führte die Besitzbestreitung durch den anderen (Gegenanefang) zum Rechtsstreit. Darin drohte dem unterliegenden Kläger eine Buße wegen unrechtmäßigem Anefang, dem unterliegenden Beklagten die Herausgabe des Streitgegenstands und eine Buße wegen rechtswidriger Inbesitznahme oder Vorenthaltung; vgl. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte II, S. 513–519. – Auf die verfahrensmäßigen Parallelen zwischen der zweiseitigen Eigentumsklage des altrömischen Prozesses, der hellenischen Diadikasie und der germanisch-fränkischen Liegenschaftsklage, deren soziologischen Grund Weber in dem Gemeinschaft konstituierenden Grundbesitz sieht, weisen z. B. Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 88, Anm. 40; ders., Reichsrecht und Volksrecht in den östlichen Provinzen des römischen Kaiserreichs. – Leipzig: B. G. Teubner 1891, S. 501 f. (hinfort: Mitteis, Reichsrecht), sowie Sohm, Institutionen, S. 279 f., Anm. 13, hin.
darauf schließen, daß hier, wo es sich ursprüng[293]lich um Status-Klagen handelte: um die Frage der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der kraft Bodenbesitzes vollberechtigten Genossen („Fundus“ heißt „Genosse“, κλῆρος Genossenanteil), besondre Rechtsgrundsätze obwalteten.
n
n(ab S. 287: Die Ungeschiedenheit)n Fehlt in A.
Ebensowenig wie eine eigentliche amtliche Exekution von Urteilen gibt es ursprünglich
m
A: ebensowenig gibt es Satzanschluß im Typoskript, vgl. oben, S. 286, textkritische Anm. m.
eine Verfolgung von Delikten „von Amtswegen“. Innerhalb der Hausherrschaft andererseits erfolgt jede Züchtigung kraft der Hausgewalt des Herrn. Conflikte
o
B: Frevel > Conflikte
unter Sippengenossen entscheiden die Sippenältesten. Da
n
A: Herrn, da
aber Grund, Art und Maß in all diesen Fällen im freien
p
A: dessen
Ermessen der Gewalthaber stehen,
q
A: steht, ; B: der Gewalthaber steht,
gibt es kein „Strafrecht“. Ein solches entwickelte sich in primitiver Form außerhalb des Hauses, und zwar da, wo das Handeln eines einzelnen einen nachbarschaftlichen oder sippenmäßigen oder
r
Fehlt in A.
politischen Verband, dem er zugehört, in der Gesamtheit seiner Mitglieder gefährdete.
s
A: gefährdet.
Dies konnte vor allem durch zwei Arten von Handeln geschehen:
t
A: geschehen,
Religions- und Militärfrevel. Einmal also dadurch, daß eine [WuG1 392]magische, z. B. eine Tabunorm verletzt wurde
u
A: wird
und dies den Zorn der magischen Gewalten, Geister oder Götter, außer auf den Frevler selbst auch auf die Gemeinschaft, welche ihn in ihrer Mitte duldete, in Gestalt bösen Zaubers herabziehen konnte. Dann reagierten auf Veranlassung [294]der Magier oder Priester die Genossen dagegen durch Verstoßung (Friedlosigkeit) oder durch
a
[294]A: Verstoßung oder
Lynchjustiz
53
[294] Bei schweren Religionsfreveln (Schändung sakraler Orte, Tempelraub, schädliche Zauberei etc.) hat auch die Strafe sakrale Bedeutung. Es galt, die Götter durch rituelle Menschenopfer zu besänftigen. Mit dem Verbrecher sollten gleichsam die Spuren des Verbrechens von der Erde getilgt werden; „Volks- und Lynchjustiz“ nennt Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte II, S. 476, den Achtvollzug in heidnischer Germanenzeit (vgl. auch ebd., S. 483, 469 f.).
(wie es die Steinigung der Juden war)
54
Die hier als Akt religiöser Lynchjustiz gedeutete Steinigung wird von den Israeliten als gemeinschaftlich zu vollstreckende Todesstrafe bei schwerwiegenden Verletzungen der sakralen Bundesordnung durchgeführt (vgl. Ex 12–17; gegen Tiere: Ex 28–32). Nicht mehr in diesen Rahmen, sondern eher in den eines sakralen Strafverfahrens gehört die nach geordnetem Rechtsgang mit Zeugenbeweis verhängte Todesstrafe durch Steinigung, die in Dtn 17, 2–7, erwähnt ist.
oder durch ein sakrales Sühneverfahren.
55
Das gegenüber der Friedlosigkeit und religiöser Lynchjustiz Unterscheidende liegt hier in der Verhängung und Vollstreckung der (Leib-, Lebens- oder Buß-)Strafe nach vorausgehendem „Prozeß“. Gemeinsam ist ihnen dagegen der mit der Strafe wesentlich verknüpfte Gedanke sakraler Sühne oder Vergeltung für das als Gottesfrevel aufgefaßte Verbrechen. Zum sakralen Sühnegedanken im germanischen Strafensystem in heidnischer und christlicher Zeit vgl. etwa Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 175 und II, S. 587 f., 608 f.
Der Religionsfrevel also war die eine Hauptquelle der []internen Strafe“
56
Es handelt sich hier vermutlich um eine aus dem sachlichen Zusammenhang resultierende Wortschöpfung Max Webers.
, wie man diese Prozedur im Gegensatz zur „Rache“, die zwischen den Sippen stattfindet, nennen kann.
b
Fehlt in A.
Die zweite Hauptquelle der „internen“ Strafe war politischen, ursprünglich also: militärischen,
c
A: Strafjustiz war militärischen
Ursprungs. Wer
d
A: Der
durch Verrat oder, nach dem Aufkommen des disziplinierten Kampfs, durch Disziplinbruch oder durch Feigheit die Sicherheit des Wehrverbandes gefährdete, setzte sich der strafenden
e
Fehlt in A.
Reaktion von Kriegsführer
f
A, B: Kriegführer
und Heer nach einer meist sehr summarischen Feststellung des Tatbestandes aus.
Vornehmlich
g
A: Nur
von der Rache aus aber führt
h
A: führt
direkt ein Weg zu einem
i
In A folgt: eigentlichen
„Kriminalverfahren“, welches – wir werden sehen[,] aus welchen Gründen
57
Siehe unten, S. 447 ff.
– an feste
j
Fehlt in A.
Formen und Regeln gebunden war.
k
A: ist.
Die hausväterliche, religiöse, militärische Reaktion auf Frevel weiß prinzipiell von Formen und Regeln zunächst nichts. Bei der haus[295]väterlichen Gewalt bleibt dies im allgemeinen so. Sie wird zwar durch das Eingreifen anderer Gewalten –
l
[295]A: Gewalten:
zu[A 18][B 7]nächst: Sippengewalt, dann religiöser und militärischer Gewalt – unter Umständen in Schranken gebannt, aber innerhalb ihres Bereichs nur sehr vereinzelt an Rechtsregeln gebunden. Dagegen die primitiven außerhäuslichen Gewalten mit Einschluß der
m
A: ebenso wie die
auf außerhäusliche Beziehungen übertragenen hausherrschaftsartigen („patrimonialfürstlichen“)
n
A: übertragene hausherrschaftsartige (patrimoniale) ; B: übertragene hausherrschaftsartigen („patrimonialfürstliche“)
Gewalt, alle jene
o
Fehlt in A.
nicht innerhäuslichen Gewalten also, die wir unter dem gemeinsamen Namen „imperium“ zusammenfassen wollen,
58
[295] Der Begriff des „imperium“ ist dem römischen Recht, speziell dem römischen Staatsrecht entlehnt und bezeichnet dort „die oberste mit Commando und Jurisdiction ausgestattete Amtsgewalt“ (Mommsen, Theodor, Römisches Staatsrecht (Handbuch der römischen Alterthümer, von Joachim Marquardt und Theodor Mommsen), 3. Aufl. (in drei Bänden). – Leipzig: S. Hirzel 1887, Band l, S. 22; hinfort: Mommsen, Römisches Staatsrecht I).
verfielen, nur in verschiednem Grade, allmälich
p
A: verfielen sämtlich
der Bindung an Regeln. Welcher Provenienz diese Regeln waren,
q
A: sind,
inwieweit sie sich der Träger des imperium im eigenen Interesse setzte
r
A: setzt
oder mit Rücksicht auf die faktischen Schranken der Obödienz setzen mußte
s
A: muß
oder durch andere Gewalten gesetzt erhält, lassen wir vorläufig dahingestellt: es
t
A: dahingestellt. Es
gehört in die Erörterung der Herrschaft.
59
Siehe dazu Weber, MWG I/22-4 (Patrimonialismus), S. 259 ff.; auch unten, S. 554 ff.
Die Macht
b
B: Gewalt > Macht
zu strafen, insbesondre Ungehorsam nicht nur durch direkte Gewalt zu brechen, sondern auch durch Androhung von Nachteilen
c
B: Bußen > Strafen > Nachteilen
, ist – in der Vergangenheit fast noch mehr als jetzt – ein normaler Bestandteil jedes imperium. Sie kann sich gegen andre, dem betreffenden Träger eines imperium untergeordnete „Organe“ wenden (Disziplinargewalt) oder gegen die „Unterthanen“ (Bußgewalt).
60
In der deutschen – wie in der römischen – Rechtsgeschichte entwickelte sich aus der Amtsgewalt des Königs oder der Beamten die Straf- bzw. „Bußgewalt“; sie war als [296]solche Betätigung des imperiums, der „Banngewalt“; vgl. Sohm, Gerichtsverfassung (wie oben, S. 288, Anm. 37), S. 102 ff.
An diesem Punkt berührt sich das „öffentliche Recht“ direkt mit dem „Strafrecht“[.]
a
Fehlt in A.
Jedenfalls aber
d
Fehlt in A.
entsteht ein „öffentliches Recht“ ebenso wie ein „Strafrecht“, „Strafprozeßrecht“, „Sakralrecht[] als gesondertes Objekt wis[296]senschaftlicher Betrachtung
e
Fehlt in A.
auch im Keime erst da, wo wenigstens
f
[296] Fehlt in A.
irgend welche derartige Regeln als Komplex von faktisch verbindlich geltenden Normen feststellbar sind.
g
In B folgt ein Absatzzeichen von der Hand Max Webers.
Stets bedeuten solche Normen
h
A: sie
ebenso viele Schranken des betreffenden imperium, obwohl andrerseits nicht jede Schranke desselben „Norm“-Charakter hat. Die Art
i
A: imperium. Der Charakter
dieser Schranken kann nun aber eine doppelte sein: 1[.] Gewaltenbegrenzung,
k
B: Gewaltbegrenzung,
j
A: ein doppelter sein: 1 Gewaltbegrenzung,
– 2[.] Gewaltenteilung. Entweder (1)
l
Fehlt in A.
stößt ein konkretes
m
A: bestimmtes
imperium kraft heilig geltender Tradition oder durch Satzung auf die subjektiven Rechte
n
A: das Recht
der ihm Unterworfenen: daß dem Gewalthaber nur Befehle einer bestimmten Art oder auch Befehle aller mit Ausnahme bestimmter Arten und nur unter bestimmten Voraussetzungen zustehen, also nur dann
o
Fehlt in A.
legitim und verbindlich sind. Für die Frage: ob es sich dabei um eine „rechtliche“ oder um eine „konventionelle“ oder nur „gewohnheitsmäßige“ Begrenzung handle,
61
Zur Differenzierung von Recht, Konvention und Sitte vgl. oben, S. 210 ff.
ist entscheidend: ob ein Zwangsapparat die Innehaltung dieser Schranken irgend wie garantiert, einerlei mit welchen noch so prekären
p
A, B: praecären
Zwangsmitteln, oder nur die konventionelle Mißbilligung oder ob
q
A: auch
endlich eine einverständnismäßige Schranke ganz fehlt. Oder aber (2)
r
Fehlt in A.
das imperium stößt auf ein an[A 19][B 8]deres, ihm gleich oder in bestimmten Hinsichten übergeordnetes imperium, an dessen Geltung es seine Schranken findet. Beides kann zusammentreffen und [WuG1 393]auf dieser Kombination beruht die Eigentümlichkeit der modernen, nach „Kompetenzen“ gegliederten Staatsanstalt. Sie ist ihrem Wesen nach:
s
Doppelpunkt fehlt in A.
eine anstaltsmäßige Vergesellschaftung
62
Zur Terminologie vgl. Weber, Kategorien, S. 287, 289–291.
der, nach bestimmten Regeln ausgelesenen, Träger bestimmter, ebenfalls durch allgemeine Regeln der Gewaltenteilung nach außen
t
Fehlt in A.
gegeneinander abgegrenzten imperia, welche zugleich auch sämtlich durch gesatzte Gewaltenbegrenzung innere Schranken
u
A: Grenzen
der Legitimität ihrer Befehlsgewalt haben. Beide: sowohl die Gewal[297]tenteilung als die Gewaltenbegrenzung können nun aber
a
[297] Fehlt in A.
eine von der für die moderne Staatsanstalt charakteristischen Form höchst verschiedene Struktur haben. Speziell gilt dies auch für die Gewaltenteilung. Sie ist im antik römischen Intercessionsrecht der „par majorve potestas“,
63
[297] Im römischen Staatsrecht bedeutet die „Interzession“ die Außerkraftsetzung eines magistratischen Befehls durch eine Anordnung eines anderen Magistrats (Beamten). Dieser Sachverhalt wird von Mommsen unter dem Blickwinkel der „Gewaltenteilung“ gedeutet, wonach der Kollisionsfall widerstreitender Befehle für die Über- und Unterordnung (z. B. zwischen Konsul und Prätor), auch für den Fall der Gleichordnung (z. B. zwischen den beiden Ädilen), nicht aber bei Gewalten unterschiedlicher „Kompetenz“ (etwa zwischen Zensor und Quästor) im Sinne der zulässigen Interzession geregelt ist; vgl. dazu bes. Mommsen, Römisches Staatsrecht I (wie oben, S. 295, Anm. 58), S. 24–27, 258–292; ders., Abriß des römischen Staatsrechts (Systematisches Handbuch der deutschen Rechtswissenschaft, hg. von Karl Binding, Abt. 1, Teil 3), 2. Aufl. – Leipzig: Duncker & Humblot 1907, S. 124–127.
im patrimonialen, ständischen, feudalen politischen Gebilde absolut verschieden geartet,
b
A: ständischen politischen Gebilde und in der bureaukratischen Organisation von absolut verschiedener Struktur,
wie später zu erörtern sein wird.
64
Weber verweist auf entsprechende herrschaftssoziologische Abschnitte seines Grundrißbeitrags, siehe MWG I/22-4, S. 275–284 (Patrimonialismus), 307–321 (ebd.), 402–412 (Feudalismus).
Durchweg aber gilt allerdings,
c
A: gilt,
richtig verstanden, Montesquieu’s Satz:
65
Montesquieu hat den Zusammenhang zwischen Gewaltenteilung und „öffentlichem Recht“ allerdings weder in dem berühmten Kapitel 6 des 11. Buches seines „Esprit des lois“ über die Verfassung Englands noch sonst ausdrücklich formuliert.
daß erst die Gewaltenteilung die Conzeption
d
A: den Gedanken
eines „öffentlichen Rechts“ möglich mache, nur
e
A: juristisch möglich mache. Nur ist es
nicht notwendig eine solche von der Art, wie er sie in England vorzufinden glaubte. Andererseits schafft aber auch
f
Fehlt in A.
nicht jede Art von Gewaltenteilung schon den Gedanken eines öffentlichen Rechts, sondern erst die der rationalen Staatsanstalt spezifische. Eine wissenschaftliche Lehre vom öffentlichen Recht hat nur der Occident entwickelt, weil nur hier der politische Verband ganz den Charakter der Anstalt mit rational gegliederten
g
A: rationalen
Kompetenzen und Gewaltenteilung angenommen hat. Die Antike kennt genau soviel von wissenschaftlichem Staatsrecht, als rationale Gewaltenteilung vorhanden war: die [A 20][B 9]Lehre von den imperia der einzelnen römischen Beamten ist wissenschaftlich gepflegt worden.
66
Gemeint sind u. a. die im engeren Sinne „staatsrechtlichen“ Schriften Ciceros und [298]etwa die Arbeiten des spätklassischen römischen Juristen Ulpian über die Amtspflichten und -kompetenzen der Magistrate, z. B. dessen drei Bücher „De officio consulis“ und zehn Bücher „De officio proconsulis“.
Alles andere war wesentlich Staatsphilosophie, nicht Staatsrecht. Das [298]Mittelalter kennt die Gewaltenteilung nur als Konkurrenz subjektiver Rechte (Privilegien oder feudaler Ansprüche)
h
[298]A: (Privilegien)
und daher keine gesonderte Behandlung eines
i
A: des
Staatsrechts. Was es davon gab, steckt im „Lehen“- und „Dienstrecht“.
j
Fehlt in A.
Erst die Kombination von mehreren Momenten: in der Welt der Tatsachen die Vergesellschaftung der Privilegierten zur öffentlichen Korporation im Ständestaat, welcher
k
A: der
Gewaltenbeschränkung und Gewaltenteilung zunehmend mit anstaltsmäßiger Struktur verbindet, auf dem Boden der Theorien der römische Korporationsbegriff,
67
Vgl. zum Korporationsbegriff des römischen Rechts, unten, S. 399–404.
das Naturrecht und schließlich die französische Doktrin schufen die entscheidenden juristischen Konzeptionen des modernen öffentlichen Rechts.
68
Zur Entwicklungsgeschichte der römischen Korporationslehre und ihrer Bedeutung für die Rechtspersönlichkeitskonzeption des modernen Staates vgl. unten, S. 399 ff. – Die an der konstitutionellen Lehre Mirabeaus, Sieyès und Benjamin Constants geschulte französische Doktrin des öffentlichen Rechts wurde in Deutschland vor allem von Otto Mayer, Theorie des Französischen Verwaltungsrechts. – Straßburg: Karl J. Trübner 1886 (hinfort: Mayer, Theorie), rezipiert. – Die von Weber genannten Theorielinien führt ähnlich Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 57–60, als entscheidende Stationen auf dem Weg zur modernen Staatsrechtslehre an.
Wir werden von der Entwicklung desselben, soweit sie uns angeht, bei Besprechung der Herrschaft zu reden kommen.
69
Ausführungen über die Entwicklung des „modernen öffentlichen Rechts“ finden sich allerdings in der „Herrschaftslehre“ der älteren Grundrißmanuskripte nicht. Denkbarerweise sollte in dem laut Werkplan von 1914 vorgesehenen Abschnitt über „Die Entwicklung des modernen Staates“ darauf eingegangen werden (vgl. Winckelmann, Hauptwerk, S. 169; MWG II/8, S. 821). Ein entsprechendes Vorkriegsmanuskript ist nicht überliefert.
Daher soll im Nachfolgenden vorwiegend von der Rechtsschöpfung und Rechtsfindung auf den ökonomisch direkt relevanten
l
Fehlt in A.
Gebieten, welche heut dem „Privatrecht“ und „Zivilprozeß“ überlassen sind, gehandelt werden.
Unsren heutigen juristischen Denkgepflogenheiten zerfällt die Thätigkeit der öffentheben Verbände auf dem Gebiet des „Rechts“
n
B: [am] „Recht“
in zweierlei: „Rechtsschöpfung“ und „Rechtsfindung“, an deren letztere sich, als rein technisch, die „Vollstreckung“ anschließt. [299]Unter „Rechtsschöpfung“ aber stellen wir uns heute vor die Satzung
o
[299] In B folgt: einer
genereller Normen, deren jede in der Sprache der Juristen den Charakter eines oder mehrerer
p
B: (oder mehrerer)
rationaler „Rechtssätze“ annahmen. Und die „Rechtsfindung“ denken wir uns als „Anwendung“ jener gesatzten Normen und der durch die Arbeit des juristischen Denkens aus ihnen abzuleitenden einzelnen „Rechtssätze“ auf konkrete „Thatbestände“, welche unter sie „subsumiert“ werden. Keineswegs alle Epochen der Rechtsgeschichte haben so gedacht[.]
m
Fehlt in A.
Der Unterschied zwischen Rechtsschöpfung: Schaffung von „Rechtsnormen“[,] und Rechtsfindung: deren „Anwendung“ auf den Einzelfall, besteht überall da nicht, wo alle Rechtspflege freie[,] von Fall zu Fall entscheidende „Verwaltung“ ist. Hier fehlt die Rechtsnorm sowohl wie das subjektive Recht auf ihre „Anwendung“.
q
A: Recht.
Ebenso aber auch da, wo das objektive Recht als subjektives „Privileg“ gilt und also der Gedanke einer „Anwendung“ objektiver Rechtsnormen als der Grundlagen der subjektiven Rechtsansprüche
r
A: der objektiven Rechtsnormen als Grundlage des subjektiven Rechtsanspruches
nicht konzipiert ist. Außerdem aber überall da und soweit, als
s
A: da, wo
die Rechtsfindung nicht durch
t
A: in Form der Fehlt in B; durch sinngemäß ergänzt.
Anwendung von generellen Rechtsnormen auf den konkreten Fall, durch dessen Subsumtion [WuG1 394]unter die Norm also, stattflndet. Dies ist bei aller irrationalen Rechtsfindung der Fall, welche[,] wie wir gesehen haben,
70
[299] Siehe oben, S. 286–289.
die [A 21][B 10]ursprüngliche Art der Rechtsfindung überhaupt darstellt und[,] wie wir noch sehen werden,
71
Siehe unten, vor allem S. 441 ff. und S. 447 ff.
die ganze Vergangenheit, außerhalb des Anwendungsgebietes des römischen Rechts, teils gänzlich, teils mindestens in Rudimenten beherrscht hat.
Ebenso
a
A: Andererseits ; B: Infolgedessen > Ebenso
ist auch die Scheidung zwischen Normen des (durch Rechtsfindung zur Anwendung zu bringenden)
b
Klammern fehlen in A.
Rechts und solchen des Hergangs der Rechtsfindung selbst
c
In B folgt: ⟨(Prozeßrecht)⟩
nicht immer so klar vollzogen worden, wie heut der Unterschied zwischen materiellem und Prozeßrecht. Wo z. B.
d
Fehlt in A.
der Rechtsgang
e
In A folgt: stark
auf dem Einfluß des imperiums auf
f
A: für
die Prozeßinstruktion beruhte, wie z. B. im älteren [300]römischen Recht
72
[300] Der klassische römische Zivilprozeß verlief zweigeteilt in einem Verfahren in iure vor dem Gerichtsmagistrat (Prätor, Ädil) und einem Verfahren apud iudicem vor einem Richter. Der Magistrat stellte Rechtslage und Prozeßprogramm fest und erteilte anschließend dem Richter den Judikationsbefehl. Dieser mußte die rechtserheblichen Tatsachen entsprechend der vom Magistrat gewährten actio (Prozeßprogramm) erheben und danach sein Urteil (sententia) fällen; vgl. z. B. Sohm, Institutionen, S. 265–269.
und, in technisch
g
[300] Fehlt in A.
ganz anderer Art, auch im englischen Recht,
73
Zu den herausragenden Bestandteilen der Prozeßreformen Heinrichs II. (1154–1189) gehörte der sog. Writprozeß. Es handelte sich dabei um ein prinzipiell auf das Königsgericht beschränktes Verfahren, in dem Mandate der königlichen Kanzlei (writs, brevia) prozessual verschiedene Funktionen übernehmen konnten, entweder den Prozeß nur einleiteten oder auch den klägerischen Anspruch und in großen Zügen das Verfahren bezeichneten – vielfach mit der actio im altrömischen Zivilprozeß verglichen; vgl. dazu u. a. Brunner, Heinrich, Überblick über die Geschichte der Französischen, Normannischen und Englischen Rechtsquellen, in: EdR5, Band 1, 1890, S. 305–347, hier S. 336 f. (hinfort: Brunner, Überblick); Heymann, Überblick, S. 300.
liegt die Auffassung nahe, daß der materielle Rechtsanspruch mit dem Recht auf Benutzung eines prozessualen Klageschemas:
i
B: Klageschema:
h
A: prozessualen Klageschema:
der römischen „actio“, des englischen „writ“,
j
Fehlt in A.
identisch sei. In der Tat scheidet daher die ältere römische Rechtssystematik Prozeßrecht und Privatrecht nicht in der Art wie wir. Aus ganz anderen formalen Gründen konnte eine wenigstens ähnliche Mischung von, nach unseren Begriffen, prozessual- und materiellrechtlichen Fragen da entstehen, wo die Rechtsfindung auf irrationalen Beweismitteln: Eid und Eideshülfe und ihrer ursprünglichen magischen Bedeutung oder auf Ordalien ruhte.
74
Weber bezieht sich hier speziell auf das frühmittelalterliche deutsche Recht, für das z. B. Brunner, Grundzüge (wie oben, S. 291, Anm. 47), S. 175, allgemein festhält: „Gleich dem römischen hat sich auch das deutsche Privatrecht im engsten Anschluß an das Prozeßrecht entwickelt.“
Dann erscheint Recht oder Pflicht zu diesem magisch bedeutsamen Akt als Teil des materiellen Rechtsanspruchs oder, sehr leicht, als mit ihm identisch.
k
A: Rechtsanspruchs.
Immerhin ist trotzdem die Scheidung von Normen für den Rechtsgang und
l
In A, B folgt: den
materiellen Rechtsnormen in der Sonderung der Richtsteige von den Rechtsbüchern
75
Während die frühmittelalterlichen deutschen Rechtsbücher ganz heterogene Rechtsmaterien, insbesondere aber auch verfahrensrechtliche Regelungen enthalten, wird in den späteren „Richtsteigen“ oder „Rechtsgangbüchern“ das Prozeßrecht gesondert zusammengestellt.
anders, aber in ihrer Art
m
A: Rechtsbüchern
ungefähr ebenso klar durchgeführt, wie in der älteren römischen Systematik.
[301]Wie das Gesagte zeigt, ist die Art der Herausdifferenzierung der einzelnen uns heute geläufigen Grundkonzeptionen von Rechtssphären in hohem Maße teils
n
[301] Fehlt in A, B; teils sinngemäß ergänzt.
von rechtstechnischen Momenten, teils von der Art der Struktur des [A 22][B 11]politischen Verbandes abhängig und kann daher nur indirekt als ökonomisch bedingt gelten. Ökonomische Momente spielen insofern hinein, als die Rationalisierung der Wirtschaft auf der Basis der Marktvergemeinschaftung und der freien Contrakte
o
Fehlt in A.
und damit die immer weitere Kompliziertheit der durch Rechtsschöpfung und Rechtsfindung zu schlichtenden Interessenkonflikte sowohl die Entwicklung der fachmäßigen Rationalisierung des Rechtes als solcher wie die Entwicklung des Anstaltscharakters des politischen Verbandes auf das allerstärkste beförderte, wie wir stets erneut sehen werden.
76
[301] Zum Einfluß der Marktvergesellschaftung auf die rechtliche und politische Rationalisierung siehe vor allem unten, S. 308 f., 315, 320, 367 f., 567–569.
Alle andern rein ökonomischen Einflüsse sind konkret bedingt und nicht auf allgemeine Regeln zu bringen. Andererseits werden wir immer erneut auch sehen,
77
Zu Rückwirkungen der rechtstechnisch und politisch bedingten Rechtsentwicklung auf die Wirtschaftsordnung siehe unten, S. 346–348 und S. 419 ff.
daß die von intern rechtstechnischen und politischen Momenten bedingten Eigenschaften des Rechts stark auf die Gestaltung der Wirtschaft zurückwirken. Im nachfolgenden sollen nun die wichtigsten der auf die allgemeinen formellen Qualitäten des Rechts, der Rechtsschöpfung und Rechtsfindung einwirkenden Umstände kurz betrachtet werden. Und zwar kommt es uns unter diesen Qualitäten speziell an auf Maß und Art der Rationalität des Rechts, vor allem natürlich:
p
Doppelpunkt fehlt in A.
des ökonomisch relevanten Rechts (des heutigen „Privatrechts“).
q
A: Rechts.
Ein Recht
r
r–r (bis S. 303: ergeben sich: ) Fehlt in A.
kann aber in sehr verschiedenem Sinne „rational“ sein, je nachdem, welche Richtungen der Rationalisierung die Entfaltung des Rechtsdenkens einschlägt.
78
Die nachfolgende Anordnung der grundlegenden rechtswissenschaftlichen Operationen („Analyse“, „Generalisierung“, „Konstruktion“, „Systematisierung“) orientiert sich an Iherings klassischer Darstellung der „Fundamental-Operationen der juristischen Technik“ in: Römisches Recht, II, 2, S. 334–388.
Zunächst: im Sinn der (scheinbar) elementarsten Denkmanipulation: des Generalisierens, was in diesem Fall bedeutet: der Reduktion der für die Entschei[302]dung des Einzelfalles maßgebenden Gründe auf ein oder mehrere
s
[302]B: allgemeine > ein oder mehrere
„Prinzipien“: diese sind die „Rechtssätze“. Diese Reduktion ist normalerweise bedingt durch eine vorhergehende oder gleichzeitige Analyse des Thatbestandes auf diejenigen letzten Bestandteile
t
B: Elemente > letzten Bestandteile
hin, welche für die rechtliche Beurteilung in Betracht kommen. Und umgekehrt wirkt die Herausläuterung immer weiterer „Rechtssätze“ wieder auf die Abgrenzung der einzelnen[,] möglicherweise relevanten Merkmale der Thatbestände zurück: sie beruht auf Casuistik und fördert sie ihrerseits. Allein keineswegs jede entwickelte Casuistik verläuft in der Richtung oder parallel mit der Entwick[WuG1 395]lung von logisch hoch sublimierten „Rechtssätzen“. Vielmehr giebt es auch auf dem Boden bloßen parataktischen
a
In B folgt: ⟨Denkens und⟩
und anschaulichen Assoziierens[,] der „Analogie“[,] sehr umfassend Rechtscasuistiken. Hand in Hand mit der analytischen Gewinnung von „Rechtssätzen“ aus den Einzelfällen geht bei uns die synthetische Arbeit der „juristischen Construktion“
b
B: die ⟨juristische⟩ synthetische Arbeit der ⟨„Synthese“, der⟩ „juristischen Construktion“
von „Rechtsverhältnissen“ und „Rechtsinstituten“, das heißt: die Feststellung: was an einem in typischer Art verlaufenden
c
B: „geordneten“ > verlaufenden
Gemeinschafts- oder Einverständnishandeln rechtlich relevant sei und in welcher in sich logisch widerspruchslosen
d
B: widerspruchsloser
Weise diese relevanten Bestandteile rechtlich geordnet, also als ein „Rechtsverhältnis“, zu denken seien. So eng die Manipulation mit den früheren zusammenhängt, so kann doch eine sehr hochgradige Sublimierung der Analyse mit sehr geringer konstruktiver Erfassung der rechtlich relevanten Lebensverhältnisse parallel gehen
e
B: Hand in Hand gehen > parallel gehen
und umgekehrt eine Synthese eines „Rechtsverhältnisses“ praktisch relativ befriedigend trotz sehr geringer Entwicklung der Analyse, zuweilen sogar infolge
f
In B folgt: ⟨nicht zu weitgetriebener⟩
Einschränkung der Pflege der reinen Analyse, gelingen. Dieser letztere Widerspruch ist die Folge davon, daß aus der Analyse eine weitere logische Aufgabe zu entspringen pflegt, welche sich mit der synthetischen „Konstruktions“-Arbeit zwar prinzipiell verträgt, faktisch aber nicht selten in Spannungen zu ihr steht: die Systematisierung. Sie ist in jeder Form ein Spätprodukt. Das urwüchsige „Recht“ kennt sie nicht. Nach unserer heutigen [303] Denkgewohnheit
g
[303]B: Vorstellung > Denkgewohnheit
bedeutet sie: die Inbeziehungsetzung aller durch Analyse gewonnenen Rechtssätze derart, daß sie unter einander ein logisch klares, in sich logisch widerspruchsloses und, vor Allem, prinzipiell lückenloses System von Regeln bilden, welches also beansprucht: daß alle denkbaren Thatbestände unter einer seiner Normen müssen logisch subsumiert werden können, widrigenfalls ihre Ordnung der rechtlichen Garantie entbehre. Einen solchen Anspruch erhebt selbst heute nicht jedes Recht (z. B. das englische nicht), und noch viel weniger regelmäßig haben ihn die Rechte der Vergangenheit erhoben. Auch wo sie ihn erhoben, da war sehr oft die logische Sublimierung des Systems äußerst unentwickelt. In aller Regel aber war die Systematisierung vorwiegend ein äußeres Schema der Ordnung des Rechtsstoffes und nur von geringem Einfluß auf die Art der analytischen Bildung der Rechtssätze sowohl wie auf die Construktion der Rechtsverhältnisse.
Die spezifisch moderne (am römischen Recht entwickelte) Systematisierung geht eben von „logischer Sinndeutung“ sowohl der Rechtssätze wie
h
Fehlt in B; wie sinngemäß ergänzt.
des rechtlich relevanten Sichverhaltens aus;
i
B: aus
die Rechtsverhältnisse und die Casuistik dagegen sträuben sich dieser Manipulation gegenüber nicht selten, da sie ihrerseits zunächst von „anschaulichen“ Merkmalen aus erwachsen sind.
Mit all diesen Gegensätzen teils zusammenhängend[,] teils sie kreuzend aber gehen die
j
In B folgt: ⟨allgemeinen⟩ ⟨faktischen⟩
Verschiedenheiten der rechtstechnischen Mittel einher
k
Fehlt in B; einher sinngemäß ergänzt.
, mit welchen die Rechtspraxis im gegebenen Fall zu arbeiten hat. Folgende einfachste Fälle ergeben sich:
r
r (ab S. 301: Ein Recht)r Fehlt in A.
Rechtsschöpfung und Rechtsfindung können entweder rational oder irrational sein. Irrational sind sie formell dann, wenn für die Ordnung von Rechtsschöpfung und Rechtsfindungsproblemen andere als verstandesmäßig zu kontrollierende Mittel angewendet werden, z. B. die Einholung von Orakeln oder deren Surrogaten. Materiell sind sie irrational insoweit, als ganz konkrete Wertungen des Einzelfalls, seien sie ethische oder gefühlsmäßige oder politische, für die Entscheidung maßgebend sind, nicht aber generelle Normen. [A 23][B 12]„Ratio[304]nale“ Rechtsschöpfung und Rechtsfindung können wieder in formeller oder in materieller Hinsicht rational sein. Formell mindestens relativ rational ist jedes formale Recht. „Formal“ aber
l
[304] Fehlt in A.
ist ein Recht insoweit, als ausschließlich eindeutige generelle Tatbestandsmerkmale materiellrechtlich und prozessual beachtet werden. Dieser Formalismus aber kann wieder
m
Fehlt in A.
doppelten Charakter haben. Entweder nämlich können die rechtlich relevanten Merkmale sinnlich anschaulichen Charakter besitzen.
n
A: haben.
Das Haften an diesen äußerlichen Merkmalen: z. B. daß ein bestimmtes Wort gesprochen, eine Unterschrift gegeben, eine bestimmte[,] ein für alle mal in ihrer Bedeutung feststehende symbolische [WuG1 396]Handlung vorgenommen
o
A: vorgegangen
ist, bedeutet die strengste Art des
p
A: Form von
Rechtsformalismus. Oder die rechtlich relevanten Merkmale werden durch
q
In A folgt: streng
logische Sinndeutung erschlossen und darnach feste Rechtsbegriffe in Gestalt streng abstrakter Regeln gebildet und angewendet. Bei dieser logischen Rationalität ist zwar die Strenge des anschaulichen Formalismus abgeschwächt, da die
r
In A folgt: absolute
Eindeutigkeit des äußeren Merkmals schwindet. Aber der Gegensatz gegen die materiale Rationalität ist damit nur gesteigert. Denn diese letztere bedeutet ja gerade: daß Normen anderer qualitativer Dignität als
s
A: bedeutet: daß andere als anschauliche Merkmale und
logische Generalisierungen von abstrakten Sinndeutungen
t
A: abstrakter Sinndeutung
auf die
a
In A folgt: Gestaltung der
Entscheidung von Rechtsproblemen Einfluß haben sollen: ethische Imperative oder utilitarische
b
A: haben: ethische oder utilitarische
oder andere Zweckmäßigkeitsregeln oder politische Maximen, welche sowohl den Formalismus des äußeren Merkmals wie denjenigen der logischen Abstraktion durchbrechen. Eine spezifisch fachmäßige juristische Sublimierung des Rechts im heutigen Sinne ist aber
c
A: ist
nur möglich, soweit dieses formalen Charakter hat. Soweit
d
A: Und zwar ist sie, soweit
der absolute Formalismus des sinnlichen Merkmals reicht, ist sie
e
Fehlt in A.
auf Kasuistik beschränkt. Erst [A 24][B 13]die
f
Der Typoskripttext des Blattes A 24/ B 13 umfaßt nur sieben Zeilen.
sinndeutende Abstraktion läßt die spezifisch systematische Aufgabe entstehen: die einzelnen anerkanntermaßen geltenden Rechtsregeln
g
A: einzelne Rechtsnorm
durch die Mittel der Logik zu einem in sich widerspruchslosen Zusammenhang von abstrakten Rechtssätzen
h
A: solchen
[305]zusammenzufügen und zu rationalisieren. Wir wollen nun sehen, wie die an der Rechtsbildung beteiligten Mächte
i
[305]A: Bedingungen
auf die Entfaltung der formellen Qualitäten des Rechts einwirken.
j
A: eintreffen. > einwirken.
Die heutige
k
k–k Die Textpassage bis unten: desselben untersuchen. fehlt in A.
juristische Arbeit, wenigstens diejenige ihrer Formen, welche den Höchstgrad methodisch-logischer Rationalität erreicht hatte: die von der gemeinrechtlichen Jurisprudenz geschaffene, geht von den Postulaten aus
79
[305] Mit der folgenden Aufzählung gibt Weber die Prämissen der deutschen zivilrechtlichen Pandektistik des 19. Jahrhunderts wieder. Die genannten Postulate wurden um die Jahrhundertwende zum Hauptangriffspunkt von soziologisch und rechtspolitisch motivierten Gegenströmungen; vgl. unten, S. 624 ff.
1) daß jede konkrete Rechtsentscheidung „Anwendung“ eines abstrakten Rechtssatzes auf einen konkreten „Thatbestand“ sei, – 2) daß für jeden konkreten Thatbestand mit den Mitteln der Rechtslogik eine Entscheidung aus den geltenden abstrakten Rechtssätzen zu gewinnen sein müsse, – 3) daß also das geltende objektive Recht ein „lückenloses“ System von Rechtssätzen darstellen oder latent in sich enthalten oder doch als ein solches für die Zwecke der Rechtsanwendung behandelt werden müsse, – 4) daß das, was sich juristisch nicht rational „konstruieren“ lasse, auch rechtlich nicht relevant sei, – 5) daß das Gemeinschaftshandeln
l
B: Alltagshandeln > Gemeinschaftshandeln
der Menschen durchweg als „Anwendung“ oder „Ausführung“ von Rechtssätzen oder umgekehrt „Verstoß“ gegen Rechtssätze gedeutet werden müsse (diese Consequenz ist namentlich von Stammler – wenn auch nicht expressis verbis – vertreten),
80
Rudolf Stammler betrachtet die rechtliche Geregeltheit gleichermaßen als Denkvoraussetzung und Seinsform des „sozialen Lebens“. Das Wirtschaften in der Sozialwirtschaft (die „Materie des sozialen Lebens“) sei deshalb erkenntnislogisch wie empirisch nur zu erfassen, wenn es als rechtsgeregeltes begriffen werde (vgl. Stammler, Wirtschaft und Recht, 2. Buch, 2. Abschnitt: Die Form des sozialen Lebens, bes. S. 112–121, und 2. Buch, 3. Abschnitt: Die Materie des sozialen Lebens, bes. S. 131–136). Vgl. auch oben, S. 225 f. mit Anm. 82 (S. 226).
da[,] entsprechend der „Lückenlosigkeit“ des Rechtssystems, ja auch die „rechtliche Geordnetheit“ eine Grundkategorie alles sozialen Geschehens sei.
Wir kümmern uns zunächst gar nicht um diese Postulate des Denkens, sondern wollen einige der für das Funktionieren des Rechts wichtigen
m
B: wichtige
allgemeinen formalen Qualitäten desselben untersuchen.
k
k–k Die Textpassage ab oben: Die heutige fehlt in A.

[306][B Db][WuG1 412] § 2[.] Die Formen der Begründung subjektiver Rechte.
b
B: § 2 Vertrag und Vertragsfreiheit. > § 2 Die Form der subjektiven Rechte. > § 2 Die Formen der subjektiven Rechtsbegründung. > § 2 Die Formen der Begründung subjektiver Rechte. Hinter die 2 ist von fremder Hand eine 3 gesetzt.
a1
[306] Fehlt in A.

Logische Kategorien der „Rechtssätze“. „Freiheitsrechte“ und „Ermächtigungssätze“. Die „Vertragsfreiheit“. S. [307] – Die Entwicklung der Vertragsfreiheit. „Status-Contrakte“ und „Zweck-Contrakte“. Die rechtsgeschichtliche Herkunft der Zweck-Contrakte[.] S. [315] – Die
d
In B folgt: ⟨modernen Grenzen und die⟩
verschiedenen praktischen Bedeutungen und die Grenzen der „Vertragsfreiheit“. S. [339] – Vertragsfreiheit, Autonomie und Rechtspersönlichkeit der Verbände. S. [361] – Freiheit und Zwang S. [424]
c
Die Inhaltsübersicht ist links mit eckiger Klammer und Satzanweisung von fremder Hand: Petit versehen.
a2
Fehlt in A.
[A 1] [B -]Die
f
In B geht am oberen Rand voraus: § [Spatium] Vertrag
fa
Rechtszwang > Zwingendes Recht > Vertrag In das Spatium ist von fremder Hand die Ziffer 2 eingefügt.
und Vertragsfreiheit
Einschmelzung aller andren Verbände, welche Träger einer „Rechtsbildung“ waren, in die eine staatliche Zwangsanstalt,
1
[306] Begriffskompositum aus den im Kategorienaufsatz definierten Grundbegriffen „Anstalt“ und „Zwangsapparat“ (vgl. Weber, Kategorien, S. 286 f.). Als „Staat“ definiert Weber den durch „vereinbarte“ oder „oktroyierte“ Satzungen rational geordneten politischen Verband („Anstalt“), wenn zur Durchsetzung der Ordnungen bestimmte „Organe“ („Zwangsapparat“) existieren.
welche nun für sich in Anspruch nimmt, Quelle jeglichen „legitimen“ Rechts zu sein,
2
Vgl. oben, S. 278 mit Anm. 12.
äußert sich charakteristisch in der formellen Art, wie das Recht in den Dienst der Interessen der Rechtsinteressenten, speziell auch der ökonomischen Interessen, tritt.
e
A: Dieser ganz allgemeine Sachverhalt nimmt nun für die inhaltliche Gestaltung des Rechts und seiner Beziehungen zur Wirtschaft sehr konkrete Formen an.
Wir haben früher
g
A: bisher
3
Siehe oben, S. 227; vgl. auch oben, S. 199 ff.
das Bestehen eines konkreten Rechts a potiori nur betrachtet
h
A: Rechtssatzes nur
als die Gewährung eines Superadditum von Chance dafür: daß bestimmte Erwartungen nicht enttäuscht werden, zu Gunsten der durch das „objektive“ Recht mit „subjektiven Rechten“ ausgestatteten Individuen.
i
A: an die durch den Rechtssatz mit subjektiven Rechten ausgestatteten betrachtet.
Wir nehmen auch weiterhin die Schaffung eines solchen „subjektiven Rechts“ des einzelnen Rechtsinteressenten a potiori als den Normalfall, der durch, soziologisch betrachtet, gleitende Übergänge mit dem Fall verbunden ist: daß [307]die rechtlich gesicherte Chance dem Einzelnen nur in der Form eines „Reflexes“
k
[307]B: „Reflexes“,
eines „Reglements“ zugewendet ist, ihm also kein „subjektives Recht“ gewährt.
j
Fehlt in A.
4
[307] Zur Unterscheidung von „Reflexrecht“ qua „Reglement“ und „subjektivem Recht“ vgl. oben, S. 275–280 und S. 200 f.
Der faktisch im Besitz der Verfügungsgewalt über eine Sache oder Person Befindliche gewinnt also durch die Rechtsgarantie
l
A: dadurch
eine spezifische Sicherheit für deren Dauer, derjenige, welchem etwas versprochen ist, dafür, daß die Vereinbarung auch erfüllt werde. Dies sind in der Tat die elementarsten Beziehungen zwischen Recht und Wirtschaft. Aber nicht die einzig möglichen. Das Recht kann vielmehr
n
In B folgt: es
auch so funktionieren –
o
B: funktionieren, –
soziologisch ausgedrückt: das Handeln des Zwangsapparats durch empirisch geltende Ordnungen derart gestaltet sein –,
m
A: vielmehr, nachdem es einmal als ein technisches Mittel zur Erzielung solcher Erfolge erkannt und angewendet ist, auch so funktionieren,
daß es die Entstehung bestimmter Wirtschaftsbeziehungen:
p
Fehlt in A.
Ordnungen der ökonomischen
q
A: faktischen
Verfügungsgewalt oder der auf Vereinbarung beruhenden ökonomischen
r
Fehlt in A.
Erwartungen[,] überhaupt erst mit Zwangswirkung ermöglicht, indem eigens zu diesem Zweck objektives Recht rational geschaffen wird. Dies setzt freilich einen sehr spezifischen Zustand des „Rechts“ voraus und über diese Voraussetzung ist zunächst einiges
s
A: ermöglicht, indem Rechtssätze eigens zu diesem Zweck absichtsvoll geschaffen werden. Darüber ist einiges kurz
zu sagen.
Juristisch angesehen, besteht ein modernes Recht aus „Rechtssätzen“,
5
Über Webers Verständnis von „Rechtssatz“ als einem sprachlichen Gebilde, dem ein spezifischer normativer Sinn zukommt, vgl. oben, S. 198–200. Diese rechtstheoretische Fassung erfolgt charakteristischer Weise in der Überarbeitung; vgl. auch die entsprechende Formulierung im Anhang II, unten, S. 653.
das heißt: abstrakten Normen mit dem Inhalt, daß ein bestimmter Sachverhalt bestimmte Rechtsfolgen
u
B: ein bestimmter
ua
B: bestimmtes > bestimmter
⟨Verhalten⟩ Sachverhalt ⟨gewisse⟩ bestimmte Rechtsfolgen
nach sich ziehen solle.
t
Fehlt in A.
Die geläufigste Einteilung der „Rechtssätze“
a
In A folgt: eines modernen Rechts
ist, wie bei allen Ordnungen, die in „gebietende“, „verbietende“ und „erlaubende“ Rechtssätze, denen die subjektiven Rechte der Einzelnen entspringen,
b
A: als subjektive Rechte der einzelnen die Ansprüche dieser entsprechen,
anderen ein Tun zu gebieten oder zu verbieten oder [308]zu erlauben. Dieser rechtlich garantierten und begrenzten Macht über deren Tun entsprechen soziologisch die
c
[308]A: erlauben, also rechtlich begrenzte Macht über deren Tun zu besitzen. Oder, empirisch gewendet, es entsprechen ihnen die rechtlich garantierten
Erwartungen: 1. daß andere etwas Bestimmtes
d
A, B: bestimmtes
tun oder 2. daß sie etwas Bestimmtes
e
A, B: bestimmtes
lassen werden– die beiden Formen der „Ansprüche“
g
B: der ⟨„Forderungen“,⟩ „Ansprüche“, –
f
Fehlt in A.
oder 3. daß man selbst ohne Störung durch Dritte
h
A: Dritter
etwas tun oder nach Belieben auch lassen dürfe: „Ermächtigungen“.
i
A: dürfe. Das Recht garantiert diese Erwartungen durch Verbürgung berechtigter Macht.
Ein jedes subjektive
j
A, B: subjektives
Recht ist
k
In B folgt: ⟨nur⟩
eine Machtquelle, welche durch die Existenz des betreffenden Rechtssatzes im Einzelfall auch dem, der ohne ihn gänzlich
l
A: das Recht auch dem, der ohne Recht
machtlos wäre, zufallen
m
A: zuwenden Korrektur in B (möglicherweise) von fremder Hand.
kann. Schon dadurch ist er Quelle gänzlich neuer Situationen
o
B: schafft er grundlegende Neuerungen > ist er Quelle gänzlich neuer Situationen
innerhalb des Gemeinschaftshandelns. Aber nicht davon ist hier die Rede, sondern von der qualitativen Ausweitung der Verfügungssphäre des Einzelnen durch Rechtssätze eines bestimmten Typus
p
Schwer lesbarer Zusatz von Max Webers Hand mit Bleistift.
.
n
Fehlt in A.
Die soeben
q
Fehlt in A.
zuletzt genannte Art von rechtlich garantierten Erwartungen, die „Ermächtigungen“,
r
A: „Ermächtigung“,
ihr Umfang und ihre Art, sind heute ganz allgemein
s
A: nun die
für die Entwicklung der Wirtschaftsordnung besonders wichtig.
t
A: wichtigen.
Sie begreifen zweierlei unter sich. Einerseits die sogen[annten] „Freiheitsrechte“, d. h. die einfache Sicherstellung gegen bestimmte Arten von Störungen durch Dritte, insbesondere auch: durch den Staatsapparat,
a
A: Dritte
innerhalb des Bereichs des rechtlich erlaubten Verhaltens (Freizügigkeit, Gewissensfreiheit, freies Schalten mit einer [WuG1 413]im Eigentum besessenen Sache usw.). Ferner aber stellen er[A 2][B -]mächtigende Rechtssätze es in das Belieben der einzelnen, durch Rechtsgeschäfte ihre Beziehungen zu einander innerhalb bestimmter Grenzen autonom
b
A: nach Belieben
zu regeln. So weit dies Belieben von einer Rechtsordnung zugelassen wird, soweit reicht das Prinzip der „Vertragsfreiheit“. Das Maß der Vertragsfreiheit, d. h. der von der Zwangsgewalt als „gültig“
c
Fehlt in A.
garantierten Inhalte von Rechtsgeschäften, die relative Bedeutung also der zu solchen rechtsgeschäftlichen Verfügungen „ermächtigenden“ Rechtssätze [309]innerhalb der Gesamtheit einer Rechtsordnung ist natürlich Funktion in erster Linie der Marktverbreiterung. Bei vorherrschender tauschloser Eigenwirtschaft hat das Recht naturgemäß weit stärker
d
[309]A: vorwiegend
die Funktion, durch gebietende und verbietende Sätze diejenigen Situationen, in welche die einzelnen hineingeboren oder hineinerzogen oder durch andre als rein ökonomische Vorgänge hineingestellt
e
Fehlt in A.
werden, als einen Komplex von Rechtsverhältnissen nach außen abzugrenzen und dem einzelnen dergestalt eine „angeborene“ oder durch außerökonomische Momente bestimmte
f
A: seine angeborene
Freiheitssphäre zuzuweisen. „Freiheit“
g
In A geht voraus: Denn
heißt im Rechtssinn: Rechte haben, aktuelle und potentielle, die aber in einer marktlosen Gemeinschaft naturgemäß vorwiegend
h
A: in aller Regel
nicht auf „Rechtsgeschäften“,
6
[309] „Rechtsgeschäft“ ist der in der Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts entwickelte Grundbegriff des Zivilrechtssystems; vgl. zur Entwicklung dieses Rechtsbegriffs Webers Ausführungen unten, S. 504, 582.
welche er abschließt, sondern eben
i
Fehlt in A.
direkt auf gebietenden und verbietenden Sätzen des Rechts
j
A: dem Recht
beruhen.
k
In A folgt: Das Recht erscheint in diesem Stadium als eine Kombination angeborener unabänderlicher Qualitäten der einzelnen.
Tausch dagegen ist, unter der Herrschaft einer Rechtsordnung, ein „Rechtsgeschäft“: Erwerb, Abtretung, Verzicht, Erfüllung von Rechtsansprüchen. Mit jeder Erweiterung des Markts vermehren und vervielfältigen sich diese. Die Vertragsfreiheit ist dabei
l
Fehlt in A.
in keiner Rechtsordnung eine schrankenlose, dergestalt, daß das Recht für jeden beliebigen Inhalt einer Vereinbarung seine Zwangsgarantie zur Verfügung stellte. Charakteristisch für die einzelne Rechtsordnung ist vielmehr: für welche Vertragsinhalte dies geschieht und für welche nicht. Auf diese Frage
m
In A folgt: nun
haben, je nach der Struktur der Wirtschaft, sehr verschiedene Interessenten den ausschlaggebenden Einfluß. Mit zunehmender Marktverbreiterung aber zunächst und vor allem die Marktinteressenten. Deren Einfluß vornehmlich bestimmt daher heute
n
A: dann
die Art derjenigen Rechtsgeschäfte, welche das Recht durch Ermächtigungssätze
o
Fehlt in A.
ordnet.
p
In B folgt die Satzanweisung Max Webers: Absatz Die hier ursprünglich folgende Passage wurde durch Beschneidung des Blattes entfernt und an Blatt A –/ B 21, unten, S. 340, angeklebt (vgl. dort textkritische Anm. g).
[310][B 3]Der heute
q
[310]q–q(bis S. 319: Verkäufer) geschützt.) Fehlt in A.
normale Zustand weitgehender „Vertragsfreiheit“ hat keineswegs immer bestanden. Und soweit Vertragsfreiheit bestand, hat sie sich keineswegs immer auf dem Gebiet entwickelt, welches sie heute vornehmlich beherrscht, sondern zum sehr wesentlichen Teil auf solchen Gebieten, wo sie heute nicht mehr oder doch in sehr viel eingeschränkterem Maße als früher besteht. Wir wollen in kurzer Skizze die Entwicklungsstadien durchgehen. Die wesentlichste materielle Eigentümlichkeit des modernen Rechtslebens, speziell des Privatrechtslebens, gegenüber dem älteren ist vor Allem die stark gestiegene Bedeutung des Rechtsgeschäfts, insbesondre des Contrakts, als Quelle zwangsrechtlich garantierter Ansprüche. Der Privatrechtssphäre ist dies derart charakteristisch, daß man die heutige Art der Vergemeinschaftung
r
B: Gesellschaft > Art der Vergemeinschaftung
, soweit jene Sphäre reicht, a potiori geradezu als „Contraktgesellschaft“
s
B: „Contraktvergesellschaftung“ > „Contraktgesellschaft“
bezeichnen kann. Rechtlich
t
B: Formalrechtlich > Rechtlich
angesehen, bestimmt sich die legitime ökonomische Lage, das heißt: die Summe der im Rechtssinne legitim erworbenen Rechte und legitimen Verpflichtungen
a
B: Verpflichtungen,
des Einzelnen heute einerseits durch Erbanfälle, die ihm kraft familienrechtlicher Beziehungen zufallen, andrerseits – direkt oder indirekt – durch Contrakte, welche er abschließt oder die in seinem Namen abgeschlossen werden
b
In B folgt: ⟨und den Consequenzen. ⟨(Denn⟩ (Die
ba
B: (die > (Die
sonstigen, insbesondere die schenkungsweisen, Arten des Rechtserwerbs stehen an Bedeutung sehr weit zurück)⟩
. Derjenige Rechtserwerb, welcher dem Erbrecht entstammt, bildet nun in der heutigen Gesellschaft das wichtigste Überlebsel jener Art von Besitzgrund legitimer Rechte, die einst – grade auch in der ökonomischen Sphäre – ganz oder nahezu alleinherrschend war. Denn in der Sphäre des Erbrechts kamen und kommen, wenigstens dem Schwergewicht nach, für den Einzelnen Thatbestände zur Geltung, auf welche sein eignes Rechtshandeln, prinzipiell wenigstens, keinen Einfluß übt, die für jenes vielmehr in weitem Umfang die von vornherein gegebene Grundlage darstellen: seine Zugehörigkeit zu einem Personenkreise, welche in aller Regel durch „Geburt“ als Glied einer Familie, also durch die ihm vom Recht
c
B: rechtlich > vom Recht
zugerech[WuG1 414]neten Naturbeziehungen, begründet wird und daher innerhalb der sozi[311]alen und ökonomischen Ordnung
d
B: Rechtsordnung > sozialen und ökonomischen Ordnung
wie eine ihm
e
[311] In B folgt: ⟨originär⟩
anhaftende soziale „Qualität“ erscheint, als etwas also, was er privatrechtlich, unabhängig von seinem eignen Thun, kraft Einverständnisses oder oktroyierter
f
B: oktroyierter, ⟨von seinem Wirken unabhängiger⟩
Ordnung, originär
g
B: gesellschaftlich > privatrechtlich > originär
„ist“, nicht aber: welche privatrechtlichen „Beziehungen“ er durch Akte der Vergesellschaftung
h
B: „Beziehungen“ er durch persönliche Akte der Vergesellschaftung > privatrechtlichen „Beziehungen“ er durch Akte der Vergesellschaftung
absichtsvoll sich geschaffen hat.
Der Gegensatz ist selbstverständlich relativ, denn auch Erbansprüche können durch Contrakt (Erbvertrag) begründet werden und bei testamentarischer Erbfolge ist juristisch
i
B: formell > juristisch
nicht die Zugehörigkeit zum Verwandtenkreise, sondern eine einseitige Verfügung des Erblassers der Rechtsgrund des Erwerbs. Allein Erbverträge
j
In B folgt: ⟨außerhalb der Familienbeziehungen⟩
sind heute nicht häufig und ihr normaler (nach manchen Gesetzgebungen – so der österreichischen
7
[311] Erbvertragliche Abmachungen beschränken sich gem. §§ 602, 1249 ABGB auf Eheleute. Außer den Ehegatten haben auch Brautleute unter der aufschiebenden Bedingung einer wirksam zustande kommenden Ehe das Recht, einen Erbvertrag zu schließen; vgl. Stubenrauch, Commentar, S. 553 mit Anm. 8 (zu § 1249).
– einziger) Anwendungsfall ist der Erbvertrag zwischen Ehegatten,
k
B: der ⟨Ehevertrag⟩ Erbvertrag zwischen Ehegatten ⟨oder Nupturienten⟩,
meist bei Eingehung der Ehe unter gleichzeitiger Regelung der güterrechtlichen Verhältnisse der Nupturienten geschlossen, also im Zusammenhang mit dem Eintritt in eine Familienbeziehung. Und die große Mehrzahl aller Testamente bezweckt heute – neben Munifizenzen, die als Anstandspflicht empfunden werden – den Ausgleich der Interessen von Familiengliedern gegenüber ökonomischen Notwendigkeiten, welche entweder durch die Art der Zusammensetzung des Vermögens oder durch individuelle persönliche Verhältnisse bedingt sind, und ist überdies[,] außerhalb des angelsächsischen Rechtsgebiets[,]
8
Die im englischen Recht schließlich vollständige Testierfreiheit konnte sich allerdings in der einzelstaatlichen Gesetzgebung der Vereinigten Staaten nur im Grundsatz durchsetzen; vgl. unten, S. 354 mit Anm. 7 und 8.
durch die Pflichtteilsrechte der nächsten Verwandten in der Bewegungsfreiheit eng begrenzt. Die weitergehende Testierfreiheit gewisser antiker und moderner Gesetzgebungen und die wesentlich größere Bedeutung der kontraktlichen Vereinbarungen
l
B: Contrakte > kontraktlichen Vereinbarungen
auf [312]dem Gebiet der Familienbeziehungen in der Vergangenheit sind in ihrer Bedeutung und den Gründen ihres Schwindens an andrer Stelle erörtert.
9
[312] Siehe unten, S. 348 ff.
Heut ist auf dem Gebiet des Familien- und Erbrechts die Bedeutung des im Einzelfall inhaltlich frei, nach Belieben der Parteien gestalteten Rechtsgeschäfts eine relativ begrenzte. Auf dem [B 4]Gebiet der öffentlichen Rechtsbeziehungen ist zwar auch heute die Stellung kontraktlicher Vereinbarungen rein quantitativ keineswegs gering. Denn jede Beamtenanstellung erfolgt kraft Contrakts, und auch manche sehr wichtige Vorgänge der konstitutionellen Verwaltung: so vor Allem die Feststellung eines Budgets, setzen, wenn auch nicht der Form, so umsomehr der Sache nach, durchaus eine freie Vereinbarung zwischen mehreren selbständigen Organen der Staatsanstalt, von denen von Rechts wegen keines das andre zwingen kann, voraus.
10
Zur Rechtsnatur und Problematik des Bugetgesetzes vgl. oben, S. 284 f. mit Anm. 28; auch oben, S. 235, Anm. 6.
Allein juristisch
m
[312]B: juristisch > rechtlich > juristisch
pflegt heute der Anstellungsvertrag des Beamten nicht in dem Sinn als „causa“ seiner gesetzlich festgestellten Pflichten angesehen zu werden, wie ein beliebiger privatrechtlicher Vertrag, sondern als ein Akt der Unterwerfung des Beamten unter die Dienstgewalt.
11
Weber vertritt hier eine unter den zeitgenössischen Staats- und Verwaltungsrechtlern umstrittene Auffassung. Während die einen den staatlichen Anstellungsakt und die Einwilligung des Anwärters als mehr oder minder gleichwertige Willenserklärungen vertragsartig konstruieren (u. a. Jellinek, System, S. 209–212; Laband, Staatsrecht I (wie oben, S. 275, Anm. 4), S. 410–414; Rehm, Hermann, Die rechtliche Natur des Staatsdienstes nach deutschem Staatsrecht, in: Annalen des Deutschen Reichs für Gesetzgebung, Verwaltung und Statistik, Jg. 1884, S. 565–686 (Teil 1); Jg. 1885, S. 65–211 (Teil 2), hier Teil 2, S. 126–143), betonen die anderen das Gewicht des „erklärten Staatswillens“. Das durch die Anstellung begründete Dienstverhältnis sei deshalb nicht als Vertragsverhältnis, sondern als Unterwerfungsverhältnis zu konstruieren, es komme nicht durch einen Vertrag, sondern durch einen Verwaltungsakt zustande (vor allem Mayer, Verwaltungsrecht II (wie oben, S. 275, Anm. 3), S. 220–223; Anschütz, Staatsrecht (wie oben, S. 280, Anm. 16), S. 148 f.). – Vgl. die Zusammenstellung der kontroversen Literatur bei Meyer, Georg, Lehrbuch des deutschen Staatsrechtes, 6. Aufl., bearb. von G[erhard] Anschütz. – Leipzig: Duncker & Humblot 1905, S. 499–501.
Und die faktisch freie Vereinbarung des Budgets pflegt nicht als „Contrakt“, die Vereinbarung überhaupt nicht als der rechtlich wesentliche Vorgang behandelt zu werden. Aus dem Grund, weil
n
B: daß
– aus guten juristischen Motiven – die „Souveränität“ als wesentliches [313]Attribut der heutigen Staatsanstalt, diese als eine „Einheit“, die Akte ihrer Organe aber als Pflichtakte gelten.
12
[313] Vgl. beispielhaft die Formulierungen Jellineks zum Staatsbegriff in: Allgemeine Staatslehre, S. 174–183, 474 ff., 478, 482, 495 f., und Jellinek, System, S. 12–32. Danach ist der „Staat“ eine durch das praktische (hier: juristische) Denken vollzogene „subjektive Einheit“, die Jellinek als „Zweckeinheit“ bezeichnet, weil sie auf der gedanklichen Synthese einer räumlich begrenzten, durch bestimmte konstante und zusammenhängende Zwecke geeinigten Personenmehrheit beruht. „Souverän“ ist der Staat als die mit höchster „Herrschergewalt“ und ausschließlicher rechtlicher Selbstbestimmungsmacht ausgestattete Verbandseinheit. Diese Kompetenz-Kompetenz beinhaltet zugleich die rechtliche Verpflichtung des Staates, sie bindet das Organhandeln als Ausdruck des Staatswillens. Die an der Budgetfeststellung beteiligten unmittelbaren Staatsorgane sind demzufolge zuallererst der „obersten Norm des pflichtmäßigen Handelns“ unterworfen (Jellinek, Gesetz (wie oben, S. 234 f., Anm. 5), S. 283).
Der Ort freier Contrakte ist im Gebiet der öffentlich-rechtlichen Beziehungen heute wesentlich das – Völkerrecht. Diese Auffassung bestand nicht immer und würde auch den thatsächlichen Verhältnissen der politischen Verbände der Vergangenheit nicht gerecht werden. Zwar – um bei den Beispielen zu bleiben – die Beamtenstellung entsprach in der Vergangenheit wesentlich weniger als heut einem freien Contraktverhältnis als causa, ruhte vielmehr – wie wir später sehen werden
13
Siehe dazu die Ausführungen über die „patrimonialen Ämter“ in der „Herrschaftslehre“, Weber, Patrimonialismus, MWG I/22-4, S. 285 f.
– wesentlich mehr auf Unterwerfung unter eine ganz persönliche, familienartige Herrengewalt. Aber andre politische Akte, wie z. B. grade die Bereitstellung von Mitteln für öffentliche Zwecke, aber auch zahlreiche andre Verwaltungsakte, waren unter den Verhältnissen des ständischen politischen Gebildes gar nichts andres als
o
[313] In B folgt: ⟨„positive“⟩
Contrakte zwischen den kraft ihrer subjektiven Rechte: Privilegien und Prärogative[,] als Glieder des politischen Verbandes zusammengeschlossenen Mächten: Fürsten und Stände, und wurden auch rechtlich so aufgefaßt. Der Lehensnexus ist seinem innersten Wesen nach auf Contrakten aufgebaut.
14
Das Benefizium wird juristisch als Schenkungsvertrag konstruiert, und die Vasallität gilt juristisch als durch Abschluß eines Vertrages begründet, dem ein Treueeid nachfolgt. Auf diese Grundlage, jenseits aller Streitfragen um den Ursprung des Lehnswesens, bezieht sich Weber; vgl. etwa Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte II, S. 243, 277.
Und wenn sich die Feststellungen [WuG1 415]geltenden Rechts, wie sie die „leges barbarorum“ enthalten
p
B: enthalten,
– „Codiflkationen von Gesetzen“, nach uns[314]rer Terminologie
15
[314] Zum Begriff der „Codifikation“ und speziell zur „Codifikation von Gesetzen“ im Falle der germanischen Volksrechte siehe unten, S. 569 und S. 573–580.
[,] oft als „Pactus“ bezeichnen, so war auch dies durchaus ernst gemeint: ein wirklich „neues“ Recht konnte damals in der That nur durch freie Vereinbarung der Amtsgewalt mit den Dinggenossenschaften
q
[314]B: dem Volk > den Dinggenossenschaften
ins Leben treten.
16
Über das Verhältnis von „Pactus“ und „Satzung“ in der Gesetzgebung der Germanenkönige bemerkt in diesem Sinn z. B. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 287: „Die Satzung wird als eine Vereinbarung der Volksgenossen aufgefaßt, ein Gesichtspunkt, der darin zum Ausdruck gelangt, daß die Lex nicht selten als Pactus bezeichnet wird.“ Vgl. ebd., S. 277 f. und oben, S. 380 mit Anm. 69.
Und endlich ruhen grade die urwüchsigen rein politischen Verbände der
r
B: die ⟨ältesten⟩ urwüchsigen rein politischen Verbände ⟨– wie die der Indianer –⟩ der
Rechtsform nach oft auf freier Vereinbarung zwischen mehreren auch weiterhin intern selbständigen Gruppen („Häusern“ bei den Irokesen).
17
Die Selbständigkeit beruht bei den Irokesen auf gesondertem Eigentum, das in der Art der „langen Häuser“ für viele Familien als eine Vorform der Feldgemeinschaft angesehen wird; vgl. z. B. Dargun, Lothar, Ursprung und Entwicklungsgeschichte des Eigenthums, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 5, 1884, S. 1–116, hier S. 48.
Auch die
s
In B folgt: ⟨weit verbreiteten Clubs⟩
„Männerhäuser“ sind primär freie Vergesellschaftungen[;] nur sind diese bereits auf die Dauer berechnet, gegenüber den urwüchsigen Gelegenheitsvergesellschaftungen
18
Zum Terminus „Gelegenheitsvergesellschaftung“ vgl. Weber, Kategorien, S. 273.
zum Zweck der Aventiure, welche formal ganz und gar auf freier Vereinbarung beruhten. Nicht minder ist die freie Vereinbarung auf dem Gebiet der eigentlichen Rechtsfindung urwüchsig und gradezu der Anfang von Allem. Der aus den Sühneverträgen der Sippen
19
Zur prozeßrechtlichen Bedeutung der Sühneverträge vgl. oben, S. 283; vgl. weiterhin unten, S. 327, 362.
hervorgegangene Schiedsvertrag: die freiwillige Unterwerfung unter den Rechtsspruch oder ein Gottesurteil[,] ist Quelle nicht nur alles Prozeßrechts, sondern, wie gleich zu erörtern,
20
Siehe unten, S. 325 ff.
in sehr weitgehendem Sinn gehen auch die ältesten Typen der privatrechtlichen Verträge auf Prozeßverträge zurück.
21
Auf die grundlegende Bedeutung des Parteienvertrages für die Entwicklung des Prozeßrechts und – infolge des ursprünglich engen Zusammenhangs mit dem Prozeßrecht – der privatrechtlichen Verträge hat bereits Ihering, Römisches Recht I, S. 170 f.; ders., Römisches Recht III, S. 187, nachdrücklich hingewiesen. Zur Bedeutung in der deutschen Rechtsgeschichte vgl. Schröder, Lehrbuch, S. 290, 292 f., und Heusler, Institutionen II, S. 231, 233.
Und ferner sind [315]die meisten der wichtigen technischen Fortschritte des Prozeßverfahrens, formal wenigstens, Produkte freier Vereinbarungen der Prozeßparteien, und die obrigkeitlichen Eingriffe in das Verfahren (durch den Lordkanzler oder Prätor) vollzogen sich in weitem Umfang in der sehr charakteristischen Form des Zwanges gegen die Parteien, gewisse Vereinbarungen abzuschließen, welche den Fortgang des Prozesses ermöglichten: als „Rechtszwang zum Contrahieren“ also[,] – der übrigens, namentlich als „Leihezwang“, auch auf dem Gebiet des politischen (Lehen-)Rechts eine erhebliche Rolle gespielt hat. Die Bedeutung des „Kontrakts“ im Sinn einer freien Vereinbarung als Rechtsgrund der Entstehung von Ansprüchen und Pflichten
t
[315]B: Rechten ⟩ Ansprüchen und Pflichten
ist also auch in früheren und frühesten Epochen und Stadien der Rechtsentwicklung weit verbreitet. Und zwar [B 5]grade auf solchen Gebieten, auf welchen heute die Bedeutung der freien Vereinbarung geschwunden oder weit zurückgetreten ist: dem öffentlichen und Prozeßrecht, dem Familien- und Erbrecht. Dagegen ist von einer Bedeutung des Contrakts für den wirtschaftlichen Gütererwerb aus andren als familien- und erbrechtlichen Quellen in der Art, wie er heut grundlegend ist, in der Vergangenheit je weiter zurück, desto weniger die Rede. Die heutige
a
In B steht auf Zeilenhöhe am Rand die Notiz Max Webers: ⟨Contrakt: magischer // Zweck⟩
Bedeutung des Contrakts auf diesem Gebiete ist in erster Linie Produkt der intensiven Steigerung der Marktvergesellschaftung und der Geldverwendung. Nicht nur also stellt der Aufstieg der Bedeutung des privatrechtlichen Contrakts im Allgemeinen die juristische Seite der Marktgemeinschaft, sondern der durch die Marktgemeinschaft propagierte Contrakt ist
b
In B steht auf Zeilenhöhe am Rand die Notiz Max Webers: ⟨„Zweck“-Contrakt // sachlicher Contrakt. // personaler Contrakt.⟩
auch von innerlich andrem Wesen, als jener urwüchsige Contrakt, der auf dem Gebiet des öffentlichen und des Familienrechts früher eine so viel größere Rolle spielte als heute. Dieser tiefgreifenden Wandlung des allgemeinen Charakters der freien Vereinbarung entsprechend wollen wir jene urwüchsigen Contrakttypen als „Status“-Kontrakte
c
B: „personale“ Kontrakte > „Status“-Kontrakte
, die dem Güterverkehr
d
B: Marktverkehr > Güterverkehr
, also der Marktgemeinschaft, spezifischen dagegen als „Zweck“-Contrakte
e
In B folgt: ⟨oder „sachliche“⟩ Contrakte
bezeichnen.
22
[315] Der vermeintliche Wandel von Status- zu Kontraktverhältnissen (so Maine, Ancient [316]Law (wie oben, S. 63, Anm. 60), S. 140 f.) wird – angesichts der nach Weber zu beachtenden Ursprünglichkeit von Kontraktbeziehungen – umgedeutet in den Wandel von „Status-Kontrakten“ zu „Zweck-Kontrakten“. Für Sumner Maine hingegen ist die Logik der Abfolge von „Status“ zum „Kontrakt“ evident: „Not many of us are so unobservant as not to perceive that in innumerable cases where old law fixed a man’s social position irreversibly at his birth, modern law allows him to create it for himself by convention […]“ (ebd., S. 252 f.).
Der Unterschied [316]äußert sich folgendermaßen: Alle jene urwüchsigen Contrakte, durch welche z. B. politische
f
[316] In B folgt: ⟨Vergesellschaftungen⟩
oder andre persönliche Verbände, dauernde oder zeitweilige, oder Familienbeziehungen geschaffen wurden,
g
In B folgt: waren, Offenbar nachträglich gestrichen.
hatten zum Inhalt eine Veränderung der rechtlichen Gesammtqualität,
h
B: des rechtlichen Gesammthabitus, > der rechtlichen Gesammtqualität,
der universellen Stellung und des sozialen Habitus von Personen. Und zwar sind sie, um dies bewirken zu können, ursprünglich ausnahmslos entweder direkt magische oder doch irgendwie magisch bedeutsame Akte und behalten Reste dieses Charakters in ihrer Symbolik noch lange bei. Die Mehrzahl von ihnen (namentlich die soeben beispielsweise erwähnten) sind „Verbrüderungsverträge“.
23
Über die Stiftung verwandtschaftsähnlicher Beziehungen durch symbolisch bekräftigte „Verträge“, deren primärer Inhalt gegenseitige Schutz- und Treueversprechen sind, vgl. etwa Amira, Karl von, Grundriß des germanischen Rechts (Grundriß der germanischen Philologie, hg. von Hermann Paul, 5), 3., verb. und erw. Aufl. – Straßburg: Karl J. Trübner 1913, S. 185 f. (hinfort: Amira, Grundriß); mit weiteren Nachweisen Pappenheim, Max, Über die künstliche Verwandtschaft im germanischen Rechte, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Band 29, 1908, S. 304–333.
Jemand soll fortan zu Kind, Vater, Frau, Bruder, Herr, Sklave, Sippengenosse, Kampfgenosse, Schutzherr, Client, Gefolgsmann, Vasall, Unterthan, Freund, mit dem weitesten Ausdruck
i
B: im weitesten Sinn > mit dem weitesten Ausdruck
: „Genosse“, eines Andren werden[.] Sich derart miteinander „Verbrüdern“ aber heißt nicht: daß man sich gegenseitig für konkrete Zwecke nutzbare bestimmte Leistungen [WuG1 416]gewährt oder in Aussicht stellt, auch nicht nur, wie wir es ausdrücken würden: daß man für fortan ein neues[,] in bestimmter Art sinnhaft qualifiziertes Gesammtverhalten zu einander in Aussicht stellt, sondern: daß man etwas qualitativ Andres „wird“ als bisher – denn sonst wäre jenes neue Verhalten gar nicht möglich. Die Beteiligten müssen eine andre „Seele“ in sich einziehen lassen. Das Blut oder der Speichel müssen gemischt und getrunken werden – ein schon relativ spätes Symbol – oder durch andre äquivalente Zaubermittel [317]muß die animistische Prozedur der Schaffung einer neuen Seele vollzogen werden. Eine andre Garantie dafür, daß die Beteiligten wirklich ihr Gesammtverhalten
j
[317]B: Gesammthandeln > Gesammtverhalten
zu einander dem Sinn der Verbrüderung entsprechend gestalten, ist dem magisch orientierten Denken gar nicht zugänglich. Oder zum mindesten – so wandelt sich der Vorgang mit zunehmender Herrschaft der Göttervorstellungen an Stelle des Animismus
24
[317] Zur entwicklungsgeschichtlichen Rolle des „Animismus“ bei der Entstehung der Religionen und zur „animistischen“ Vorstellungswelt vgl. Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 125 ff., bes. S. 127–134.
– muß jeder Beteiligte unter die Gewalt einer Alle gemeinsam schirmenden und im Fall des verbrüderungswidrigen Handelns
k
B: Handelns,
bedrohenden „übersinnlichen“ Macht gestellt werden: die ursprünglich magisch, als bedingte Selbst-Überlieferung an bösen Zauber, gedachte Gewalt des Eides nimmt etwa diesen Charakter der Selbstverfluchung und Herabrufung göttlichen Zornes an. [B 6]Der Eid ist daher auch späterhin eine der universellsten Formen aller Verbrüderungsverträge. Aber nicht nur solcher. Denn er ist – im Gegensatz zu jenen genuin magischen Formen der Verbrüderung – technisch geeignet auch als Garantiemittel für „Zweck“-Contrakte, das heißt solche Vereinbarungen, welche nur die Herbeiführung konkreter, meist ökonomischer, Leistungen oder Erfolge zum Zweck haben, den „Status“ der beteiligten Persönlichkeiten aber unberührt, also – wie z. B. der Tausch – keine neuen „Genossen“-Qualitäten derselben entstehen lassen. Urwüchsig ist das nicht. Der Tausch, der Archetypus aller bloßen Zweck-Contrakte, ist ursprünglich zwischen Genossen einer ökonomischen oder politischen Gemeinschaft typisch geordnete Massenerscheinung wohl nur auf nicht ökonomischem Gebiet: als Frauentausch zwischen exogamen Sippen, die also dabei in einer eigentümlichen Doppelstellung als teils Genossen, teils Ungenossen einander gegenüberstehen. Dieser Tausch erscheint im Fall der Exogamie
l
In B folgt: ist
zugleich auch als „Verbrüderungsakt“, denn so sehr die Frau dabei, in aller Regel, nur als Objekt auftritt, so pflegt doch der Gedanke, daß eine magisch zu befördernde Statusänderung vorliegt, selten ganz zu fehlen. Denkbarerweise wird
m
In B folgt: sich
jene eigentümliche Doppelstellung, welche die Entstehung der geregelten Exogamie für die [318]kartellierten exogamen Sippen
25
[318] Zwischen den im Stammesverband zusammengeschlossenen Sippen oder Clans (den untersten „Verbandseinheiten“ tribaler Gesellschaften) befördert die Exogamie als ein auf die Sippe erweitertes Inzestverbot die Entstehung von „Frauentausch-“ bzw. „Heiratskartellen“; vgl. Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter, S. 13 f., sowie unten, S. 348 f.
im Verhältnis zu einander schafft, die viel erörterte Erscheinung erklären, daß zuweilen die Eingehung der Ehe mit der Hauptfrau formlos, dagegen diejenige mit Unterfrauen in festen Formen erfolgt: die Stellung der Hauptfrau wäre, weil urwüchsig und schon prä-exogam, der Form unbedürftig geblieben, weil
n
[318]B: prä-exogam ⟨⟨nicht formbedürfti⟩ ⟨und geregelt⟩ und kein geregelter Tau⟩, der ⟨formalen⟩ Form ⟨unbedürftig,⟩ unbedürftig geblieben, ⟨reine Besitzergreifung, dagegen die⟩ weil
der Tausch ursprünglich, vor der Exogamie, noch nichts mit Verbrüderungsakten zu schaffen hatte. Doch scheint es plausibler
o
B: wahrscheinlicher > plausibler
, daß vielmehr die Notwendigkeit der speziellen ökonomischen Sicherung der Nebenfrauen durch Contrakt gegenüber der generell feststehenden ökonomischen Stellung der Hauptfrau die festen Contraktformen bedingte[.] Der ökonomische Tausch ist nicht nur stets Tausch mit Nicht-Genossen des eignen Hauses, sondern auch, dem Schwerpunkt nach[,] Tausch nach außen, mit Fremden, Nichtversippten und auch nicht Verbrüderten, also Ungenossen schlechthin. Schon deshalb
p
B: deshalb,
entbehrt er, in der früher
26
Zum „stummen Tausch“ siehe Weber, Gemeinschaften, MWG I/22-1, S. 195 f.; vgl. auch den Glossareintrag.
erörterten Form des „stummen Tausches“, jeden magischen Formalismus und wird erst allmälig, in Form des Marktrechts, auch sakralem Schutz unterstellt – was in geregelter Form im Allgemeinen erst möglich war, nachdem die Göttervorstellung neben die Magie getreten war,
27
Vgl. darüber Webers Ausführungen in: Gemeinschaften, MWG I/22-1, S. 198 f., sowie in: Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 164 f.
deren Mittel wenigstens direkt eigentlich nur „Status“-Contrakte zu garantieren geeignet waren.
q
B: war, ⟨welche nur magische, also⟩ mit ⟨für⟩ deren ⟨mit ihren⟩ Mitteln wenigstens direkt eigentlich nur Status“-Contrakte zu garantieren ⟨⟨gestattete⟩ vermochte,⟩ geeignet waren. ⟨andere nur indirekt. Die⟩
Es kam vor, daß auch der Tausch durch spezielle Verbrüderungsakte oder ihnen äquivalente Handlungen unter die Garantie der Statuscontrakte gestellt wurde. Im Allgemeinen aber nur, wo es sich um Grundbesitz
r
B: Grundeigentum > Grundbesitz
handelt, von dessen Sonderstellung bald zu sprechen [319]sein wird.
28
[319] Siehe unten, S. 321–324.
Das Normale
s
[319]B: normale
aber war die – wenigstens relative – Garantielosigkeit des Tausches und überhaupt [WuG1 417]das Fehlen aller Vorstellungen von der Möglichkeit der Übernahme einer „Verpflichtung“, die nicht Ausfluß einer, naturgegebenen oder künstlichen, universellen Verbrüdertheit gewesen wäre. Dies bedingte es, daß der Tausch zunächst stets und ausschließlich als eine alsbaldige beiderseitige Besitzübergabe der Tauschgüter Wirkung erlangt. Der Besitz aber ist geschützt durch den Rache- und Sühneanspruch gegen den Dieb. Auch der
t
In B folgt: Der
„Rechtsschutz“, den der Tausch genießt, ist also kein „Obligationen-Schutz“, sondern Besitzschutz. Denn die spätere Gewährschaftspflicht
29
Gemeint ist die Gewährleistung des Verkäufers bei Sachmängeln.
wird[,] wo sie praktisch wird[,] ursprünglich nur indirekt (in Form der Diebstahlsklage gegen
a
B: indirekt, (in Form der ⟨einer ⟨Delikt⟩ Racheklage (Delikt⟩ ⟨der ⟨Rache war⟩ Betrugs- oder⟩ Diebstahlsklage
aa
B: Diebstahlssühne > Diebstahlsklage
gegen
den unberechtigten Verkäufer) geschützt.
q
q(ab S. 310: Der heute)q Fehlt in A.
[A –][B 7]Eine eigentlich juristische Konstruktion formalistischen Charakters beginnt sich an den Tausch erst anzusetzen, wenn die Geldfunktion bestimmter Güter[,] und zwar speziell der Metalle[,] entfaltet und also der Kauf entstanden ist. Nicht erst mit dem Auftauchen des chartalen oder gar erst staatlichen Geldes geschieht dies, sondern[,] wie speziell auch das römische Recht zeigt, schon auf dem Boden pensatorischer Zahlungsmittel.
30
Zum Ausdruck „chartales Geld“ im Anschluß an die Terminologie Georg Friedrich Knapps vgl. oben, S. 245 f. mit Anm. 24. „Pensatorisch“ gilt diesem Sprachgebrauch zufolge ein Zahlungsmittel dann, wenn es zwar nicht gestückelt, z. B. also ungemünzt ist, aber dem Gewicht eine Verrechnungseinheit entspricht (z. B. Barren von Gold, Silber, Kupfer etc.).
Die Geschäfte per aes et libram
31
Ursprünglich wurde der Barkauf in Rom abgeschlossen per aes et libram (Kupfer und Waage), d. h. mittels Zuwägung des noch ungemünzten „Geldes“ (Kupfer) vor Zeugen (mündigen römischen Bürgern) durch den Waaghalter (libripens). Die Übertragung an den Erwerber erfolgte nach Empfang des zugewogenen Kupferpreises durch den Verkäufer des Eigentums, womit dieser zugleich eine Gewährleistung für die Sache übernahm. Mit dem Aufkommen des gemünzten Geldes verlor der Vorgang den Charakter des Bargeschäftes und wurde zum Formalakt, der dann für eine Vielzahl privater Rechtsgeschäfte generalisiert wurde; vgl. dazu z. B. Bruns, C[arl] G[eorg], Geschichte und Quellen des römischen Rechts, neu bearb. von Otto Lenel, in: EdR7, Band 1, 1915, S. 305–397, hier S. 312 f. (hinfort: Bruns/Lenel, Geschichte).
sind die eine der beiden urwüchsigen Rechtsge[320]schäftsformen des alten römischen Zivilrechts. Diese Form des Barkaufs hat auf dem Boden der römischen Städteentwicklung gradezu universelle Funktionen für fast alle Arten privater Rechtsgeschäfte an sich gerissen[,] einerlei, ob sie familien- und erbrechtlichen oder eigentlich tauschhaften Inhaltes waren. Den stets auf universelle Qualitäten des sozialen Status der Person, ihrer Eingeordnetheit in einen die ganze Persönlichkeit umfassenden Verband abzielenden Verbrüderungs- oder anderen
b
[320]A, B: andere
Statuskontrakten mit den[,] spezifische
c
A, B: spezifischen
Gesinnungsqualitäten begründenden[,] universalen Rechten und Pflichten tritt eben hier der Geldkontrakt als die
d
A, B: das
nach Wesen und Funktion spezifische, quantitativ begrenzte und bestimmte, ihrem Sinn nach qualitätsfremde, abstrakte und normalerweise rein ökonomisch bedingte Vereinbarung als Archetypus des Zweckkontrakts
e
A, B: Zwangskontrakts
gegenüber. Als ein solcher anethischer Zweckkontrakt
f
A, B: Zwangskontrakt
war der Geldkontrakt geeignet zum Mittel der Ausschaltung des magischen oder sakramentalen Charakters von Rechtsakten, also als Mittel der Rechtsprofanierung (so die römische Zivilehe in Form der coemtio gegenüber der sakramentalen confarreatio)
32
[320] Im römischen Recht waren Eheschließung (matrimonium) und Begründung der eheherrlichen Gewalt (in manum conventio) ursprünglich unterschieden. Die ältere, vor allem innerhalb der Nobilität übliche religiöse Form (confarreatio) verband Eheschließung und Erwerb der manus-Gewalt in einem sakralen Akt (mit Auspizien und Opfern vor Zeugen). Bei der „coemtio“ wurde dagegen die eheherrliche Gewalt durch imaginären Brautkauf im Wege eines Rechtsgeschäfts (mancipatio) zwischen bisherigem und zukünftigem Inhaber der Familiengewalt erworben; vgl. dazu z. B. Bruns/Lenel, Geschichte (wie oben, S. 319, Anm. 31), S. 316.
. Er war dazu nicht das einzige geeignete, aber das geeignetste Mittel. Ja, als spezifisches Bargeschäft, welches ursprünglich wenigstens keinerlei über den Akt selbst hinaus in die Zukunft weisendes Element promissorischen Charakters enthielt, war er sogar stark konservativer Natur. Denn auch er schuf nur gesicherten Besitz, garantierte erworbenes Gut, gab aber ursprünglich keine Garantien für die Er[A 2][B 8]füllung gegebener Versprechungen. Der Gedanke der Obligation durch Kontrakt war den urwüchsigen Rechten gänzlich fremd. Verpflichtungen zur Leistung und Forderungsrechte gab es in ihnen durchweg nur in einer einzigen Form: [321]als Forderungen ex delicto. Der Anspruch des Verletzten war durch die Praxis des Sühneverfahrens und des daran anschließenden Herkommens fest tarifiert.
g
[321]A, B: fast terrifiert.
Die vom Richter festgestellte Sühneschuld war die älteste wirkliche Schuld, und aus ihr sind alle anderen Schuldverhältnisse erwachsen. Und in diesem Sinne waren umgekehrt auch ursprünglich alle gerichtlich verfolgbaren Ansprüche nur Obligationenansprüche
h
Gemeint ist wohl: Deliktsansprüche (vgl. oben, S. 290).
. Ein förmliches Prozeßverfahren, welches sich auf die Herausgabe von Sachen gerichtet hätte, gab es ursprünglich, soweit es sich um Streitigkeiten zwischen Angehörigen verschiedener Sippen handelte, nicht. Jede Klage stützte sich notwendig auf die Behauptung, daß der Verklagte persönlich dem Kläger persönlich ein zu sühnendes Unrecht zugefügt habe. Daher konnte es nicht nur keine Kontraktklage und keine reipersekutorische Klage,
33
[321] Die vorjustinianischen „actiones rei persecutoriae“ sind sachverfolgende Zivil- und Strafklagen, die (bzw. bei Strafklagen soweit sie) auf Ersatz des entstandenen Vermögenschadens gerichtet sind.
sondern auch keine Statusklage geben. Ob sich jemand mit Recht zu einem Hausverband, einer Sippe, einem politischen Verband zählte, ging diese Verbände als interne Angelegenheit allein an. Aber eben in dieser Hinsicht wandelten sich die Zustände. Denn zu den Grundnormen jeder Art von Verbrüderung oder Pietätsgemeinschaft gehörte, daß der Bruder den Bruder, der Sippegenosse den Sippengenossen, der Gildegenosse den Gildengenossen, der Patron den Klienten und umgekehrt nicht [WuG1 418]vor den Richter fordern und nicht gegen ihn zeugen konnte[,] sowenig wie zwischen ihnen Blutrache möglich war. Frevel unter ihnen zu rächen war Sache der Geister und Götter, der priesterlichen Banngewalt, der Hausgewalt oder der Lynchjustiz des Verbandes. Wenn nun aber der politische Verband sich als Wehrgemeinde konstituiert hatte und nun die Wehrfähigkeit und das politische Recht in Zusammenhang traten
i
A, B: trat
mit der Geburt in einer von ihm als vollwertig anerkannten Ehe, Unfreie und Unebenbürtige kein Wehrrecht und kein Beuteanteilsrecht haben sollten, so mußte ein Rechtsmittel [A 3][B 9]gegeben werden, welches den umstrittenen Status einer Person festzustellen gestattete. Und in engem Zusammenhang damit steht daher die Entstehung von Klagen, welche Grundbesitz
N
MWG: Grund besitz Trennstrich fehlte in MWG-Druckfassung; Korrektur in MWG digital.
betrafen. Die Verfügung über bestimmte Gebiete nutzbaren Bodens wurde mit steigender Knappheit steigend
j
A, B: steigende
wichtige Grund[322]lage jedes
k
[322]A, B: jeden
Verbandes: des politischen Verbandes ebenso wie der Hausgemeinschaft. Die vollberechtigte
l
A, B: voll berechtigte
Anteilnahme am Verband gab das Anrecht auf Teilnahme am Bodenbesitz und umgekehrt war nur der Bodenbesitzer Vollbürger des Verbandes. Streitigkeiten zwischen den Verbänden über Bodenbesitz mußten
m
A, B: mußte
daher stets reipersekutorische Wirkung haben: der siegende Verband erhielt das strittige Land. Bei steigender Individualappropriation des Bodens aber war Kläger nicht mehr der Verband, sondern ein einzelner Genosse gegen den anderen Genossen und berief sich jeder von beiden Genossen darauf, daß er kraft Genossenrecht den Boden besitze. Einer von den Streitenden in einem Prozeß, der das Genossenrecht auf Land betraf, mußte das Streitobjekt, die Basis seiner ganzen politisch-sozialen
n
Bindestrich fehlt in A, B.
Existenz[,] zugesprochen erhalten. Denn nur einer von beiden konnte als Genosse dazu berechtigt sein, ebenso wie jemand nur entweder Genosse oder Ungenosse, Freier oder Unfreier sein konnte. Zumal in den militaristischen Verbänden[,] wie der antiken Polis[,] mußte der Streit um den Fundus oder Kleros diese Form eines notwendig doppelseitigen Prozesses annehmen, bei welchem nicht einer als Täter des Unrechts vom angeblich Verletzten verfolgt wurde und seine Unschuld zu erhärten suchte, sondern jeder von beiden bei Vermeidung der Sachfälligkeit behaupten mußte[,] der Berechtigte zu sein. Sobald es sich dergestalt um die Frage des Genossenrechtes als solchen
o
A, B: solchem
handelte, war das Schema der Deliktsklage
p
A, B: Deliktklage
unanwendbar. Einen Fundus konnte man nicht stehlen, nicht etwa nur aus natürlichen Gründen, sondern weil man jemandem seine Qualität als Genosse nicht stehlen konnte. Daher trat, wo es sich um Statusfragen oder Grundbesitz handelte, neben die einseitige Deliktsklage
q
A, B: Deliktklage
die zweiseitige Klage, die hellenische Diadikasie und römische [A 4][B 10]Vindicatio mit obligatorischer Gegenklage des Verklagten gegen die Inanspruchnahme seitens des Klägers. Hier, in den Statusstreitigkeiten, zu welchen der Streit über das Recht an der Hufe gehörte, war die Wurzel der Scheidung dinglicher von persönlichen Ansprüchen.
34
[322] Der dingliche Anspruch, der den Erwerb oder Wiedererwerb der (umstrittenen) Sache selbst bezweckt, richtet sich gegen jeden Dritten. Der persönliche Anspruch, der eine konkrete Leistungsverpflichtung des Beklagten (Verpflichteten) gegenüber [323]dem Kläger (Berechtigten) zum Gegenstand hat, richtet sich nur gegen den unmittelbar Verpflichteten, der seinerseits nur dem Berechtigten zur Leistung verpflichtet ist.
[323]Diese Unterscheidung war Entwicklungsprodukt und trat erst mit dem Zerfall der alten Personalverbände, vor allem der strengen Herrschaft der Sippe über den Güterbesitz auf. Man darf sagen: ungefähr
r
[323]A, B: Ungefähr
auf dem Entwicklungsstadium der Markgenossenschaft und des Hufenrechts oder eines entsprechenden
s
A, B: entstehenden
Stadiums der Besitzorganisation. Das urwüchsige Rechtsdenken kannte statt jenes Gegensatzes zweierlei grundlegende Sachverhalte: 1. Ich bin kraft Geburt oder Aufzucht im Hause des X, kraft Ehe oder Kindesannahme, Verbrüderung, Wehrhaftmachung, Jünglingsweihe Genosse des Verbandes Y und darf kraft dessen die Nutzung des Gutes Z für mich beanspruchen; – 2. X, der Genosse des Verbandes Y, hat mir, dem A[,] oder einem Genossen meines Verbandes B die Verletzung C zugefügt
t
A, B: hinzugefügt
(die arabische Rechtssprache sagt nicht: das Blut des A ist vergossen, sondern unser, der Versippten Blut ist vergossen),
35
Sachlich weisen die von Weber benutzten Autoren, wie namentlich Josef Kohler (Über das vorislamitische Recht der Araber, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 8, 1889, S. 238–261) darauf hin, daß in vorislamischen arabischen Rechten die Institution der Blutrache bis ins fünfte Parentel (khamsa) reicht. Erst der Koran hebt diese kollektive Zurechnung und Haftung im Prinzip der einschränkenden Wiedervergeltung (qiṣāṣ) auf (Zweite Sure, Vers 178 f.).
dafür schulden
u
A, B: schuldet
er und seine Verbandsgenossen uns, den Verbandsgenossen des A, die Sühne. Aus dem ersten Tatbestand entwickelte sich mit fortschreitender Individualappropriation der dingliche Anspruch (vor allem Erbschafts- und Eigentumsklage) gegen jeden Dritten. Aus dem zweiten der persönliche Anspruch gegen den, dem irgendwelche, insbesondere auch durch Versprechen übernommene[,] ihm und nur ihm obliegende [WuG1 419]Leistungspflichten gegenüber dem
a
A, B: gegen den
Berechtigten und nur diesem gegenüber zu erfüllen
b
A, B: tun
zugemutet werden muß. Gekreuzt wird die Klarheit des ursprünglichen Tatbestandes und die Gradlinigkeit der Entwicklung von da aus durch den Dualismus der Rechtsbeziehung zwischen den Sippenverbänden und innerhalb der Sippenverbände. Zwischen Sippengenossen sahen wir,
36
Siehe oben, S. 292 f. und S. 321.
gab es keine Rache, [324]also auch keinen Rechtsstreit, sondern nur Schlichtung durch die Sippenältesten und gegen den Widerstrebenden den Boykott. Alle magischen
c
[324]A, B: magische
Rechtsförmlichkeiten des Verfahrens fehlen hier: die [A 5][B 11]interne Streitschlichtung der Sippe war eine Verwaltungsangelegenheit. Rechtsgang und Recht im Sinne des durch Rechtsfindung und daran anschließenden Zwang garantierten Anspruchs gab es nur zwischen verschiedenen Sippenverbänden und deren Angehörigen, welche dem gleichen politischen Verband angehörten. Zerfiel nun aber die Sippe zu Gunsten des Nebeneinanderbestehens
d
A, B: Ineinanderbestehens
von Hausgemeinschaften, Ortsgemeinden und politischem
e
A, B: politischen
Verband, so fragte es sich[,] inwieweit nunmehr der Rechtsgang des politischen Verbandes auch auf die Beziehungen zwischen Sippengenossen und schließlich Hausgenossen übergriff. Soweit dies der Fall war, wurden nun die individuellen Bodenansprüche der einzelnen auch Gegenstand von Prozessen unter den Genossen selbst vor dem Richter. Zunächst in der erwähnten
37
[324] Siehe oben, S. 292 f. und S. 322.
Form der doppelseitigen Vindikation. Andererseits aber konnte die politische Gewalt patriarchalen Charakter annehmen und also die Methode der Streitschlichtung mehr oder minder allgemein dem ursprünglich nur für die interne Streitschlichtung anwendbaren Typus der Verwaltung zugehören. Dann konnte dieser Typus sich auch dem Rechtsgang des politischen Verbandes mitteilen. Dadurch verwischte sich oft die klare Typik der alten sowohl wie der neuen Auffassung in der Scheidung der beiden Kategorien von Ansprüchen. Die technische Gestaltung der Abgrenzung beider soll uns hier nicht beschäftigen. Wir kehren vielmehr zu der Frage zurück, wie sich aus der Personalhaftung für Delikte die Kontraktsobligation entwickelt hat und wie aus dem deliktischen Verschulden als Klagegrund die kontraktliche Schuld entstand. Das Mittelglied war die im Rechtsgang festgestellte oder in ihm anerkannte Sühneschuldhaftung.
38
Dies entspricht dem rechtshistorischen Forschungsstand, wie ihn für das römische Recht etwa Ludwig Mitteis als Ergebnis einer rechtshistorischen Konstruktion zusammenfaßt: „Die Anfänge des römischen Obligationenrechts liegen ja im Dunkeln; aber schon lange setzt man, und sicher mit Recht, voraus, daß die Bußhaftung aus privaten Delikten den Anfang des Obligationenrechts, wie auch des Zivilprozesses gebildet haben wird“ (ders., Über die Herkunft der Stipulation. Eine Hypothese, in: Aus römi[325]schem und bürgerlichem Recht. Festschrift für Ernst Immanuel Bekker. – Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1907, S. 107–142, Zitat S. 114; hinfort: Mitteis, Stipulation). Vgl. bereits Iherings Deutung der Streitvereinbarung („litis contestatio“) im altrömischen Prozeß in: Römisches Recht I, S. 170 f.
[325]Einer der frühesten typischen Fälle, in welchem die Anerkennung der Zweckkontraktschuld
f
[325]A, B: Zwangskontraktschuld
ein ökonomisches Bedürfnis werden mußte, ist die Darlehensschuld. Grade hier aber zeigte sich die Langsamkeit der Emanzipation aus dem ursprünglichen Zustand der ausschließlichen Personalhaftung. Darlehen war ursprünglich nur unter Brüdern als stets zinslose Nothilfe typisch, wie wir sahen.
39
Über den Ursprung der „brüderlichen Nothilfe“, insbesondere die Pflicht des zinslosen Darlehens im Nachbarschaftsverband siehe Weber, Gemeinschaften, MWG I/22-1, S. 122 f. Über die Adaption der Nachbarschaftsethik und speziell des unentgeltlichen Notkredits in religiösen Gemeinschaften siehe Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 372, 377.
[A 6][B 12]Dafür konnte es also wie unter Brüdern, d. h. Sippen- und Gildegenossen, durch Klientel-
g
Bindestrich fehlt in A, B.
oder sonstige Pietätsbeziehungen Verbundenen[,] gar keine Klage geben. Ein außerhalb des Verbrüderungsverbandes gegebenes Darlehen unterstand, wo es vorkam, dem Gebot der Unentgeltlichkeit rechtlich an sich nicht. Aber es war unter der Herrschaft der Personalhaftung ursprünglich klaglos. Als Zwangsmittel hatte der getäuschte Gläubiger nur magische Prozeduren zur Verfügung, zum Teil in einer uns grotesk erscheinenden Form, wie sie in Resten lange Zeit erhalten blieben. In China drohte der Gläubiger mit Selbstmord und beging diesen eventuell[,] in der Erwartung[,] den Schuldner dann nach dem Tode zu verfolgen.
40
Auf den animistischen Hintergrund des gläuberischen Exekutionsselbstmordes in China weist Sternberg, Vermögensrecht (wie oben, S. 286, Anm. 33), S. 144, hin. Auf vergleichbare Weise konnte umgekehrt – wie Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 262, zeigt – der Bedürftige ein Darlehen erzwingen, „denn man konnte nicht riskieren, die Rache des Geistes des Verzweifelnden, wenn er Selbstmord beging, auf sich zu ziehen“.
In Indien setzte sich der Gläubiger vor das Haus des Schuldners und verhungerte oder erhängte sich dort, hier aber deshalb, weil damit die Rachepflicht der Sippe gegen den Schuldner begründet war und wenn der Gläubiger Brahmane war, der Schuldner als Brahmanenmörder auch dem Einschreiten des Richters verfiel.
41
Zu der in ganz Indien, speziell in der Provinz Bombay, bis ins 19. Jahrhundert und in Nepal noch am Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Namen Dharna-Sitzen bekannten moralischen Schuldexekution vgl. Jolly, Julius, Recht und Sitte, einschließlich [326]der einheimischen Literatur (Grundriß der indo-arischen Philologie und Altertumskunde, hg. von Georg Bühler, Band 2, Heft 8). – Straßburg: Karl J. Trübner 1896, S. 147 f. (hinfort: Jolly, Recht), und Kohler, Josef, Das Recht der orientalischen Völker, in: Kohler, Josef und Wenger, Leopold, Allgemeine Rechtsgeschichte. 1. Hälfte: Orientalisches Recht und Recht der Griechen und Römer (Die Kultur der Gegenwart, Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hg. von Paul Hinneberg, Teil II, Abt. VII, 1). – Leipzig, Berlin: B. G. Teubner 1914, S. 49–153, hier S. 118, 120 (hinfort: Kohler, Recht der orientalischen Völker).
In Rom war die Improbität der 12 Tafeln und die [326]spätere infamia
42
Die als Ehrenminderung geltende infamia (Beschränkung der Rechts-, insbesondere der Prozeßfähigkeit) konnte bei schwerem Treubruch entweder unmittelbar (z. B. im Falle doppelter Ehe oder doppelten Verlöbnisses) oder mittelbar infolge einer darauf gerichteten Zivilklage (actio famosa z. B. im Falle ehrloser Pflichtverletzung als Vormund, Gesellschafter, Depositar, Mandatar) eintreten; vgl. dazu z. B. Sohm, Institutionen, S. 207 f. Vgl. auch die Glossareinträge „infamia“ und „Improtität“.
bei Fällen
h
[326]A, B: Fälle
schweren Bruchs der Fides
43
In Rom waren ursprünglich alle geschäftlichen Abreden ausnahmslos nicht klagbar. Sie wurden allein durch ein „Vertrauensband“, die fides, garantiert. Cicero, De officiis 1,23, sagt geradezu: „Fundamentum autem est iustitiae fides, id est dictorum conventorumque constantia et veritas.“
wohl ein Rest des im Fall der Nichtinnehaltung von Treu und Glauben anstelle des fehlenden Rechtszwanges eintretenden sozialen Boykotts. Die Entwicklung eines einheitlichen Schuldrechtes hat sicher an die Deliktsklage angeknüpft.
44
Weber folgt hier der in der Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung vertretenen Auffassung über den Zusammenhang von schuld- und prozeßrechtlichen Instituten; vgl. vor allem Mitteis, Stipulation (wie oben, S. 324 f., Anm. 38), und ders., Römisches Privatrecht, S. 268.
Der Deliktshaftung der Sippe entstammt z. B. ursprünglich die Entwicklung der weit verbreiteten Solidarhaft aller Sippengenossen oder Hausgenossen beim Kontrakt eines von ihnen.
45
So bereits Weber, Handelsgesellschaften, MWG I/1, S. 207 f.
Die Entwicklung der klagbaren Kontraktsobligation ist aber dann meist ihre eigenen Wege gegangen. Oft spielte der Eintritt des Geldes in das Wirtschaftsleben hier [WuG1 420]die entscheidende Rolle: das
i
A, B: Rolle des Die Emendation folgt WuG5, S. 405.
Nexum, der Schuldkontrakt per aes et libram[,] und die Stipulatio, der Schuldkontrakt durch symbolische Pfandgabe,
j
A, B: Pfandgabe, –
die beiden urwüchsigen Kontraktformen des römischen ius civile,
46
Alter, Herkunft, Form und Zweck beider Institute sind in der zeitgenössischen Romanistik durchaus umstritten. Besonders Ludwig Mitteis hat in seinen Arbeiten die jeweils herrschende Lehre kritisiert (vgl. ders., Über das Nexum, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Rom. Abt., Bd. 22, 1901, S. 96–125 (hinfort: Mitteis, Nexum); ders., Stipulation (wie oben, S. 324 f., Anm. 38); ders., Römisches Privatrecht, S. 136–143, 266–272). So hat er im Nexum statt eines öffentlich-rechtlichen Verpflichtungsge[327]schäfts mit sofortiger Exekutionsfähigkeit (d. h. Personalexekution durch manus iniectio bei Zahlungsunfähigkeit oder Fristversäumnis) eine Selbstverpfändung oder bedingte Selbstverpfändung mit dem primären Zweck gerade der Beschränkung der Personalexekution (die ja bis zur Tötung oder zum Verkauf trans tiberim gehen konnte) gesehen. Und daß neben den für die ursprünglichen Geldgeschäfte (Kauf und Darlehen) vorgesehenen Rechtsgeschäftsformen per aes et libram (sog. Libralgeschäfte) in der Stipulation ein reiner Formalkontrakt alternativ möglich und üblich gewesen sein soll, hielt er für ebenso unwahrscheinlich wie die Annahme, daß die Stipulation einen eigenen Anwendungsbereich gehabt habe. Aus ihrem Ursprung in sog. Prozeßkautionen (Sicherheitsleistungen bei Prozeßerträgen) schließt Mitteis vielmehr auf eine zunächst lediglich ergänzende und bekräftigende Rolle bei anderen (gerichtlichen und außergerichtlichen) Vorgängen.
waren zugleich beide Geldkontrakte. Denn auch [327]für die Stipulatio scheint mir wenigstens dies sicher. Beide verleugnen aber die Anknüpfung an den vorkontraktlichen Zustand des Rechts nicht. Beide waren streng formale[,] mündlich und [A 7][B 13]nur persönlich vollziehbare Akte. Beide haben die gleiche Herkunft. Was die Stipulatio anlangt, so ist auf Grund der Analogie der auch im germanischen Recht bekannten Rechtsentwicklung mit Mitteis
k
[327]A, B: Mittheis
47
Ludwig Mitteis weist auf die prozessualische Herkunft der Stipulation und die analoge Entwicklung im germanischen Recht zuerst in: Nexum (wie oben, S. 326, Anm. 46), S. 97, hin, ehe er seine These in: Stipulation (wie oben, S. 324 f., Anm. 38), sorgfältig begründet und ebd., S. 116 f., Anm. 3, nochmals die deutsch-rechtliche Parallele hervorhebt; vgl. auch Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 268 f. Weber orientiert sich im folgenden weitgehend an der Rekonstruktion von Mitteis.
anzunehmen, daß sie aus dem Prozeß stammt, außerhalb dessen sie ursprünglich nur eine bescheidene Rolle[,] und zwar wesentlich zum Zweck von Nebenvereinbarungen (Zinsen und dergl[eichen])[,] gespielt zu haben scheint. Denn neben dem Tausch liegt ja der Sühnevertrag, auf dem der Prozeß beruht, schon insofern auch auf dem Wege zum Zweckkontrakt,
l
A, B: Zwangskontrakt,
als er ein Vertrag unter Feinden und kein Verbrüderungsvertrag ist, präzise Formulierung des Streitpunktes und vor allem des Beweisthemas erheischt. Der Prozeß selbst aber bot, je festere Form er annahm, desto mehr Anlässe zur Entwicklung von Rechtsgeschäften, welche Kontraktspflichten schufen. Dahin gehörte vor allem die Sicherheitsleistung der Prozeßpartei dem Prozeßgegner gegenüber. Der Prozeß, welcher die Selbsthülfe abwenden wollte, begann in vielen Rechten mit Akten der Selbsthülfe. Der Kläger schleppt den Verklagten vor Gericht und läßt ihn nur los, nachdem Sicherheit gegeben ist, daß er sich der Sühne, wenn der Richter ihn schuldig findet, nicht entziehen werde. Stets richtet sich dabei die Selbsthülfe gegen die Person des [328]Gegners, denn die Klage gründete sich ja zunächst stets auf die Behauptung nicht nur objektiv unrechtmäßigen Handelns, sondern, was damit völlig identifiziert wurde, eines Frevels des Verklagten gegen den Kläger, für welchen er mit seiner Person einzustehen habe. Die Sicherheit, welche der Verklagte zu leisten hatte, um bis zum Richterspruch unbehelligt zu bleiben, leistete er durch einen Bürgen (Sponsor) oder durch Pfand.
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[328] Das Entscheidende der Bürgenstellung im alten Prozeß war, daß der Bürge ursprünglich allein für die Deliktsschuld oder prozessualische Leistungsverpflichtung des Garantiestellers haftete, nur er für einen bestimmten Fall (etwa Nichtzahlung der Bußsumme bzw. Nicht-Erfüllung der Leistungszusage) verpflichtet wurde, d. h. nur er Subjekt des „spondere“, also Sponsor im technischen Sinn, war. Der Gläubiger hielt sich im Exekutionsfall an ihm (oder am gegebenen Pfand), nicht am eigentlichen Schuldner, schadlos; vgl. Mitteis, Stipulation (wie oben, S. 324 f., Anm. 38), S. 120; ders., Römisches Privatrecht, S. 270.
Diese beiden Rechtsinstitute tauchen hier im Prozeß zuerst als erzwingbare Rechtsgeschäfte auf. Anstelle der Bürgschaft eines Dritten wurde später dem Verklagten selbst gestattet, die Erfüllung des Urteils zuzusagen, und die rechtliche Auffassung davon war: daß er
m
[328]A, B: der
sein eigener Bürge sei,
49
Vgl. etwa Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 269; ders., Stipulation (wie oben, S. 324 f., Anm. 38), S. 122 ff.
ebenso wie die älteste juristische Form des freien Arbeitsvertrages überall ein
n
A, B: einen
Selbstverkauf [A 8][B 14]in die befristete Sklaverei war statt des normalen Verkaufs durch Vater oder Herrn. Die ältesten[,] rein auf Vertrag gegründeten Schuld-Obligationen
o
A, B: Schuldenobligationen Vgl. das Manuskriptfragment, unten, S. 644.
waren Übernahmen
p
A, B: Übernahme
prozessualer Vorgänge in das außerprozessuale Rechtsleben. Pfand- oder Geiselstellung waren auch im germanischen Recht die ältesten Mittel[,] Schulden zu kontrahieren, nicht nur ökonomisch, sondern grade dem Rechtsformalismus nach.
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Zur Schuldhaftung durch Geisel- oder Pfandstellung vgl. etwa die von Mitteis, Stipulation (wie oben, S. 324 f., Anm. 38), S. 123, Anm. 3, für die deutschrechtlichen Analogien angeführte rechtsgeschichtliche Literatur sowie Brunner, Grundzüge (wie oben, S. 291, Anm. 47), S. 200–207.
Die Bürgschaft, aus welcher hier wie dort die Selbstbürgschaft abgeleitet wurde, lehnte sich aber für das Rechtsdenken zweifellos an die persönliche solidarische Haftung der Sippen und der Hausgenossen an. Das Pfand aber, die zweite Form der Sicherheitsleistung für künftige Verpflichtungen, war im römischen wie im deutschen Recht zunächst entweder genommenes Pfand (Exekutionspfand) [329]oder Pfandbestellung,
51
[329] Entsprechend der deutschrechtlichen Unterscheidung von „genommenem“ und „gesetztem Pfand“; vgl. Brunner, Grundzüge (wie oben, S. 291, Anm. 47), S. 204–206; Amira, Grundriß (wie oben, S. 316, Anm. 23), S. 214–216; Schröder, Lehrbuch, S. 271. Beim „gesetzten Pfand“ hatte der Versetzer dem Gläubiger den Besitz über die pfändbare Sache zu verschaffen, der sie entweder bis zur Auslösung zurückbehielt oder sich direkt aus ihr befriedigte. Das „Exekutionspfand“ („Fronungspfand“) im technischen Sinn war dagegen eine bestimmte Art des „genommenen Pfandes“, bei dem Besitz und Nutzung beim Schuldner verblieben, während der Gläubiger einen vertraglich gesicherten Pfändungstitel für den Verzugsfall (der Schuldtilgung) erwarb.
um der persönlichen Klage oder Exekutionshaftung
52
D.h. der klagbaren persönlichen Haftung des Schuldners mit Leib, Leben und Vermögen.
zu entgehen, also nicht wie heute eine Sicherheit für eine gesondert daneben bestehende Forderung. Die Pfandbestellung enthält vielmehr eine Besitzverfügung über solche Güter, welche[,] solange die gesicherte Schuld nicht abgetragen wird, rechtmäßiger, nachdem sie rechtzeitig abgetragen worden ist, unrechtmäßiger Besitz des Gläubigers am Pfande sind
q
[329] Fehlt in A, B; sind sinngemäß ergänzt.
, im letzteren Fall also einen Frevel gegen den früheren Schuldner ergab.
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Neben dieser „resolutiv bedingten“ Besitzverfügung, der Verpfändung also an den Gläubiger bis zum Zeitpunkt der Schuldtilgung, stand die „suspensiv bedingte“ Verfügung, bei der das Eigentum an der Pfandsache nach Überschreitung einer gesetzten Schuldtilgungsfrist endgültig überging; vgl. Brunner, Grundzüge (wie oben, S. 291, Anm. 47), S. 205, und Amira, Grundriß (wie oben, S. 316, Anm. 23), S. 214.
Es fügte sich also in
r
A, B: an
das dem Rechtsdenken geläufige Schema der ältesten Klagegründe: tatsächliche Verletzung der Person oder tatsächliche Verletzung ihres Besitzes[,] ebenfalls relativ zwanglos ein. Teils direkt an die mögliche Art der Exekution, teils an die aus dem Prozeß stammende Geiselstellung lehnte sich endlich das ebenfalls sehr universell verbreitete Rechtsgeschäft des bedingten Selbstverkaufs in die Schuldknechtschaft an. Der Leib des Schuldners selbst war hier das Pfand des Gläubigers und verfiel endgültig zu rechtmäßigem Besitz, wenn [WuG1 421]die Schuld nicht bezahlt wurde. Die Schuldhaftung aus Kontrakten war ebenso wie die Rache- und Sühnehaftung, an die sie anknüpfte, ursprünglich nicht nur eine in unserem Sinn persönliche Haftung mit dem Vermögen, sondern eine Haftung des Schuldners mit seiner physischen Person und nur mit [A 9][B 15]dieser. Einen Zugriff auf das Vermögen des Schuldners gab es ursprünglich überhaupt nicht. Im Fall der Nichtzahlung konnte der [330]Gläubiger sich nur an die Person halten. Er tötete ihn oder setzte ihn als Geisel in Gefangenschaft, behielt ihn als Schuldknecht, verkaufte ihn als Sklaven, mehrere Gläubiger mochten, wie die Zwölf Tafeln anheimstellten, ihn in Stücke schneiden,
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[330] Weber bezieht sich hier auf 12 Taf. 3,5, wonach bei gerichtlicher Anerkennung der Geldschuld oder rechtskräftiger Verurteilung des Schuldners der Gläubiger zur denkbar schwersten Personalexekution schreiten konnte. Allerdings blieb für die Dauer der sich an die Verurteilung anschließenden sechzigtägigen Haft stets die Möglichkeit gütlicher Einigung bzw. an drei aufeinanderfolgenden Markttagen die Gelegenheit zur Auslösung des Schuldners. Erst danach konnte er getötet oder trans tiberim verkauft werden. Für den Fall einer Gläubigermehrheit heißt es 12 Taf. 3,6: „Tertiis nundinis partis secanto. Si plus minusve secuerunt, se fraude esto.“ (Am dritten Markttag sollen sie [die Gläubiger] sich die Teile schneiden. Wenn einer zu viel oder zu wenig abgeschnitten hat, soll dies ohne Nachteil sein.); Wortlaut bei Bruns, Fontes, S. 20.
oder der Gläubiger setzte sich in das Haus des Schuldners und dieser mußte ihn bewirten (Einlager)
s
[330]A, B: Einleger Vgl. das Manuskriptfragment, unten, S. 645.
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Das „Einlager“ als „kümmerlichen Anfang der Sachhaftung“ beschreibt für das chinesische Recht etwa Sternberg, Vermögensrecht (wie oben, S. 286, Anm. 33), S. 144 f., 147. In deutschen Volksrechten hingegen fungierte das „Einlager“ als Sicherheitsleistung des Schuldners durch Selbstinternierung, ursprünglich im Haus des Gläubigers oder an einem von ihm zu bestimmenden Ort. Später vor allem in einer gewerblichen Unterkunft, wodurch der Gedanke der Freiheitsbeschränkung zurücktrat und die mit den Aufenthaltskosten verbundene Nötigung zur baldigen Schuldentilgung in den Vordergrund rückte; vgl. Brunner, Grundzüge (wie oben, S. 291, Anm. 47), S. 202 f.
– schon ein Übergang zur Vermögenshaftung. Diese
t
A, B: Dieser Vgl. das Manuskriptfragment, ebd.
selbst aber stellte sich sehr zögernd ein, und die Personalhaft als Folge der Zahlungsunfähigkeit ist in Rom erst im Verlauf des Ständekampfs, bei uns erst im 19. Jahrhundert verschwunden. Die ältesten rein obligatorischen Kontrakte, das Nexum und die Stipulatio
a
Zu ergänzen wäre: der Römer Vgl. das Manuskriptfragment, S. 646.
, die
b
Fehlt in A, B; die sinngemäß ergänzt.
wadiatio der Germanen, bedeuteten
c
A, B: bedeutete
jedenfalls die freiwillige Unterwerfung unter eine für künftig versprochene Vermögensleistung, um der sofortigen persönlichen Haftbarmachung zu entgehen. Aber wenn sie nicht erfüllt wurde, war ursprünglich wiederum nur der Rückgriff auf die Person selbst die Folge.
Alle ursprünglichen Kontrakte waren Besitzwechselkontrakte. Daher waren auch alle Rechtsgeschäfte, welche wirklich alte Formen
d
A, B: Form Vgl. das Manuskriptfragment, ebd.
der kontraktlichen Schuldhaftung[,] namentlich die überall [331]besonders streng formale Geldschuldhaftung, repräsentierten,
e
[331]A, B: repräsentierte, Vgl. das Manuskriptfragment, unten, S. 646.
stets mit einem rechtsförmlichen Besitzübergang symbolisch verbunden. Manche von diesen Symboliken beruhten zweifellos auf magischen
f
A, B: magische Vgl. das Manuskriptfragment, unten, S. 646.
Vorstellungen. Dauernd aber blieb maßgebend, daß das Rechtsdenken zunächst als relevant keine unsichtbaren Tatbestände nach Art bloßer Schuldversprechungen kannte, sondern nur Frevel, und das waren Verletzungen gegen Götter oder Leib und Leben oder den sichtbaren Besitzstand. Ein Vertrag, der rechtlich relevant sein sollte, mußte daher normalerweise eine Besitzverfügung über sichtbare Güter enthalten oder doch so gedeutet werden können. War dies der Fall, so konnte er im Verlauf der Entwicklung die allerverschiedensten Inhalte einbeziehen. Alle nicht in jene Form zu kleidenden Geschäf[A 10][B 16]te aber waren zunächst nur als
g
A, B: Als nicht in jene Form zu kleidende Geschäfte aber waren zunächst nur alle Vgl. das Manuskriptfragment, unten, S. 646.
Bargeldgeschäfte rechtswirksam oder allenfalls insoweit, als ein Angeld als Teilleistung gegeben wurde, welches den Gesinnungswandel des Versprechenden ausschloß. Es hat sich daraus das in sehr vielen Rechten urwüchsige Prinzip: daß nur entgeltliche Zweckkontrakte
h
A, B: Zwangskontrakte Vgl. das Manuskriptfragment, unten, S. 647.
dauernd bindend sein könnten[,] entwickelt
i
Fehlt in A, B; entwickelt sinngemäß ergänzt.
. Diese Vorstellung wirkte so nachhaltig, daß noch zu Ende des Mittelalters (15. Jahrhundert, offiziell seit Heinrich VIII[.]) die englische Lehre von der consideration
56
[331] Die „consideration“-Doktrin begründete die Klagbarkeit der aus den anglonormannischen „Realkontrakten“ hervorgehenden formlosen Schuldverträge. Realkontrakte verlangten ein quid pro quo, d. h. eine sachliche Gegenleistung des Berechtigten (Gläubigers, Klägers), welche im Laufe der Zeit bis auf den bloßen Nachweis eines Nachteils (detriment) ermäßigt wurde. Diese dem Verpflichteten (Schuldner, Beklagten) vom Berechtigten erbrachte „Gegenleistung“ oder „sachliche Erwägungsgrundlage“ (consideration) war dann eine im einzelnen zu spezifizierende Voraussetzung eines rechtsverbindlichen Vertragsschlusses (simple contract); vgl. Heymann, Überblick, S. 328–330; „Consideration“, in: Wertheim, Karl, Wörterbuch des englischen Rechts. – Berlin: Puttkammer & Mühlbrecht 1899, S. 145–149 (hinfort: Wertheim, Wörterbuch); Pollock, Frederick, Afterthoughts on Consideration, in: The Law Quarterly Review, Vol. 17, 1901, S. 415–422; Ashley, Clarence D., The Doctrine of Consideration, in: Harvard Law Review, Vol. 26, 1912–1913, S. 429–436.
an jenes Bedürfnis anknüpft: wo ein realer Entgelt (consideration), sei es auch nur ein Scheinentgelt, real gezahlt worden war, da konnte der Kontrakt fast jeden nicht rechtlich verpön[332]ten Inhalt annehmen. Er war gültig, auch wenn es ohne jene Voraussetzung keinerlei Rechtsschema gäbe, dem er entspräche. Die in ihrem Sinn viel umstrittenen Zwölftafelsätze
j
[332]A, B: zwölf Tafelsätze
über die Manzipationsgeschäfte
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[332] Auf die mancipatio, also das ursprüngliche römische Kaufgeschäft per aes et libram, wird im Zwölftafelgesetz Bezug genommen in 12 Taf. 6,1: „Cum nexum faciet mancipiumque, uti lingua nuncupassit, ita ius esto.“ (Wenn jemand eine Darlehensverpflichtung und ein Kaufgeschäft vornimmt, so soll das rechtens sein, was er mündlich bedungen hat; Wortlaut bei Bruns, Fontes, S. 23.) Sodann aber in einer umstrittenen Institutionen-Stelle des Corpus iuris, die der Tafel VII zugeordnet ist, 12 Taf. 7,11 (Iustiniani Institutiones 2,1,41): „Venditae […] et traditae (res) non aliter emptori adquiruntur, quam si is venditori pretium solverit vel alio modo satisfecerit, veluti expromissore aut pignore dato; quod cavetur – lege XII tab.“ (Verkaufte und übergebene Sachen erwirbt der Käufer erst dann zu Eigentum, wenn er dem Verkäufer den Preis bezahlt oder ihn auf andere Weise befriedigt hat, z. B. durch Schuldübernahme eines Dritten oder Hingabe eines Pfandes. Dies ist im Zwölftafelgesetz bestimmt; Wortlaut nach Bruns, Fontes, S. 27.) Zu den umstrittenen Zwölftafelsätzen über die Manzipation vgl. statt aller Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 186 f., Anm. 73, S. 74, 264 und S. 260, Anm. 14, sowie die dort angegebene Literatur.
waren wohl der Sache nach eine freilich wesentlich primitivere Sanktionierung materieller Verfügungsfreiheit von allerdings begrenzterer Entwicklungsfähigkeit unter einer dem Prinzip nach ähnlichen formalen Voraussetzung.
Neben der Entwicklung der aus den rechtsförmlichen Geldgeschäften einerseits, den Prozeßbürgschaften andererseits überkommenen Schemata hat sich das Bedürfnis des Rechtslebens noch einer dritten Möglichkeit bedient, dem Zweckkontrakt die Garantie des Rechtszwangs
k
A, B: bedient: dem Zwangskontrakt. Die Garantie des Rechts Zwang Vgl. das Manuskriptfragment, unten, S. 647.
zu verschaffen: künstlich neue Kontraktklagen aus Deliktsklagen zu entwickeln. Dies ist selbst in technisch schon hoch entwickelten Rechten[,] wie dem englischen, noch auf der Höhe des Mittelalters geschehen. Die ökonomische Rationalisierung des Rechts begünstigte die Entstehung der Vorstellung, daß die Sühnehaftung nicht sowohl Abkauf der Rache (die ursprüngliche Auffassung) wie Ersatz des Schadens sei. Nichterfüllung eines Kontrakts konnte nun ebenfalls als sühnepflichtige Schädigung qualifiziert werden. Die Anwaltspraxis und die Rechtsprechung der königlichen Gerichte in England nun qualifiziert [WuG1 422]seit dem 13. Jahrhundert die Nichterfüllung von immer mehr Kontrakten als einen
l
A, B: einem
trespass und schuf jenen dadurch Rechtsschutz (namentlich mittels [A 11][B 17]des writ of assumpsit)[,]
58
Vgl. oben, S. 290, Anm. 45.
ähnlich wie in frei[333]lich technisch ganz anderer Art die prätorische Rechtspraxis der Römer zunächst durch Erweiterung der Diebstahlsklage,
m
[333]A, B: Erklärung der dilatio klagen, Vgl. das Manuskriptfragment, unten, S. 648.
dann durch den Dolusbegriff den Rechtsschutz über sein ursprüngliches Gebiet ausdehnte.
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[333] Die ältesten römischen Rechtsgeschäfte, vor allem die bei Eigentumsübertragung übliche Manzipation, konnten in ihren knappen Wortformeln selten den ganzen Inhalt der Vereinbarung aufnehmen, weshalb vertragliche Nebenabsprachen zur Regel wurden. Da derartige Versprechen aber lediglich moralische Pflichten begründeten, waren sie zunächst nur bei stricti iuris unrechtmäßigem Verhalten klagbar. Zum Maßstab wurde die dem rechtsgeschäftlichen Verkehr zugrundegelegte bona fides. Die ältesten freien Kontrakte waren also bonae fidei negotia und die ältesten Kontraktsklagen gingen eben deshalb aus Deliktsklagen hervor. Die Deliktshaftung wurde begründet über den Dolusbegriff (ursprünglich: Arglist, Täuschung, Hintergehung), mit dessen stetiger Ausweitung schließlich bei bloßer Nichterfüllung (Vertragsbruch) die Klage der actio doli gegeben war; vgl. hierzu nur Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 316–321; Sohm, Institutionen, S. 465 ff., 467 f., Anm. 3, S. 68 ff., 69 f., Anm. 12 und S. 14.
Mit der Schaffung klagbarer und ihrem Inhalt nach frei zu differenzierender Kontraktforderungen ist noch lange nicht derjenige Rechtszustand erreicht, welchen ein entwickelter, rein geschäftlicher Verkehr erfordert. Jeder rationale Betrieb insbesondere bedarf der Möglichkeit, durch Stellvertreter – solche für den Einzelfall sowohl wie dauernd angestellte – vertragsmäßig
n
A, B: vertragsmäßige Vgl. das Manuskriptfragment, ebd.
Rechte zu erwerben und Verpflichtungen einzugehen. Und ein entwickelter Verkehr bedarf darüber hinaus der Übertragbarkeit der Forderungsrechte[,] und zwar einer letzten und für den Erwerb rechtssicheren, die Nachprüfung der Berechtigung des Rechtsvorgängers ersparenden Übertragbarkeit. Wie die heutigen, für den modernen Kapitalisten unentbehrlichen Rechtsinstitutionen sich entwickelt haben, wird an anderer Stelle erörtert (G[erhard Alexander] Leist im Buch II dieses Werkes).
60
Der von Weber eingeworbene GdS-Beitrag ist erst 1925, nunmehr in der Abteilung IV unter dem Titel „Die moderne Privatrechtsordnung und der Kapitalismus“, S. 28–48, als Beitrag von Gerhard Alexander Leist in der Bearbeitung von Hans Nipperdey erschienen. Der erste Hinweis darauf findet sich im Schreiben Max Webers an Paul Siebeck vom 27. Febr. 1910 (MWG II/6, S. 414 f., hier S. 414), sowie im Stoffverteilungsplan vom Mai 1910, der unter „Zweites Buch“, II, 1 einen entsprechenden Beitrag Alexander Leists vorsieht (vgl. ebd., S. 766–774, hier S. 768).
Hier sei nur kurz des Verhaltens der früheren Vergangenheit gedacht. Die direkte Stellvertretung bei Rechtsgeschäften hat von den antiken Rechten das römische Recht
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A, B: des römischen Rechts
im Gegensatz [334]zum griechischen, dem sie wohl bekannt war, für die Eingehung von Obligationen fast unmöglich gemacht.
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[334] Es gilt als leitender Grundsatz des römischen Vertretungsrechts, daß eine unmittelbare Wirkung für und gegen den Vertretenen im Geschäftsverkehr und Prozeß ausgeschlossen ist; vgl. etwa Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 203 ff., mit differenzierenden Einschränkungen.
Offenbar ermöglichten diese Rechtszustände, welche mit dem Formalismus der zivilrechtlichen Klage zusammenhingen, die Verwendung von Sklaven in den eigentlich kapitalistischen Betrieben, für welche die Stellvertretung praktisch weitgehend anerkannt war.
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Die Anerkennung der Möglichkeit des Rechtserwerbs durch den Gewaltunterworfenen ist notwendige Voraussetzung einer funktionsfähigen Sklavenwirtschaft; vgl. u. a. Sohm, Institutionen, S. 259–262, 554–556; Rabel, Ernst, Gründzüge des römischen Privatrechts, in: EdR7, Band 1, 1915, S. 399–540, hier S. 507 (hinfort: Rabel, Grundzüge), sowie unten, S. 387 f.
Eine Zession der Forderungsrechte kannte infolge des streng persönlichen
p
[334]A, B: politischen Vgl. das Manuskriptfragment, unten, S. 649.
Charakters der Schuldbeziehung weder das antike römische noch das germanische Recht. Das römische Recht schuf dafür erst spät durch Vermittlung der indirekten Stellvertretung
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Rechte und Pflichten aus dem Rechtsgeschäft entstehen ausschließlich unter den rechtsgeschäftlich Handelnden; für den Eintritt der rechtlichen Wirkungen, z. B. des Eigentumserwerbs, auf den Geschäftsherrn bedurfte es daher eines zweiten Rechtsgeschäfts zwischen diesem und dem Geschäftsführer. „Stellvertretung“ im Sinne einer Zurechnung der Rechtsfolgen auf den Vertretenen lag also nicht vor; vgl. Rabel, Grundzüge (wie oben, S. 334, Anm. 62), S. 508; Sohm, Institutionen, S. 261.
Ersatz und gelangte schließlich zu einem Zessionsrecht,
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Endgültig durch ein Reskript des Kaisers Antoninus Pius (reg. 138–161 n. Chr.) zur direkten Prozeßstellvertretung des Gläubigers durch ein Mandat (mandatum in suam rem), wodurch dem Vertreter zwar noch nicht das Forderungsrecht selbst, jedoch das selbständige Recht seiner gerichtlichen Ausübung verschafft wurde; vgl. Sohm, Institutionen, S. 549–552.
dessen Brauchbarkeit für den eigentlichen Geschäftsverkehr aber durch die materialethischen Tendenzen der späteren Kaisergesetzgebung wieder durchkreuzt wurde. Ein hinlänglich [A 12][B 18]starkes, praktisches Bedürfnis bestand für die Abtretbarkeit der Forderung bis an die Schwelle der Gegenwart in der Tat nur für diejenigen Forderungsrechte, welche Gegenstand regelmäßigen Umsatzes waren oder direkt dem Zweck der Übermittlung von Ansprüchen an Dritte dienten. Für diese Bedürfnisse wurde die Kommerzialisierung durch die Order- und Inhaberpapiere
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Bei den „Inhaberpapieren“ ist das verbriefte Recht durch den Inhaber geltend zu [335]machen. Es wird durch Vertrag bzw. – nach der Eigentumstheorie – durch sachenrechtliche Übertragung begründet, ein Hauptstreitpunkt der Zivilrechtsdogmatik des 19. Jahrhunderts. In den „Orderpapieren“ verpflichtet sich der Ausstellende nicht nur zur Leistung an den Genannten („Rektapiere“), sondern auch an den von Diesem in der „Order“ Bezeichneten.
geschaffen, welche sowohl für die Übertragung von [335]Forderungen, speziell Geldforderungen, wie für die Übertragung von Verfügungsgewalten über Handelsgut und über Anteile an Unternehmungen funktionieren. Dem römischen Recht waren sie durchaus unbekannt.
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Eine seinerzeit streitige Auffassung. Namentlich Goldschmidt, Urkunden, S. 360, 380 ff., 393, hat für das römische Geschäftsleben wenigstens den Umlauf „unvollkommener“ Inhaberpapiere behauptet. Solcher Urkunden also, die (im Unterschied zu „vollkommenen“ Inhaberpapieren) den Inhaber nicht zweifelsfrei und unmittelbar berechtigten, vielmehr dem Aussteller (Schuldner) die Möglichkeit gaben, weiteren Rechtsausweis des Inhabers zu verlangen, andererseits aber mit der Leistung an jeglichen Inhaber befreiende Wirkung hatten (sog. Legitimationswirkung des Papiers). Ganz sicher erscheint Goldschmidt sogar das Vorkommen des Orderpapiers, wenn auch nur durch „(mündliche oder schriftliche) Anweisung mit der Orderclausel“ (ebd., S. 393). Vgl. auch ebd., S. 360, und Goldschmidt, Universalgeschichte, S. 82, 92, 94. Weber wendet sich hier also direkt gegen die Anschauung seines akademischen Lehrers.
Es ist noch heute unsicher, ob, wie Goldschmidt annimmt, irgendwelche von den hellenistischen
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Goldschmidt, Urkunden, S. 359 f., wonach „für den hellenistischen Quellenkreis das vollkommene Order- und Inhaber-Papier“ als „sicher“ gelten könne.
und ebenso ob, wie Kohler glaubt, schon die
q
[335]A, B: die schon Vgl. das Manuskriptfragment, unten, S. 650, textkritische Anm. j.
in Hammurabis Zeit hinauf reichenden babylonischen, auf den Inhaber lautenden Urkunden
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Kohler, Hammurabi’s Gesetz III, S. 237. Zu babylonischen Geschäftsurkunden mit Inhaberklauseln, welche er als „echte Inhaberpapiere“ deutet, die den Inhaber der Urkunde als Forderungsberechtigten auswiesen, bemerkt Kohler freilich weiter: „Wir finden die [Inhaber-, Hg.] Klausel noch nicht z. Zt. Hammurapis, noch als Seltenheit z. Zt. Samsuilunas […], dagegen sehr häufig vom Ende der Regierungsperiode Ammiditanas bis in die Zeit Ammisadugas hinein. Der Gedanke, die Forderung auf solche Weise an die Tafel [die Urkunde, Hg.] zu knüpfen, ist also nachhammurapischen Ursprungs […].“
echte Inhaberpapiere waren. In jedem Fall aber ermöglichten sie tatsächlich die Zahlung an und durch Dritte in einer Art, wie sie das offizielle römische Recht nur indirekt ermöglichen konnte. Das klassische römische Recht kannte eigentliche
r
A, B: eigenschaftliche Vgl. das Manuskriptfragment, unten, S. 650.
dispositive Beurkundung, wenn man nicht den Literalkontrakt, die Bankiersbuchung, so nennen will, gar nicht.
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Die Dispositivurkunde dient nicht dem Beweis, sondern der Begründung eines Rechtsgeschäfts, das durch Ausstellung und ggf. Austausch der Urkunde zwischen den kontrahierenden Parteien erst vollzogen wird. Demgegenüber soll die sog. Zeugnis- oder Beweisurkunde ein unabhängig von ihr zustandegekommenes Rechtsge[336]schäft gerichtsbeweisbar machen; vgl. z. B. Brunner, Heinrich, Carta und Notitia. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte der germanischen Urkunde, in: Festschrift für Theodor Mommsen, scripserunt amici. – Berlin: Weidmann 1877, S. 570–589, hier S. 570 f. (hinfort: Brunner, Carta). Dem klassischen römischen Recht sind solche rechtsbegründenden Dispositivurkunden fremd, so u.a. Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 291 f., S. 292, Anm. 4, S. 294 f. mit Anm. 14, und Brunner, Heinrich, Rechtsgeschichte der römischen und germanischen Urkunde, Band 1. – Berlin: Weidmann 1880, S. 44, 60 f. (hinfort: Brunner, Urkunde). Mitteis nennt als wichtigsten Grund dafür die bei den ältesten römischen Rechtsgeschäften zur Vollgültigkeit regelmäßig erforderlichen feierlichen Parteihandlungen. Neben dem Literalkontrakt zählen Mitteis und Brunner allenfalls das schriftliche Testament zu den dispositiver Beurkundung fähigen Rechtsgeschäften des ius civile.
Für das hellenistische [336]und spätrömische Recht ist vielleicht durch den staatlichen Registerzwang, der zunächst wesentlich fiskalischen Steuerzwecken diente, die im Orient von ältester Zeit her entwickelte Urkundentechnik zur obligatorischen Beurkundung gewisser Geschäfte und zu wertpapierartigen Erscheinungen fortentwickelt worden.
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Der hellenistische (vor allem ägyptische) und der spätrömische Staat gingen aus fiskalischen Gründen dazu über, für private Rechtsgeschäfte aller Art Verkehrsgebühren zu erheben, was sich zweckmäßigerweise mit einer Zwangsregistrierung solcher Geschäfte durchführen ließ. Die Sicherheit eines solchen Registerzwangs konnte leicht dadurch erhöht werden, daß man die Gerichtsverwertbarkeit der Geschäftsurkunden einfach an ihre offizielle Registrierung band; vgl. Mitteis, Reichsrecht (wie oben, S. 292 f., Anm. 52), S. 52 f.; ders., Römisches Privatrecht, S. 313 f. – Die Herkunft der Inhaber- und Orderklauseln aus dem spätrömischen Vulgarrecht behauptet im Anschluß an Goldschmidt Heinrich Brunner, Die fränkisch-romanische Urkunde als Wertpapier, in: Brunner, Forschungen, S. 524–631, hier S. 604–607, bes. 607 (hinfort: Brunner, Wertpapier); vgl. dazu und in seiner Argumentation auf den Notariatsstil abstellend: Partsch, J[osef], Der griechisch-römische Einschlag in der Geschichte des Wertpapiers, in: Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Konkursrecht, Band 70, 1912, S. 437–489, hier bes. S. 471–482.
In den hellenischen und hellenistischen Städten war im Publizitätsinteresse die Urkundentechnik durch zwei den Römern unbekannte Institute: Gerichtsmerker und Notare[,]
71
Als älteste Urkundspersonen treten die griechischen Merker, Gerichtsmerker, auf, offiziell bestellte Gedächtniszeugen für private Rechtsgeschäfte, die im Streitfall Auskunft über die bestehenden Rechtsverhältnisse zu geben hatten. Darüber sowie über die mit der Schriftlichkeit sich entwickelnde echte Urkunden- und städtische Archivpraxis vgl. bes. Mitteis, Reichsrecht (wie oben, S. 292 f., Anm. 52), S. 170–176, sowie ders., Römisches Privatrecht, S. 306 f.
gehandhabt worden. Die Institution der Notare nun ist von der Osthälfte des Reichs her nach dem Westen übernommen worden.
72
Nach Mitteis, Reichsrecht (wie oben, S. 292 f., Anm. 52), S. 175 f., sowie ders., Römisches Privatrecht, S. 306 f. – auf den sich hier Weber vermutlich stützt –, fehlte öffentliche Beurkundung in Rom und den italischen Städten bis in die Kaiserzeit (frühes 3. Jahrhundert n. Chr.). In der Westhälfte des Reiches gab es bereits in der frühen Kaiserzeit private Urkundspersonen (sog. Trapeziten und Tabellionen), die bei der Errichtung von Geschäftsurkunden mitwirkten, ohne für deren Geltung konstitutiv zu sein.
Aber erst das Urkun[337]denwesen der nachrömischen Zeit seit dem 7. Jahrhundert brachte im Okzident eine Fortentwicklung der spätrömischen Urkundenpraxis, welche vielleicht durch die starke Einwanderung orientalischer, [WuG1 423]besonders syrischer Händler befördert worden war.
73
[337] In diesem Sinn beschreibt Goldschmidt, Universalgeschichte, S. 387 f., 80 f., 86, die Entwicklung der mittelalterlichen Urkunde zum „Präsentations“- bzw. „Einlösungs“-Papier (bei dem also das beurkundete Recht nur mittels der Urkunde selbst geltend gemacht werden konnte) im Anschluß an die spätrömische Stipulationsurkunde, die ihrerseits einen dem Großhandelsverkehr zweckdienlichen schriftlichen Vertrag eingeführt hatte. – Über die Bedeutung namentlich der Syrer für Handel und Industrie in den späteren fränkischen Reichsgebieten vgl. ebd., S. 106 mit Anm. 36.
Dann freilich hat sich die Urkunde [A 13][B 19]als Rechtsträger, sowohl als Order- wie als
s
[337]A, B: als wie Vgl. das Manuskriptfragment, unten, S. 650.
Inhaberpapier[,] ungemein rasch entwickelt, überraschenderweise also grade in einer Zeit, deren Verkehrsintensität wir uns[,] verglichen mit der klassischen Antike[,] als äußerst begrenzt vorzustellen haben. Mithin scheint die Rechtstechnik hier wie sonst oft ihre eigenen Wege gegangen zu sein. Das Entscheidende
t
A, B: entscheidende Vgl. das Manuskriptfragment, ebd.
war dabei freilich wohl, daß jetzt nach Fortfall des Einheitsrechts die Interessenten der Verkehrsmittelpunkte und ihre nur technisch geschulten Notare die Entwicklung bestimmten, überhaupt das Notariat als einziger Träger der Verkehrsrechtstradition der Antike übrigblieb und sich schöpferisch betätigte. Allein es haben dabei, wie schon angedeutet,
74
Als Rückverweis nicht auflösbar. Bemerkungen zum Einfluß animistischer Vorstellungen auf die germanische Urkundenentwicklung finden sich weiter unten, S. 346 f.
grade im Urkundenwesen auch die irrationalen Denkformen des germanischen Rechts die Entwicklung begünstigt. Die Urkunde erschien der volkstümlichen Auffassung als eine Art von Fetisch, dessen rechtsförmliche Übergabe[,] zunächst vor Zeugen[,] spezifische Rechtswirkungen ebenso hervorbrachte wie andere ursprünglich halbmagische Symbole: der Gerwurf und die festuca
a
A, B: Vestuka Vgl. das Manuskriptfragment, unten, S. 651.
des germanischen oder das dieser letzteren entsprechende bukannu
b
A, B: Barkonu Vgl. das Manuskriptfragment, ebd.
des babylonischen Rechts.
75
So betont Kohler, Recht der orientalischen Völker (wie oben, S. 325 f., Anm. 41), S. 60, den magischen Bedeutungsgehalt der Traditionshandlung bei der symbolischen (Sach-)Übertragung: „Der bukannu ist nichts anderes als ein aus dem ehemaligen Geisterkult hervorgehendes Symbol, und wie die festuca des deutschen Rechts der Träger der Seele war, sei es nun der Seele des Verkäufers oder der Seele des Grund[338]stückes, so auch der bukannu: denn auch die Sachen galten ursprünglich als beseelt.“ Vgl. Kohler, Hammurabi’s Gesetz III, S. 236.
Nicht etwa [338]mit der beschriebenen Urkunde, sondern mit dem unbeschriebenen Pergament wurde ursprünglich von den Beteiligten die symbolische Traditionshandlung vorgenommen und dann erst das Protokoll darauf geschrieben.
76
Speziell die sog. investitura per cartulam wurde jedoch bei Franken, Römern und Langobarden verschieden vollzogen; dazu Brunner, Wertpapier (wie oben, S. 336, Anm. 70), S. 611–614. Später hatte der Notar oder Schreiber statt des „unbeschriebenen Pergaments“ die Urkunde bis auf Vollziehungs- bzw. Subskriptionsformel und Unterschriften vorgefertigt, so daß diese also nur insoweit noch unvollzogen war; vgl. Brunner, Urkunde (wie oben, S. 335 f., Anm. 69), S. 100 f., 111; ders., Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 397 f.; ders., Carta (wie oben, S. 335 f., Anm. 69), S. 578, Anm. 31, und S. 581 f.). Der Auftrag der Ausfertigung der Urkunde, welcher mit der Tradition an ihn erging, bezog sich auf den Urkundeninhalt, nicht auf das Protokoll. Technisch wurde unterschieden zwischen dem Text der Urkunde und dem Protokoll, welches gewisse Eingangs- und Schlußformeln umfaßte. Der Urkundentext gliederte sich in drei Teile: die „narratio“ (umschrieb den Anlaß der Urkunde), die „dispositio“ (enthielt den eigentlichen Urkundeninhalt) und die „corroboratio“ (kündigte Unterschrift und Siegel an); vgl. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 394, Anm. 12.
Während aber das italienische Recht infolge des Zusammenwirkens der germanischen Rechtssymbolik mit der Notariatspraxis schon im frühen Mittelalter den Urkundenbeweis sehr stark begünstigte,
77
Gemeint ist hier die Art, in der die italienischen Notare die ihnen unbekannte rechtsförmliche Urkundentradition der Franken in die eigene Notariatspraxis integrierten. Mit den charakteristischen germanischen Rechtssymbolen (Grashalm, Stock, Erde) wurde die (bei Langobarden und Römern formlos tradierte) Urkunde so verknüpft, daß sie selbst ebenfalls als Symbol erschien und sich in der Traditionshandlung das Rechtsgeschäft vollzog. Die anschließende Vervollständigung der Urkunde durch die Vollziehungsformel des Notars bezweckte dessen ausschließlich beweisrechtliche Verpflichtung, im Falle ihrer Bestreitung die Wahrheit des beurkundeten Sachverhalts zu bezeugen; vgl. Brunner, Urkunde (wie oben, S. 335 f., Anm. 69), bes. S. 104 ff., 302 ff.; ders., Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 397 f.
kannte ihn das englische Recht noch lange Zeit nicht und spielte dort das Siegel die entscheidende rechtsbegründende Rolle.
78
Vollziehungs- und Subskriptionsklauseln des königlichen Kanzlers, Notariats oder gewerbsmäßigen Schreibertums fehlten in der angelsächsischen Urkundenpraxis. Die Vollziehung (execution of deed) erforderte das Besiegeln, die mit Handauflegung verbundene Erklärung des Traditionswillens sowie die Übergabe (Tradition) der Urkunde, und eine Beweisführung hatte die execution of deed in vollem Umfang zum Gegenstand. Als echte Beweisurkunden galten deshalb zunächst lediglich die fränkischen, langobardischen, auch normannischen, aber nicht die angelsächsischen Königsurkunden; vgl. dazu Brunner, Carta (wie oben, S. 335 f., Anm. 69), S. 571 f., 577, Anm. 23, S. 582 mit Anm. 48 und S. 583 ff.; ders., Urkunde (ebd.), S. 158–162.
Die Entwicklung der Wertpapiertypen [339]des modernen Handelsrechts aber ist zum erheblichen Teil unter arabischer Mitwirkung infolge teils kommerzieller, teils administrativer Bedürfnisse im Verlauf des Mittelalters vor sich gegangen. Der antike römische Handel hat sich anscheinend ohne diese wichtigen, uns heute unentbehrlich scheinenden technischen Mittel behelfen können und müssen.
Der heute grundsätzlich bestehende Zustand endlich: daß [A 14][B 20]jeder
c
[339] Blatt A 14/ B 20 ist nur zu zwei Dritteln beschrieben.
beliebige Inhalt eines Vertrages, sofern ihm nicht Schranken der Vertragsfreiheit entgegenstehen, zwischen den Parteien Recht schafft und daß besondere Formen dabei nur soweit erforderlich sind, als das Recht dies aus Zweckmäßigkeitsgründen, insbesondere um der eindeutigen Beweisbarkeit der Rechte und also der Rechtssicherheit willen[,] zwingend vorschreibt,
79
[339] Vgl. etwa die Vorschriften der §§ 125 ff. BGB.
ist überall erst sehr spät erreicht worden, in Rom durch die allmähliche Internationalisierung des Rechts, in der Neuzeit durch den Einfluß der gemeinrechtlichen Doktrin und der Handelsbedürfnisse. Wenn nun trotz dieser heute generell bestehenden Vertragsfreiheit die moderne Gesetzgebung sich durchweg nicht mit der Feststellung: daß man vorbehaltlich besonderer Einschränkungen prinzipiell gültig vereinbaren könne[,] was immer man wolle, begnügt
d
Fehlt in A, B; begnügt sinngemäß ergänzt. Vgl. das Einfügungszeichen an dieser Stelle und unter dem Text von fremder Hand der Vermerk: Dem Satz fehlt offenbar ein Wort? Links davon in Zeilenhöhe findet sich der Hinweis Johannes Winckelmanns: Marianne Weber sowie unten links am Rand: [fehlt: begnügt //Winckelmann]
[,] sondern durch allerlei spezielle Ermächtigungssätze einzelne Typen von Vereinbarungen speziell derart regelt,
e
A, B: regeln,
daß die gesetzlichen Folgen eintreten, wo die Parteien nichts anderes vereinbaren (dispositives Recht), so sind dafür zwar zunächst und im allgemeinen reine Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte entscheidend: die Parteien denken in aller Regel nicht daran, alle möglicherweise relevanten Punkte wirklich ausdrücklich zu regeln, und es entspricht auch einer Bequemlichkeit[,] sich an erprobte und vor allem bekannte Typen halten zu können. Ohne solche wäre ein moderner Rechtsverkehr kaum möglich. Aber damit ist die Bedeutung der Ermächtigungsnormen und der Vertragsfreiheit bei weitem nicht erschöpft. Sie können
f
A, B: kann
vielmehr eine noch prinzipiellere Bedeutung haben.
[340][A –][B 21]Die Ordnung durch Ermächtigungsnormen
i
B: Ermächtigungssätze > Ermächtigungsnormen
greift nämlich – und das soll uns hier beschäftigen – in gewissen Fällen
h
A: Diese Ordnung aber greift nun
notwendig über die Sphäre bloßer Abgrenzung des gegenseitigen individuellen Freiheitsbereichs grundsätzlich hinaus. Denn die zugelassenen Rechtsgeschäfte schließen in aller Regel die Ermächtigung zu Gunsten der Interessenten in sich, auch Dritte, an dem betreffenden Akt nicht Beteiligte, zu binden. In irgend einem Maß und Sinn wirkt fast jedes Rechtsgeschäft [WuG1 424]zwischen zwei Personen,
g
[340] Die Passage steht auf einem Papierstreifen, der von Blatt A 2/ B – abgeschnitten und an Blatt A –/ B 21 oben angeklebt wurde; vgl. oben, S. 309, textkritische Anm. p.
indem es die Art der Verteilung der Verfügung der rechtlich garantierten Verfügungsgewalten verschiebt, auf die Beziehungen zu unbestimmt vielen Dritten zurück. Aber immerhin in sehr verschiedener Art. Soweit es nur zwischen denjenigen, welche es abschließen, Ansprüche und Verbindlichkeiten schafft, scheint dies rein äußerlich überhaupt nicht der Fall zu sein, denn hier
j
A: sein. Hier
scheint in der Tat nur die Chance, daß das Zugesagte erfüllt wird, rechtlich garantiert. Soweit es sich dabei – wie in aller Regel –
k
A: Allein soweit es sich
um rechtsgeschäftliche Übertragungen von Besitz aus einer Hand in die andere handelt, erscheint
l
A: ist insofern
das Interesse Dritter dadurch nur wenig berührt, daß
m
A: aller Dritten berührt, als
jetzt ein anderer Inhaber des auch bisher für sie nicht zugänglichen Objekts von ihnen
n
Fehlt in A.
zu respektieren ist.
o
In A folgt: Vom Standpunkt des Erwerbers ist es lediglich die Sicherung, daß kein Dritter die mit dem Rechtsgeschäft erworbene Chance stören werde.
In Wahrheit ist diese Unberührtheit der Interessen Dritter stets nur eine relative.
p
A: relative und finden sich diese immer, meist freilich nur für gewisse Eventualiäten, mitbetroffen.
So werden die Interessen der etwaigen Gläubiger eines jeden, der eine Schuldverpflichtung eingeht, durch dessen vermehrte Belastung mit Verbindlichkeiten berührt und die Interessen der Nachbarn bei einem Grundstücksverkauf z. B.
q
Fehlt in A.
durch jene
r
Fehlt in A.
Änderungen, die der neue Besitzer im Gegensatz zum bisherigen in der Art von dessen Benutzung vorzunehmen ökonomisch in der Lage oder umgekehrt nicht in der Lage ist.
s
A: vornehmen kann.
Dies sind faktisch mögliche
b
B: faktische > faktisch mögliche
Reflexwirkungen des generell vom Recht zugelassenen und garan[341]tierten subjektiven Rechts.
80
[341] Über rechtliche „Reflexwirkungen“ vgl. oben, S. 200 f. mit Anm. 27.
Die Rechtsordnungen ignorieren sie keineswegs immer[,] wie z. B. das Verbot der Zession von Forderungen an „Mächtigere“ im spätrömischen Recht beweist.
a
Fehlt in A.
81
Erst ein Reskript des Kaisers Antoninus Pius ermöglichte die zuvor prinzipiell unzulässige Zession von Forderungen (vgl. oben, S. 334 mit Anm. 64). Ausgeschlossen blieb allerdings im Interesse des Schuldnerschutzes die „cessio ad potentiorem“, an Mächtigere also (Großgrundbesitzer v.a.), wie einem Gesetz der Kaiser Honorius und Theodosius im Jahre 422 n. Chr. (C. Th. 2,13,1) zu entnehmen ist; vgl. dazu Mitteis, Ludwig, Über den Ausdruck „Potentiores“ in den Digesten, in: Mélanges P[aul] F[rédéric] Girard (Etudes de droit romain dédiées a Mr P. F. Girard), tome 2. – Paris: Arthur Rousseau 1912, S. 225–235, hier S. 225 f.
Indessen nun gibt es
c
[341]A: gibt es andere
Fälle, in welchen die Interessen Dritter durch Ausnutzung der Vertragsfreiheit in noch spezifisch anderer
d
A: wesentlich drastischerer
Art berührt werden können. Wenn z. B. durch Vertrag jemand sich in die „Sklaverei“ verkauft oder ein Weib sich durch Ehevertrag in die „Ehegewalt“
e
A: Vormundschaft ihres Ehemanns
begibt, oder wenn ein Grundstück zum „Fideikommiß“ erklärt wird, oder wenn eine Anzahl von Personen eine „Aktiengesellschaft“ gründen – dann werden davon die Interessen Dritter zwar rein faktisch
f
Fehlt in A.
im Einzelfall dem Grade nach sehr verschieden und oft weniger als in den obigen Beispielen berührt, immer aber in qualitativ andrer Art als dort. Denn im Gegensatz zu dort werden hier die bis dahin für bestimmte
h
B: die beteiligten > bestimmte
Personen und Sachgüter generell geltenden Regeln des Rechtsverkehrs, z. B. über die Gültigkeit von Verträgen und über den zwangsweisen Zugriff der Gläubiger auf Vermögensobjekte, infolge dieser Vereinbarungen zu Gunsten der Vertragsschließenden
g
A: verschieden, immer aber doch in qualitativ weitergehender Art berührt, als in den obigen Beispielen. Im Gegensatz zu dort sind hier die sonst geltenden Regeln des Rechtsverkehrs, d. h. der Gültigkeit von Verträgen, des zwangsweisen Zugriffs der Gläubiger auf Vermögensobjekte, für diese Fälle von Vereinbarungen zu Gunsten der Vertragsschließenden gänzlich außer Kraft gesetzt und
durch ganz neue und andersartige, auch jeden Dritten in seinen Ansprüchen und Chancen bindende rechtliche Spezialnormen
i
A: Normen
soweit ersetzt, als dem freien Belieben der Vertragsschließenden rechtliche Geltung und Zwangsgarantie
j
Fehlt in A.
zugestanden wird. Mindestens alle künftigen, oft aber auch die bisherigen Verträge des Sklaven, der Ehefrau, des zum Fideicommißherrn gewordenen Gutsbesitzers [342]und gewisse Verträge der die neue Gesellschaft vertretenden Personen unterstehen fortan gänzlich andren Rechtssätzen
l
[342]B: Normen > Rechtssätzen
, als bisher nach den generell geltenden Regeln anwendbar waren: einem Sonderrecht.
k
Fehlt in A.
[A 4][B 22]Die juristische Ausdruckstechnik des Rechts verschleiert dabei die Art der Berührtheit der Interessen Dritter und den Sinn des Sonderrechts oft[.]
m
A: Nur die Ausdrucksweise des Rechts verschleiert dies oft.
Daß z. B. eine Aktiengesellschaft ein bestimmt anzugebendes „Kapital“ gesetzlich haben muß und daß sie dies Kapital unter bestimmten Kautelen durch Beschluß der Generalversammlung „herabsetzen“ kann,
82
[342] Die Möglichkeit der Herabsetzung des Grundkapitals war in den Gesetzgebungen des späten 19. Jahrhunderts durchaus nicht die Regel. Während z. B. die englische Companies Act von 1862, sect. 12 (25 & 26 Vict. c. 89) sie noch ausschloß, war sie nach dem deutschen Aktiengesetz aus dem Jahre 1884 unter den Bedingungen der §§ 288–291 HGB zulässig.
bedeutet praktisch: kraft Gesetzes muß von Leuten, welche einen Zweckverband dieser Art vereinbaren, zu Gunsten der Gläubiger und der später in jenen Verband eintretenden Gesellschafter
n
A: daß kraft Gesetzes zu Gunsten der Gläubiger
ein bestimmter Überschuß des gemeinsamen Besitzes an Sachgütern
o
A, B: Sachgüter
und Forderungen über die Schulden als dauernd vorhanden
q
B: garantiert > vorhanden
p
Fehlt in A.
deklariert werden; an diese ihre Deklaration sind die geschäftsleitenden und sonst
r
A: werden muß und daß an dieser Deklaration die
beteiligten Gesellschafter bei der Berechnung des zur Verteilung kommenden „Gewinns“ durch Androhung krimineller Rechtsfolgen derart gebunden, daß ein
s
A: derart gebunden sein sollen, daß
Gewinn nur verteilt werden darf, wenn dabei
t
Fehlt in A.
jener als „Kapital“ deklarierte Betrag bei Anwendung der
a
A: nach den
Regeln der ordnungsmäßigen Taxierung und Buchführung gedeckt bleibt; unter gewissen Cautelen sind aber
b
A: bleibt, daß aber unter Umständen
die jeweils beteiligten Gesellschafter berechtigt,
c
A: berechtigt sein sollen,
jene Deklaration zu widerrufen
d
Fehlt in A.
und also auch die entsprechende Garantie für die Gläubiger und später eintretenden Gesell[WuG1 425]schafter herabzusetzen, das heißt also: von nun an
e
A: herabzusetzen und
trotz Nichtdeckung des anfänglich deklarierten Betrages dennoch
f
Fehlt in A.
Gewinn zu verteilen. Es ist klar, daß die durch solche und ähnliche ermächtigende Sonderrechtssätze gegebene Möglichkeit der Schaffung einer „Aktiengesellschaft“,
g
A: diese Regelung
die Interessen dritter, zu dem jeweiligen Bestande der [343]Gesellschafter nicht gehöriger, Personen: Gläubiger oder späterer
h
[343]A: Gläubiger, spätere
Erwerber von Aktien, in qualitativ sehr spezifischer Art
i
A: höchst intensiv
berührt. Ebenso natürlich die mit einer Ergebung in die Sklaverei eintretende Beschränkung der Vertragsfähigkeit des Sklaven Dritten gegenüber oder z. B.
j
Fehlt in A.
die mit Eintritt einer Frau in eine Ehe entstehenden Generalhypotheken, welche diese nach manchen Rechten selbst auf Kosten älterer pfandgesicherter Verbindlichkeiten
k
A: Rechte
am Vermögen des Mannes erwirbt.
83
[343] Im römischen Recht des Corpus iuris z. B. das gesetzliche Generalpfandrecht der Ehefrau am gesamten Vermögen des Mannes. Diese Generalhypothek soll ihren Anspruch auf Rückerstattung der in die Ehe und für die Dauer der Ehe in das Eigentum des Ehemannes eingebrachten Mitgift bei Auflösung der Ehe sichern. Da es sich um ein privilegiertes Pfandrecht handelt, kommt die allgemeine Regel, daß der ältere Pfandgläubiger dem jüngeren vorgehe, nicht zum Zuge und wird insoweit die Kreditsicherheit für Dritte beeinträchtigt.
Und es ist ferner klar, daß diese Art von Beeinflussung der Rechtslage Dritter über diejenigen „Reflexwirkungen“, welche
l
A: erwirbt, und es ist klar, daß eine solche Beeinflussung der Rechtslage Dritter den Vertragschließenden gegenüber über denjenigen Einfluß, welcher
im Gefolge fast jeden Rechtsgeschäfts irgendwie über den Kreis der Beteiligten hinaus eintreten
m
In B steht auf Zeilenhöhe am Rand die Satzanweisung Max Webers: kein Absatz!
können, hinausgeht, weil sie von sonst geltenden Rechtsregeln abweicht[.] In welchem Maße diese Gegensätze durch flüssige Übergänge verbunden sind, bleibt hier unerörtert. Jedenfalls bedeutet „Vertragsfreiheit“ im Sinn der Ermächtigung zur gültigen und durch relativ wenige, das Interesse der „Dritten“ schützende, Bestimmungen
o
B: [Schemata] > Bestimmungen
eingeengten
n
A: kann, hinausgeht. Selbstverständlich ist das Maß der Beeinflussung nur graduell abgestuft. Absatz in A. Eine Ermächtigung zur gültigen, d. h. also zu einer in ihren Konsequenzen auch von Dritten anzuerkennenden
Eingehung solcher über die interne Beziehung der Vertragsschließenden nicht nur reflexmäßig, sondern kraft spezifischen Sonderrechts
p
A: spezifisch
hinausgreifenden Rechtsgeschäfte mehr
q
A: bedeutet also jedenfalls mehr
als die bloße Einräumung eines „Freiheitsrechts“ im Sinne einer bloßen Ermächtigung zum beliebigen Tun und Lassen konkreter Handlungen.
s
In B folgt die Satzanweisung Max Webers: Absatz
r
A: Freiheitsrechts, welches eine bloße Erlaubnis zum beliebigen Tun und Lassen konkreter Handlungen enthält, so unbedingt zuzugeben ist, daß die Übergänge auch hier völlig flüssig sind.
[344]Auf der anderen Seite kann das Recht auch Vereinbarungen die rechtliche Gültigkeit versagen, welche direkt wenigstens Interessen Unbeteiligter gar nicht zu berühren [A 5][B 23]scheinen, mindestens keinerlei
t
[344]A: scheinen oder doch wenigstens keine
Sonderregeln gegenüber dem sonst gültigen Recht in sich schließen oder welche
u
Fehlt in A.
Dritten nur Vorteile, aber keine Schädigung zu versprechen scheinen. Die Gründe für solche Einschränkungen der Vertragsfreiheit können die allerverschiedensten sein. So schloß das klassische römische Recht nicht nur alle die Interessen Dritter direkt in Sonderrechtsform
a
Fehlt in A.
berührenden und ein abnormes Recht konstituierenden Formen beschränkter Haftung (Aktiengesellschaft und ähnliche) und auch die Sondernormen der offenen Handelsgesellschaft (Solidarhaft und Sondervermögen) aus, sondern versagte z. B. auch die nur reflexmäßig auf Dritte wirkende Möglichkeit der Begründung ewiger Renten, also z. B. den Rentenkauf und die Erbpachtverhältnisse (wenigstens
b
A: auch alle Begründungen ewiger Renten, also den Rentenkauf, die Begründung von Erbpachtverhältnissen (außer in superfiziarischer und im spätkaiserlichen Recht emphyteutischer Form wenigstens
für Private –
c
B: Private, –
das Institut des ager vectigalis war ursprünglich nur den Kommunen, erst später auch den Grundherren
e
B: Grundherrn
zugänglich). Es kannte
d
A: Grundherrn zugänglich) –
ferner die Inhaber- und Orderpapiere nicht
f
Fehlt in A.
und ließ ursprünglich nicht einmal die Cession von Forderungsrechten an Dritte zu. Und auch
g
Fehlt in A.
das spezifisch moderne Recht lehnt z. B. nicht nur die Anerkennung von Verträgen, welche eine Unterwerfung in ein sklavenartiges persönliches Verhältnis, also Sonderrecht,
h
A: Verhältnis
enthalten, ab, sondern schloß z. B. in Deutschland
i
A: Preußen
bis vor kurzem,
j
A: kurzem auch
84
[344] Weber bezieht sich auf die legislativen Maßnahmen zur Beseitigung von Feudallasten und zur Schaffung eines freien bäuerlichen Kleingrundbesitzerstands. In Preußen z. B. betrifft dies im einzelnen ein Edikt vom 14. Nov. 1811, das erstmals die Erbpacht und die aus ihr herrührenden Lasten für ablösbar erklärte; die preußische Verfassung vom 31. Jan. 1845, welche die Ablösbarkeit von Grundlasten und die erbliche Überlassung ausschließlich vollen Eigentums garantierte; schließlich ein Gesetz vom 2. März 1850, welches die Unzulässigkeit geteilten Eigentums bestätigte. Dieses Gesetz bestimmte weiterhin für vertraglich vereinbarte, feste Geldrenten den Ablösungswert, befristete die vertragliche Ausschließung der Ablösbarkeit und legte die maximale Ablösungssumme fest. Ähnliche gesetzliche Regelungen galten in anderen deutschen Staaten; vgl. hierzu Paasche, H[ermann], „Erbpacht“, in: HdStW3, Band 3, 1909, S. 1012–1018, hier S. 1015 f. (hinfort: Paasche, Erbpacht); Loening, Edg[ar], „Ablösung“, in: HdStW3, Band 1, 1909, S. 5 f.; Knapp, Georg Friedrich, „Bauernbefreiung. I. [345]Die Bauernbefreiung in den östlichen Provinzen des preußischen Staates“, in: HdStW3, Band 2, 1909, S. 541–550, hier S. 546–550 (hinfort: Knapp, Bauernbefreiung).
ganz wie das römi[345]sche Recht, auch
k
[345] Fehlt in A.
jede Belastung von Grundstücken mit ewigen Renten aus (die
l
A: aus, die
jetzt unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist).
85
Dies bezieht sich u. a. auf die seit 1867 in Mecklenburg-Schwerin eingeführte „reformierte Erbpacht“, bei der das Grundstück gegen eine nur vom Pächter einseitig ablösbare Rente diesem zur freien Bewirtschaftung, Veräußerung, Verpfändung vergeben wird. Ein ähnliches Institut hat Preußen mit den sog. Rentengütern durch Gesetze vom 27. Juni 1890 und 7. Juli 1891 geschaffen. Ebenso ermöglicht § 1105 BGB die Belastung von Grundstücken mit regelmäßigen Leistungen an den Berechtigten (z. B. Altenteil, Leibrente), sog. Reallasten, während nach § 1199 BGB als Grundschuld auch eine „Rentenschuld“ im Sinne einer wiederkehrenden Geldleistung aus einem Grundstück bestellt werden kann; vgl. dazu Gierke, Otto von, Grundzüge des deutschen Privatrechts, in: EdR7, Band 1, 1915, S. 175–302, hier S. 247 f., 252, 254 ff., 256, 261 (hinfort: Gierke, Grundzüge); Paasche, Erbpacht (wie oben, S. 344, Anm. 84), S. 1016 ff.
Es stempelt ferner
m
A: zulässig ist, stempelt
zahlreiche Verträge als „gegen die guten Sitten“ verstoßend zu nichtigen Vereinbarungen, welche Dritte weder sonderrechtsmäßig noch reflexmäßig berühren
86
Die Kommentarliteratur zu § 138 BGB (Nichtigkeit von Rechtsgeschäften) beispielsweise weist eine Fülle von Tatbeständen auf, die unabhängig von ihrer Wirkung auf Dritte als „gegen die guten Sitten“ verstoßend angesehen werden.
und
n
Fehlt in A.
der Antike als ganz normal bekannt waren. Namentlich sind individuelle
o
A: waren: namentlich
Vereinbarungen über sexuelle Beziehungen, für welche z. B. im antiken Ägypten fast völlige Vertragsfreiheit gegolten hatte, zu Gunsten der heute allein zugelassenen legalen Ehe ausgeschlossen, ebenso andere familienrechtliche Abmachungen, so
p
A: Ehe, und schließt andere (so
die meisten der Antike bekannten Vereinbarungen über die väterliche und eheherrliche Gewalt.
q
A: Gewalt) aus dem Kreise der zulässigen Rechtsgeschäfte aus. In B folgt ein Absatzzeichen von der Hand Max Webers.
87
Auf sachen-, familien- und erbrechtlichem Gebiet gibt etwa das BGB die rechtsgeschäftliche Typik vor, so daß insoweit keine Gestaltungsfreiheit besteht. – Über die sexuelle Vertragsfreiheit in Ägypten während der Perser- und Ptolemäerzeit (also seit dem 5. Jahrhundert v. Chr.) vgl. die ausführliche Darstellung bei Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter, S. 97–103.
Die Gründe für diese jeweilig verschiedenen
r
A: verschiedene Bestimmung der
Grenzen der Vertragsfreiheit nun sind sehr verschiedene. Das Fehlen bestimmter Ermächtigungen kann darin begründet sein, daß die rechtliche Anerkennung der betreffenden
s
A: liegen teils darin, daß die betreffenden
Institutionen der Verkehrstechnik der betreffenden Epoche noch kein unbedingtes Bedürfnis wa[346]ren. [WuG1 426]So würde sich wohl
t
A: Bedürfnis war. So
das Fehlen der Inhaber- und Orderpapiere im
u
[346]A: dem
antiken oder, vorsichtiger ausgedrückt: im
a
A: ausgedrückt, dem
offiziellen römischen Reichsrecht
88
[346] Zu dieser einschränkenden Formulierung vgl. unten, S. 335 f., wo Weber die im hellenisierten Ostteil des Reiches beobachtete Urkundenentwicklung darstellt. Weber widerspricht für das römische Recht dem Standpunkt von Goldschmidt, Urkunden, S. 360, 393, der mindestens das vollkommene Orderpapier in römischen Ouellen wiederzufinden glaubt, folgt aber offenbar der Goldschmidt-Brunnerschen Auffassung über die Existenz wertpapierartiger Urkunden im spätrömischen Vulgarrecht; vgl. Brunner, Wertpapier (wie oben, S. 336, Anm. 70), S. 605, 607.
erklären.
b
A: Reichsrecht.
Denn unbekannt waren Urkunden rein äußerlich ähnlicher Art der Antike, schon der altbabylonischen Zeit, nicht[.]
c
Fehlt in A.
89
Vgl. oben, S. 335 mit Anm. 68.
Ebenso das Fehlen der modernen
d
Fehlt in A.
kapitalistischen Vergesellschaftungsformen, für welche Parallelen nur in den staatskapitalistischen Assoziationen der Antike zu finden sind: weil der antike Kapitalismus
e
In A folgt: damals
seinem Schwerpunkt nach vom Staat lebte. Aber aus dem fehlenden ökonomischen Bedürfnis heraus ist das Fehlen eines Rechtsinstituts in der Vergangenheit durchaus nicht immer zu erklären.
f
Fehlt in A.
Die rationalen
g
A: Und die gegebenen
rechtstechnischen [A 6][B 24]Verkehrsschemata, welchen das Recht seine Garantie gewähren
h
A: eine Garantie darbieten
soll, müssen vielmehr ganz ebenso wie gewerblich-technische
i
A: anderseits ebenso wie technische
Manipulationen erst einmal „erfunden“ werden, um in den Dienst aktueller ökonomischer Interessen treten zu können. Daher ist die spezifische
j
A: gegebene
rechtstechnische Eigenart einer Rechtsordnung, die Art der Denkformen, mit denen sie arbeitet, für die Chance, daß ein bestimmtes Rechtsinstitut in ihrer Mitte erfunden werde, von weit erheblicherer Bedeutung[,] als man oft anzunehmen pflegt. Ökonomische Situationen gebären neue
k
A: diese
Rechtsformen nicht einfach automatisch aus sich, sondern enthalten nur eine Chance dafür, daß eine
l
A: die betreffende
rechtstechnische Erfindung, wenn sie gemacht wird, auch Verbreitung finde. Daß so viele unserer spezifisch kapitalistischen Rechtsinstitute mittelalterlichen und nicht römischen Ursprungs sind –
m
A: sind, ; B: sind, –
obwohl doch das römische Recht in logischer Hinsicht
n
Fehlt in A.
wesentlich stärker rationalisiert war als das mittelalterliche –,
o
B: mittelalterliche, – Gedankenstrich fehlt in A.
hat zwar auch einige ökonomische, daneben aber verschie[347]dene rein rechtstechnische Gründe. Die Denkformen des okzidentalen mittelalterlichen Rechts: seine
p
[347]A: Rechts mit seiner
Auffassung z. B. der Urkunde nicht rein logisch
q
Fehlt in A.
als eines rationalen Beweismittels, sondern rein anschaulich (ursprünglich: magisch) als eines sinnlichen „Trägers“ von Rechten –
s
B: Rechten, –
eine Art von juristischem „Animismus“ –,
t
B: „Animismus“, –
90
[347] Weber umschreibt hier die namentlich von Goldschmidt, Universalgeschichte, S. 386, vertretene sog. „Verkörperungstheorie“ in religionssoziologischen Kategorien. Nach der „Verkörperungstheorie“ gibt der an sinnlichen Vorstellungen orientierte Gebrauch der bildlichen Ausdrücke „Träger“ und „Verkörperung“ den Bedeutungskern der Urkunde angemessen wieder: „Man darf daher mit einem zutreffenden Bilde die Urkunde als ,Träger‘ (,Verkörperung‘) des in derselben beurkundeten Rechts bezeichnen.“ Und ebd., S. 387 f.: „[…] es ist somit das Recht (insbesondere Forderungsrecht) an die Urkunde ,gebunden‘, die Sache (die Urkunde) ist Träger (Körper) des Rechts.“
seine aus der Rechtspartikularität folgende
a
B: folgenden
Gewöhnung ferner
r
A: als eines symbolischen Trägers von Rechten, seiner Gewöhnung
an Solidarhaftpflichten aller möglichen Gemeinschaftskreise für ihre Mitglieder nach außen hin, ferner seine
b
A: seiner
Vertrautheit mit der Scheidung von Sondervermögensmassen auf den allerverschiedensten Gebieten –
d
B: Gebieten, –
beides erklärlich nur aus bestimmten politischen Bedingungen –[,] diese „Rückständigkeiten“ der logischen und staatsanstaltlichen Rechtsentwicklung gestatteten
c
A: Gebieten gestattete
dem Geschäftsverkehr die Entwicklung eines weit größeren Reichtums von praktisch brauchbaren
e
A: an
rechtstechnischen Schemata[,] als sie dem weit mehr logisch und technisch-politisch
f
A: dem
rationalisierten römischen Recht zugänglich waren.
h
In B folgt: 〈〈Zum Teil〉 Vor Allem auch deshalb, weil jenes noch nicht logisch rationalisierte Recht die Maxime noch nicht kannte, daß, was der Jurist nicht „denken“ könne, rechtlich auch nicht existiere.〉
Und ganz allgemein konnten jene Sonderbildungen, welche – wie namentlich die mittelalterlichen Handelsrechtsinstitute –
i
B: Handelsrechtsinstitute, –
dem
g
A: zu entnehmen war. Und diese sachlichen Sonderinstitute, welche dem
entstehenden modernen Kapitalismus so besonders gut auf den
j
A, B: dem
Leib paßten,
k
A: paßten, konnten
im allgemeinen leichter auf dem Boden einer aus politischen Gründen
l
Fehlt in A.
überhaupt zahlreiche, den Interessen ganz konkreter Interessentenkreise entsprechende,
m
A, B: entsprechender,
Sonderrechte erzeugenden Gesellschaft entwickelt werden. Aber allerdings spielte unter Andrem auch der Umstand mit, daß jenem noch nicht logisch rationalisierten Recht die Maxime der spezifisch „wissenschaftlichen“ Behandlung des Rechts: [348]daß, was der Jurist mit seinem Begriffsvorrath nicht „konstruieren“, also nicht „denken“ könne, auch rechtlich nicht zu existieren vermöge,
91
[348] Als Produkt der Pandektenlehre in der Tradition Puchtas hat dieser Grundsatz die deutsche Privatrechtswissenschaft des späten 19. Jahrhunderts („Begriffsjurisprudenz“) maßgeblich bestimmt. Im Mittelpunkt der „begriffsjuristischen“ Methode stehen nach Ihering, Römisches Recht II,2, S. 334–388, die Rechtsbegriffe („Rechtskörper“), in die der „Rechtsstoff“ zerlegt, auf die die Rechtssätze zurückgeführt und aus denen das Recht zum System ausgestaltet werden soll. Sachlich entspricht die Maxime der von Ihering aus dem Gesetz der juristischen Konstruktion abgeleiteten Anforderung, daß „die Wissenschaft […] keine juristischen Unmöglichkeiten statuiren“ dürfe (ebd., S. 376).
noch fremd war[.] Der Rechtsrationalismus bedeutet in der That – so leicht dieser Gesichtspunkt heute übertrieben wird – unter Umständen eine „Verarmung“ an Formenreichtum. –
n
Fehlt in A.
Andre
o
[348]A: Oder jene
Schranken der Vertragsfreiheit sind, wie z. B.
p
Fehlt in A.
der Ausschluß oder die Begrenzung derselben in Familienangelegenheiten, welcher den meisten modernen Rechten eigentümlich ist, und wie auch
q
Fehlt in A.
die Ablehnung der vertragsmäßigen Ergebung in die Sklaverei, durch vorwiegend ethische oder politische Interessen und Vorstellungen
r
A: politische und ethische Interessenvorstellungen
bedingt.
s
In A folgt: Oder sie haben ihren Grund in sozialen und ökonomischen Interessen maßgebender Schichten: so sicherlich der Ausschluß aller feudalen und aller überhaupt eine | Fortsetzung des Satzes im Typoskript, unten, S. 358, textkritische Anm. g. In B folgt ein Absatzzeichen von der Hand Max Webers.
[A –][B 25]Sexuelle Vertragsfreiheit ist nichts Primitives. Die von Werkzeugen am meisten entblößten und am wenigsten gesellschaftlich und ökonomisch differenzierten Stämme leben in faktisch lebenslänglicher patriarchaler Polygamie. Die Perhorreszierung der Endogamie begann offenbar in engstem Kreis innerhalb der Hausgemeinschaft, anschließend an die relative Herabsetzung des Geschlechtstriebes durch die gemein[WuG1 427]same Aufzucht. Der Austausch der eigenen Schwester gegen die Schwester des anderen Teiles dürfte der älteste Sexualkontrakt sein, aus dem
t
A, B: der
sich dann der Eintausch von ihrer Sippe gegen Naturalien und schließlich die normale Eheform: der Kauf der Frau[,] entwickelte, der z. B. in Indien ebenso wie in Rom als spezifisch plebejische Form der Eheschließung neben der vornehmen Eheschließung: Raub- oder Sakramen[349]talehe
92
[349] Der römischen „confarreatio“ (vgl. oben, S. 320 mit Anm. 32) entspricht in Indien die in feierlicher Form unter Zuziehung eines Brahmanen (als Hauptpriester) geschlossene Ehe bei den vornehmen Kasten; vgl. Weber, Hinduismus und Buddhismus, MWG I/20, S. 125.
[,] sich behauptete. Die Raub- und Sakramentalehe aber sind beide
a
[349]A, B: aber, in beiden
Produkte sozialer Verbandsbildung: die
b
A, B: der
erste die Folge der militärischen Männervergesellschaftung, welche den jungen Mann aus der Familiengemeinschaft riß und die Frau mit den Kindern als Muttergruppe zusammenschloß. Im Männerhaus wurde der Raub der Frau die heldenwürdige Art ihrer Gewinnung. Der Kauf von Weibern für die gemeinsam lebenden Männer von auswärts bestand daneben, und in Verbindung mit dem Raub von auswärts veranlaßte er die Bildung von Frauentauschkartellen und damit vermutlich die Entstehung der Exogamie. Diese wurde totemistisch
c
A, B: totematisch Die Emendation folgt WuG5, S. 413.
geregelt da, wo animistische
d
A, B: animatische Die Emendation folgt WuG5, S. 413.
Vorstellungen bestimmter Art sich einbürgerten, ursprünglich namentlich bei Völkern, deren Phratrien zugleich Jägergruppen waren und nun magische Kultgemeinschaften mit Sakramentalriten wurden.
93
Die auf kultischer Verehrung eines Totems (Tier, Pflanze, Stein etc.) beruhende primär militaristische Männergemeinschaft („Männerhaus“) geht einher mit rituellen Verboten (z. B. Speise-, Heirats- und Kampfverbote) für die Totemgenossen und begünstigt daher auch die Entstehung von Exogamie und Ehekartellen; vgl. hierzu bereits Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter, S. 12 f.
Je weniger straff die Phratrien entwickelt wurden oder je mehr sie verfielen, desto mehr trat die patriarchale Ehe in den Vordergrund, bei den Häuptlingen der Beduinen
e
A, B: und Bondamenden Zur Emendation vgl. Anm. 94.
94
Zur Entwicklung der „patriarchalen Ehe“ bei den „Hirten und Beduinen“ vgl. Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter, S. 46–51; vgl. auch Weber, Gemeinschaften, MWG I/22-1, S. 216 f.
als Polygynie mit oft ganz freiem Schalten des Hausherrn über alle Hausinsassen, die er beliebig entweder allein zu eigenem Nutzen oder, wo die Sippen stark blieben, unter Abgabe von Anteilen des Ertrages an die Sippengenossen durch Tauschgeschäfte verwertete. Schranken darin legte ihm zu[A 2][B 26]nächst die Sippe der Frau auf: angesehene Geschlechter verkauften ihre Töchter nicht als Arbeitstier und nicht zu freier Verfügung, sondern gaben sie nach auswärts nur gegen Sicherstellung ihrer Person und der Vorzugsstellung ihrer Kinder gegenüber den Kindern anderer Frauen und Sklavinnen. Dafür statteten sie die Tochter bei der Hin[350]gabe in die Ehe mit Mitgift aus: die legitime Hauptfrau und die legitimen Kinder, die rechtlichen Merkmale also der legitimen Ehe, waren entstanden. Die Mitgift und der schriftliche Kontrakt über die Dauerversorgung der Frau, ihr Witwengeld und ihre Verstoßungsgebühr sowie über die Rechtsstellung ihrer Kinder wurden nun Kennzeichen der vollwertigen Ehe im Gegensatz zu allen anderen Sexualverbindungen. Daneben aber entfaltete sich nun die sexuelle Vertragsfreiheit in den verschiedensten Formen und Graden. Dienstehe, Probeehe, Genußehe auf Zeit
95
[350] „Dienstehe“ („Bina-Ehe“) ist eine Form der Kaufehe, bei der der Brautpreis nicht aufgebracht werden kann und statt dessen durch dauernden oder zeitweiligen Dienst im Haus der Frau abgeleistet wird. Unter „Probeehe“ ist eine primär auf den Geschlechtsverkehr, nicht auf eine dauerhafte Lebensgemeinschaft gerichtete, vertraglose Eheform verstanden, deren Zweck geradezu in der „Erprobung“ der Fruchtbarkeit der Frau liegt. Die „Genußehe auf Zeit“ bezeichnet demgegenüber eine Geschlechtsbeziehung auf beiderseitige Kündigung, ist „eine legalisierte und in feste Formen gebrachte Spielart der Prostitution“ (Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter, S. 134). Marianne Weber beschreibt diese Eheformen als typisch v.a. für die altorientalischen und islamischen Kulturkreise (vgl. ebd., S. 23, 113 (Dienstehe), 104 f. (Probeehe), 133 f. (Genußehe auf Zeit)).
tauchen auf, und grade Mädchen aus vornehmen Familien suchten die Unterwerfung unter die patriarchale Mannesgewalt zu vermeiden und sich frei davon zu halten. Daneben existierten alle Formen der eigentlichen Prostitution, d. h. der Leistung erotischer Dienste gegen konkretes Entgelt
f
[350]A, B: Entgeld
im Gegensatz zu der ökonomischen Dauerversorgung, welche der Ehe spezifisch blieb. Die Prostitution, heterosexuelle wie homosexuelle, ist so alt wie die Möglichkeit[,] dafür Entgelt zu gewinnen. Es hat andererseits kaum irgendwo eine Gemeinschaft gegeben, in welcher dieser Erwerb nicht infamiert hätte. Die spezifisch ethische und politische Wertung der formgerechten Ehe um des militärisch und kultisch wichtigen Zweckes der legitimen Kindererzeugung willen hat diese Infamierung verstärkt, aber nicht erst geschaffen. Zwischen Ehe und Prostitution stand namentlich beim Adel der Konkubinat, die dauernde Sexualbeziehung zu Sklavinnen oder Nebenfrauen oder zu Hetären, Bajaderen und ähnlichen, in Freiheit von der Ehe lebenden Frauen, der groben oder sublimierten Ehe. Die Stellung der Kinder aus solchen Ehen war, soweit nicht das Monopolrecht der Kinder der Hauptfrau im Wege stand, meist dem Belieben des Vaters anheimgestellt. Engere [351][A 3][B 27]Schranken zog hier der monopolistische Bürgerverband, welcher die politisch-ökonomischen
g
[351] Bindestrich fehlt in A, B.
Bürgervorrechte für die Söhne von Bürgern und Bürgerinnen reservierte, wie dies in besonders starkem Maße die Demokratie der Antike durchführte. Dann die prophetische Religion aus Gründen, die früher besprochen sind.
96
[351] Siehe Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 404–410.
Im Gegensatz zu der sexuellen Vertragsfreiheit des antiken Ägypten, welche durch die politische Rechtlosigkeit der Untertanen bedingt war, verwarf das altrömische Recht [WuG1 428]alle Sexualkontrakte außer der Ehe und, für bestimmte Situationen, dem Konkubinat als causae turpes.
97
Anerkannte Eheformen waren im römischen Recht die Manusehe (Eintritt der Frau in das Haus und die Hausgewalt des Mannes) und die schon zur Zwölftafelzeit gültige Ehe ohne Manus (sog. freie Ehe) mit jeweils verschiedenen Folgen für die zivilrechtliche Stellung der Frau. Als gesetzliche Lebensgemeinschaft minderen Rechts sanktionierte die augusteische Gesetzgebung neben der Ehe – wegen der Eheverbote für Soldaten und Provinzialbeamte – nur den Konkubinat. Jeder andere Sexualkontrakt galt als „ehrlos“ oder „unsittlich“ (turpis, lat.: verächtlich) und zog eine Ehrenminderung nach sich; vgl. dazu: Sohm, Institutionen, S. 584–589, 208 f.; Wenger, Leopold, Das Recht der Griechen und Römer, in: Kohler, Josef und Wenger, Leopold, Allgemeine Rechtsgeschichte. 1. Hälfte: Orientalisches Recht und Recht der Griechen und Römer (Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hg. von Paul Hinneberg, Teil II, Abt. VII,1). – Leizig, Berlin: B. G. Teubner 1914, S. 154–302, hier S. 201 f.
Der Konkubinat als konzessionierte Ehe minderen
h
A, B: mindern
Rechts wurde im Okzident vom letzten Laterankonzil und dann von der Reformation endgiltig proskribiert.
98
Nachdem bereits das Konzil von Basel gegen den Konkubinat der Kleriker wie der Laien vorgegangen war (Dekret vom 22. Jan. 1435), bestätigten das V. Laterankonzil (5. Mai 1514) sowie eine päpstliche Bulle zwei Jahre später das Verbot. Erst auf dem Konzil von Trient wurde es allerdings festgeschrieben (Dekret vom 11. Nov. 1563; vgl. Richter, Ludwig Emil (Hg.), Canones et decreta concilii Tridentini (ex editione Romana a. MDCCCXXXIV repititi). – Leipzig: Bernhard Tauchnitz 1853, sessio XXIV, c. VIII, S. 219 f.). Die Reformationskirchen verpönten den Konkubinat, ausgehend vom protestantischen Eherecht, das insbesondere keinen Zölibat mehr kannte; vgl. dazu Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter, S. 187, 282.
Die freie Verfügung des Vaters über die Kinder ist zunächst wesentlich sakralrechtlich, dann aus militärischen und politischen, schließlich aus ethischen Gründen zunehmend eingeschränkt und schließlich ganz beseitigt worden.
Irgend eine Rückkehr zur sexuellen Vertragsfreiheit ist heute ferner gerückt als je. Die Masse der Frauen würde gegen die Freiheit des sexuellen Konkurrenzkampfes um den Mann, welcher[,] nach den ägyptischen Quellen zu schließen, die ökonomischen [352]Chancen der erotisch anziehendsten Frauen zu ungunsten anderer mächtig steigerte, protestieren, ebenso wie alle traditionell ethischen Mächte, vor allem die Kirche[,] sich dagegen auflehnen würden.
i
[352]A, B: Kirche würden sich dagegen auflehnen.
Innerhalb der legitimen Ehe kann freilich ein ähnlicher Zustand durch völlige Freiheit oder sehr starke Erleichterung der Scheidung in Verbindung mit ökonomisch sehr freier und gesicherter Stellung im Ehegüterrecht herbeigeführt werden, wie sie in verschiedener Abstufung das spätrömische,
1
[352] Zahlreiche Belegstellen aus dem Codex Justinianus für die relative (je nach Art der Ehe: confarreatio, coemptio, „freie Ehe“, verschieden geregelte) Scheidungsfreiheit und güterrechtliche Absicherung der Ehefrau gibt Sohm, Institutionen, S. 594 ff., bes. 597 (Ehegüterrecht); 597 ff., bes. 604 f. („dos“); 606 ff., bes. 608 f. (Ehescheidung).
islamische,
2
Vgl. dazu Goldziher, Die Religion des Islams, S. 98, sowie die von Weber, Agrarverhältnisse3, MWG I/6, S. 437, gezogene Parallele zum Islam. An dieser Stelle spricht Weber davon, daß die ägyptische Frau in der Spätzeit des Neuen Reiches volle sexuelle Vertragsfreiheit und Scheidungsfreiheit besessen habe, daß sie ihre wirtschaftliche und vermögensrechtliche Stellung umfassend kontraktlich habe sichern können.
jüdische
3
Die rechtliche und materielle Hebung des Status der Hauptfrau und der legitimen Kinder bahnt sich hier an in Bestimmungen des Deuteronomium über das Erstgeborenenrecht (Dtn 24, 15–17), die gesetzliche Ordnung der – materiell für den Mann willkürlichen – Scheidung (Dtn 24, 1) etc. Weber gibt hierzu einen kurzen Überblick in: Agrarverhältnisse3, MWG I/6, S. 451–453.
und das moderne amerikanische Recht,
j
A, B: des spätrömischen, islamischen, jüdischen und des modernen amerikanischen Rechts,
zeitweise auch die von der Vertragstheorie des rationalistischen Naturrechts und von populationistischen Erwägungen beeinflußten Gesetzgebungen des 18. Jahrhunderts kannten.
4
Weber stützt sich hier vermutlich auch auf Marianne Webers entwicklungsgeschichtliche und rechtsvergleichende Darstellung von Ehe, Eherecht und Ehegüterrecht, namentlich auf die Analyse dieser Rechtsmaterien im modernen amerikanischen Recht (vgl. Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter, S. 374), im Naturrecht (vgl. ebd., S. 296, 309 f.) und in den darauf beruhenden kontinentalen Gesetzgebungen des 18. und 19. Jahrhunderts (vgl. ebd., S. 325 ff., 336 f., 342 f., 351 f.).
Der Erfolg war sehr verschieden. Nur in Rom und Amerika hat der rechtlich freien Scheidung auch faktisch eine zeitweilig starke Ehescheidungsbewegung entsprochen. Die Stellung der Frauen dazu [A 4][B 28]ist charakteristisch verschieden. Wie die römischen haben auch die amerikanischen Frauen, diese
k
A, B: Frauen dieser
auf Grund ihrer feststehenden sozialen Machtstellung im Haus und in der Gesellschaft, sowohl die ökonomische wie die Scheidungsfreiheit direkt erstrebt. Umgekehrt perhorreszierte die Traditionsgebundenheit der Mehrzahl der italienischen Frauen noch vor weni[353]gen Jahren die Scheidungsfreiheit als Gefährdung ihrer ökonomischen Versorgung,
5
[353] So bereits Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter, S. 375.
namentlich für das Alter – etwa nach Art der brotlos werdenden älteren Arbeiter – und wohl auch aus Angst vor der Verschärfung des erotischen Konkurrenzkampfes um den Mann. Im übrigen pflegt bei Männern und Frauen die Vorliebe für die formale autoritäre Gebundenheit und namentlich für die formale Unauflösbarkeit
l
[353]A: Auflösbarkeit Korrektur in B (vermutlich) von fremder Hand.
der Ehe parallel zu gehen entweder mit libertinistischer Neigung der eigenen Sexualpraxis oder gerade umgekehrt, speziell bei Männern, mit einer aus Schwäche oder Opportunismus geduldeten zeitweisen Promiskuität.
m
A, B: harweisen Qualität.
Für die bürgerliche öffentliche Meinung ist meist die wirkliche oder vermeintliche Gefährdung der Erziehungschancen der Kinder maßgebend für die Ablehnung der Scheidungsfreiheit, daneben[,] speziell bei den Männern[,] autoritäre Instinkte und, soweit die ökonomische Befreiung der Frau in Frage steht, auch einfache Geschlechtseitelkeit oder Sorge um die in Anspruch genommene Position in der Familie. Dazu treten die autoritären Interessen der politischen und hierokratischen Gewalten, verstärkt durch die gerade infolge der Rationalisierung des Lebens in der Kontraktgesellschaft gesteigerte Vorstellung: daß die formale Geschlossenheit der Familie Quelle gewisser[,] meist ziemlich dunkel vorgestellter[,] irrationaler Werte oder ein Halt überindividueller
n
A: über individuelle Korrektur in B (vermutlich) von fremder Hand.
Gebundenheit des einzelnen[,] sich darnach sehnenden, schwachen Individuums sein könne. Aber
o
Gemeint ist wohl: Alle Vgl. WuG5, S. 414.
diese ziemlich heterogenen Motive haben im ganzen in der letzten Generation eine Rückwärtsrevidierung der Scheidungsfreiheit und teilweise auch der innerehelichen ökonomischen Freiheit herbeigeführt.
Tendenzen zur Beseitigung oder Begrenzung hat in der Neuzeit auch die Verfügungsfreiheit auf dem Gebiete der ökonomischen, nor[A 5][B 29]malerweise intrafamilialen Verfügungen: der Testamente, erfahren. Die formale Rechtsgeschichte der Entstehung letztwilliger Verfügungen soll hier nicht verfolgt werden. Nur zweimal
p
A, B: zwei mal
ist historisch gänzliche oder fast gänzliche materielle Testierfreiheit bezeugt: [354]für das republikanische Rom
6
[354] Eine absolute Testierfreiheit ist – nach der Überlieferung – bereits im Zwölftafelgesetz bestimmt, 12 Taf. 5,3: „Uti legassit super pecunia tutelave suae rei, ita ius esto.“ (Wie jemand hinsichtlich seines Geldes und der Vormundschaft über seine Sache letztwillig verfügt, so soll es rechtens sein.) Nach Mitteis’ einschränkender Deutung bezog sich die unbeschränkte Verfügungsfreiheit des Erblassers ursprünglich nur auf die „pecunia“, den Viehbestand, nicht dagegen auf die „familia“, d.i. das Haus (vgl. ders., Römisches Privatrecht, S. 81–83, 82, Anm. 24).
und für das englische Recht.
7
Ansätze zur Testierfreiheit finden sich bereits im angelsächsischen Recht. Während sie sich beim beweglichen Besitz – beschränkt nur durch Pflichtteilsrechte von Witwe und Kindern – erhielt und fortentwickelte, wurde sie auf dem Gebiet des Immobiliarbesitzes durch das normannische Lehnswesen zunächst verdrängt. Erst die Statutes of Wills des 16. und 17. Jahrhunderts (32 Hen. VIII. c. 1, 34–35, Hen. VIII c. 5 und 12, Car. II. c. 24) übertrugen die Testierfreiheit auch auf real property („Grund und Boden“). Die New Wills Act von 1837 (1 Vict. c. 26) schließlich statuierte die völlige Testierfreiheit ohne Einschränkungen durch ein Pflichtteilsrecht; vgl. dazu Heymann, Überblick, S. 340 f.; Pollock/Maitland, English Law II, S. 314–356.
In beiden Fällen also für stark expansive und zugleich von einer Schicht grundbesitzender Honoratioren regierte Völker. Ihr heutiges praktisches Hauptanwendungsgebiet ist das Gebiet [WuG1 429]optimaler ökonomischer Chancen: Amerika.
8
Grundlage der Testierfreiheit in den Vereinigten Staaten waren die englischen Statutes of Wills; vgl. oben, Anm. 7. Im Unterschied zur englischen New Wills Act von 1837 (völlige Testierfreiheit ohne Pflichtteilsschranken) sahen die einzelstaatlichen Gesetzgebungen in Amerika allerdings Beschränkungen der Testierfreiheit in Gestalt von Pflichtteilsrechten für legitime Kinder und überlebende Ehegatten vor; vgl. etwa Kent, James, Commentaries on American Law (ed. by Oliver Wendell Holmes, Jr.), Vol. IV, 12th ed. – Boston: Little, Brown and Co. 1873, S. 550 mit Anm. a).
In Rom wuchs die Testierfreiheit mit der kriegerischen Expansionspolitik, welche dem enterbten Nachwuchs die Chancen der Versorgung auf erobertem Land in Aussicht stellte und schwand durch die aus hellenischem Recht übernommene Inofficiositätspraxis, als die Kolonisationsepoche zu Ende ging.
9
Die Erhaltung des Familieneigentums war Hauptzweck des griechischen wie des römischen Erbrechts und ihr diente im republikanischen Rom vor allem auch die Testierfreiheit. Andererseits entwickelte sich auf dieser Grundlage ein zunächst nur formelles, im Zuge der Rechtsentwicklung aber schließlich auch materielles Noterbrecht der Nachkommen und Verwandten des Erblassers. Im ersten Fall mußten diese testamentarisch ausdrücklich eingesetzt bzw. enterbt (exheredatio) werden. Das materielle Noterbrecht sah dagegen vor, daß die im Testament übergangenen Nächstverwandten als (intestaterbrechtlich) Pflichtteilsberechtigte gegen das „pflichtwidrige Testament“ (testamentum inofficiosum) mit der querela inofficiosi testamenti vorgehen und auf diese Weise letzteres zu Fall bringen bzw. ihr Pflichtteil einfordern konnten; vgl. dazu statt aller Sohm, Institutionen, S. 702–711. – Zu diesem Zusammenhang vgl. bereits Weber, Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 158–160, S. 160, Webers Fn. 38, sowie ders., Agrarverhältnisse3, MWG I/6, S. 662–665.
Im englischen Recht bezweckte sie die Sicherung des [355]Vermögens in den großen Familien,
10
[355] Vgl. aber oben, S. 354, Anm. 7. Erst im 16. Jahrhundert waren Verfügungen von Todes wegen über Immobiliarbesitz wieder möglich und erst im 19. Jahrhundert setzte sich die unbeschränkte Testierfreiheit über real und personal property durch.
welcher in anderer Art auch die formal gerade entgegengesetzten Institute: Lehnerbfolge
q
[355]A, B: Einordnung Die Emendation folgt WuG5, S. 415; vgl. Anm. 11.
11
Die sachgerechte Lesung des hier unverständlichen Begriffs „Einordnung“ als „Lehnerbfolge“ orientiert sich an den gemeinten und z. B. von Gierke, Grundzüge (wie oben, S. 345, Anm. 85), S. 299–302, 245 f., 250–252, als „Sondererbfolge“ im Unterschied zu den Regeln der Universalsukzession behandelten Formen erbrechtlicher Besitzbindung. Lehnerbfolge, Fideikommisse und Anerbenrecht sind primär Rechtsinstitute zur politisch-militärisch, ständisch bzw. ökonomisch motivierten Bestandswahrung von (Geld- oder lmmobilien-)Vermögen.
in den Immobiliarbesitz, Anerbenrecht, Fideikommiß dienen konnten.
r
A, B: konnte.
Die Beseitigung oder die Einschränkung der Testierfreiheit durch hohe Pflichtteilsquoten sowohl wie die im französischen Code bis zum realen Teilungszwang sich steigernde Verhinderung der Anerbenfolge in Immobilien
12
Weber bezieht sich hier die auf die Bestimmungen der §§ 913, 915 Code Civil, die einen Vorbehalt der nächsten Verwandten (Erben) bei testamentarischen Vermögensverfügungen, aber auch bei vermögensrechtlichen Verfügungen unter Lebenden begründen; vgl. Handbuch des Französischen Civilrechts, begr. von Zachariä von Lingenthal, bearb. von Carl Crome, Band 4, 8., verm. und verb. Aufl. – Freiburg i. Br.: Ernst Mohr 1895, S. 305, 308 ff., 310.
war und ist in den modernen demokratischen Gesetzgebungen vorzugsweise politisch bedingt. Bei Napoleon stand neben der Absicht[,] durch den Teilungszwang die alte Aristokratie zu zertrümmern, die der
s
Fehlt in A, B; der sinngemäß ergänzt.
Errichtung von Lehen als Trägern der von ihm zu schaffenden neuen Aristokratie, und auf diese letztere Institution bezog sich seine bekannte Versicherung, daß die Einführung des Code die Art der sozialen Machtverteilung in die Hand der Regierung lege.
13
Weber bezieht sich auf eine Äußerung Napoleons, die sich in einem Brief vom 5. Juni 1806 an seinen Bruder Joseph, zu dieser Zeit König von Neapel, findet. Dort heißt es: „Au moyen de ces modifications, il faut établir le Code civil chez vous; il consolide votre puissance, puisque par lui tout ce qui n’est pas fidéicommis tombe, et qu’il ne reste plus de grandes maisons que celles que vous érigez en fiefs. C’est ce qui m’a fait prêcher un code civil et m’a porté à l’établir“ (Correspondance de Napoléon Ier, publieé par ordre de l’empereur Napoléon III, tome XII. – Paris: Imprimerie Imperiale 1862, S. 527–529, Zitat S. 529).
Die Unterdrückung der Sklaverei durch Ausschluß auch der freiwilligen Ergebung in formal sklavenartige Beziehungen war Produkt vor allem der Verschiebung des Schwerpunktes der ökonomi[356]schen Weltherrschaft in Gebiete hinein, in welchen die Sklavenarbeit infolge der Kostspieligkeit des Lebensunterhaltes unrentabel ist, und zugleich der Entwicklung des indirekten Arbeitszwanges, wie ihn [A 6][B 30]das Lohnsystem mit seiner drohenden Chance der Entlassung und Arbeitslosigkeit bietet[,] als eines für qualitative Arbeitsleistungen gegenüber dem direkten Zwang wirksameren und zugleich das große Risiko der Sklavenvermögen vermeidenden Mittels, Arbeit aus dem Abhängigen herauszupressen. Die religiösen Gemeinschaften, speziell das Christentum, hatten in der Antike an der Zurückdrängung der Sklaverei sehr geringen Anteil, geringeren als z. B. die Stoa,
14
[356] Die stoischen Kaiser Roms (bes. Antoninus Pius und Marc Aurel) setzten die Familie als Gesamtheit aller, die unter der patria potestas verbunden sind, unter rechtlichen Schutz und verschafften auf diese Weise auch der Sklavenehe Eingang in die Sozialverfassung – sichtbarer Ausdruck einer Hebung der wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Stellung des Sklaven.
im Mittelalter und in der Neuzeit einen etwas größeren, aber auch damals nicht den entscheidenden. Vielmehr schrumpfte die kapitalistische Sklaverei der Antike mit der Befriedung des Reiches nach außen, welche vorwiegend nur friedlichen Sklavenhandel als Quelle des Sklavenimports
t
[356]A, B: [Spatium] als Quelle des Sklaventransports Zur Emendation vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, MWG I/6, S. 716 f.
für den Westen offen ließ.
15
Zur Entwicklungsgeschichte der römischen kapitalistischen Sklavenwirtschaft vgl. bereits Weber, Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 312 ff., 318 f., 345–352, sowie ders., Agrarverhältnisse3, MWG I/6, S. 668 ff., S. 714–725; weiterhin Grünberg, Carl, „Sklaverei“, in: HdStW3, Band 7, 1911, S. 524–541, hier S. 533 f. (hinfort: Grünberg, Sklaverei).
Die kapitalistische Sklaverei der amerikanischen Südstaaten war zum Absterben verurteilt, nachdem der freie Boden zu Ende ging und die Schließung des Sklavenimports die Sklavenpreise monopolistisch steigerte. Die Vorwegnahme ihrer Beseitigung durch Bürgerkrieg wurde beschleunigt durch rein
u
A, B: reine
politische und soziale Gegnerschaften der Farmerdemokratie und bürgerlichen Plutokratie der Nordstaaten gegen die südliche Pflanzeraristokratie. In Europa führten rein ökonomische Evolutionen der Arbeitsorganisation,
v
A, B: Arbeitsorganisationen,
speziell der zünftigen Arbeit, dazu, daß die während des ganzen Mittelalters in Südeuropa nicht ganz verschwundene Sklaverei in das Gewerbe nicht eindrang.
16
Einen Sklavenmarkt gab es noch im frühen Mittelalter und Sklavenhandel wurde in den Binnengebieten Osteuropas wie den mittelländischen Seestädten (z. B. Genua) [357]auch darüber hinaus getrieben; vgl. z. B. Grünberg, Sklaverei (wie oben, S. 356, Anm. 15), S. 536. Mit der wachsenden sozialen Macht der Zünfte, der zünftigen Ordnung des Arbeitsverhältnisses und einem entsprechenden Arbeitsrecht war unfreie Arbeit allerdings zunehmend unvereinbar, weshalb sie – nach Weber, Agrarverhältnisse3, MWG I/6, S. 693–695 – gerade in den industriellen Binnenstädten, den eigentlichen Zunftstädten, verschwand.
Innerhalb [357]der Landwirtschaft hat die Entwicklung der Exportproduktion im Verlauf der Neuzeit noch einmal eine Verstärkung der persönlichen Unfreiheit der Arbeitskräfte des Gutsherrn erlebt, bis die Entwicklung der modernen Produktionstechnik die Unrentabilität der unfreien Arbeit auch hier endgültig machte. Maßgebend für die gänzliche Beseitigung der persönlichen Unfreiheit aber waren letztlich überall starke naturrechtliche ideologische Vorstellungen.
17
Den sklaverei-kritischen Standpunkt und Einfluß der Naturrechtsdoktrinen betonen etwa Knapp, Bauernbefreiung (wie oben, S. 344 f., Anm. 84), S. 545, 549, und Grünberg, Sklaverei (wie oben, S. 356, Anm. 15), S. 538.
Die patriarchale Sklaverei des Orients, des althistorischen und spezifischen Sitzes dieser in Ostasien und Indien relativ weit schwächer verbreiteten Institution[,] steht infolge der Unterbindung des afrikanischen [A 7][B 31]Sklavenhandels auf dem Aussterbeetat. Nachdem ihre meist im ägyptischen Altertum ebenso wie noch im Spätmittelalter hohe militärische Bedeutung durch die Kriegstechnik schon der Söldnerheere obsolet
a
[357]A, B: absonant Die Emendatiori folgt WuG5, S. 415.
geworden war, ist auch ihre von jeher nicht sehr große ökonomische Bedeutung in rapidem Rückgange. Eine solche Rolle wie die Plantagensklaverei im karthagischen und im spätrepublikanischen römischen Gutsbetrieb hat sie im Orient niemals gespielt.
18
Zu der unterschiedlichen wirtschaftlichen Bedeutung der römisch-karthagischen Plantagensklaverei im Vergleich zur orientalischen patriarchalen Sklaverei vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, MWG I/6, S. 390–393, 664 f., passim.
Sie ist hier wie ebenso im hellenischen und hellenistischen Gebiet teils Haussklaverei gewesen, [WuG1 430]teils stellte sie[,] in Babylonien und Persien ebenso wie in Athen, eine Form zinstragender Vermögensanlage in gewerblichen Arbeitern dar. Im Orient ganz ebenso wie noch jetzt in Innerafrika kam diese patriarchale Sklaverei einem freien Arbeitsverhältnis oft weit näher als die Rechtsform vermuten ließ. Daß der Ankauf eines Sklaven auf dem Markt ohne dessen Zustimmung zur Person des Herrn zu den Ausnahmen gehörte und daß starke Unzufriedenheit des Sklaven mit dem Herrn regelmäßig den Wiederverkauf durch diesen herbei[358]führte, war, wie Snouck Hurgronje
b
[358]A, B: Snouch H. Hurgronaje
in Mekka beobachtete,
19
[358] Weber bezieht sich auf Snouck Hurgronje, Mekka, S. 17.
eine Folge der starken Abhängigkeit des Herrn von der Gutwilligkeit gerade der Haussklaven[,] ist allerdings wohl auch im Orient schwerlich allgemein gültig. Allein in Innerafrika weiß der Sklave noch heute den Herrn, mit welchem er unzufrieden ist, zur noxae datio an einen anderen, den er vorzieht, zu zwingen.
20
Diese Art des provozierten Herrenwechsels durch absichtlich schädigendes Verhalten des Sklaven und – infolge Noxalhaftung des Herrn – seine anschließende Übergabe an den Geschädigten veranschaulichen etwa die von Werner Munzinger, Ostafrikanische Studien. – Schaffhausen: Fr. Hurter 1864, S. 207, 238 f., 312 f., 484, beschriebenen Stammestraditionen.
Auch das ist gewiß nichts Allgemeingültiges.
c
A, B: allgemein giltiges.
Aber die Natur der orientalischen theokratischen oder patrimonialen Herrschaft, ihre Neigung zur ethischen Ausgestaltung der patriarchalen Seite aller Abhängigkeitsverhältnisse[,] hat
d
A, B: haben
wenigstens im Orient eine so starke konventionelle Sicherung des Sklaven gegen den Herrn
e
A, B: Herren
geschaffen, daß dessen freie Ausbeutung nach Art der spätrömischen Sklaverei faktisch ausgeschlossen ist. Schon im jüdischen Recht der Antike finden wir die Ansätze dazu, und gerade der Umstand, daß die alte Personalexekution
f
A, B: alten Personalexekutionen
und Schuldknechtschaft die Chancen der Versklavung auch über den eigenen Volksgenossen verhängten, bildete den entscheidenden Antrieb für dies Verhalten.
21
Zu denken ist hier vor allem an das dekalogische Gebot der Sabbatruhe, das die Sklaven einschließt. Regelungen und Motive des Dekalogs zeigten – wie Weber, Agrarverhältnisse3, MWG I/6, S. 442, bemerkt –, „daß der Schutz der Gemeinfreien gegen die Folgen der Besitz- und Machtdifferenzierung jedenfalls ein sehr stark hervortretendes Leitmotiv der Gesetzgebung ist.“ Insbesondere gelte es überall, die Härten des überkommenen Schuldrechts für die Volksgenossen abzumildern.
[A 7][B 32]Endlich haben gewisse Schranken der Vertragsfreiheit ihren Grund in sozialen und ökonomischen Interessen maßgebender[,] grade „bürgerlicher“ Schichten. So der Ausschluß aller feudalen und aller überhaupt eine
g
Fehlt in A. Es folgt der Satzanschluß an den Typoskripttext, oben, S. 348, textkritische Anm. s.
dauernde Belastung eines Grundstücks zu Gunsten eines Privatmanns zulassenden Institutionen im republikanischen
h
B: spätrepublikanischen > republikanischen Fehlt in A.
römischen Recht
22
Dies hat Max Weber näher ausgeführt in: Agrarverhältnisse3, MWG I/6, S. 644–646, 657–659, 686.
ebenso wie, seit den preußischen [359]Ablösungsgesetzen, in Preußen:
23
[359] Vgl. oben, S. 344 f. mit Anm. 84.
in beiden Fällen wirkten
i
[359]A: Preußen, in beiden Fällen durch
bürgerliche Klasseninteressen und mit diesen assoziierte ökonomische Vorstellungen.
j
A: Vorstellungen beeinflußt. Oder endlich sie entspringen der aus den verschiedensten Gründen heraus möglichen Abneigung, rein private Vereinbarungen durch Rechtsgarantie zu schützen, deren Konsequenz über die Person der direkt Beteiligten hinausreichen.
Denn die römische Gesetzgebung, welche in republikanischer Zeit Erbpacht nur als „ager vectigalis“ auf Land von öffentlichen Körperschaften kennt, war ebenso wie die heutige thatsächliche Beschränkung der „Rentengüter“ auf staatliche oder staatlich privilegierte Colonisation in Deutschland Produkt des Interesses der bürgerlichen Bodeninteressenten an der rechtlichen Mobilisierung des Bodens und dem Ausschluß des Entstehens grundherrschaftsartiger Gebundenheit
l
In B folgt: 〈zu Gunsten ständischer Schichten und privilegierter〉
.
k
Fehlt in A.
24
Ausführlicher hat Weber dies gerade auch mit vergleichender Perspektive auf die preußischen Verhältnisse bereits dargelegt in: Römische Agrargeschichte, MWG I/2, bes. S. 190 f., S. 191 mit Webers Fn. 92.
Wie das römische, so erreicht auch das heutige rationalisierte Recht die aus dem Miteinanderwirken all dieser Motive sich ergebende Art der Reglementierung der Vertragsfreiheit
m
A: nun auch das heutige Recht diesen die Vertragsfreiheit einschränkenden Effekt
technisch in der Regel nicht dadurch, daß es Vereinbarungen der von ihm perhorreszierten
n
A: betreffenden ; B: von ihm abgelehnten > von ihm perhorreszierten
Art durch besondere Verbotsgesetze entgegentritt, sondern einfach[,] indem es keine Vertragsschemata (in Rom:
o
A: und in Rom
keine Klageschemata) für sie zur Verfügung stellt und indem es
p
Fehlt in A.
die in ihren Rechtsfolgen von ihm
q
A: schematisch
normierten Tatbestände so gestaltet, daß diese Normen mit Vertragsabreden der vom Recht nicht gebilligten Art logisch unvereinbar sind. Die technische Form andrerseits, in welcher Ermächtigungen zu solchen rechtlichen Verfügungen,
r
A: die Art dieser Normierung mit Vertragsabreden der gedachten, vom Recht nicht gebilligten Art unvereinbar ist. Denn die in Rom ebenso wie heute übliche technische Form, in welcher Ermächtigungen zu bestimmten Arten von rechtlichen Verfügungen, insbesondere zu solchen,
welche, wie etwa die Gründung einer Aktiengesellschaft, die Interessen Dritter sonderrechtsmäßig
s
Fehlt in A.
berühren, gegeben werden, ist die Aufstellung entsprechender Vertragsschemata, deren Normen jede Vereinbarung von Interessenten als zwingend
t
Fehlt in A.
[360]zugrunde legen muß, um rechtswirksam
b
B: „gültig“ > rechtswirksam
zu sein, und das heißt in diesem Fall: um vom Rechtszwang auch jedem Dritten gegenüber
a
[360]A: gültig zu sein und vom Recht
garantiert zu werden:
c
A: werden. In A folgt: Man kann die Vereinbarungen, welche innerhalb bestimmter Schranken auch Unbeteiligte binden – immer mit dem Vorbehalt, daß dies in irgend einem Sinn bei fast jedem Rechtsgeschäft zutrifft –, gewillkürtes Recht im Gegensatz zum gemei nen Recht nennen. Gewillkürtes Recht zu schaffen kann eine Angelegenheit monopo listischer Einungen sein. Daß derart gewillkürtes Recht dem gemeinen Recht vorgeht, – Willkür das Landrecht bricht – ist Charakteristikum einer bestimmten ständisch ge gliederten Sozialordnung, und die wichtigsten Träger gewillkürten Rechtes sind Einun gen unter ständisch Gleichgestellten. Es ist ein Zustand, in welchem das Monopol der politischen Gemeinschaft, Recht zu schaffen, oder doch die Schaffung gewillkürten Rechtes zu erlauben, sich noch nicht durchgesetzt hat, die In B zunächst überarbeitet, dann gesamte Passage gestrichen: 〈Man kann die Vereinbarungen, welche wenn „gültig“ eingegangen, kraft einer vom sonst geltenden Recht abweichenden Sondernorm auch Unbeteiligte binden […]〉
Denn im Verhältnis unter den Vereinbarenden selbst kann sie, wenn nicht andre Gründe ihre Gültigkeit ausschließen, Rechtswirkungen enthalten, auch wo sie Dritte nicht bindet[.] Diese moderne Form, den Interessenten zu überlassen, durch Benutzung bestimmter Schemata von Vereinbarungen und Erfüllung der vom Recht geforderten sachlichen Voraussetzungen sich mit Wirkung gegen Dritte die Vorteile eines Sonderrechtsinstituts zu verschaffen, weicht nun von der Art, wie die Vergangenheit Sonderrecht gegenüber den allgemeinen Rechtsregeln zuließ, erheblich [WuG1 431]ab und ist Produkt der Vereinheitlichung und Rationalisierung des Rechts in Verbindung mit der offiziellen Monopolisierung der Rechtsschöpfung durch die modernen[,] anstaltsmäßig organisierten politischen Verbände. Sonderrecht entstand in der Vergangenheit normalerweise in der Form „gewillkürten“ Rechts[,] d. h. durch Tradition oder
e
B: durch 〈Satzung oder〉 Tradition 〈(Einverständnis)〉 oder
vereinbarte Satzung „ständischer“ Einverständnisgemeinschaften oder vergesellschafteter „Einungen“
f
B: Vergesellschaftungen (Stände oder Einungen) > vergesellschafteter „Einungen“
:
25
[360] Weber entlehnt den Begriff der „Einung“ offenbar Gierkes Konzept der „freien Einungen“, die als „gewillkürte“ bzw. „gekorene Genossenschaften“ von Abstammungs- oder Verwandtschafts-Verbänden abgegrenzt werden (vgl. Gierke, Otto, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Band 1: Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft. – Berlin: Weidmann 1868, S. 9, 221).
in autonom gesatzten Ordnungen. Daß
g
In B folgt: Daß
„Willkür“ (gewillkürtes partikuläres Recht im eben erwähnten Sinn) das „Landrecht“ (das gemeine, sonst gültige
h
B: gemeinen, sonst gültigen
Recht) „bricht“ (ihm vorgeht), war [361]ein fast universell geltender Grundsatz und gilt bis heute in fast allen außeroccidentalen
i
[361]B: asiatischen > außeroccidentalen
Rechtsgebieten und in Europa z. B. teilweise noch für die russische Bauernschaft.
26
[361] Varianten des Rechtssprichwortes finden sich bei Graf, Eduard/Dietherr, Mathias (Hg.), Deutsche Rechtssprichwörter, 2. Ausg. – Nördlingen: C. H. Beck 1869, S. 24 f. – Für Rußland bezieht sich Weber vermutlich auf die Rechtsprechung der Gemeindegerichte, deren autonome Streiterledigung nach tradierten Rechtsgewohnheiten von der staatlichen Gesetzgebung ausdrücklich anerkannt wurde; zu diesem „Sonderrechtskreis“ vgl. auch Ehrlich, Grundlegung, S. 113.
Die politische Anstalt
j
B: Gewalt > Anstalt
hat freilich fast überall den Anspruch erhoben und meist durchgesetzt, daß diese Sonderrechte nur kraft ihrer Zulassung in Geltung bleiben und also auch nur soweit[,] als sie es erlaubt. Ganz ebenso wie sie die „Gemeinde“ zu einem von der politischen Anstalt mit
k
B: politischen 〈Gewalt nur〉 Anstalt 〈nur〉 mit
bestimmten Vollmachten ausgestatteten heteronomen Verband gestempelt hat. Allein dies war in beiden Fällen nicht der ursprüngliche Zustand. Die
d
Fehlt in A.
Summe alles
l
A, B: aller
innerhalb eines gegebenen Gebiets oder Personenkreises geltenden Rechts war
m
Fehlt in A.
vielmehr in großen Bestandteilen durch autonome
n
A: durch
Usurpationen verschiedener gegeneinander selbständiger Einverständnis-Gemeinschaften oder vergesellschafteter Einungen
o
A: autonomer Gemeinschaften
geschaffen und [A 8][B 33]fortgebildet,
p
A: fortgebildet wird,
zwischen denen der stets erneut erforderliche Ausgleich entweder
q
Fehlt in A.
durch gegenseitige Kompromisse geschaffen oder durch die Macht überragender politischer oder kirchlicher
r
A: überragende politische oder kirchliche
Gewalten oktroyiert wurde.
s
A: wird.
Wir kehren
t
t–t (bis S. 367: alten Standesprivilegien.) Fehlt in A.
damit zu Erscheinungen
u
B: Betrachtungen > Erscheinungen
zurück, welche in andrem Zusammenhang schon zu Beginn dieses Paragraphen
a
B: Kapitels > Paragraphen
erörtert wurden[.]
27
Siehe oben, S. 315–318, über die durch „Statuskontrakte“ konstitutierten (Rechts-)Gemeinschaften.
Jede
b
In B geht die Satzanweisung Max Webers voraus: Absatz
Einverständnisgemeinschaft oder Vergesellschaftung, welche Trägerin von Sonderordnungen war und hier fortan dieser ihrer Qualität nach
c
Fehlt in B; nach sinngemäß ergänzt,
„Rechtsgemeinschaft“ heißen möge, war in der Epoche vor dem Siege des Zweckkontrakts, der Vertragsfreiheit im heutigen Sinn[,] und des Anstaltscharakters des politischen Verbandes entweder eine
d
Fehlt in B; eine sinngemäß ergänzt.
durch objektive Thatbestände: Geburt, politi[362]sche, ethnische, rehgiöse Zugehörigkeit, Lebensführung oder Art des Erwerbs[,]
e
[362] In B folgt: ruhende
oder durch ausdrückliche Verbrüderung entstandene Personengruppe. Der urwüchsige Zustand, sahen wir schon oben,
28
[362] Siehe oben, S. 314 f., 327 und S. 283.
war der: daß ein „Rechtsgang“,
29
Der in der rechtsgeschichtlichen Literatur gegenüber dem „Prozeß“ i.e.S. verwendete weitläufigere Begriff des „Rechtsgangs“ trägt dem Umstand Rechnung, daß in frühen Rechten das Verfahren primär auf außergerichtlichen Parteienvereinbarungen beruht, also außerhalb des „Prozesses“ stattfindet.
entsprechend unsrem „Prozeß“, überhaupt nur in Gestalt eines Sühneverfahrens zwischen verschiednen Verbänden (Sippen) und ihren Zugehörigen stattfand. Innerhalb der Verbände, zwischen den Verbandsgenossen, herrschte patriarchale Streitschlichtung. Der Dualismus des Rechts der Verbände – vom Standpunkt der erstarkenden politischen Gewalt aus gesprochen[:]
f
B: gesprochen –
ihres „autonom“ geschaffenen Rechts und der für die Streitschlichtung zwischen Verbandsgenossen geltenden Normen –
g
B: Normen
steht also am Anfang aller Rechtsgeschichte. Aber auch bereits derjenige Umstand, der diesen scheinbar einfachen Sachverhalt trübte: der Einzelne gehört schon auf den frühesten uns zugänglichen Entwicklungsstufen oft mehreren Personalverbänden an, nicht nur einem.
h
In B folgt: 〈Und diese können kollidieren.〉
Allein trotzdem war die Unterstellung unter das Sonderrecht eine zunächst streng persönliche Qualität, ein durch Usurpation oder Verleihung erworbenes „Privileg“ und also ein Monopol ihrer Teilhaber, welche durch den Anspruch auf seine Anwendung „Rechtsgenossen“ wurden. Dem entsprechend war in politisch durch gemeinsame Herrengewalt zusammengefügten
i
B: geeinten > durch gemeinsame Herrengewalt zusammengefügten
Verbänden, wie dem Perserreich, dem Römerreich, dem Frankenreich, den islamischen Reichen, das von den Rechtsfindungs-Instanzen der einheitlichen politischen Gewalt anzuwendende Recht ein je nach dem
j
In B folgt: 〈„Personenstand“〉
ethnischen oder religiösen oder dem unterworfenen politischen Teilverband
k
B: Verband > Teilverband
(rechtlich als prekär autonomer Stadt- oder Stammesverband
l
B: Stadt- oder Stamm
) verschiednes. Auch das römische Recht war im Römerreich zunächst ein Recht der römischen Bürger und im Verkehr mit den zum Reich gehörigen, ihm unterworfenen Nichtbürgern kommt es teils nicht
m
B: teils gar nicht, teils nur bedingt > teils nicht
zur [363]Anwendung.
30
[363] Dem liegt die Unterscheidung von ius civile, i.e.S. als ius proprium civium Romanorum, und ius gentium zugrunde.
Die nichtmoslemischen Unterworfenen der islamischen Reiche und ebenso die Angehörigen der vier orthodoxen [WuG1 432]Rechtsschulen leben nach ihren eignen Rechten
31
Gemeint sind die hanafitische, malikitische, schafitische sowie die hanbalitische Rechtsschule, die alle im 8. und 9. Jahrhundert n. Chr. entstanden, in verschiedener Art das islamische Recht auslegten bzw. durch Auslegung fortbildeten und für ihre Angehörigen eine „Rechtsgemeinschaft“ bilden; vgl. unten, S. 438 f. und S. 528 f.
– wenn allerdings sie nicht ihre eignen Instanzen, sondern den islamischen Richter anrufen[,] entscheidet dieser nach islamischem Recht, da er kein andres zu kennen verpflichtet ist: die Nichtmuselmanen sind eben bloße „Unterthanen“. Die Angehörigen des mittelalterlichen Imperium dagegen hatten den positiven Anspruch[,] nach dem Recht des Stammes überall beurteilt zu werden, nach dem zu leben sie „bekennen“ (profiteri)[.]
32
In den Gebieten gemischter Bevölkerung, nach der fränkischen Eroberung besonders in Italien, wo neben römischer und langobardischer Bevölkerung nun auch Alamannen, Baiern, Franken ansässig wurden, bürgerte sich für rechtsgeschäftliche und prozessuale Handlungen das Erfordernis einer formellen Erklärung über das durch Geburt bestimmte Personalrecht ein. In den Quellen findet sich dafür der Ausdruck „profiteri“ (öffentlich erklären, bekennen), in der rechtsgeschichtlichen Literatur die sprachliche Ableitung „professio iuris“; vgl. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 272; Schröder, Lehrbuch, S. 228 f.
Der Einzelne trägt diese Rechtskonfession mit sich herum. Das Recht ist nicht eine „lex terrae“ – wie sie das englische Recht der Königsgerichte alsbald nach der normannischen Eroberung wurde –[,] sondern ein Privileg eines Personenverbandes. In absoluter Consequenz galt freilich dieser Grundsatz der Rechtspersonalität damals ebensowenig wie heut der entgegengesetzte.
n
[363]B: entgegengesetzte. 〈, wohl aber dem Schwerpunkt nach.〉
Denn für den Streit zwischen den verschiedenen Personalrechtszugehörigen
o
B: Stammeszugehörigen > Personalrechtszugehörigen
mußten sich bei jeder Art von Regelung dieses Falles Unzuträglichkeiten und das Bedürfnis gewisser gemeinsamer Rechtsgrundsätze herausstellen, welches mit steigender Verkehrsintensität schnell stieg. Entweder entsteht dann wie in Rom ein „jus gentium“ unter dem nur den Verbandsgenossen zugänglichen „jus civile“ jedes einzelnen Verbandes.
33
In einem Zeitraum von Jahrhunderten entstand durch prätorisches Edikt, Rechtswissenschaft und Kaisergesetzgebung das zunächst nur den Verkehr zwischen Bürgern und Fremden bzw. zwischen den letzteren untereinander regelnde „ius gentium“. [364]Dieses Recht zeichnete sich gegenüber dem nur römischen Bürgern zugänglichen, streng formalen „ius civile“ durch freiere, am Maßstab der Billigkeit orientierte Formen aus. Indem es das praktisch brauchbare materielle Recht des ius civile absorbierte, dessen Formalismus aber beseitigte, bildete es den Kern des späteren römischen Weltrechts.
[364]Oder der politische oder hierokratische Herrscher oktroyiert ein seine Gerichte allein bindendes „Amtsrecht“
34
„Amtsrecht“ ist der von Sohm, Gerichtsverfassung (wie oben, S. 288, Anm. 37), S. 102 f., geprägte Begriff zur Bezeichnung eines in fränkischer Zeit neben und gegen das alte Volksrecht tretenden selbständigen Rechtssystems kraft königlicher Banngewalt.
kraft seines imperium (wie in England)[.] Oder ein neuer, meist ein lokaler, politischer Verband verschmilzt die Personalrechte mit einander inhaltlich. Die ältesten italienischen Stadtrechte wissen zwar noch gut, daß die Bürger nach langobardischem Recht zu leben erklärt haben[,]
35
Das sog. Edictum Langobardorum des Königs Rothari aus dem 7. Jahrhundert und die ergänzenden fränkischen Spezialgesetze („Capitulare Langobardorum“) wurden von der Rechtsschule in Pavia im 11. Jahrhundert in einem Rechtsbuch, dem „Liber legis langobardorum“, zusammengestellt. Durch die systematische Einteilung des bisher chronologisch angeordneten Rechtsstoffes entstand noch vor Beginn des 12. Jahrhunderts die sog. Lombarde, die den Grundstock des in die italienischen Stadtrechte einfließenden langobardischen Rechts enthielt; vgl. dazu u. a. Sohm, Rudolph, Fränkisches und römisches Recht. Prolegomena zur deutschen Rechtsgeschichte, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Band 1, 1880, S. 1–84, hier S. 19–21, 74 (hinfort: Sohm, Recht); Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 387–391.
aber, in charakteristischer Abweichung von den älteren Rechtsgedanken, ist es die „civitas“, die Gesammtheit der Bürger, welche dies Recht und in sachlicher Ergänzung desselben römisches Recht (oder umgekehrt) als „Confession“ angenommen hat.
36
Die Stadtgemeinde (ital. „Commune“) – und nach ihrem Vorbild Gilde und Zunft – war eine Eidgenossenschaft (zunächst der freien Kaufleute und der höheren gewerbetreibenden Schichten oft in Verbindung mit dem städtischen Adel), deren Mitglieder periodisch den Eid leisteten auf die in allgemeiner Versammlung vorgetragenen Statuten (Stadt-, Innungs-, Zunft-, Gildestatuten). Den konstitutiven Charakter der im 12. Jahrhundert aufkommenden italienischen Stadtrechte faßt Karl von Hegel in die Feststellung, daß sie „ebenso wie das Commune die gesonderten Stände zu einem Ganzen vereinigte, die besondern persönlichen Rechte zu einem gemeinsamen Statutarrecht aller Einwohner des Orts und seines Gebiets zusammenbrachten“ (Hegel, Karl von, Geschichte der Städteverfassung von Italien seit der Zeit der römischen Herrschaft bis zum Ausgang des 12. Jahrhunderts, Band 2. – Leipzig: B. G. Teubner 1847, S. 221).
Andererseits erstrebten alle gewillkürten Einungen für die von ihnen gesatzten Rechte immer wieder die Anwendung des Personalitäts-Prinzips, freilich mit sehr verschiednem Erfolg. Jedenfalls aber war das Ergebnis die Existenz zahlreicher „Rechtsgemeinschaften“, deren Autonomien sich kreuzten und von denen [365]der politische Verband – sofern er sich überhaupt schon als Einheit darstellte – nur eine war. Wenn nun die Rechtsgenossen eines Sonderrechts kraft dieser Qualität bestimmte Objekte, z. B. Grundstücke bestimmter Art (Hofleihegüter, Lehen)
37
[365] Gemeint sind zu Hofrecht („Hofleihegut“) bzw. zu Lehnsrecht („Lehen“) vergebene Grundstücke. Das Hofleihegut stand ursprünglich in wirtschaftlicher Abhängigkeit zu einem Gutshof (Fronhof) und hing mit unterschiedlich ausgeprägter persönlicher Unfreiheit des beliehenen Bauern zusammen. Es begründete gegen Zinspflicht und Arbeitsdienste ein zunächst zeitlich befristetes (erst später tendenziell erbliches) Besitz-, Nutzungs- und bedingtes Veräußerungsrecht. Das Lehen setzte (zumindest beim sog. echten Lehen) die ständische Qualifikation des Lehnsmanns (vassallus) voraus. Die Lehensinvestitur verschaffte diesem gegen Erfüllung ritterlicher Dienst- und Treupflichten ein ursprünglich unvererbliches und unveräußerliches dingliches (Besitz-)Recht; vgl. hierzu z. B. Gierke, Grundzüge (wie oben, S. 345, Anm. 85), S. 242–247.
monopolisierten, so konnte sich, wenn die persönliche Geschlossenheit der Gemeinschaft nach außen unter der Einwirkung der uns bekannten Interessen
38
Gemeint sind die auf Rechtsvereinheitlichung, Beseitigung von Partikularrechten und Monopolisierung der Rechtspflege abzielenden politischen ebenso wie die monopolfeindlichen bürgerlich-ökonomischen Interessen, deren allgemeine Bedeutung für die Rechtsentwicklung Weber wiederholt hervorhebt; vgl. z. B. oben, S. 358 f., sowie Weber, Gemeinschaften, MWG I/22-1, S. 196–198; in ihrer ständefeindlichen „Wahlverwandtschaft“ bes. unten, S. 566–569.
aufgegeben wurde und vor Allem mit Vermehrung der Verbände, dem ein Einzelner zugleich angehörte[,] das Sonderrecht derart an den Besitz dieser Objekte heften, daß nun umgekehrt etwa die Thatsache dieses Besitzes für die Teilhaberschaft am Sonderrecht entscheidend wurde. Es war dies freilich bereits eine Übergangsstufe zur heutigen formal allgemeinen Zugänglichkeit der einem Sonderrecht unterliegenden Beziehungen. Immerhin aber nur die Übergangsstufe dazu. Denn alles Sonderrecht jener älteren Art
p
[365]B: kraft Privileg > jener älteren Art
galt als eine rechtlich privilegierende Dauerqualität entweder gewisser, einem Personenverband zugehöriger Personen direkt als solcher oder bestimmter Objekte, deren Besitz diese Zugehörigkeit vermittelt. Gewisse rein technische oder ökonomische Qualitäten von Dingen oder Personen geben auch im heutigen Rechte zu Sonderbestimmungen Anlaß: z. B. für „Fabriken“ etwa oder für „landwirtschaftliche Grundstücke“ oder für „Anwälte“,
q
In B folgt: 〈„Handwerker“〉
„Apotheker“, „Gewerbetreibende“ bestimmter Art. Natürlich finden sich in
r
Fehlt in B; in sinngemäß ergänzt.
jedem Recht aller Zeiten auch solche an tech[366]nische und ökonomische Thatbestände geknüpfte Sondernormen. Aber die hier gemeinten Sonderrechte waren anderen Charakters[.] Nicht ökonomische oder technische, sondern „ständische“, d. h. durch Geburt oder Lebensführung oder Zugehörigkeit zu einem Verband bestimmte Qualitäten von Personen („Adlige“ oder „ritterlich Lebende“ oder „Gildegenossen“) und durch
t
Fehlt in B; durch sinngemäß ergänzt.
bestimmte soziale Beziehungen
s
[366]B: historisch durch soziale Funktionen > bestimmte soziale Beziehungen
von Sachen („Dienstlehen“, „Rittergut“) definierte – und zwar durch die Art ihrer Definition indirekt ebenfalls durch bestimmte ständische Verhältnisse bedingte – Qualitäten dieser
a
B: dieser, Zu ergänzen wäre: Sachen
waren es, welche die Geltung dieser Art von Sonderrecht für sie begründeten. Stets [WuG1 433]waren es daher individuelle Qualitäten von Personen und Beziehungen individueller Sachen, welche sich in dieser rechtlichen Sonderstellung befanden. Das „Privileg“ konnte dabei im Grenzfall auch ein solches einer einzelnen Person oder Sache sein und war es oft genug. In diesem Fall aber fielen
b
In B folgt: 〈– ein wichtiges Charakteristikum alles älteren Rechts – der Unterschied〉
„subjektive“ Rechte und „objektive“ Normen praktisch in Eins: der individuell Privilegierte kann als sein subjektives Recht die Behandlung nach der ihm zuständigen objektiven Bestimmung verlangen. Aber auch wo ein bestimmter ständischer Personenkreis oder ein Kreis von ständisch bedeutsamen Sachen Träger des Sonderrechts war, ging die übliche Auffassung des Rechts ganz naturgemäß dahin: daß für die Beteiligten die Anwendung der Sonderrechtsnormen persönliches subjektives Recht der Interessenten sei. Der Gedanke generell „geltender“
c
B: genereller > generell „geltender“
Normen fehlt zwar nicht, aber er bleibt unvermeidlich unentwickelt: alles „Recht“ erscheint als „Privileg“ von einzelnen Personen oder Sachen oder individuellen Complexen solcher. Zu dieser Auffassung nun stellte sich der Rechtsbegriff der staatlichen
d
B: politischen > modernen > staatlichen
„Anstalt“
39
[366] Zum juristischen Anstaltsbegriff vgl. unten, S. 383 f., zur Rechtsgeschichte der Anstalt vgl. unten, S. 397 ff.
als solcher in grundsätzlichen Gegensatz. Teilweise – namentlich in der ersten Zeit der aufkommenden „bürgerlichen“
e
In B folgt: 〈Gesellschaft in England und Frankreich〉
Schichten im antiken Rom
f
B: Rom,
und in der modernen Welt [–] in so schroffen Gegensatz, daß die Möglichkeit von „Privileg“-Recht völlig negiert wurde. Privilegien durch [367]Volksschluß zu schaffen[,] galt in Rom als rechtlich
N
MWG: recht-lich Druckfehler in MWG digital korrigiert.
unmöglich,
40
[367] Weber bezieht sich auf den Zwölftafelsatz 12 Taf. 9,1: „Privilegia ne inroganto […]“, wonach in der Volksversammlung beschlossene Verfügungen, die nur Einzelne betreffen, als rechtswidrig zu gelten haben; Wortlaut bei Bruns, Fontes, S. 33. Über die gegen die Rezeption des hellenischen Ostrakismus gerichtete Motivierung dieses Zwölftafelsatzes vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, MWG I/6, S. 499 f.
und die Revolutionszeit des 18. Jahrhunderts sah eine Gesetzgebung, welche jegliche Vereinsautonomie und alle Rechtspartikularitäten zu vernichten sich anschickte. Das gelang nicht vollständig, und wir werden später sehen,
41
Siehe unten, S. 615–617.
daß und wie das moderne Recht sogar eine Fülle von Rechtspartikularitäten neu geschaffen hat. Aber freilich auf einer in wichtigen Punkten andren Basis als diejenige der alten Standesprivilegien.
g
[367] In B folgt die Satzanweisung Max Webers: Absatz und zur Markierung des Textanschlusses im Typoskript: Die zuneh-
t
t(ab S. 361: Wir kehren)t Fehlt in A.
Die
h
A: Die Sprengung der ständischen Sozialordnung, die fortschreitende Nivellierung und
zunehmende Einordnung aller einzelnen Personen und Thatbestände in eine heute wenigstens prinzipiell auf formaler „Rechtsgleichheit“ beruhende Anstalt
i
A: in eine auf formaler Rechtsgleichheit beruhende Gemeinschaft,
ist das Werk der beiden großen rationalisierenden Mächte: der Markterweiterung einerseits, der Bürokratisierung des Organhandelns der Einverständnisgemeinschaften
j
Fehlt in A; B: des Einverständnishandelns > des Organhandelns der Einverständnisgemeinschaften
andererseits. Sie ersetzen jene auf Eigenmacht oder verliehenem Privileg von monopolistisch abgegrenzten Personenverbänden ruhende[,] durchweg individuelle
k
A: ersetzt jene auf der Eigenmacht monopolistisch abgegrenzter Personenverbände ruhende Art der durchweg individuellen
Entstehung gewillkürten Rechts
l
B: Rechts:
– die Autonomie der dem Schwerpunkt nach ständischen Einungen – durch zweierlei: einerseits
m
Fehlt in A.
durch eine formal allgemein zugängliche, durch Rechtsregeln eng begrenzte Autonomie von „Vereinen“, die von beliebigen Personen geschaffen werden können[,] und andrerseits
n
A: allgemeine gleiche aber eng begrenzte Autonomie einerseits und
durch Herstellung von schematischen Ermächtigungen für Jedermann,
o
A: Ermächtigungen,
gewillkürtes Recht durch private sachliche Rechtsgeschäfte bestimmter Art
p
A: Rechtsgeschäft
zu schaffen.
q
A: schaffen, andererseits. ; B: schaffen,
Die entscheidende Triebkraft für diese Veränderung der technischen Formen autonomer Rechtsschöpfung waren: politisch das [368]Machtbedürfnis der Herrscher und Beamten der erstarkenden politischen Staatsanstalt[,] ökonomisch aber [–] zwar
r
A: technische Verfügung der autonomen Rechtsschöpfung ist zwar
nicht ausschließlich, aber in stärkstem Maße – die Interessen
s
A: starkem Maße das Interesse
der Marktmachtinteressenten, d. h. also: der durch Besitz als solchen („Klassenlage“)
42
[368] Zu diesem Weberschen Begriff vgl. die Ausführungen in: Weber, Gemeinschaften, MWG I/22-1, S. 253–260.
t
A: also: der durch Besitz (Klassenlage in dem später zu erörternden Sinn) bestimmter Art
im formal „freien“ Preis- und Konkurrenzkampf auf dem Markt ökonomisch Privilegierten. Denn z. B. die einer
a
A: faktisch Privilegierten. Denn die der
formalen Rechtsgleichheit entsprechende allgemeine „Ermächtigung“: daß „jedermann ohne Ansehn der Person“ z. B. eine Aktiengesellschaft gründen oder etwa ein Fideikommiß stiften dürfe, bedeutet natürlich
b
A: Ermächtigung für jedermann ohne Ansehn der Person, z. B. eine Aktiengesellschaft zu schaffen oder ein Fideikommiß zu stiften, bedeutet
in Wahrheit die Schaffung einer Art von faktischer
c
A: weitgehenden
„Autonomie“ der besitzenden Klassen als solcher, die ja allein davon Gebrauch machen können.
d
A: können, In A folgt: gegenüber dem gemeinen Recht. Sie ist, weil sie Dritte zu binden gestattet, die höhere Stufe derjenigen Autonomie, welche das allgemeine Prinzip der Vertragsfreiheit in sich schließt. Die Rechtsordnung als solche ist die universellste und weitaus wirksamste Form der Befriedung, d. h.: der Ablenkung des Kampfs der Interessenten von der Form direkter Gewaltsamkeit in die Bahnen einer durch andere als die im gewaltsamen Kampf ausschlaggebenden Qualitäten sich entscheidenden Form des Austrags der Interessengegensätze. Sie ist daher das geeignete Mittel, anstelle jener im gewaltsamen Kampf ausschlaggebenden Qualitäten die rationale ökonomische Klugheit und speziell die kluge Verwendung von Güterbesitz im Interessenkampf auf dem Markt als Mittel der Macht über andere zu setzen. Die Marktinteressenten sind daher die universellen Interessenten einer Rechtsordnung, welche dies erzielt und die universelle Form dafür | Fortsetzung des Satzes im Typoskript, unten, S. 426, textkritische Anm. u. In B zunächst überarbeitet, dann die gesamte Passage gestrichen: 〈[…] allgemeine Prinzip der Vertragsfreiheit in sich schließt.〉 Es folgt die Satzanweisung Max Webers: Absatz Dann: 〈Die anstaltsmäßige objektive Rechtsordnung als solche […]〉
[A –][B 3]Diese amorphe Autonomie verdient freilich diesen Namen
e
A, B: diese Annahme
nur im bildlichen Sinn. Denn der Begriff der Autonomie ist, um nicht jeder Schärfe zu entbehren, an das Bestehen eines nach Merkmalen, sei es auch wechselnden, jeweilig irgendwie abgrenzbaren Personenkreises geknüpft, welcher kraft Einverständnis oder Satzung einem von ihm prinzipiell selbständig abänderbaren Sonderrecht untersteht. Wie dieser Personenkreis aussieht, ob er ein Verein oder eine Aktiengesellschaft oder eine Gemeinde oder ein Stand, [369]eine Innung oder Gewerkschaft oder ein Vasallen[WuG1 434]stand
f
[369]A, B: Vasallen|staat Vgl. hierzu Anm. 43.
43
[369] Der sachliche Zusammenhang legt die Konjektur von „Vasallenstaat“ zu „Vasallenstand“ nahe, da auch eine durch Vasallen begründete Kommunität in die „autonomen“ Personenkreise unterhalb der staatlichen Ebene einzureihen wäre. Vgl. die Ausführungen unten, S. 370, mit Bezug auf Andreas Heusler, wo ebenfalls sinnvoll nur vom „Vasallenstand“ statt „Vasallenstaat“ die Rede sein kann.
ist, macht für den Begriff nichts aus. Stets ist dieser Begriff Produkt beginnender Monopolisierung der Rechtssatzung durch den politischen Verband. Denn er enthält stets den Gedanken: daß dieser Verband die Schaffung von objektivem Recht durch andere als die eigenen Organe dulde oder direkt gewährleiste. Die kraft Einverständnis oder gesatzter
g
A, B: gesetzter
Ordnung einem Personenkreis zustehende Autonomie ist aber auch etwas qualitativ anderes als bloße Vertragsfreiheit. Die Grenze beider liegt da, wo die Grenze des
h
Fehlt in A, B; des sinngemäß ergänzt.
Normbegriffs liegt, wo also die kraft Einverständnis oder rationaler Vereinbarung der Beteiligten geltende Ordnung nicht mehr als die einem Personenkreis auferlegte, objektiv geltende Regel, sondern als die Begründung gegenseitiger subjektiver Ansprüche aufgefaßt wird, so etwa die Vereinbarungen zweier Firmeninhaber über Arbeitsteilung, Gewinnteilung, Rechtsstellung nach innen und außen. Die Flüssigkeit des Begriffs des objektiven gegenüber dem subjektiven Recht tritt dabei auf das deutlichste hervor. Eine Grenze läßt sich für unsere am gesatzten
i
A, B: gesetzten
Recht orientierten Denkgewohnheiten auch theoretisch nur so finden, daß auf dem Gebiet des Privatrechts, welches uns hier allein angehen soll, Autonomie da ausgeübt werde, wo die normale Herkunft der gesatzten
j
A, B: gesetzten
Regel ein Beschluß ist, während da, wo eine Vereinbarung zwischen konkreten Einzelpersonen diese Rolle spielt, für uns ein Sonderfall der Regelung kraft Vertragsfreiheit vorliegt. Diese Scheidung war auch für die Vergangenheit, wie wir noch sehen werden,
44
Siehe unten, S. 380 f.
nicht bedeutungslos, aber doch nicht [A 2][B 35]allein entscheidend. Solange die Unterscheidung von objektiver Norm und subjektivem Anspruch nur unvollständig entwickelt war und solange das Recht als eine durch Verbandszugehörigkeit bestimmte Qualität der Person galt, konnte vielmehr nur geschieden werden zwischen solchen
k
A, B: solche
Regeln, welche in einem auf Statusqualitäten der Teilhaber ruhenden Verbande [370]oder Personenkreise galten, und solchen,
l
[370]A, B: solche,
welche kraft Zweckkontrakt
m
A, B: Zwangskontrakt Die Emendatiori folgt WuG5, S. 420.
und also für das Handeln der direkt Beteiligten maßgebend waren. Alles Sonderrecht war ja ursprünglich Recht eines durch Statusqualitäten abgegrenzten Personenkreises. Dies wandelte sich, wie schon kurz erwähnt wurde,
45
[370] Siehe oben, S. 365.
mit zunehmender Differenzierung und ökonomischer Knappheit der von den einzelnen Personenkreisen monopolistisch
n
A, B: munifistisch Zur Emendation vgl. die in Anm. 45 verwiesene Textstelle.
appropriierten Güter[,] und zwar so stark, daß im Endresultat fast die umgekehrte Regel galt: Sonderrechte waren fast durchweg Rechte, welche je für eine soziale oder ökonomische Sonderbeziehung galten. Dieser Auffassung stand schon das Mittelalter ziemlich nahe, wie der[,] aber in der Leugnung von Standesrechten
o
A, B: Staatsrechten Zur Emendation vgl. Anm. 46.
zu weitgehenden Auffassung Heuslers
46
Weber bezieht sich auf die von Andreas Heusler vertretene Auffassung über „Inhalt und Gegensätzlichkeit der [Land-, Stadt-, Hof-, Dienst-, Lehn-] Rechtskreise“; vgl. Heusler, Institutionen I, S. 32–39. So heißt es ebd., S. 34: „Können wir somit Hof- und Lehnrecht, in ihrer Bedeutung als selbständige Rechtsorganismen gefaßt, bezeichnen als die Summe der Rechtssätze, welche den Rechtsverkehr innerhalb einer Hof- oder Lehnsherrschaft und in Bezug auf die durch grund- oder lehnsherrliche Abhängigkeit erzeugten Verhältnisse regeln, so ergiebt sich, daß das sachliche, nicht das persönliche Element das eigentlich maaßgebende ist. Es ist nicht das Recht der Hofhörigen, der Lehnsleute schlechtweg, sondern das Recht der Hof- und Lehnsverhältnisse, es hat durchaus objectiven, nicht subjectiven Charakter, und man hat daran Theil nicht seines Standes wegen, sondern weil und soweit man sich in hof- oder lehnrechtlichen Verhältnissen bewegt.“ Daher ist „Staatsrechten“ im Typoskript als „Standesrechten“ zu lesen.
zugegeben werden muß. Das Lehenrecht war das Recht, welches für die Lehensbeziehung galt. Es war nie das Recht eines Vasallenstandes,
p
A, B: Vasallenstaates, Zur Emendation vgl. Anm. 47.
denn diesen gab es nicht.
47
Sachverhalt und Referenz legen die Lesung „Vasallenstand“ nahe, vgl. oben, S. 369 f., Anm. 43 und 46. Heusler, Institutionen I, S. 37, hält nachdrücklich fest: „Wäre das Lehnrecht ein Standesrecht, so müßte es einen Vassallenstand […] geben, d. h. der Vassall müßte des Lehnrechtes theilhaftig sein, weil er Mitglied des Vassallenstandes ist. Das ist bekanntlich nicht der Fall, der Vassall wird des Lehnrechts nicht in Folge Beitritts zu einer Lehns- oder Vassallengenossenschaft, an deren Mitgliederschaft das Lehnrecht geknüpft wäre, theilhaftig, sondern umgekehrt in Folge des Empfangs eines Lehns, aus welchem erst secundär die Mitgliedschaft in dem betreffenden Lehnsconsortium folgt. Es giebt darum auch keinen Vassallenstand […].“
Das Hofrecht galt
q
Fehlt in A, B; galt sinngemäß ergänzt.
für die Beziehungen grundherrlicher Höfe,
r
A, B: Hülfe, Die Emendation folgt WuG5, S. 420.
das Dienstrecht für Dienst[371]lehen, das Handelsrecht für Kaufmannsgut und Kaufmannsgeschäfte, das Recht der Handwerker für die Geschäfte und den Betrieb des Handwerks. Neben diesen Sonderrechten aber war der Lehensmann, Kaufmann, Ministeriale, Grundholde, Eigenhörige zugleich außerhalb jener rein sachlichen Beziehungen durchweg dem Landrecht unterworfen. Ein Mann konnte freie und grundherrliche Hufen nebeneinander besitzen und war dann für die einen dem Hofrecht, für die anderen dem Landrecht unterstellt. Ebenso unterstand ein Nichtkaufmann, der Geld in Commenda oder als Seedarlehen gab, hierfür und nur hierfür dem Handelsrecht allein. Diese rein sachliche Art der Behandlung war dennoch keineswegs die universelle. Fast alle jene Beziehungen, für welche solche Sonderrechte galten, hatten irgendwelche ständischen, d. h. die Ge[A 3][B 36]samtrechtsstellung berührenden Konsequenzen, so z. B. meist der Besitz hofrechtlicher und dienstrechtlicher Güter. Manche von ihnen galten als miteinander in der gleichen Person unvereinbar, und der Tendenz zur Sprengung dieser ständischen Gebundenheit wirkte die Tendenz zur Abschließung des Rechtsgenossenkreises nach außen immer erneut entgegen. Welche von beiden Tendenzen die stärkere war, bestimmte sich durchaus nach der konkreten Konstellation der Interessen im Einzelfall. In Deutschland gibt auch Heusler für das Stadtrecht zu, daß es ein ständisches Recht der Bürger, nicht ein [WuG1 435]Recht für städtischen Bodenbesitz und andere sachliche Beziehungen war.
48
[371] Zwar rekurriert der zweite Teil des Satzes zutreffend auf Heuslers Feststellung, daß das Stadtrecht im Unterschied zu Hof-, Dienst- und Lehnsrecht nicht ein Spezialrecht für bestimmte sachliche Rechtsbeziehungen, sondern vielmehr ein den Rechtsstatus des einzelnen in prinzipiell gleicher Weise wie das Landrecht bestimmendes Recht sei (vgl. Heusler, Institutionen I, S. 36). Doch schließt Heusler daraus keineswegs auf einen ständischen Charakter des Stadtrechts, im Gegenteil: die nicht-ständische Qualität ist ihm mit den anderen Sonderrechten gemein: „Nun wird auch zuzugeben sein, daß diese verschiedenen Rechte und Rechtskreise [einschließlich des „Stadtrechts“, Hg.] nicht […] als Standesrechte und Standesrechtskreise dürfen bezeichnet werden“ (ebd., S. 37). Und da z. B. ein Ritter nicht dem „Bürgerstand als solchem“ angehören, aber doch Bürger einer Stadt sein und insofern am Stadtrecht teilnehmen könne, „so ist auch das Stadtrecht kein Standesrecht des Bürgerstandes“ (ebd., S. 39).
In England aber sind die Städte fast rein private Korporationen geworden.
49
Die englischen Städte waren im Mittelalter zunächst ausschließlich Pflichten- und Lastenverbände ohne eigene Rechtspersönlichkeit bzw. korporative Verfassung. Das änderte sich erst mit den Gesetzen gegen die „tote Hand“, d. h. gegen die Anhäufung von Grundbesitz bei Bischöfen, Klöstern etc. Diese Gesetze wurden auch auf die Städ[372]te übertragen, die fortan zum Erwerb von Grund und Boden um königliche Inkorporationsurkunden nachsuchen mußten. Im 15. Jahrhundert erhielten zahlreiche Städte solche königlichen Charters, deren privilegienförmige Vergabe das städtische Korporationsrecht aber auch gänzlich „den allgemeinen Konsequenzen der ständischen Rechtsbildung“ unterstellte (unten, S. 414); vgl. eingehend Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 39 f., 44–51; ders., Englische Verfassungsgeschichte, S. 104 ff., 107, 266–271, 487–491, 696–701.
Im ganzen ist [372]allerdings richtig, daß die Tendenz zur Behandlung der Sonderrechte als Rechte für bestimmte Objekte und Tatbestände im ganzen überwog und daß dadurch die Einordnung der Sonderrechte als sachlicher Spezialrechtssätze in das Landrecht, die Lex terrae, sehr erleichtert wurde. Ob sie tatsächlich stattfand, hing aber vorwiegend von politischen Umständen ab. Soweit diese Einordnung nicht völlig durchgeführt wurde, regelte sich das Problem des Verhältnisses der verschiedenen Sonderrechte und der für sie bestehenden Sondergerichte zum Landrecht und den landrechtlichen Gerichten im Einzelfall höchst verschieden. Landrechtlich war der Grundherr und nicht der Hörige der Inhaber der Gewere
s
[372]A, B: Gewehre
am Gut.
50
Der hörige Zinsbauer steht außerhalb des Landrechts und ist infolgedessen vor dem Landgericht verkehrs- und rechtsunfähig. In diesem Rechtskreis hat der Grund-(Zins-)herr die Gewere, so daß er ggf. das Gut gegen Ansprüche Dritter gerichtlich vertreten kann. Die Gewere sind daher nicht an die unmittelbare tatsächliche Sachherrschaft gebunden. Anders in dem durch Hofrecht regulierten Innenverhältnis zwischen Grundherr und hörigem Bauern (Hofverfassung). Im Rahmen der Hofverfassung hat der Bauer die Gewere an seinem Hofgut (hofrechtliche Gewere); dem Herrn steht als Ausfluß seines privatrechtlichen Eigentums lediglich ein Herrschaftsrecht in Form des Zinsanspruchs zu; vgl. dazu Heusler, Institutionen II, S. 31–33; Schröder, Lehrbuch, S. 703 mit Anm. 42; Gierke, Otto, Deutsches Privatrecht (Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft, hg. von Karl Binding, Abt. 2, Teil 3), Band 2: Sachenrecht. – Leipzig: Duncker & Humblot 1905, S. 191 f., 198 f. (hinfort: Gierke, Deutsches Privatrecht II).
Aber schon beim Lehen regulierte sich die Beziehung nicht so einfach
51
Für das Lehnsverhältnis, d. h. für den gesamten lehnrechtlichen Verkehr innerhalb einer Lehnsherrschaft und eines Lehnhofs, galt z. B. nach dem sächsischen Lehnsrecht (14 § 1) der Grundsatz, daß der jeweils letztbelehnte, der vom Zinsmann den Zins nimmt, auch Inhaber der Gewere sei, alle weiteren Lehnsherren davon ausgeschlossen seien; vgl. Text und Kommentar bei Homeyer, Sachsenspiegel II,1, S. 168–172, und ders., Sachsenspiegel II,2, S. 403–405. Da außerdem jeder, auch der unterste Lehnsmann dem Landrechtskreis angehörte, standen ihm auch nach Landrecht [373]und vor dem Landgericht die Gewere zu. Andererseits hatte im Lehnsgericht des Oberlehnsherren allein der Obervasall die Gewere, während hier der Unterlehnsmann lediglich als dessen Verwalter galt; vgl. dazu Heusler, Institutionen II, S. 28 ff.; Schröder, Lehrbuch, S. 703 mit Anm. 42 und 43; Gierke, Deutsches Privatrecht II (wie oben, S. 372, Anm. 50), S. 198 f.
und war z. B. im Sachsenspiegel zwischen Spiegler und [373]Glosse teilweise streitig. Auch im römischen Recht hat das Problem Spuren hinterlassen. Das römische ius civile war insofern das Recht der römischen Bürger, als niemand, der nicht entweder Bürger war oder kraft vertragsmäßiger Zulassung dem Bürger gleichgestellt war,
52
Die römische Republik privilegierte häufig verdiente Bürger (oder bestimmte Bürger-Klassen, insbesondere Kaufleute) befreundeter Staaten durch Verleihung des römischen Bürgerrechts bzw. – wie im Falle der Kaufleute – eines beschränkten Bürgerrechts, des sog. ius commercii, wodurch diese Zugang zu den förmlichen Rechtsgeschäften des römischen ius civile hatten. Einseitige Verleihung des Bürgerrechts ohne Mitwirkung der dadurch betroffenen Gemeinden galt bis in die Spätzeit der Republik als rechtlich unzulässig; vgl. Mitteis, Reichsrecht (wie oben, S. 292 f., Anm. 52), S. 115.
vor den römischen Gerichten als Partei auftreten, die spezifischen Rechtsgeschäfte des Zivilrechts abschließen oder nach den Sätzen desselben beurteilt werden konnte. Keine römische Lex galt außerhalb des Kreises der Bürger. Der Satz, daß sie sich auf Nichtbürger [A 4][B 37]gar nicht beziehen könne,
53
Dieser „Satz“ ist nicht direkt auf ein römisches Gesetz, etwa einen entsprechenden Zwölftafelsatz, zurückzuführen. Er läßt sich vielmehr aus einer Vielzahl von Quellenäußerungen belegen, die den Populus oder die Civitas als Objekt der Legalordnung bezeichnen, sowie aus einer Reihe von Spezialgesetzen; vgl. z. B. die Zusammenstellung bei Mitteis, Reichsrecht (wie oben, S. 292 f., Anm. 52), S. 116–118. – Im übrigen ist er Ausdruck des Grundsatzes der Rechtspersonalität, der auch im römischen Kontext auf der Vorstellung vom Zustandekommen der gesetzlichen Ordnung durch Vertrag (pactus) aller Volksgenossen miteinander basierte. Durch das Gesetz gebunden waren demnach allein die stimmberechtigten Mitglieder der Volksversammlung, unabhängig von ihrem konkreten Abstimmungsverhalten; vgl. hierzu Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 68 mit Anm. 18.
war politisch von sehr bedeutender Tragweite, weil er für das gesamte unterworfene, nicht zugleich dem Recht einverleibte Gebiet die souveräne Macht der Beamten und des Senats etablierte. Andererseits wurde der römische Bürger[,] und zwar von jeher[,] keineswegs nur nach Zivilrecht beurteilt und hatte seinen Gerichtsstand nicht nur vor solchen Gerichten, welche Zivilrecht anwendeten. Für die historische Zeit vielmehr ist das ius civile als dasjenige Sonderrecht zu definieren, für welches jemand nur in seiner Eigenschaft als Bürger, also als Mitglied dieses spezifischen Statusverbandes rechtlich in Betracht kommt. Daneben aber existierten Rechtskreise, an wel[374]chen teils nicht nur Bürger, teils nicht alle Bürger teilnahmen und deren Recht teils als Recht von Statusverbänden, teils als sachliches Sonderrecht erscheint. Dahin gehörten zunächst alle verwaltungsrechtlich normierten Tatbestände, deren Zahl ungemein groß und praktisch wichtig war. Zivilrechtliches Bodeneigentum gab es bis zur Gracchenzeit
54
[374] Die Volkstribunen Tiberius und Gaius Sempronius Gracchus waren zwischen 133–121 v. Chr. die Führer einer Agrarreformbewegung, welche die Ansiedlung von Proletariern durch gesetzliche Landzuweisung (Assignation) aus Gemeindeland (ager publicus) zum Ziel hatte; vgl. hierzu und zum folgenden auch Weber, Römische Agrargeschichte, MWG I/2, bes. S. 141–206 und 207–296.
nur auf dem Teil des Landes, welcher durch regelrechte Assignation dazu gemacht worden war. Die Besitzstände auf dem ager publicus waren weder zivilrechtlich geregelt noch ein möglicher Gegenstand zivilrechtlicher Klage, denn an ihnen nehmen nicht nur Bürger, sondern auch Bundesgenossen teil. Als in der Gracchenzeit die Bürgerschaft Miene machte, die Verhältnisse dieser Domänen durch Bürgerstatut (Lex) zu regeln, entstand sofort das Verlangen der Bundesgenossen, in den Bürgerverband aufgenommen zu werden. Diese Besitzbestände unterstanden also lediglich der magistratischen Cognition, welche nach Regeln verfuhr, die dem Zivilrecht fremd waren. Denn dieses kannte z. B. weder Erbpacht noch Reallasten noch Dienstland, während all dies
t
[374]A, B: beides
dem Verwaltungsrecht des öffentlichen Landes wohl bekannt war. Ebenso kannte das staatliche Vermögensrecht im Verkehr mit Privaten Institute, die dem Zivilrecht fremd waren und[,] wo sie zivilrechtlichen Instituten rechtlich entsprachen, dennoch einen anderen Namen führten (praes für den Licitationsbürgen, praedium für das verwaltungsrechtliche [A 5][B 38]Grundstückspfand).
55
Bei den im Lizitationswege, d. h. in öffentlicher Versteigerung durch die zuständige Behörde bzw. den zuständigen Beamten (in Rom regelmäßig der Censor), erfolgenden Gemeindeverkäufen und -verpachtungen ist seitens des Käufers bzw. Pächters Sicherheitsleistung (Stellung von praedes und praedia) erforderlich; der praes ist hier „Lizitationsbürge“, praedium wäre z. B. ein Bodenpfand.
Die Zuständigkeit des Verwaltungsbeamten war hier der Träger dieses reinen sachlichen Sonderrechts. Ein Verband von Rechtsgenossen desselben existierte nicht, sondern wurde durch die jeweiligen Interessenten konstituiert. Einen Sonderrechtsbezirk konstituierte ferner die Zuständigkeit desjenigen Prätors, welcher zwischen [375]Bürgern und Fremden Recht sprach.
56
[375] Nach dem Bericht des Pomponius (D. 1,2,2,27 f.) tritt um das Jahr 242 v. Chr. ein zweiter Prätor, „qui inter (cives et) peregrinos ius dicit“, auf, dem also die Rechtsprechung zwischen Fremden bzw. Bürgern und Fremden obliegt, der „praetor peregrinus“. Seit dieser Zeit verbleibt dem gleichfalls in Rom amtierenden Stadtprätor, „praetor urbanus“, nur die Rechtspflege unter römischen Bürgern.
Zivilrecht konnte er anwenden, aber nicht kraft Bürgerstatuts (Lex), sondern kraft seiner Amtsgewalt. Er wendete ein Recht anderer Provenienz und anderen Geltungsgrundes an: das ius gentium. Dieses Recht aber war nicht etwa erst mit der Einrichtung dieses Amtes entstanden. Sondern es war das internationale [WuG1 436]Verkehrsrecht, nach welchem von jeher die Streitigkeiten des Marktes geschlichtet wurden, welche ursprünglich vermutlich nur sakral durch Eid geschützt waren. Kein möglicher Gegenstand von Zivilprozessen waren ferner die der Sache nach lehenrechtlichen, praktisch in der Frühzeit höchst wichtigen Beziehungen zwischen Patron und Klient. Ganz wie im deutschen Recht bei der Gewere,
a
[375]A, B: Gewehre,
berührte sich im römischen Recht die Sphäre des Zivilrechts mit der
b
A, B: und
des Lehenrechts bei der Possessio (precarium
c
A, B: (praecarium
N
MWG: precarium; Klammer in MWG digital entsprechend A, B ergänzt.
).
57
„precarium“ war der dem römischen Klienten vom Patron zur Nutzung „bis auf weiteres“ überlassene Boden. Wie das deutsche Recht in bäuerlichen Leiheverhältnissen demjenigen, der die Gewere hat, Besitzschutz gewährt, so das römische dem gegenüber Dritten als Besitzer auftretenden Prekaristen. Im Innenverhältnis zwischen Prekarist und Patron standen die Besitzschutzinterdikte nur dem Patron als possessor zu, speziell das interdictum de precario (auf Herausgabe des Prekariums); vgl. dazu Sohm, Institutionen, S. 408–412, bes. 411, Anm. 5.
Das Zivilrecht kennt aber die Beziehung auch im übrigen und Strafbestimmungen nahmen von ihr Notiz. Aber sie war nicht zivilrechtlich geregelt. Eigentliches Sonderrecht innerhalb des Zivilrechts bildeten andererseits gewisse nur für Kaufleute und bestimmte Gewerbetreibende geltende Rechtsinstitute: die actio exercitoria
d
A, B: actio exerbitoria
, das Receptum, das Sonderrecht der Argentarii.
Sowohl dem Verkehrsrecht wie dem Klientelrecht gehört ein für die spätere Rechtsentwicklung sehr wichtiger Begriff an: die fides. Sie umfaßte in eigentümlicher Art einerseits die Pflichten, welche aus Pietätsbeziehungen folgten, andererseits, als fides bona, den
e
A, B: dem
guten Glauben und die Redlichkeit des reinen Geschäftsverkehrs. Das Zivilrecht wußte von ihr im Prinzip nichts. Aber dies wurde von Anfang an nicht streng festgehalten. Die Zwölf
f
A, B: zwölf
Tafeln drohen [376]für gewisse fraudulente Akte die Qualität als improbus intestabilisque
g
[376]A, B: inestabilisque
58
[376] Weber bezieht sich u. a. auf 12 Taf. 8,22: „Qui se sierit testarier libripensve fuerit, ni testimonium fa[t]iatur, inprobus intestabilisque esto.“ (Wer sich als Zeuge zur Verfügung stellt oder Wägemeister war, soll, sofern er nicht Zeugnis abgibt, als nichtswürdig und zeugnisunfähig gelten.) D.h.: Die bei der altrömischen Manzipation (Kaufgeschäft) mitwirkenden fünf Zeugen und der Wägemeister verfallen bei Zeugnisverweigerung der Infamie und verlieren dauerhaft die aktive und passive Zeugnisfähigkeit („inprobus intestabilisque“); Wortlaut bei Bruns, Fontes, S. 32.
an. Zahlreiche Gesetze verhängten ausdrücklich [A 6][B 39]die infamia. Deren private Rechtsfolgen waren im allgemeinen Ausschluß vom Zeugnis, Unfähigkeit also zu bezeugen oder sich etwas bezeugen zu lassen, was praktisch weitgehend mit Geschäftsboykott und Begrenzung des testamentarischen Erbschaftserwerbs identisch war. Außerdem die Versagung bestimmter Klagen durch den Prätor. Die Prinzipien der Fides stellten trotz ihres unformalen Charakters keineswegs vage Gefühlsprodukte dar, weder im Gebiete der Klientel noch vollends des Geschäftsverkehrs. Die ganze Serie scharf umrissener Kontrakte, auf deren ausgeprägter Eigenart das uns überlieferte römische Verkehrsrecht so wesentlich beruht, ist
h
A, B: sind
auf Grund von Prinzipien der Fides entwickelt. Sowohl so altertümliche Institute wie die Fiducia,
59
Vgl. den Glossareintrag „fiducia“.
wie noch in der Kaiserzeit das Fideicommissum
60
Vgl. den Glossareintrag „fideicommissum“.
ruhten ganz auf der
i
Fehlt in A, B; der sinngemäß ergänzt.
Fides. Daraus, daß z. B. für diese letztgenannte Schöpfung der Grund in dem Fehlen zivilrechtlicher Klagen lag (bei Legaten an Nichtbürger oder an verbotene Personen) und daß zunächst nur konventionelle Regeln die Erfüllung
j
A, B: Erstellung
garantierten, folgt keineswegs, daß die Fides von jeher nur ein Lückenbüßer des ius civile und also jünger als dieses gewesen sei. Das Rechtsinstitut der Klientel war sicher so alt wie der Rechtsbegriff des ius civile selbst, stand aber außerhalb desselben. Niemals also
k
In B steht am Rand die Notiz Max Webers: [juristisch]:
N
Alternative Lesung in MWG digital: Charakteristisch:
Amtsrecht maßgebend
war das ius civile der Inbegriff alles geltenden Privatrechts. Aber allerdings war die Fides in keiner Weise ein einheitliches Prinzip der Regelung gesetzlicher Beziehungen. Was man der Fides zuliebe anderen schuldete, hing vielmehr von der sachlichen Natur der konkreten Beziehung ab und auch in dieser Spezialisierung fehlte der Fides im Fall der Verletzung die gleichmäßig geordnete Rechtsfolge, zunächst natürlich [377]innerhalb der bürgerlichen Ordnung. Die Infamie war Folge bestimmter spezifischer Handlungen, nicht etwa aller Verstöße gegen die Fides. Die verschiedenen Arten der Reaktion gegen anstößiges Verhalten: z. B. zensorische Rüge und konsularische Versagung der Aufnahme unter die Amtskandidaten hatten eine jede ihre besonderen,
l
[377]A, B: besondere,
weder mit den Fällen der Infamie noch mit den Prinzipien der Fides identische, überdies schwankende [A 7][B 40]Voraussetzungen
m
Blatt A 7/ B 40 ist nur zur Hälfte beschrieben.
und waren niemals an Verletzungen der Fides rein als solche geknüpft. Verletzungen der klientelen Pflichten ahndete ursprünglich der Herr im Hausgericht. Später waren sie
n
Lies: Die klientelen Pflichten
N
MWG: warenn sie Index „n“ in MWG digital verschoben.
sakral oder konventional und schließlich bei der rein
o
A, B: reinen
geschäftlichen Freigelassenenklientel
p
A, B: freigelassenen Klientel
auch zivilrechtlich geschützt. Wie es mit der Fides des Verkehrs ursprünglich stand, wissen wir nicht. Wir kennen die Mittel nicht, durch welche die bonae fidei-Kontrakte
q
Bindestrich fehlt in A, B.
61
[377] Im Handels- und Geschäftsverkehr wurde eine Reihe von formfreien Verträgen des ius gentium ausgebildet – besonders die späteren sog. Konsensualverträge Kauf, Miete, Auftrag, Gesellschaft –, deren Wirksamkeit anfangs allein auf der Einhaltung „guter Treue“ beruhte. Diese sog. bonae fidei-Kontrakte erlangten erst später prätorischen Rechtsschutz; vgl. bes. Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 44 f., 50, 57.
gesichert wurden, ehe sie vom Prätor kraft Amtsgewalt durch Klageschemata anerkannt waren, wie die anderen prätorisch geschützten Institute des ius gentium. Vermutlich traten individuell oder generell beschworene Schiedsverträge ein, deren Verletzung ebenso infamierte, wie dies später noch der [WuG1 437]Bruch eines eidlichen Vergleichsvertrages tat. Die Schaffung der Klageschemata für die Institute des ius gentium bedeutete keineswegs die Beseitigung der Scheidung vom ius civile. Dieses blieb nun reines Standesrecht der Bürger. Gelegentlich vollzog der Prätor in der Form: si civis romanus esset
r
A, B: essit
[,]
62
„Wenn er römischer Bürger wäre“; Formel, mit der die Rechtspraxis z. B. für den vom Zwölftafelgesetz nicht betroffenen Diebstahl von und an Fremden (peregrini) die fiktizische Diebstahlsklage gab (Gai. 4,37) und damit diesen Personenkreis den Bürgern – als Kläger und Beklagte – rechtlich gleichstellte; vgl. z. B. Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 69 f.
Rezeptionen in die Klageschemata für Nichtbürger. Andere Institute gingen stillschweigend in das ius gentium über. Erst in der Kaiserzeit schwindet mit anderen Privilegien der Bürger der Unterschied ganz. [A 8][B 41]Keiner der Interessentenkreise der Fides bildete einen geschlossenen ständischen Verband. Nicht die [378]Klienten, die Mommsen, wie an anderer Stelle zu erörtern ist,
63
[378] In Webers Grundrißbeitrag, insbesondere in der fragmentarischen Darstellung der „Stände“ (vgl. Weber, Gemeinschaften, MWG I/22-1, S. 259–269), fehlt eine Erörterung der römischen Klientel. Dagegen widmet Weber ihrer Herkunft und Stellung einen ausführlichen Exkurs in: Agrarverhältnisse3, MWG I/6, S. 616–627. Resümierend heißt es, ebd., S. 627, „daß Plebs und Klientel, Plebeität und Grundhörigkeit, feudaler Stadtstaat und Grundherrlichkeit ganz und gar nicht zusammenfallen“.
mit Unrecht mit dem Verband der Plebs identifiziert hat,
64
Weber bezieht sich auf Theodor Mommsens These, daß die Plebität ursprünglich mit der halbfreien bzw. hörigen Klientel der Patrizier identisch gewesen sei; vgl. zusammenfassend Mommsen, Römisches Staatsrecht III, S. 54–88. Dieser Zustand der Hörigkeit und Unselbständigkeit war nach Mommsen Ausgangspunkt einer späteren ökonomisch und militärisch bedingten Differenzierung „in thatsächlich von einem Herrn abhängige und thatsächlich unabhängige Leute, in Plebejer, die noch Clienten, und in solche, die es nicht mehr waren, oder […] in Clienten und Plebejer“ (ebd., S. 71). Ebd., S. 66, behauptet Mommsen die von Weber angesprochene genuine Identität von Klientel und Plebs: „Beide [Klientel und Plebität, Hg.] sind […] im Grunde identisch und nur verschieden durch ein Minder oder Mehr an politischen Rechten, ein Mehr oder Minder an Abhängigkeit gegenüber dem Schutzherrn.“ Und ebd., S. 76, heißt es: „[…] die Plebejer, die wir kennen, sind die wesentlich zur Rechtsgleichheit gelangten Clienten.“
erst recht natürlich nicht die Interessenten der ständisch
s
[378]A, B: ständischen
ganz indifferenten bonae fidei-Kontrakte
t
Bindestrich fehlt in A, B.
oder des ius gentium. Endlich das prätorische Recht als solches ist natürlich weit entfernt davon, mit dem ius gentium identisch zu sein, und die Rezeption des ius gentium ist keineswegs nur durch prätorisches Recht, sondern weitgehend auch durch Hineinarbeiten seiner Grundsätze in das Zivilrecht durch die Juristen erfolgt.
65
Nach Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 55–58, S. 68 mit Anm. 17, verdeckte die frühe Rezeption in das ius civile die prätorische Herkunft einer Reihe zivilrechtlicher Institute. Sofern in solchen (prätorischen) Zivilformeln wichtige Rechtsgrundsätze des ius gentium zum Ausdruck gelangten, handelte es sich bei der tatsächlichen Entwicklung auch um eine Rezeption von ius civile in das Fremden- und internationale Verkehrsrecht; Vermittlungsinstanz war demnach in letzter Linie allerdings hier wie dort der Prätor; vgl. auch Lenel, Otto, Der Prätor in der legis actio, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Rom. Abt., Band 30, 1909, S. 329–354, hier bes. S. 332–335, 353 f.
Ebenso entbehrten die eigentlichen Stände: Sklaven, Freigelassene, Ritter, Senatsgeschlechter, in der Republik wie in der Kaiserzeit einer Verbandsorganisation, welche Träger einer eigentlichen Autonomie hätte sein können. Die republikanische Zeit hatte aus politischen und polizeilichen Gründen immer wieder mit Schärfe gegen die Privatverbände einschreiten müssen. Perioden der Unterdrückung hatten mit Perioden der Duldung gewechselt. Die Zeit der Monarchie war den Privatver[379]bänden an sich naturgemäß ungünstig. Die Demokratie hatte von Vereinigungen der sozialökonomisch Mächtigen, die Monarchie von jeder Art von unkontrollierten Verbänden politisch zu fürchten. Das römische Recht der republikanischen wie der Kaiserzeit kennt im Effekt eine Autonomie nur als Vereinsrecht oder Korporationsrecht im modernen Sinn. Soweit Vereine und Korporationen geduldet oder privilegiert bestanden, soweit bestand auch Autonomie. Wieweit sie bestanden[,] ist im Zusammenhang der allgemeinen Erörterungen eines anderen Problems: der Rechtsfähigkeit von Personenverbänden[,] zu besprechen.
66
[379] Siehe unten, S. 382 ff.
Die allgemeine Umwandlung und Mediatisierung der eigenrechtlichen Personenverbände der Epoche der Rechtspersonalität zu Gunsten des Rechtsschöpfungsmonopols der Staatsanstalt drückt sich in dem Wandel der Form der juristischen Behandlung solcher Verbände als Träger subjektiver Rechte aus. Rechtstechnisch kann eine solche Behandlung jedenfalls dann nicht entbehrt werden, wenn einerseits monopolistisch appropriierte Vermögensobjekte [A 9][B 42]vorhanden sind, welche nur den Rechtsgenossen als solchen, aber nur zu einer irgendwie gemeinsamen Nutzung[,] zur Verfügung stehen oder andrerseits rechtsgeschäftliche Akte über diese ökonomisch notwendig werden, die
u
[379]A, B: werden. Die
autonomen Personenverbände also innerhalb einer politischen Anstalt einem gemeinsamen[,] friedlich durch geordnete Rechtsfindung anzuwendenden Recht unterworfen sind. Solange und soweit dies nicht der Fall ist, erledigt sich das Problem einfach: die Glieder des einen Verbandes machen die des anderen solidarisch für das Tun jedes ihrer Mitglieder, also auch der Verbandsorgane verantwortlich. Neben der urwüchsigen Blutfehde steht daher als universelle Erscheinung die Repressalie, die Festhaltung von Person und Gütern eines Rechtsgenossen wegen Verbindlichkeiten einzelner oder aller anderen. Im Mittelalter ist die Verhandlung über Repressalien, ihre Vermeidung durch gegenseitige Zulassung bei den Gerichten und gegenseitige Rechtshülfe ein ständiger Gegenstand der Erörterung zwischen den Städten. Ebenso urwüchsig wie die Blutfehde ist ferner der Vergleich. Wer nun zum Abschluß eines solchen und zur Vertretung der Rechtsgenossen nach außen überhaupt als legitimiert [380]gilt, richtet sich lediglich nach den Erfahrungen, welche die Außenstehenden darüber gemacht haben: wessen Anordnungen sich die Rechtsgenossen faktisch zu fügen pflegen. Die ursprüngliche Vorstellung war dabei auch im frühen mittelalterlichen Recht: daß alle, die nicht an
v
[380] Fehlt in A, B; an sinngemäß ergänzt.
einem Beschluß der Dorfgenossen, Gildebrüder, Markgenossen
a
A, B: Marktgenossen Die Emendation folgt WuG5, S. 423.
oder um welche Gesamtheit es sich sonst [WuG1 438]handelt, teilgenommen haben, dadurch nicht
b
Fehlt in A, B; nicht sinngemäß ergänzt.
gebunden werden, daß das Auftreten des Verbandes nach außen kraft einer durch Beschluß erzielten Willenseinigung erfolge und erfolgen müsse, um spezifische Rechtswirkungen zu haben. Man wird also Heusler zustimmen dürfen, daß die Notwendigkeit eines Beschlusses und seine verbindliche Kraft ein rechtlich charakteristisches Entwicklungselement des Verbandsrechtes war.
67
[380] Weber bezieht sich auf Heuslers Charakterisierung der genossenschaftlichen Verbände im deutschen Mittelalter als juristische Personen, im Unterschied zu „Gesamthandverhältnissen“, in denen nicht die Gemeinschaft als solche, sondern nur ihre einzelnen Mitglieder Rechtspersönlichkeit haben. Heusler, Institutionen I, S. 257, sagt in diesem Zusammenhang: „Auf ebenso sichere als correcte Weise grenzt nämlich das deutsche Recht diejenigen Rechtsgebilde, die wir jetzt als juristische Personen erkennen, von den Gemeinschaften ohne eigene Rechtssubjectivität dadurch ab, daß es bei jenen ersteren kein Handeln zu gesammter Hand mehr eintreten, sondern die Gesammtheit Beschlüsse fassen und diese durch ihren Vorstand ausführen läßt.“
Dabei blieb die Scheidung zwischen Beschluß und Vertrag zweifellos vielfach flüssig wie die Scheidung der Begriffe ob[A 10][B 43]jektiver Normen und subjektiver Ansprüche überhaupt. Satzungen auf Grund von Beschlüssen werden oft als pactus bezeichnet.
68
Was Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 287, für einige germanische Volksrechte feststellt; vgl. oben, S. 313 f. mit Anm. 16. In diesen Zusammenhang gehört auch das u.a. von Ihering, Mommsen, Mitteis und Sohm für die älteste römische Staatsverfassung festgestellte vertragsförmige Zustandekommen eines Volksgesetzes (lex publica); vgl. Ihering, Römisches Recht I, S. 216 f.; Mommsen, Römisches Staatsrecht III, S. 303 f.; Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 150; Sohm, Institutionen, S. 61 mit Anm. 3.
Aber immerhin war der Keim der Scheidung vorhanden. Und zwar grade durch die überall urwüchsige Vorstellung: daß ein Beschluß nur den binde, der daran teilgenommen und sich ihm angeschlossen habe, daß also Einstimmigkeit erforderlich sei, was offenbar zunächst so aussieht, als ob ein Beschluß der Vorstellung nach nur als Vertrag zustande kommen könne. In Wahrheit war aber jene Vorstellung vielmehr durch den [381]Offenbarungscharakter alles geltenden Rechts bedingt. Nur ein Recht konnte nach dieser Voraussetzung richtig sein. Schwanden die magischen und charismatischen Mittel zur Auffindung des richtigen Rechtes, so konnte die Vorstellung entstehen und entstand: daß die Mehrheit das richtige Recht bezeuge und also die Minderheit die Pflicht habe[,] sich dem durch die Mehrheit bezeugten anzuschließen. Aber ehe sie das getan hatte,
c
[381]A, B: hat,
wozu sie eventuell durch drastische Mittel genötigt wurde, war immerhin der Mehrheitsbeschluß noch nicht Recht und niemand dadurch gebunden: dies war die praktische Bedeutung jener
d
A, B: jeder
Vorstellungsweise.
69
[381] Die Vorstellung der Einmütigkeit und „Einmündigkeit“ wird als deutschrechtlicher Ursprung eines Prinzips der Einstimmigkeit angesehen, das sich erst allmählich von der bloß praktischen Erzwingung des Einverständnisses über die Annahme einer Rechtspflicht, der Mehrheit zuzustimmen, zur Anerkennung des Majoritätsprinzips fortentwickelt; vgl. Jellinek, Georg, Das Recht der Minoritäten. – Wien: Alfred Hölder 1898, S. 2–4 und S. 2, Anm. 4; Gierke, Otto von, Über die Geschichte des Majoritätsprinzips, in: (Schmollers) Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, Jg. 39, 1915, S. 7–29, hier S. 9–14.
Dagegen galt natürlich niemand für verpflichtet[,] einen beliebigen Kontrakt mit einem andren abzuschließen. In diesen Denkformen war also der Unterschied von Satzung als Schöpfung objektiven Rechts und Vertrag als Schöpfung subjektiver Rechte trotz aller Flüssigkeit der Übergänge auch den Vorstellungen der Frühzeit immerhin vertraut. Der Beschluß forderte dann als Komplementärbegriff das Organ zu seiner Ausführung. Die Art seiner Bestellung: Wahl im Einzelfall, Wahl auf Dauer, erbliche Appropriation der Organfunktion konnte dabei sehr verschieden aussehen. Sobald der Differenzierungs- und Appropriationsprozeß zwischen und in den verschiedenen Verbänden soweit fortgeschritten war, daß einerseits der einzelne verschiedenen Verbänden zugleich angehörte, andererseits auch im inneren Verhältnis zwischen den Rechtsgenossen selbst das Maß der Verfügungsgewalt der Verbandsorgane einerseits, der Einzelnen andererseits festen und zunehmend rationalen Regeln unter[A 11][B 44]stellt wurde, und
e
A, B: wurde. Und
sobald ferner die Zunahme der Zweckkontrakte einerseits der einzelnen, andererseits der Gesamtheit der Verbandsgenossen nach außen hin – eine Folge zunehmender Tauschwirtschaft – eindeutige Bestimmtheit der Tragweite jeder Handlung jedes Mitgliedes und Verbandsorgans forderte, mußte die Frage der Stellung des Ver[382]bandes und der Legitimation seiner Organe im Kontraktverkehr und im Rechtsgang irgendwie auftauchen. Eine rechtstechnische Lösung dieses Problems war die Konzeption des Begriffs der juristischen Person.
70
[382] Sie geht zurück auf die Korporationslehre des klassischen römischen Rechts; dazu unten, S. 399–404. – Im Zivilrecht ist der Rechtsbegriff durch Georg Arnold Heise (1778–1851) etabliert worden, der in seinem „Grundriß eines Systems des gemeinen Civilrechts“ (vgl. ders., Grundriß eines Systems des gemeinen Civilrechts zum Behuf von Pandecten-Vorlesungen. – Heidelberg: Mohr und Zimmer 1807) den bis dahin allein als mögliche Rechtssubjekte anerkannten natürlichen Individuen die „juristischen Personen“ als Träger von Rechten und Pflichten beiordnete. Erst später hat dann Savigny in seinem „System des heutigen römischen Rechts“, ausgehend von einem auf Willens- und Handlungsfreiheit abstellenden Personbegriff, die juristische Person als fingiertes Willens- und Handlungssubjekt („persona ficta“) konstruiert (vgl. Savigny, Friedrich Carl von, System des heutigen Römischen Rechts, Band 2. – Berlin: Veit und Co. 1840, S. 235–241). Die juristische Person war nach der Savignyschen Lehre nicht selbst willens- und handlungsfähig, so daß die Handlungen ihrer Vertreter nur über eine Fiktion der vertretenen juristischen Person zugerechnet werden konnten. Der „Vertretertheorie“ stellte der Germanist Otto Gierke im Rahmen seiner Genossenschaftslehre die „Organtheorie“ entgegen, wonach die juristische Person als reale Verbandsperson über ihre Organe ihren Willen ausdrückt und handelt (vgl. bes. Gierke, Otto, Die Genossenschaftstheorie und die Deutsche Rechtsprechung. – Berlin: Weidmann 1887, S. 603 ff.); zur Dogmengeschichte der Lehre von der juristischen Person im Privatrecht vgl. aus der zeitgenössischen Literatur Gierke, Deutsches Privatrecht I, S. 463 f., 469 f., und das dort angegebene Schrifttum; Mayer, Otto, Die juristische Person und ihre Verwertbarkeit im öffentlichen Recht, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, Festgabe für Paul Laband zum fünfzigsten Jahrestage der Doktor-Promotion, dargebracht von Wilhelm van Calker u. a., Band 1. – Tübingen: J.C.B. Mohr 1908, S. 1–94 (hinfort: Mayer, Juristische Person).
Juristisch betrachtet ist der Name eine Tautologie, denn der Rechtsbegriff der Person ist stets ein juristischer. Wenn ein Embryo ebenso wie ein Vollbürger als Träger subjektiver Rechte und Pflichten behandelt wird, ein Sklave aber nicht, so ist beides ein rechtstechnisches Mittel zur Erzielung bestimmter Effekte. In diesem Sinn ist die Rechtspersönlichkeit stets ebenso künstlich[,] wie die Frage, was im Rechtssinn „Sachen“
f
[382]A: Sätze
sein können, ausschließlich nach zweckvoll gewählten juristischen Merkmalen bestimmt wird. Die sehr viel reicheren Alternativen aber, welche für die rechtliche Stellung von Verbänden und Vergesellschaftungen zur Verfügung stehen, machten dies bei ihnen zu einem Problem.
Die rationalste Durchführung des Gedankens der Rechtspersönlichkeit von Verbänden ist die völlige Scheidung der Rechtssphäre der Mitglieder von einer gesondert konstituierten Rechtssphäre [383]des Verbandes: bestimmte nach Regeln bezeichnete Personen gelten rechtlich allein als legitimiert[,] den Verband zu verpflichten und zu berechtigen; diese
g
[383]A, B: berechtigen, Diese
Rechtsbeziehungen aber berühren Personen und Ver[WuG1 439]mögen der einzelnen gar nicht, gelten nicht als ihre Kontrakte, sondern werden rechtlich einem ganz gesonderten Verbandsvermögen zugerechnet. Ebenso sind, was die Mitglieder als solche (verbandsstatutenmäßig) zu
h
Fehlt in A, B; zu sinngemäß ergänzt.
fordern oder an ihn
i
A, B: ihnen
zu leisten haben, Ansprüche und Pflichten ihres vom Verbandsvermögen rechtlich völlig gesonderten Privatvermögens. Einzelne Mitglieder als solche können den Verband weder berechtigen noch verpflichten. Dies ist rechtlich nur den Organen und nur durch [A 12][B 45]ein Handeln im Namen des Verbandes möglich, und nur die nach feststehenden Regeln berufene und beschließende Versammlung berechtigter Mitglieder kann, muß aber nicht, die Befugnis haben, bindende Beschlüsse daraus zu fassen. Der Rechtspersönlichkeitsbegriff kann von da aus noch weiter auch zur Unterstützung der Verfügung über solche ökonomischen
j
A, B: ökonomische
Güter ausgedehnt werden, deren Nutzung einer nur
k
A, B: nuch
nach Regeln bestimmten, aber nicht zu einem Verband vergesellschafteten Personenvielheit zustehen soll (Stiftung, Zweckvermögen), indem
l
A, B: in dem
ein zur selbständigen Vertretung der Interessen jener Personenvielheit im Rechtsverkehr legitimierter[,] nach
m
A, B: legitimiert nach
Regeln bestimmter Träger vom Recht anerkannt wird.
71
[383] In Deutschland wurde die Stiftung erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts als „juristische Person“ neben der Korporation und der (öffentlichen) Anstalt anerkannt und dabei ihrer rechtlichen Gestalt nach – als Privatanstalt – wesentlich der letzteren zugeordnet. Im einzelnen blieb freilich trotz Anerkennung der Rechtspersönlichkeit der Stiftung („personifiziertes Vermögen“) unter den zeitgenössischen Juristen vieles umstritten; vgl. mit weiteren Nachweisen Gierke, Deutsches Privatrecht I, S. 645 ff.; ders., Grundzüge (wie oben, S. 345, Anm. 85), S. 215 f.
Ein rechtspersönlicher Verband kann rechtlich so konstruiert sein, daß ein fester[,] grundsätzlich nur entweder durch rein privatrechtliche
n
A, B: privat rechtliche
Rechtsnachfolge oder durch Beschluß bestimmter Körperschaften zu erweiternder Kreis von Menschen als die allein berechtigten Mitglieder behandelt
o
In A, B folgt: werden
und die Verwaltung rechtlich kraft ihres Auftrags geführt wird: Korporation. Oder[,] der [384]Stiftung im Prinzip verwandt, so, daß rechtlich nur Organe des Verbandes da sind, welche in seinem Namen handeln, die Mitglieder aber vorwiegend als verpflichtet zur Mitgliedschaft, der Eintritt neuer Mitglieder daher unabhängig vom Willen der schon vorhandenen entweder nach Willkür jener Organe oder nach bestimmten Regeln sich vollzieht und diese bloßen Mitglieder: etwa die Kunden einer Schule[,] als solche prinzipiell keinen Einfluß auf die Verwaltung haben: Anstalt im juristischen Sinn
72
[384] Die „Anstalt im juristischen Sinn“ kann allerdings nach Gierke, Deutsches Privatrecht I, S. 641, „Mitglieder im technischen Sinne nicht haben“, es gebe allenfalls „eine Mitgliedschaft in den zu Anstaltsorganen bestellten Kollegien, aber keine Anstaltsmitgliedschaft“. Jene Personen, die – abgesehen von einer Organstellung – in den Genuß der von der Anstalt gewährten ideellen und materiellen Vorteile gelangten, seien vielmehr „ihre Destinatäre (Genußberechtigten). Wenn freilich verfassungsmäßig ein fester Kreis von ,Betheiligten‘ abgegrenzt ist, die nicht nur bestimmte Rechte und Pflichten gegen die Anstalt haben, sondern auch zur Organbildung mitberufen sind, ähnelt ihr Verhältnis stark einer Mitgliedschaft“, mithin dem Gliedverhältnis einer körperschaftlichen Verfassung (vgl. ebd., S. 533 ff.).
(mit dem sozialpolitischen Anstaltsbegriff nur teilweise zusammentreffend).
Der Übergang von der Anstalt einerseits zur Stiftung[,] andererseits
p
[384]A, B: andererseits,
zur Korporation ist auch juristisch flüssig. Ob die Anstalt autokephal oder heterokephal ist, kann nicht, wie Gierke will, entscheiden:
73
Weber bezieht sich u. a. auf Gierke, Deutsches Privatrecht I, S. 641, wo dieser über die „Verfassung“ öffentlicher Anstalten festhält: „Die Organbildung erfolgt mitunter ausschließlich und fast immer zum Theil durch Willensaktionen des der Anstalt übergeordneten Verbandes“, sogleich jedoch einschränkt: „vielfach aber auch durch Wahlen oder andere innere Lebensvorgänge der Anstalt selbst. Die Anstaltsverfassung kann sich so einer Körperschaftsverfassung stark annähern.“ Gierke folgert daraus das Vorkommen von Mischverbänden, die entweder mehr als „Körperschaft mit anstaltlicher Spitze oder mehr als Anstalt mit körperschaftlicher Grundlage“ erscheinen (ebd., S. 459). Auto- oder Heterokephalie begründen damit die typologische Zuordnung; vgl. auch Gierke, Grundzüge (wie oben, S. 345, Anm. 85), S. 210.
eine Kirche ist Anstalt, kann aber autokephal sein.
Rechtstechnisch ganz entbehrlich ist nun der Rechtspersönlichkeitsbegriff überall da, wo einem Verband kein Vermögen zugewiesen ist, über welches in seinem Namen Kontrakte erforderlich [A 13][B 46]werden. Inadäquat ist er
q
A, B: sie
für solche Gesellschaften, welche ihrem sachlichen Wesen nach eine engbegrenzte Zahl von Teilhabern umfassen und zeitlich begrenzt sind, wie etwa für einzelne Handelsgesellschaften. Hier wäre die absolute Sonderung der Rechts[385]sphäre des einzelnen von derjenigen der Gesamtheit kreditschädlich, da die spezifische Kreditwürdigkeit zwar auch auf der Existenz eines gesonderten Vermögens, in erster Linie aber auf dem Einstehen aller Teilhaber für die Schulden der Gesamtheit beruht. Ebenso wäre die Schaffung besonderer Organe für die Vertretung der letzteren nicht immer zweckmäßig. Für derartige Verbände und Vergesellschaftungen war daher das wenigstens in der Vergangenheit den meisten Rechten irgendwie in Ansätzen bekannt gewesene Prinzip der
r
[385]A, B: Prinzip, die
Gesamthand,
74
[385] Über das nach Begriff und Herkunft rein deutschrechtliche Institut der „Gemeinschaften zur gesamten Hand“ vgl. u. a. Gierke, Deutsches Privatrecht I, S. 663 ff., der darauf hinweist, daß der Name „dem alten Rechtsbrauche (entstammt), die Verbundenheit der Subjekte bei einer gemeinsamen Erwerbs-, Verfügungs- oder Verpflichtungshandlung durch das Sinnbild einer Verschlingung der Hände anschaulich zu machen“ (ebd., S. 664).
d. h. die Legitimation entweder nur aller Beteiligten durch gemeinsames Rechtshandeln oder auch jedes oder einiger oder eines einzelnen durch Handeln im Namen aller zur Vertretung der Gesamtheit und die Haftung aller mit ihrer Person und ihrem Vermögen, die gerade den kapitalistischen Kreditinteressen adäquate Form. Sie stammt aus der hausgemeinschaftlichen Solidarhaftung und gewinnt ihren spezifischen Charakter in der fortgesetzten Erbengemeinschaft,
75
Gemeint ist die über die patriarchale Hauswirtschaft hinaus zu Erwerbszwecken fortgeführte Familien- und Arbeitsgemeinschaft der Brüder und Söhne (Erben) des Hausvaters. – In seiner Doktorarbeit über die „Geschichte der Handelsgesellschaften“ hatte Weber den Ursprung des Gesamthandprinzips aus der Solidarhaftung der Haus- und Erbengemeinschaft vorerst nur als Frage aufgeworfen (vgl. Weber, Handelsgesellschaften, MWG I/1, S. 213–215, 330–332), während namentlich Gierke auf Webers „Geschichte der Handelsgesellschaften“ als seine Quelle verweist (vgl. ders., Grundzüge, S. 217).
sobald eine rechtliche Sonderung des Gesamtvermögens von dem Einzelvermögen der Beteiligten[,] der Gesamthaftung von der Einzelhaftung derart beginnt, wie wir dies als Folge geschäftlicher Zersetzung der Brüderlichkeit früher kennen lernten.
76
Siehe Weber, Gemeinschaften, MWG I/22-1, S. 146–154, zur ökonomischen Entwicklungsgeschichte der Hausgemeinschaft.
Von der Erbengemeinschaft her hat sie sich als Grundlage zahlreicher gewillkürter [WuG1 440]Gemeinschaften verbreitet, für welche die aus dem Verbrüderungscharakter der Hausgemeinschaft folgenden Innen- und Außenbeziehungen entweder urwüchsig waren oder aus rechtstechnischen [386]Zweckmäßigkeitsgründen übernommen wurden. Das heutige Recht der offenen Handelsgesellschaft ist, wie wir sahen,
77
[386] Siehe Weber, Gemeinschaften, MWG I/22-1, S. 144 ff., bes. 150–152, und S. 118, wo es heißt: „Das Solidaritätsprinzip nach außen findet sich rein entwickelt noch in den periodisch kontraktlich regulierten, kapitalistische Unternehmungen betreibenden, Hausgemeinschaften der mittelalterlichen, und zwar gerade der kapitalistisch fortgeschrittensten, nord- und mittelitalienischen Städte: die solidarische Haftung gegenüber den Gläubigern mit Besitz und Person (unter Umständen auch kriminell) trifft alle Hausangehörigen, einschließlich selbst der zuweilen kontraktlich in die Gemeinschaft aufgenommenen Kommis und Lehrlinge. Dies ist die historische Quelle der für die Entwicklung moderner kapitalistischer Rechtsformen wichtigen Solidarhaftung der Inhaber einer offenen Handelsgesellschaft für die Schulden der Firma.“
direkt die rationale Fortbildung der hausgemeinschaftlichen Beziehung für Zwecke des kapitalistischen Betriebes. Die verschiedenen Formen der Kommanditen sind Kombinationen dieses Prinzips mit dem Recht der universell verbreiteten Commenda und Societas
s
[386]A, B: Sozietas
maris.
78
Vgl. die Glossareinträge „Kommanditen“, „Commenda“, „Societas maris“.
Die deutsche Gesellschaft mit beschränkter Haftung ist [A 14][B 47]eine rationale Neuerfindung zum Ersatz der für die Zwecke kleinerer und familienhafter[,] speziell erbengemeinschaftlicher Unternehmungen rechtlich nicht
t
Fehlt in A, B; nicht sinngemäß ergänzt.
adäquaten,
u
A, B: adäquate,
speziell durch den modernen Publizitätszwang
79
Gesetzliche Verpflichtung zur Bilanzveröffentlichung.
unbequemen
a
A, B: unbequeme
Aktiengesellschaft. Die Verbrüderung (agermanament im spanischen Recht)
80
Es handelt sich dabei um ein im sog. katalanischen Konsolat (ursprünglich „coutumes de la mar“; bedeutende mittelalterliche Seerechtssammlung) verankertes Rechtsinstitut. Für die Fälle großer Haverei (Seeunfälle), insbesondere bei See- oder Schiffswurf (Abwurf von Waren zur Abwendung drohender Gefahr), sah es eine vertragsförmige Gefahrengemeinschaft zwischen Kaufleuten, Schiffseigentümern und Schiffsbesatzungen vor. Diese vereinbarten entweder im vorhinein oder bei akuter Gefahr, daß Schiff und Ladung füreinander einstehen, d. h. Schaden oder Verlust mitvergüten sollten. Dies „Überein-Kommen“ hieß „agermanar“. Über rechtsgeschichtliche Herkunft, Etymologie (aus dem Katalanischen) und Verbrüderungscharakter des Instituts vgl. Goldschmidt, Levin, Lex Rhodia und Agermanament. Der Schiffsrath. Studie zur Geschichte und Dogmatik des Europäischen Seerechts, in: Zeitschrift für das gesammte Handelsrecht. Band 35, 1889, S. 37–90; 321–397, hier bes. S. 343–352 (hinfort: Goldschmidt, Lex Rhodia).
der Kaufleute, Schiffsbesitzer und Schiffsbesatzung war der gemeinsamen Unternehmung einer Seefahrt der Natur der Sache nach urwüchsig. Sie entwickelte sich [–] ganz entsprechend der Entstehung des Betriebes aus der Hausgemeinschaft [–] in der Reederei zu einer Gesamthandvergesellschaftung der Unternehmer, während sie [387]nach der anderen Seite in der Bodmerei
81
[387] Vgl. den Glossareintrag „Bodmerei“.
und in den Grundsätzen über den Seewurf in eine rein sachliche Gefahrengemeinschaft der Fahrtinteressenten ausmündete. In all jenen Fällen war das Typische die Verdrängung der Verbrüderungen durch Geschäftsbeziehungen,
82
So sieht Goldschmidt, Lex Rhodia (wie oben, S. 386, Anm. 80), S. 343, bereits in der durch „agermanament“ verabredeten Gefahrengemeinschaft eine reine Sachverbrüderung: „[…] agermanament ist somit ein Verbrüderungsakt, aber nicht von Personen, oder doch nicht direkt von solchen, sondern von Sachen: Schiff nebst Accessorien und Ladungsgüter oder nur diese untereinander werden angebrüdert oder verbrüdert.“ Vgl. ebd., S. 344, 351, 362.
der Statuskontrakte durch Zweckkontrakte, unter
b
[387]A, B: und der
Erhaltung aber der rechtstechnisch zweckmäßigen Behandlung der Gesamtheit als eines gesonderten Rechtssubjektes und der Sonderung des gemeinsam besessenen Vermögens. Andererseits ersparte man die formale Bürokratisierung des Organapparates, wie er bei der Konstituierung als Körperschaft technisch notwendig geworden wäre. In dieser Struktur sind die rational umgebildeten Gesamthandverhältnisse in keinem Rechtssystem so spezifisch entwickelt wie in denjenigen des Okzidents seit dem Mittelalter. Daß sie dem römischen Recht fehlten – das hellenische Handelsrecht, welchem z. B. im rhodischen manche Spezialinstitute des antiken internationalen Handelsrechts entlehnt sind, ist in seiner Entwicklung nicht genau bekannt –,
c
A, B: bekannt, –
hatte teilweise rechtstechnisch in der Eigenart des nationalen Zivilrechts begründete und noch zu besprechende,
83
Siehe unten, S. 495 ff., zur Eigenart des „nationalen“ römischen Zivilrechts und zur Entwicklung der römischen Rechtstechnik durch die „Rechtshonoratioren“.
nicht aber ökonomische Gründe. Wohl aber hängt die relative Entbehrlichkeit dieses Formenreichtums mit der Eigenart des antiken Kapitalismus zusammen. Er war einerseits Sklavenkapitalismus, andererseits vorwiegend politischer, im Staat verankerter Kapitalismus. Die Verwendung von Sklaven als Erwerbsinstrumenten mit unbeschränkter Berechtigung und beschränkter Haftung des Herrn für ihre Kontrakte und mit einer begrenzten [A 15][B 48]Behandlung des peculium nach Art einer Sondervermögensmasse
84
Vgl. hierzu oben, S. 334 mit Anm. 62. Da die Geschäfte des nicht vermögens- und rechtsfähigen Sklaven dem Gewalthaber unmittelbar zugerechnet werden, kann der Sklave selbst nur naturaliter haften, während dem Gläubiger gegen den Herrn eine [388]prätorische Klage bis zu dem Wertbetrag des dem Sklaven zur Eigenbewirtschaftung überlassenen peculium zusteht (actio de peculio).
ermöglichte es[,] wenigstens einen Teil der heute durch die ver[388]schiedenen Formen beschränkter Haftung erzielten Effekte zu erreichen. Dabei bleibt freilich die Tatsache bestehen, daß diese Einschränkung[,] verbunden mit dem völligen Ausschluß aller Gesamthandsprinzipien im Sozietätsrecht
85
Weder Stellvertretung nach außen, noch körperschaftliche oder gesamthänderische Zurechnung werden in der durch Einverständnis der Gesellschafter konstituierten „societas“ begründet. Rechtshandlungen wirken nur für und gegen den einzelnen socius, nicht für oder gegen die societas. Ob sie – wie Weber, Handelsgesellschaften, MWG I/1, S. 146, sagt – „lediglich ein Komplex obligatorischer Beziehungen unter den socii“ ist, die Dritte „nichts angehen“ kann, ist strittig, da aus den Geschäften eines socius gegenüber Dritten auch die übrigen socii haften können.
und mit der Zulassung von Solidarberechtigung und -verpflichtung
d
[388]A, B: Verpflichtung Die Emendatiori folgt WuG5, S. 426.
nur auf Grund von speziellen Korrealsponsionen, zu jenen juristischen Symptomen des Fehlens kapitalistischer gewerblicher Dauerbetriebe mit stetigem Kreditbedarf gehört, welches der römischen Wirtschaftsverfassung spezifisch ist. Die Bedeutung der wesentlich politischen Verankerung des antiken Kapitalismus aber tritt darin hervor, daß die für den Privatverkehr fehlenden Rechtsinstitute für die Staatspächter (Pächter von Steuern, Bergwerken, Salinen: socii vectigalium publicorum) schon in der frühen Kaiserzeit auch privatrechtlich anerkannt waren. Die rechtliche und ökonomische Struktur dieser Gesellschaften war eine Kombination der heute bei der Emission von Wertpapieren durch unsere Banken üblichen Rechtsform der konsortialen Beteiligung von Unternehmern an der von einem oder mehreren führenden Unternehmern dem Emittierenden gegenüber übernommenen Kapitalbeschaffung mit bloßen Kommanditbeziehungen. Die im Interdikt de loco publico fruendo
86
D. 43,9,1: „Praetor ait: ,Quo minus loco publico, quem is, cui locandi ius fuerit, fruendum alicui locavit, ei qui conduxit sociove eius e lege locationis frui liceat, vim fieri veto.‘“ (Auf allem Staatsland, welches der, dem das Pachtrecht verliehen wird, einem anderen zur Nutzung überlassen hat, verbiete ich Gewaltanwendung gegen den, der es führt oder seinen zur Nutznießung berechtigten Sozius.) Wortlaut und Stellung des Interdikts im prätorischen Edikt sowie der Ediktskommentar Ulpians bei: Lenel, Otto, Das Edictum Perpetuum. Ein Versuch zu seiner Wiederherstellung, 2. verb. Aufl. – Leipzig: Bernhard Tauchnitz 1907, S. 443 (hinfort: Lenel, Edictum Perpetuum). Vgl. auch Webers Ausführungen dazu in: Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 226 f.
und sonst literarisch vorkommenden socii
87
Vgl. die von Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 407, Anm. 63, S. 409, Anm. 69, zusammengetragenen Ouellenstellen, in denen die socii zur Sprache kommen.
des Konsortial[389]leiters (manceps) waren Unterkonsortial[WuG1 441]beteiligte,
88
[389] Der „manceps“ ist der Unternehmer, der zunächst als einzelner und im eigenen Namen den Pachtvertrag mit dem Staat gegen Sicherheitsleistung abschließt. Daneben können vom Staat zugelassene andere Personen (socii) als Gesellschafter an dem Pachtverhältnis beteiligt sein. Sie nehmen nicht nur an den internen Sozietätsbeschlüssen, sondern auch – in verschiedener Art – an der Ausübung der Pachtrechte nach außen teil und haften neben dem manceps dem Staat für Ausfälle; vgl. zur Publikanensozietät und speziell zur Stellung des manceps und der socii Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 406–413.
die affines bloße Kommanditisten,
89
Weber bezieht sich vermutlich auf das von Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 413, über die Stellung der „adfines“ (= affines) Gesagte: „Von den Socii der Publikanengesellschaft sind die Adfines derselben zu unterscheiden […]. Sie sind vermutlich nur mit einer Kapitaleinlage bei dem Unternehmen beteiligt gewesen und werden über ihre Einlage hinaus kein Risiko getragen haben, dafür aber jedenfalls auch von der Geschäftsführung ausgeschlossen gewesen sein.“ Zur Hauptstelle bei Livius vgl. ebd., S. 413, Anm. 78, und S. 406, Anm. 62.
die faktische
e
[389]A, B: faktisch der
Rechtslage nach innen und außen der heutigen sehr ähnlich.
Teils rechtstechnisch, teils politisch bedingt war auf der anderen Seite die Entscheidung der Frage: ob auch die Staatsanstalt selbst als Rechtspersönlichkeit im Sinne des Zivilrechts zu behandeln sei. Das hieß praktisch in erster Linie: daß die Rechtssphäre der Organe der staatlichen Herrschaft geschieden wird in eine persönliche Rechtssphäre mit Ansprüchen und Verpflichtungen, die ihnen persönlich zugerechnet werden, und in eine amtliche, deren vermögensrechtliche Beziehungen einem Sonderkomplex, dem Anstaltsvermögen, zugerechnet werden,
f
A, B: werden:
daß aber [A 16][B 49]ferner auch die Sphäre des amtlichen Auftretens der Organe des Staats ihrerseits geschieden ist in eine Sphäre herrschaftlicher und eine andere Sphäre privatrechtlicher Beziehungen, daß in dieser letzteren[,] ausschließlich vermögensrechtlichen Sphäre die allgemeinen Grundsätze des Rechts des Privatverkehrs maßgebend sind. Eine normale Konsequenz dieser Persönlichkeit des Staates ist es dann, daß er aktiv und passiv als gleichberechtigter Prozeßgegner eines Privatmannes im gewöhnlichen Rechtsgang aufzutreten und in Anspruch genommen zu werden qualifiziert ist. Die Frage der Rechtspersönlichkeit hat mit dieser letzteren Frage an sich[,] juristisch betrachtet[,] nichts zu schaffen. Denn die privatrechtliche Erwerbsfähigkeit des populus romanus z. B. aus Testamenten war zweifellos, prozeßfähig aber war er nicht. Beide Fragen sind auch praktisch verschieden. Im Sinne [390]selbständiger Erwerbsfähigkeit pflegt aber die selbständige Rechtspersönlichkeit aller anstaltsmäßigen, also staatlichen[,] politischen Gebilde außer Zweifel zu stehen, auch wenn sie sich der Unterwerfung unter die ordentliche Rechtspflege entziehen. Ebenso kann die Rechtspersönlichkeit und die Zulässigkeit des Rechtsweges anerkannt sein, aber für die Kontrakte der Staatsanstalt können ganz andere Grundsätze gelten als für Privatkontrakte. Meist freilich pflegt dies letztere[,] wie in Rom[,] mit dem Ausschluß der ordentlichen Gerichte und der Entscheidung von Streitigkeiten aus Kontrakten mit dem Staat durch Verwaltungsbeamte zusammenzuhängen. Die Fähigkeit, prozessual als Partei aufzutreten, pflegt nicht nur den Rechtspersönlichkeiten, sondern auch vielen Gesamthandvergesellschaftungen verliehen zu sein. Dennoch aber taucht das Problem der Rechtspersönlichkeit rechtshistorisch meist in enger Verbundenheit mit dem Problem der Prozeßstandschaft auf. Dies
g
[390]A, B: Diese
gilt speziell für die öffentlichen Verbände, wo
h
A, B: Verbände. Wo
immer die politische Gewalt mit Privaten nicht als Herrscher zum Untertanen verhandeln konnte, sondern genötigt war[,] sich deren
i
A, B: dessen
Leistungen durch freien Kontrakt zu beschaffen, also vor allem durch Verkehr mit
j
A, B: beim
Kapitalisten, deren Kredithilfe oder Unternehmerorganisation sie bedurfte und die sie infolge der Frei[A 17][B 50]zügigkeit des Kapitals zwischen mehreren konkurrierenden politischen Verbänden nicht leiturgisch zu erzwingen vermochte; ferner beim Verkehr mit freien Handwerkern und Arbeitern, gegen welche sie leiturgische Zwangsmittel nicht anwenden konnte oder wollte. In all diesen Fällen entstanden alle jene Probleme zugleich. Wenn die Frage der Rechtspersönlichkeit des Staats und zugleich der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte bejaht wurde, so bedeutete dies im allgemeinen eine Steigerung der Sicherung der privaten Interessen. Nicht aber mußte umgekehrt die Ablehnung eines von beiden Postulaten notwendig eine Minderung dieser Sicherung bedeuten. Denn es konnte anderweit die Innehaltung der Kontraktpflichten hinlänglich garantiert erscheinen. Daß man den König von England von jeher verklagen konnte,
90
[390] Einerseits entsprach es der lehensrechtlichen Grundauffassung, daß der König als „lord paramount“ – wie jeder andere Lehnsherr – nicht in seinem eigenen Gericht verklagt werden konnte. Doch gab es andererseits noch im 14. Jahrhundert Richter, wel[391]che der Tradition folgten, daß jedermann den König vor dessen Gerichte ziehen könne. Die allgemeine Rechtsidee, wonach der König kein Unrecht tun könne („the king can do no wrong“), setzte sich erst in der Folgezeit durch; vgl. Pollock/Maitland, English Law I, S. 516, 518.
hat die Florentiner Bankiers nicht vor [391]der Repudiation der riesigen Schuldenlast im 14. Jahrhundert geschützt.
91
Bedeutende Florentiner Bankiers beherrschten Ende des 13. Jahrhunderts als Kapitalgeber von Fürsten und Bischöfen den englischen Geldmarkt. Doch neben den außergewöhnlichen Gewinnchancen (durch Pachtung oder Pfandnahme von Steuern, Zöllen, Bergwerken etc.) barg gerade das politische Geldgeschäft für die Banken – im Unterschied zu den sicheren Geschäften mit der Kirche – erhebliche Risiken. Könige und Fürsten konnten zur Zahlung ihrer Schulden nicht gezwungen werden. Die Zahlungsverweigerung Eduards III. – neben sistierten Darlehensrückzahlungen durch Robert von Neapel und der Enteignung florentinischer Kaufleute durch den französischen König – trieb deshalb einige der einflußreichsten Florentiner Firmen 1345 in den ökonomischen Ruin; vgl. etwa Schanz, Georg, Englische Handelspolitik gegen Ende des Mittelalters, Band 1. – Leipzig: Duncker & Humblot 1881, S. 112 f.
Das Fehlen jedes prozessualen Zwangsmittels gegen die römische Staatskasse hat deren Gläubiger im allgemeinen nicht gefährdet, und als dies im zweiten Punischen
k
[391]A, B: punischen
Kriege doch geschah, wußten sie sich Pfandsicherheiten geben zu lassen, deren Antastung nicht versucht worden ist. Gegen den französischen Staat blieb wenigstens die zivilrechtliche
l
A, B: zwangsweise Zur Emendation vgl. Anm. 92.
Anrufung des Rechtsweges auch nach der Revolution ausgeschlossen,
92
Es fehlt ein zivilrechtlicher Zahlungszwang gegen den französischen Staat. Der Staatsgläubiger hat seine Forderung aus einem Formalvertrag mit dem Staat, d. h. aus einem abstrakten Zahlungsversprechen desselben, das in verwaltungsrechtlicher Form abgegeben wird (durch Eintragung in das Staatsschuldbuch, Ausstellung von „Geschäftsurkunden“, Ausgabe von Schatzscheinen). Ihre Realisierung geschieht über sog. gebundene Verwaltungsakte des Finanzministers, gegen die dem Gläubiger der ordentliche Verwaltungsrechtsweg offen steht; vgl. dazu Mayer, Theorie (wie oben, S. 298, Anm. 68), S. 389 f., 399 f., 417 f.
ohne seinen Kredit zu gefährden. Die Versagung des Rechtswegs gegen die Staatskasse [WuG1 442]ist einerseits als Teilerscheinung der prinzipiellen Heraushebung des Staates aus den Kreisen der Verbände mit der Entwicklung des modernen Souveränitätsbegriffs entstanden. So in Frankreich.
93
Der Grundsatz, daß der Staat durch die Zivilgerichte zur Schulden-, Schadenersatz- oder Zinszahlung nicht gezwungen werden könne, galt in Frankreich zunächst ohne gesetzliche Grundlage und wurde allgemein auf die hoheitlichen Aufgaben der staatlichen Finanzverwaltung zurückgeführt. Später wurde er gesetzlich fixiert; vgl. Mayer, Theorie (wie oben, S. 298, Anm. 68), S. 417 mit Anm. 13.
Auch Friedrich Wilhelm I. hat im Zusammenhang mit seinem Souveränitätsbewußtsein den Versuch gemacht, den „renitenten Adelsleuten“ durch „allerhand Schikane“ die Anrufung des Reichskam[392]mergerichts zu verleiden.
1
[392] Weber bezieht sich offenkundig auf eine Instruktion Friedrich Wilhelms I. an sein Generaldirektorium vom 20. Dezember 1722. Der König nahm darin zu Klagen Stellung, die der Landadel wegen einer von ihm erhobenen Abgabe beim Reichsgericht anhängig gemacht hatte. Darin heißt es: „Die Domänenprocesse sollen im Magdeburgischen gegen diejenige Edelleute, die sich weigern, den Lehnscanonem zu entrichten und deshalb an den Reichshofrath appelliret haben, mit dem äußersten Rigueur fortgesetzet, auch eben diesen renitirenden Edelleuten von Unserm Magdeburgischen Commissariat allerhand Chicanen gemacht und ihnen solchergestalt der Kitzel vertrieben werden, gegen ihren angeborenen Landesherrn und Obrigkeit an dergleichen frevelhaftes und gottloses Beginnen weiter zu gedenken, geschweige denn selbiges wirklich vorzunehmen und auszuführen.“ Der Wortlaut der Instruktion in: Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert (Acta Borussica. Denkmäler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, hg. von der Königlichen Akademie der Wissenschaften), Band 3. – Berlin: Paul Parey 1901, S. 625 f.; vgl. auch Mayer, Otto, Justiz und Verwaltung. Rede zum Antritt des Rectorats der Kaiser-Wilhelms-Universität Straßburg. – Straßburg: J. H. Ed. Heitz 1902, Zitat S. 6.
Die Gewährung des Rechtsweges war andrerseits da und solange selbstverständlich, als die ständische Struktur des politischen Gebildes alle Beschwerde über die Verwaltung als Grenzstreit zwischen Privilegien und wohlerworbenen
m
[392]A, B: wohl erworbenen
Rechten in die Form des Rechtsstreits verwies und der Fürst nicht als Souverän, sondern als Inhaber einer bestimmt begrenzten Prärogative, als ein Privilegienträger [A 18][B 51]neben anderen im politischen Verband erschien. So in England
2
Vgl. oben, S. 290 f., und unten, S. 394 f.
und im römisch-deutschen Reich.
Die Versagung der Klage gegen den Staat konnte aber auch die Folge wesentlich rechtstechnischer Umstände sein. So war in Rom der Zensor die Instanz für die Entscheidung aller nach unseren Denkgewohnheiten privatrechtlichen Ansprüche einzelner an die Staatskasse und umgekehrt. Aber er war auch die zuständige Instanz für die Streitschlichtung zwischen Privaten, soweit es sich um Rechtsfragen handelte, welche aus den Beziehungen zum Staatsgut herrührten. Alle Besitzstände auf dem Ager publicus und alle Streitigkeiten zwischen den kapitalistischen Interessenten des Staatsgebietes und der Staatslieferungen (publicani) oder zwischen ihnen und den Untertanen waren der ordentlichen
n
A, B: hohen Die Emendation folgt WuG5, S. 428.
Geschworenenjustiz dadurch entzogen und dem einfachen verwaltungsrechtlichen Cognitionsverfahren überwiesen,
3
Nach Auffassung von Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 348, Anm. 3, galt das zu[393]mindest für Streitfälle der letztgenannten Art nicht ausnahmslos. Der Zensor, heißt es da, könne für den Fall, „daß über staatliche Rechte zwischen jenem, dem sie zur Ausübung überlassen sind (Publicani u. dgl.), und Privatpersonen Streit entsteht“, durchaus in die Lage kommen, ein Geschworenengericht einzusetzen. So für die republikanische Ordnung auch Mommsen, Staatsrecht II, S. 1020, 465. Andererseits hält es Mommsen, Staatsrecht I, S. 177, für wahrscheinlich, „daß diese censorischen Geschwornengerichte, anders als die prätorischen, facultativ gewesen sind, die Cognition des Magistrats dadurch nur dann und nur insoweit ausgeschlossen wird, als es diesem selber beliebt.“
sicherlich der Sache nach nicht [393]ein negatives, sondern ein positives Privileg der ungeheuren staatskapitalistischen Interessen. Das fehlende Geschworenenverfahren und die Qualität der Staatsbeamten als Richter und Parteivertreter in einer Person blieb bestehen und ging im Effekt auch auf den Fiskus der kaiserlichen Verwaltung
4
Die Weberschen Ausführungen setzen hier und im folgenden die staatsrechtlich wichtige (formell noch bis in die diokletianische Zeit bestehende) Unterscheidung zwischen der republikanischen „Reichshauptkasse“ (Mommsen), dem „aerarium“, und der kaiserlichen Staatsvermögensverwaltung (fiscus Caesaris, später einfach: fiscus) einerseits, dann dieser beiden vom kaiserlichen Privatvermögen andererseits voraus; vgl. Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 352–362; Mommsen, Staatsrecht II, S. 992 ff.
über, nachdem dieser nach kurzem Schwanken unter Tiberius seit Claudius zunehmend den Charakter eines Staatsgutes und nicht eines persönlichen Besitzes des Kaisers angenommen hatte.
5
Da der Fiskus im Unterschied zum republikanischen Staatsschatz (aerarium) kein Vermögen des populus Romanus darstellte, kam für ihn die Administrativjudikatur, die sich für die Aerialverwaltung ausgebildet hatte, nicht in Betracht; seine Rechtsangelegenheiten wurden statt dessen dem Privatrechtssystem unterstellt. An diesem Grundsatz hielt der frühe Prinzipat (Augustus und auch noch Tiberius) fest, bis 53 n. Chr. unter Claudius ein Senatsbeschluß die gesamte Ziviljurisdiktion zwischen Fiskus und Privaten sog. kaiserlichen Prokuratoren unterstellte und damit den Fiskalprozeß dem Aerialprozeß grundsätzlich anglich. In dieser Bewertung der Rechtsentwicklung und namentlich der darin zum Ausdruck gelangenden Auffassung des Fiskus als Staatsgut folgt Weber vermutlich der besonders im zuletzt genannten Punkt ausdrücklich gegen Mommsen gerichteten Darstellung bei Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 350 f., Anm. 7, und S. 364 f.; dagegen Mommsen, Staatsrecht II, S. 998: „Die kaiserliche Kasse, der fiscus Caesaris oder […] der fiscus schlechtweg, ist Privateigenthum des Princeps […]“; für die hier interessierenden Rechtsverhältnisse des Fiskus vgl. auch Mommsen, Staatsrecht II, S. 1021–1025.
Ganz restlos ist dies freilich nicht geschehen und sowohl terminologisch (durch Fortfall der alten verwaltungsrechtlichen Ausdrücke: manceps, praes und ihren Ersatz durch zivilrechtliche) wie in dem Grundsatz: daß der Fiskus prozeßfähig sei, blieb der Unterschied bestehen.
6
Weber stützt sich vermutlich auf Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 364; für die frühe Prinzipatszeit übereinstimmend: Mommsen, Staatsrecht II, S. 1021; auch ders., Staatsrecht I, S. 175, Anm. 2.
Schwankungen zwischen patrimonialer und anstaltsmäßiger Auffassung der Stellung des kai[394]serlichen Besitzes haben neben verwaltungstechnischen Erwägungen und rein ökonomischen Interessen der Dynastie auch die verschiedenen Umgestaltungen und Unterscheidungen kaiserlicher Vermögensmassen bedingt, welche alle in der Theorie als prozeßfähig galten. Im Effekt ist die Scheidung des Kaisers als Privatperson und als Magistrat trotz allem wohl nur unter den ersten [A 19][B 52]Kaisern durchgeführt worden. Letztlich galt aller Besitz der Kaiser als Krongut und daher wurde es üblich, das Privatvermögen bei der Thronbesteigung den Kindern zu übertragen.
7
[394] Wegen des noch ungefestigten Rechtsstatus des Kaisers und eines unterscheidbaren kaiserlichen Privatvermögens zumindest in der Frühzeit des Prinzipats formuliert Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 355, den Kausalzusammenhang eher umgekehrt: Aus der praktisch schwierigen Trennung privater und öffentlicher Vermögensbestände resultierte demnach die Übung der Kaiser, „ihr Privatvermögen schon bei der Thronbesteigung auf die Kinder“ (faktisch regelmäßig den Nachfolger) zu übertragen, was allmählich den Gedanken erzeugt habe, „daß hier nicht mehr ein persönliches Vermögen, sondern ein Krongut vorliegt.“
Die Behandlung des Konfiskationserwerbs und der zahlreichen zur Stütze der Gültigkeit von Testamenten an die Kaiser hinterlassenen Vermächtnisse
o
[394]A, B: Vermächtnissen
ist weder vom Standpunkt einer rein privat-
p
A, B: privaten
noch einer rein staatsrechtlichen Auffassung ganz klar entwickelt worden.
8
Zum kaiserlichen Privatvermögen gehörte nach Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 354, alles schon vor dem Regierungsantritt Besessene und alles danach auf Grund privater Rechtstitel Erworbene. Darunter fielen in erster Linie die häufigen Erbschaften und Legate an die Kaiser sowie – „wenigstens teilweise“ – die Konfiskationen. Dieses in Quellentexten „res privata“ genannte Vermögen hat Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 358–360, in „staatsrechtlicher Perspektive“ als „fiskalischer Etat“ (ebd., S. 355, Anm. 18) gedeutet, im Unterschied zu einer privatrechtlichen Position, die die konfiszierte res privata gegenüber dem überkommenen Krongut als kaiserliches Privatvermögen auffaßt (vgl. die Nachweise ebd., S. 359, Anm. 25).
Für die Stellung des ständischen Fürsten des Mittelalters versteht sich, nach der später noch näher zu erörternden Struktur ständischer
q
A, B: ständiger
Gebilde,
9
Siehe Weber, Feudalismus, MWG I/22-4, S. 410–413.
die Ungeschiedenheit von Fürstengut, welches politischen Zwecken und solchem, welches privaten Zwecken diente, vom
r
A, B: von
Fürst als Herrscher und Fürst als Privatmann, von selbst. Wie wir sahen,
10
Siehe oben, S. 390–392.
hatte diese Ungeschiedenheit zur Anerkennung der Möglichkeit von Prozessen gegen den englischen [395]König und den deutschen Kaiser geführt. Der gerade umgekehrte Effekt aber trat dann ein, wenn die Souveränitätsansprüche den Staat der Unterstellung unter die Justiz seiner eigenen Organe entzogen. Immerhin hat auch hier die Rechtstechnik den politischen Interessen der Fürsten gegenüber ziemlich wirksamen Widerspruch geleistet. Der rezipierte römische Fiskusbegriff hat in Deutschland als Rechtskonstruktionsmittel für die Möglichkeit, den Staat [WuG1 443]zu verklagen, gedient und hat infolgedessen [–] freilich in Konsequenz der überkommenen ständischen Auffassung weit über privatrechtliche Streitigkeiten hinaus [–] auch der eigentlichen Verwaltungsrechtspflege als erste Unterlage dienen müssen.
11
[395] Die römisch-rechtliche Auffassung vom Fiskus als eines Sonder-Vermögens führte in Verbindung mit dem Souveränitätsgedanken zunächst zum Souverän als „Subjekt“ des Fiskalvermögens, welches von dessen Privatvermögen unterschieden wurde. Indem man weiterhin im Fiskalvermögen ein von der Person des Souveräns verschiedenes Rechtssubjekt verkörpert sah, wurden – wie Gierke, Genossenschaftsrecht IV, S. 250 f., sagt – „die Rechte des Fiskus nicht bloß zu den Rechten des Herrschers als Privatperson, sondern gleichzeitig zu den dem Herrscher als Herrscher zustehenden Hoheitsrechten in einen scharfen Gegensatz“ gestellt. Damit konnten hoheitliche von rein vermögensrechtlichen Handlungen des Herrschers prinzipiell abgegrenzt werden.
Der Fiskusbegriff hätte nun eigentlich schon in der Antike einen Anstaltsbegriff erzeugen können. Diese Konzeption ist jedoch von den klassischen Juristen nicht vollzogen worden, weil sie den gegebenen Kategorien des antiken Privatrechts fremd war.
12
Weber pflichtet hier Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 350, bei: „Eine von den realen Verhältnissen ausgehende Konstruktion kann ihn [den Fiskus, Hg.] jedoch nur als eine vom Kaiser ressortierende Anstalt auffassen, welche die Bedürfnisse der kaiserlichen Verwaltung zu decken bestimmt ist.“ Auch die „römische Anschauung“ hätte „unmöglich ernsthafter Weise“ den Kaiser als Subjekt des Fiskusvermögens bezeichnen können, sondern hätte „im Fiskus eine als selbständige juristische Persönlichkeit zu denkende Anstaltsperson erblicken“ müssen. Andererseits fehle „für den Fiskus […] eine juristische Konstruktion in den Quellen so vollständig, daß man von einer Anerkennung des Anstaltsbegriffs nicht sprechen“ könne (ebd., S. 340).
Nicht einmal die Auflage im Sinn des heutigen Rechts war derart entwickelt, daß sie einen Ersatz bilden konnte.
13
Vgl. die Formulierung bei Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 194, wonach die Auflage im modernen Sinne in den klassischen Quellen nicht formuliert ist. Man hat sich darunter eine Zuwendung von Vermögenswerten an eine bereits existente juristische Person vorzustellen, mit der Verpflichtung („Auflage“), einen bestimmten Zweck damit zu verfolgen (vgl. Mayer, Juristische Person (wie oben, S. 382, Anm. 70), S. 41).
Der Stiftungsbegriff vollends blieb dem römischen Recht der Konzeption nach infolgedessen ganz fremd, sodaß für diese Zwecke nur der inschriftlich nachweisbare Weg [396]blieb, sie als Korporationsvermögen zu konstituieren.
14
[396] Vgl. Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 414, Anm. 2: „Die überwiegende Mehrzahl der Inschriften, auf denen unsere Kenntnis des praktischen Stiftungswesens fast ausschließlich beruht, nennt die Korporation als Eigentümerin des Stiftungskapitals; wo dies ausnahmsweise nicht der Fall ist, kann es mit Sicherheit subintelligiert werden.“ Das Sondervermögen wurde also vorhandenen privaten oder öffentlichen Gemeinschaften aller Art (wie Munizipien, vici, pagi oder religiöse und weltliche Kollegien) mit einem dem Vermögenszweck entsprechenden Verwendungsvorbehalt übertragen, der dessen dauerhafte Verwirklichung verbürgte, nicht aber durch Vermögensabsonderung an ein neues Rechtssubjekt, die „Stiftung“.
Die Konzeption des Stiftungsbegriffs ist der [A 20][B 53]Sache wie der reinen Technik nach fast überall religiös bedingt gewesen. Die große Masse der Stiftungen war von jeher dem Totenkult oder Werken religiös verdienstlicher Barmherzigkeit gewidmet. Das Interesse an der juristischen Konstruktion hatten daher vorwiegend Priesterschaften, welche mit der Wahrnehmung der stiftungsmäßigen Leistungen betraut waren. Daher entstand ein Stiftungsrecht nur da, wo die Priesterschaften hinlängliche Unabhängigkeit von der Laiengewalt gewannen, um ein heiliges Recht zu entwickeln. In Ägypten sind deshalb die Stiftungen uralt.
15
Weber erwähnt in: Agrarverhältnisse3, MWG I/6, S. 412 f., die inschriftlich bereits für die thinitische Phase des Alten Reiches (1. und 2. Dynastie) – nach heutiger Datierung 2850–2052 v. Chr. – bezeugten religiösen Stiftungen. Da der moderne Stiftungsbegriff auch hier fehlte, wurden sie rechtstechnisch etwa in Form einer donatio sub modo, als Schenkung unter Auflage ihrer Erblichkeit, eingeführt.
Rein weltliche, insbesondere Familienstiftungen waren rechtstechnisch und zweifellos
s
[396]A, B: unzweifellos
auch aus rechtspolitischen Gründen fast überall unbekannt, wenn sie sich nicht der Form der Lehensauftragung oder ähnlicher Formen bedienten, also eine Abhängigkeit der privilegierten Familien vom Fürsten schufen. Innerhalb der Polis fehlten sie deshalb. Erstmalig im byzantinischen Recht wurde das unter rechtstechnischer Benutzung sakraler Normen anders, nachdem das spätrömische Recht in den Fideicommissa begrenzte Ansätze dazu entwickelt hatte. In Byzanz kleidete sich die Sicherung ewiger Renten für die eigene Familie aus Gründen, die noch zu erörtern sein werden,
16
Zur Immobilisierung von Vermögen durch die byzantinischen Klosterstiftungen und zu den „Wakufs“ des islamischen Mittelalters, einer Reaktion auf die „Labilität aller Rechtsgarantien auf dem Boden patrimonialer Justiz und Verwaltung“, siehe Weber, Feudalismus, MWG I/22-4, S. 427–431, Zitat S. 428.
in die Form von Klostergründungen mit Vorbehalt von Verwaltung und Rentenrechten für die eigene Familie. Von da ging diese Art [397]von Stiftungen in die Wakufs des islamischen Rechts über, welche dort eine ganz außerordentliche, auch ökonomisch sehr weittragende Rolle gespielt haben. Im Okzident aber wurde rechtstechnisch zunächst der Heilige als Eigentümer des Stiftungsgutes behandelt
17
[397] Die Vorstellung von Gott und den Heiligen als rechtlichen Eigentümern des Kirchengutes und aller etwa durch Schenkungen und Stiftungen in den Bereich der kirchlichen Vermögensverwaltung gelangenden Güter entsprach – wie Gierke, Genossenschaftsrecht II, S. 527–531, vermutet – in besonderer Weise der sinnlich-konkreten Anschauungsweise in den christlichen Germanenreichen. Sie bot der Kirche ein wirksames Schutzinstrument gegen staatliche Übergriffe auf ihr Gut.
und begann sich ein weltlicher Stiftungsbegriff des Mittelalters zu entwickeln, nachdem das kanonische Recht ihn für kirchliche Zwecke vorbereitet hatte.
Die Konzeption des Anstaltsbegriffes ist[,] rein juristisch betrachtet, erst von der modernen Theorie vollzogen worden. Der Sache nach ist auch er kirchlichen Ursprungs und stammt aus dem spätrömischen Kirchenrecht. Ein Anstaltsbegriff mußte hier irgendwie entstehen, nachdem die charismatische Auffassung der Trä[A 21][B 54]ger der religiösen Autorität
18
Den Begriff des „Charisma“ im Sinne einer göttlichen Gnadengabe hat Sohm in die altchristliche Terminologie eingeführt; vgl. Sohm, Rudolph, Kirchenrecht (Systematisches Handbuch der Deutschen Rechtswissenschaft, hg. von Karl Binding, Abt. 8), Band 1: Die geschichtlichen Grundlagen. – Leipzig: Duncker & Humblot 1892, S. 6, 26 f. (hinfort: Sohm, Kirchenrecht). Nach seiner Darstellung ragt unter einer Mehrzahl von „Funktions-Charismen“ das Charisma des Lehramtes hervor. Die zur Verkündigung und Verbreitung von Gottes Wort berufenen Apostel, Propheten und Lehrer gelten – der darin allerdings bestrittenen Auffassung Sohms zufolge – gleichzeitig als die befähigten Leiter, Gesetzgeber und Seelsorger der Christengemeinden. In nachapostolischer Zeit, zunehmend seit der Mitte des 2. Jahrhunderts tritt an die Stelle ihrer geistlichen Macht die rechtlich verfaßte Gewalt des Episkopats und seiner Amtsbürokratie.
auf der einen Seite und die rein
t
[397]A, B: reinen
voluntaristischen Organisationen der Gemeinden
19
Die herrschende zeitgenössische Theologenmeinung geht von der korporativen Verfassung der urchristlichen Gemeinde nach dem Vorbild entweder der jüdischen Synagoge, der römischen Kollegien oder schließlich in eigenständiger, vereinsmäßiger Art aus. Diese Auffassung wird namentlich von dem protestantischen Rechtshistoriker Sohm bestritten, dem Weber darin zu folgen scheint; vgl. Sohm, Kirchenrecht (wie oben, Anm. 18), S. 27, 51 f., 54, 56. Die christliche Ekklesia sei ursprünglich keine körperschaftlich verfaßte Gemeinschaft mit Selbstverwaltungscharakter, also eigenen Organen, Befugnissen, eigenem Vermögen etc. Sie bilde vielmehr eine Glaubensgemeinschaft, deren Angehörige sich aus freiem Willen den autoritativen, auch organisatorischen Weisungen ihrer charismatisch beglaubigten Führer unterwürfen, wenn deren Charisma erkannt und erwiesen sei – dann immerhin nur noch formell frei, sittlich jedoch pflichtmäßig.
auf der anderen end[398]gültig zurückgetreten waren zu Gunsten der Amtsbürokratie der Bischöfe und diese nun auch die rechtstechnische Legitimation zur Wahrnehmung kirchlicher Vermögensrechte zu erlangen strebten.
20
[398] Rechtsdogmatisch erfaßt wurde das Kirchengut erst im 4. Jahrhundert mit Hilfe des römischen Korporationsbegriffs. Jedoch wurde die Konsequenz vermögensrechtlich eigener Befugnisse der Gemeinde von Anfang an nicht gezogen und das Kirchengut – im Sinne der bischöflichen Ambition – zunächst faktisch, schließlich auch rechtlich (in den Kaiserkonstitutionen des 5. und 6. Jahrhunderts) als Anstaltsvermögen konstruiert; vgl. Sohm, Kirchenrecht (wie oben, S. 297, Anm. 18), S. 71–78 und S. 75 ff., mit Anm. 2.
Dem antiken Recht, welchem die Tempelgüter seit der Säkularisation des Kults durch die Polis rechtlich als deren Besitz galten,
21
In der Zeit der großen griechischen Gesetzgeber (Solon, Charondas, Zaleukos im 7./6. Jahrhundert v. Chr.) wurden auch Kultorganisation und Kultübung gesetzlich geregelt, und in klassischer Zeit (5. bis erste Hälfte des 4. Jahrhunderts v. Chr.) fungierten Priester bereits als Polisbeamte, die für die korrekte Kultabwicklung zuständig waren. Tempelgüter und Tempelschätze standen unter staatlicher Kontrolle und dienten besonders in Krisenzeiten als Anleihefonds der Polis.
war ein kirchlicher Anstaltsbegriff ganz fremd. Die antike Rechtstechnik half daher der christlichen Kirche mit ihrem Körperschaftsbegriff, das frühe Mittelalter, soweit das Kirchengut nicht als eigenkirchlicher Besitz
22
Mit „Eigenkirche“ bezeichnet Stutz die im „Eigentum“ des Grundherrn verbliebene sachenrechtliche, vermögensrechtliche und personaldienstliche Leitungsgewalt über eine auf dem Altargrund errichtete „Kirche“, der gegenüber unbewegliches Gut, Rechte und Einkünfte als sachenrechtliches „Zubehör“ behandelt werden. Die Eigenkirche als bis zum Investiturstreit in Deutschland vorherrschende Kirchenverfassung wird im Unterschied zur hierarchischen „Anstaltskirche“ als gemeingermanische dezentralisierende Institution konstruiert; vgl. Stutz, Ulrich, Die Eigenkirche als Element des mittelalterlich-germanischen Kirchenrechtes, Antrittsvorlesung, gehalten am 23. Oktober 1894. – Berlin: H. W. Müller 1895, bes. S. 14–22.
galt, in der erwähnten Art
23
Siehe oben, S. 397.
mit der Auffassung des Heiligen als Eigentümer und der Kirchenbeamten als seiner Vertreter aus. Das kanonische Recht aber entwickelte namentlich nach der Kriegserklärung an das Eigenkirchenrecht
24
Die weltlichen Herrscher waren dazu übergegangen, ganze Bistümer als Eigenkirche zu betrachten und sich dementsprechend die Ernennung von Bischöfen als weltlicher und geistlicher Herrschaftsträger vorzubehalten. Gegen diese Praxis opponierte das Papsttum im Investiturstreit mit Erfolg, indem es zu Beginn des 12. Jahrhunderts die Trennung der geistlichen und weltlichen Investitur durchsetzte.
im Investiturstreit ein geschlossenes kirchliches Korporationsrecht, welches vermöge der soziologisch notwendigen herrschaftlichen und anstaltsmäßigen Struktur der Kirche unvermeidlich abwich von dem Korporationsrecht sowohl der Vereine wie der ständi[399]schen Verbände, seinerseits aber die Bildung des weltlichen Korporationsbegriffs im Mittelalter stark beeinflußte.
25
[399] Weber spielt hier auf die maßgebliche Bedeutung der kanonistischen Korporationslehre für die Entwicklung des juristischen Anstaltsbegriffs und auch der weltlichen Korporationstheorie an, von der sie ihren Ausgang genommen hatte. Über das Resultat dieser dogmatischen Wechselwirkungen schreibt Gierke, Genossenschaftsrecht III, S. 245: „Ganz anders wird es, sobald die Kanonisten sich die Resultate der romanistischen Jurisprudenz dergestalt zu eigen gemacht haben, daß sie dieselben zu benützen verstehen, ohne von ihnen beherrscht zu werden. Nunmehr gelingt es ihnen, die herübergenommene romanistische Korporationstheorie dem kirchlichen Verbandssystem mehr und mehr anzupassen, bis unter ihren Händen eine tiefgreifende Umwandlung des Korporationsbegriffs erfolgt. Der sachliche Gehalt dieser Umwandlung läßt sich dahin bezeichnen, daß, während die Legisten von dem Gedanken der Genossenschaft ausgehen und diesem auch die Kirche unter Vernachlässigung ihrer anstaltlichen Elemente unterordnen, die Kanonisten mehr und mehr den kirchlichen Anstaltsbegriff zum Centrum der Korporationslehre erheben und von hier aus den anstaltlichen Gedanken auch in die weltlichen Gemeinden und Genossenschaften hineintragen.“ Vgl. auch Gierke, Deutsches Privatrecht I, S. 636 f.
Wesentlich verwaltungstechnische Bedürfnisse der modernen anstaltsmäßigen Staatsverwaltung haben dann zur rechtstechnischen [WuG1 444]Prokreation
a
[399]A, B: Privikation Die Emendation folgt WuG5, S. 429.
so massenhaft öffentlicher Betriebe: Schulen, Armenanstalten, Staatsbanken, Versicherungsanstalten, Sparkassen usw.[,] geführt, welche der Konstruktion als Korporationen, da sie keine Mitglieder und Mitgliedschaftsrechte, sondern nur heteronome und heterokephale Organe aufwiesen, unzugänglich waren, daß der selbständige Rechtsbegriff der Anstalt konzipiert wurde.
Der rationale Korporationsbegriff des entwickelten römischen Rechts war ein Produkt der Kaiserzeit, und zwar stammt er aus dem politischen Gemeinderecht. Politische Gemeinden im Gegensatz zum Staat gab es als Massenerscheinung erst seit dem Bundesgenossen-Krieg, welcher
b
A, B: Bundesgenossen Kredit, welches
bis dahin souveräne Städte massenhaft in den [A 22][B 55]Bürgerverband trieb,
c
A, B: aufnahm,
aber ihre korporative Selbständigkeit bestehen ließ. Die Gesetze der ersten Kaiser regelten diese Beziehungen endgültig. Die Gemeinden verloren in Konsequenz ihrer Mediatisierung die Qualität politischer Anstalten: civitates privatorum loco habentur,
d
A, B: habentur:
26
Weber bezieht sich auf Gai. D. 50,16,16, wonach die Gemeinden rechtlich wie Privatpersonen gestellt sind. Die Stelle wird zitiert von Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 348, Anm. 2, und S. 376, Anm. 1.
heißt es schon im 2. Jahrhundert, und mit Recht weist Mitteis darauf hin, daß nun der Terminus [400]commune statt publicum für das Gemeindevermögen auftaucht.
27
[400] Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 348, Anm. 2. Ergänzend fügt Mitteis hinzu, daß der Sprachgebrauch gleichwohl uneinheitlich sei; vgl. auch Mommsen, Theodor, Zur Lehre von den römischen Korporationen, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Rom. Abt., Band 25, 1904, S. 33–51, hier S. 36, 43 (hinfort: Mommsen, Korporationen). Die Regel wird formuliert von Ulpian, D. 50, 16, 15 und Papinian, D. 47, 2, 82 (81).
Ihre Streitsachen waren teils administrative (so die controversia de territorio),
28
Zu den im magistratischen Kognitionsverfahren entschiedenen „controversia de territorio“ der Gemeinden vgl. Weber, Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 147, 251, 331, und den Glossareintrag „Controversia de territorio“.
teils private[,] aus Kontrakten entstandene, und für diese galt offenbar der gewöhnliche Prozeßweg.
29
Vgl. Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 386–388.
Die typische Form des Munizipalbeamtentums verbreitete sich über das Reich. Wir finden nun, daß in den privaten Korporationen der Kaiserzeit sich genau die Titel des Munizipalbeamtentums wiederfinden. Die Bürokratisierung des Korporationsbegriffs nach dem Muster der ursprünglich
e
[400] Gemeint ist wohl: ursprünglichen
politischen Gemeindeanstalt, für welche die absolute Trennung von Gemeindegut und Einzelvermögen und der Satz: quod universitati debetur, singulis non debetur, selbstverständlich waren, geht wohl sicher hierauf zurück.
30
Die staatliche Organisation und Kontrolle der kaiserzeitlichen Privatkorporationen, die allmähliche Verdrängung genossenschaftlicher Elemente aus dem Gemeinderecht (speziell korporativer Rechte der einzelnen Mitglieder am Gemeindevermögen) zugunsten der strikten Trennung von Verbands- und Einzelvermögen wird von Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 345 und S. 347, Anm. 21, ausdrücklich festgehalten. Die prinzipielle Geltung des letzteren Grundsatzes für die nach dem Vorbild der Munizipien organisierten privaten Vereine sieht Mitteis dann seit der Regierung Mark Aurels (161–180 n. Chr.) verwirklicht (vgl. ebd., S. 402).
Gleichzeitig waren in der Monarchie der Julier alle Vereinsgründungen dem Konzessionszwang unterstellt worden,
31
Grundlage dafür ist ein Gesetz des Augustus, die sog. lex Julia, das in CIL VI 2193 erwähnt ist und auf das Jahr 7 v. Chr. datiert wird; vgl. Mommsen, [Theodor], Römische Urkunden, in: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft, Band 15, Heft 3, 1850, S. 287–371, hier IV: Die lex Iulia de collegiis und die lanuvinische lex collegii salutaris, S. 353–364, bes. 356 f., 359 f.; Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 395 f. mit Anm. 22.
zweifellos aus politischen Gründen. Ob mit der Konzessionierung allein die volle Rechtspersönlichkeit oder welche Teile davon erworben wurden, scheint fraglich, in der Spätzeit fiel beides zusammen.
32
Die herrschende Lehre ging seinerzeit von der Annahme aus, daß dem Verein mit der Konzessionierung auch die volle Rechtsfähigkeit zuerkannt sei; vgl. die Nachweise bei Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 399, Anm. 37. Weber scheint sich in dieser [401]Frage die Bedenken von Mitteis, ebd., S. 399 f., und Mommsen, Korporationen (wie oben, S. 400, Anm. 27), S. 49, zu eigen zu machen, die statt der Verbindung eine strikte Unterscheidung von Konzessionierung als Verein und Konstitution als juristische Person befürworten. Für die Spätzeit sieht freilich auch Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 402, den Vereinen mit der Anerkennung zugleich die volle Rechtsfähigkeit verliehen, während Rabel, Grundzüge (wie oben, S. 334, Anm. 62), S. 428 f., ausdrücklich gegen Mitteis, die Anerkennung als rein polizeiliche Autorisierung deutet.
Wahrscheinlich, wenn auch nicht [401]sicher, bezeichnet der Ausdruck corpus collegii habere die volle Rechtsfähigkeit.
33
Weber folgt der von Mitteis, Römisches Reichsrecht, S. 400 f., gegen die herrschende Lehre vertretenen Interpretation der maßgeblichen Digestenstelle Gai. D. 3,4,1,1: „Quibus autem permissum est corpus habere collegii […], proprium est ad exemplum rei publicae habere res communes, arcam communem et actorem sive syndicum, per quem tamquam in re publica, quod communiter agi fierique oporteat, agatur fiat.“ (Für diejenigen aber, denen es gestattet ist eine Körperschaft als Verein […] zu gründen, ist kennzeichnend, daß sie nach dem Vorbild eines staatlichen Gemeinwesens gemeinschaftliches Vermögen, eine gemeinschaftliche Kasse sowie einen Repräsentanten oder Syndikus haben, durch den, ebenso wie in einem Gemeinwesen, das getan und bewirkt wird, was gemeinschaftlich getan oder bewirkt werden muß.) Demnach ist mit „corpus collegii habere“ die Verleihung der Rechtsfähigkeit gemeint, die nicht schon automatisch durch die Konzessionierung gegeben sei.
Der typische Ausdruck der Theorie war später universitas. Wenn die plausible Annahme von Mitteis zutrifft, daß die internen Verhältnisse der privaten Korporation grundsätzlich nur der administrativen Cognition unterworfen gewesen seien,
34
Weber bezieht sich auf Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 347, Anm. 21, wo dieser über die rechtlichen Beziehungen zwischen Korporation und Korporationsmitgliedern bemerkt, „daß aller Wahrscheinlichkeit nach die internen Rechtsverhältnisse der Korporationen dem Jus ordinarium nicht unterstanden“, daß vielmehr „die Verhältnisse der Korporationsmitglieder zur Korporation im administrativen Wege der extraordinaria cognitio geschlichtet wurden“.
so wäre auch dies eine bezeichnende Teilerscheinung jener Bürokratisierung des Korporationswesens, welche den gesamten Rechtszustand der Kaiserzeit durchzieht, und zugleich eine jener säkularisierenden Umbiegungen des vorher gültigen Zustandes, wie sie diese ganze Entwicklung charakterisieren. Denn in republikanischer Zeit war der Zustand offensichtlich ein anderer. Es ist nicht sicher, [A 23][B 56]aber nicht unwahrscheinlich, daß die 12 Tafeln nach dem Muster des solonischen Gesetzes die Autonomie der bestehenden Korporationen anerkannten.
35
Der Bezug geht auf eine Digestenstelle zur Vereinsautonomie. Darin heißt es Gai. D. 47,22,4: „His (sodalibus) potestatem facit lex (XII tab.), pactionem quam velint sibi ferre, dum ne quid ex publica lege corrumpant; sed haec lex videtur ex lege solonis translata esse.“ (Diesen [den Vereinsmitgliedern] gibt das Zwölftafelgesetz das Recht, sich nach Belieben eine Satzung zu geben, solange sie damit nicht gegen etwas aus dem öffentlichen Gesetz verstoßen; aber diese Bestimmung scheint aus dem Soloni[402]schen Gesetz übernommen zu sein.) – Aus dem Vor-Satz Gai. D. 47,22,4: „sodales sunt, qui eiusdem collegii sunt […]“ („sodales“ sind diejenigen, die zum selben Kollegium gehören …) folgert Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 395 mit Anm. 17, zunächst nur eine Satzungsautonomie bereits bestehender Kollegien, jedoch keine allgemeine Vereins(-gründungs-)freiheit, auch wenn diese für die Zwölftafelzeit das Wahrscheinliche sei.
Gemeinsame Kassen galten, wie [402]gerade spätere Verbotsgesetze beweisen, für etwas Selbstverständliches.
f
[402]A, B: selbstverständliches.
Andererseits fehlt für eine zivilrechtliche Klage die rechtstechnische Möglichkeit.
36
Infolge der während der Vorherrschaft des Legisaktionenprozesses bestehenden Unzulässigkeit der rechtsgeschäftlichen, insbesondere also auch: prozessualen Stellvertretung („nemo alieno nomine lege agere potest“) fehlte dem Verein die (aktive) Prozeßfähigkeit, d. h. er konnte eine legis actio etwa durch seinen Vorstand rechtsgültig nicht vollziehen; vgl. oben, S. 392–394.
Auch das Edikt kennt sie sicher erst in der Kaiserzeit. Zwischen den Mitgliedern als solchen über Mitgliedsrechte fehlt ein Klageschema. Der Grund liegt offenbar darin: daß die privaten Korporationen damals teils dem sakralen, teils dem Verwaltungsrecht, priesterlicher oder amtlicher Cognition unterlagen, und dies wieder hing mit den ständischen Verhältnissen der antiken Polis, welche den Sklaven und den Metöken wohl im Kollegium, nicht aber in der politischen Bürgerzunft duldeten, zusammen.
Wie die hellenischen Phratrien und gewillkürte Verbände der älteren Zeit und wie die meisten Dauervergesellschaftungen als Rechtsgebilde
g
A, B: Rechtsgebiete Die Emendation folgt WuG5, S. 430.
bis hinauf zu den Totemverbänden, waren auch die ältesten bekannten römischen Vereine durchweg Verbrüderungen (sodalicia,
h
A, B: (sodalitas
N
MWG: sodalitas; hier Klammer in MWG digital ergänzt; Komma fehlt in A, B; in MWG ergänzt, daher Index „h“ im Haupttext verschoben.
sodalitates) und als solche Kultgenossenschaften. Der Bruder aber konnte von dem Bruder so wenig
i
A, B: sowie
wie irgend ein durch Pietätsbeziehungen Verbundener vor Gericht gezogen werden. Noch das Pandektenrecht bewahrt im Ausschluß der Kriminalklagen Spuren davon,
37
Weber bezieht sich vermutlich auf D. 2,4,4; 5; 8; 13; 25; D. 2,7,2, wonach die gerichtliche Ladung („in ius vocatio“) im familiären, klientelistischen und Freigelassenen-Verhältnis ausgeschlossen ist.
und für das Zivilrecht kam die Existenz [WuG1 445]der Verbrüderung grade in diesen negativen Konsequenzen, als Schranke
j
A, B: Schranken
also[,] in Betracht. Aus dem gleichen Grunde waren die Gilden und Berufsverbände, deren Existenz in alter republikanischer Zeit in Rom sicher bezeugt ist, als collegia cultorum konstituiert:
38
Zunächst bezeichnet der Ausdruck „collegia cultorum“ – im Unterschied zu den [403]sodalitates bzw. sodalicia – die vom Staat eigens zur Pflege neu eingeführter Gottheiten geschaffenen Kultverbände bzw. solche, zu denen sich nach der staatlichen Anerkennung eines neuen Gottes Verbände frei konstituieren konnten. Die bereits in ältester Zeit auftretenden Berufsgenossenschaften versahen ebenfalls den Kultdienst für ihre Schutzgottheit, und diese Aufgabe war oft geradezu Gründungszweck solcher Verbände. Sie galten daher als „collegia“. Vgl. hierzu u. a. Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 391–394, und Mommsen, Korporationen (wie oben, S. 400, Anm. 27), S. 46 f.
wie die chinesischen und mittelalterlichen Verbände [403]gleicher Art waren sie Verbrüderungen unter dem Schutz ihres Spezialgottes, der dann in Rom vom Staat durch Zulassung des Collegiums als legitim anerkannt wurde: so Merkur für das nach der Tradition sehr alte collegium mercatorum.
39
Nach Liv. 2, 21, 7, wurde das collegium mercatorum 495 v. Chr., kurz nach Vertreibung des letzten Königs, anläßlich der Errichtung des Merkurtempels gegründet. Auf Beschluß des Senats und der Bürgerschaft Roms sollte ein collegium mit der Pflege des Gottesdienstes beauftragt werden, worin die Bedeutung des griechischen Gottes Hermes (lat. Herkules) für den Handel zum Ausdruck kommt; vgl. dazu Wissowa, Georg, Religion und Kultus der Römer (Handbuch der klassischen Altertums-Wissenschaft in systematischer Darstellung, hg. von Iwan von Müller, Band 5, Abt. 4). – München: C. H. Beck 1902, S. 248 f. (hinfort: Wissowa, Religion); Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 392, Anm. 6.
Die gegenseitige Unterstützungspflicht in Notlagen und die Kultmahle, welche ihnen mit den germanischen Gilden ebenso wie mit allen anderen auf Verbrüde[A 24][B 57]rung ruhenden Verbänden urwüchsig waren, rationalisierten sich später zur Schaffung von Hilfs- und Sterbekassen, als welche zahlreiche dieser Collegia dann in der Kaiserzeit auftauchen. Mit dem Recht der Bürger hatten sie nichts zu tun. Solange die sakrale Organisation mehr als bloße Form war, ist ihr Vermögen vermutlich sakral geschützt gewesen und wurden Streitigkeiten unter den Genossen als solche durch Schiedsgerichte, Kollisionen nach außen vermutlich durch magistratische Cognition erledigt. Die Ingerenz der Magistrate verstand sich bei demjenigen Teile der Berufsverbände von selbst, welche Bedeutung für staatliche Leiturgien (munera) hatten. Daraus erklärt sich die zwanglose Überführung in die Bürokratisierung der Kaiserzeit. Vornehmlich außerhalb des ordentlichen Geschworenenverfahrens vollzog sich aber auch die Regelung der Verhältnisse derjenigen agrarischen Verbände, deren Fortbestand die Quellen nur vermuten lassen. Der ager compascuus war ein Rudiment der Allmende[,]
40
Weber skizziert die Beziehung von Allmende und ager compascuus in: Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 208–212. Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 344, greift – Webers Habilitationsschrift zitierend (ebd., Anm. 13) – den Gedanken der korporativen Realberechtigung Einzelner am ager compascuus auf, der nur „ein verkleinertes Abbild“ der ursprünglichen Allmendverhältnisse sei.
und die von [404]den Agrarschriftstellern erwähnten Arbitria
41
[404] Dies bezieht sich auf die römische Praxis, geringfügige nachbarschaftliche Grenzstreitigkeiten (im Rahmen der „controversia agrorum“) durch die sog. Feldmesser als „Feldrichter“ in einem summarischen Verfahren mit Urkundenbeweis entscheiden zu lassen. Das schiedsrichterliche Verfahren sollte den besonderen Friedens- und Solidaritätsverpflichtungen der vicinitas gerecht werden und stand daher im Gegensatz zum kontradiktorischen Zivilprozeß. Der „arbiter“ oder Feldrichter führt sprachgeschichtlich auf die altrömische Form „arbitere“ zurück, was so viel heißt wie: „adire“ (hingehen). Der arbiter war „Gangrichter“ (Begehen der streitigen Grenze), das „arbitrium“ ein „Ganggericht“; vgl. Blume, Friedrich, Lachmann, Karl, Rudorff, Adolf (Hg.), Die Schriften der römischen Feldmesser. Zweiter Band: Erläuterungen und Indices. – Berlin: Georg Reimer 1852, S. 422 ff., 427 f.
waren
k
[404] Fehlt in A, B; waren sinngemäß ergänzt.
Reste einer staatlich irgendwie geregelten, aber autonomen Streitschlichtung bei Streitfällen als Nachbarbeziehungen. Nachdem der für das Korporationsrecht zunehmend einflußreiche Typus des Municipium einmal entstanden war, vollzog sich dann offenbar in der Kaiserzeit die Nivellierung des Rechts der überhaupt noch zugelassenen Korporationen. Die Reste genossenschaftlicher Mitgliedschaftsrechte, soweit man von solchen sprechen darf, schwanden nun, und nur außerhalb des römischen Reichsrechts blieben Erscheinungen möglich wie die Handwerkerphylen hellenistischer Kleinstädte,
42
Weber bezieht sich hier vermutlich u. a. auf die von Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 393, Anm. 8, für das jüdische Philadelphia (ca. 100 km nordöstlich von Jerusalem) und das lydische Thyateira (ca. 50 km nordwestlich der lydischen Haupstadt Sardes) erwähnten und als Phylen (= Bürgerschaftsabteilungen) gedeuteten Handwerkerinnungen.
deren Erwähnung nur beweist, daß aus dem römischen Reichsrecht ebensowenig auf die Nichtexistenz andrer Strukturformen von Verbänden geschlossen werden darf wie aus dem Fehlen der Erbpacht und des geteilten Eigentums im alten Zivilrecht auf das Fehlen dieser Institutionen an sich, welche auf dem für die Zensusrolle allein in Betracht kommenden Ager optimo iure privatus nicht möglich waren.
l
A, B: war.
Das mittelalterliche Recht des Kontinents stand unter dem [A 25][B 58]dreifachen Einfluß der germanischen Genossenschaftsformen, des kanonischen Rechtes und der Form, in welcher das römische Recht
m
A, B: römische stark Die Emendation folgt WuG5, S. 431.
von der juristischen Praxis rezipiert wurde. Die germanischen Genossenschaftsformen sind in ihrem Reichtum und ihrer Entwicklung durch die großartigen Arbeiten Gierkes
43
Gemeint ist hier vor allem Gierke, Genossenschaftsrecht I–IV.
historisch [405]neu entdeckt worden, und alle Einzelheiten gehören nicht hierher. Sie sind im Zusammenhang mit den einzelnen Wirtschaftsgebieten, speziell in der Agrargeschichte und in der Darstellung
n
[405]A, B: Darstellungsgeschichte
der Unternehmungsformen
o
A, B: Unternehmungsform
zu besprechen.
44
[405] Laut Schreiben Max Webers an Paul Siebeck vom 27. Febr. 1910 (MWG II/6, S. 414 f., hier S. 414) war Werner Wittich mit einem Beitrag über „Epochen der Agrargeschichte“ für den „Grundriß“ gewonnen. Dieser ist erschienen als: Wittich, Werner, Epochen der deutschen Agrargeschichte, in: GdS, Abt. VII: Land- und forstwirtschaftliche Produktion. Versicherungswesen. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1922, S. 1–26. Zu einem Beitrag von Willy Wygodzinski über „Landwirtschaft u[nd] Absatz“ vgl. die Karte von Max Weber an Paul Siebeck vom 2. Juli 1910 (MWG II/6, S. 579) sowie den Stoffverteilungsplan vom Mai 1910 (ebd., S. 766–774, hier S. 772). Der Beitrag ist erschienen als: Wygodzinski, Willy, Landwirtschaft und Absatz, in: GdS, Abt. VII [wie oben], S. 231–240.
Hier müssen diejenigen wenigen Bemerkungen genügen, welche die formalen Prinzipien der Behandlung, mit welchen wir es jetzt allein zu tun haben, aufklären. Von den einfachen Gesamthandsverhältnissen bis zur rein politischen Gemeinde[,] und das hieß
p
A, B: das Haus Die Emendation folgt WuG5, S. 431.
im Mittelalter: der Stadtgemeinde, erstreckte sich in fast lückenlosen Übergängen eine
q
A, B: einer
Serie von Gebilden, welche rechtstechnisch gemeinsam die formale Prozeß- und Vermögensfähigkeit haben, bei denen dagegen die Art der Beziehungen
r
A, B: Bedingungen
zwischen Gesamtheit und einzelnen in den allermannigfachsten Typen geregelt erscheint.
s
A, B: erscheinen.
Ob der einzelne überhaupt nicht als Inhaber eines Anteils am Gesamtvermögen gilt, oder ob umgekehrt dieser Anteil sein freies[,] in Wertpapierform
t
A, B: Wertpapierformen
übertragbares Privateigentum ist, aber eben nur einen Anteil am Gesamtkomplex des Vermögens und nicht an dessen Einzelbestandteilen darstellt, oder ob umgekehrt die Einzelobjekte als zu geteiltem Eigentum von den Anteilhabern besessen gelten;
a
A, B: gelten,
inwieweit ferner die Gesamtheit die [WuG1 446]Rechte der einzelnen zu begrenzen und ihren Inhalt zu bestimmen oder inwieweit umgekehrt die Rechte der Einzelnen
b
A, B: einzelnen Rechte
den Verfügungen der Gesamtheit im Wege stehen; ob
c
A, B: stehen. Ob
ein Beamter oder ein bestimmtes Mitglied als solches oder in gewissem Umfang alle Mitglieder die Gesamtheit nach außen vertreten und nach innen verwalten;
d
A, B: verwalten:
ob die Mitglieder mit ihrem eigenen Vermögen oder mit persönlichen Diensten beitragspflichtig sind oder nicht; ob die Mitgliedschaft prinzipiell offen [406]oder prinzipiell geschlossen und nur kraft Beschlusses erwerbbar ist – dies
e
[406]A, B: ist. Dies
war in der allerverschiedensten Art geregelt. Die Verwaltung näherte [A 26][B 59]sich in sehr verschieden starkem
f
In B folgt ein Einfügungszeichen von Webers oder von fremder Hand. Einzufügender Inhalt unklar.
Grade denjenigen Formen, welche auch den politischen Verbänden eigen waren, oft so weit, daß ihre eigene Zwangsgewalt nach innen und außen nur durch die Art der Zwangsmittel oder auch nur durch die Heteronomie gegenüber dem politischen Verband sich von dessen eigener Gewalt unterschied. Andererseits wurde die Gesamtheit aber auch als Trägerin persönlicher Rechte und Pflichten behandelt, wie irgend ein Privater. Sie konnte Namenrechte, Standesrechte, Erfinderrechte besitzen, war deliktfähig, d. h. bestimmte rechtswidrige Tatbestände, namentlich Handlungen und Unterlassungen ihrer Organe wurden ihr rechtlich ebenso zugerechnet und von ihr gebüßt, wie von einer Privatperson: dies letztere namentlich war so wenig
g
A, B: sowie
eine Ausnahme, daß es speziell in England ganze Epochen gab, in welchen vorwiegend Gesamtpersönlichkeiten als Pflichtgemeinschaften und bei Nichthaltung der Pflichten als Schuldner der vom König verhängten Strafe auftreten.
45
[406] Seit der normannischen Erorberung waren die englischen Kommunalverbände (Grafschaft, Hundertschaft, Landgemeinden und vor allem Städte) – wie Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 35–41, zeigt – keine freien Genossenschaften, sondern reine Pflicht- und Haftungsgemeinschaften. Und mit Ausnahme der Städte, die infolge ihres ökonomischen Gewichts am Ende des Mittelalters Korporationscharakter erlangen konnten, blieben sie es – in der Mehrzahl bis ins 20. Jahrhundert hinein.
Die Verfassung
h
A, B: Fassung Die Emendation folgt WuG5, S. 432.
der Verbandsgesamtheiten konnte fast jede Art von Verbandsform
i
A, B: Personenform Die Emendation folgt WuG5, S. 432.
annehmen, welche wir weiterhin für politische Verbände kennenlernen werden:
46
Siehe Weber, Herrschaft, MWG I/22-4, S. 139 ff.
unmittelbare oder repräsentative,
j
A, B: repräsentable, Die Emendation folgt WuG5, S. 432.
auf Gleichheit oder
k
A, B: und
Ungleichheit der Rechte der Beteiligten beruhende
l
A, B: beruhenden
Verwaltung im Namen der Beteiligten, mit reihum gehenden
m
A, B: rein umgehenden Die Emendation folgt WuG5, S. 432.
oder gewählten Amtsträgern oder ein durch Normen oder Tradition begrenztes, im übrigen aber autokratisches Herrenrecht eines einzelnen oder einer fest begrenzten Gruppe von Rechtsträgern, erworben durch periodische Wahl oder anderweitige Kreierung oder kraft Erbrechts oder kraft eines übertragbaren Rechtstitels, der auch an die Inne[407]habung eines bestimmten Besitzobjekts geknüpft sein konnte. Die Struktur der Organe der Gesamtheit konnte mehr als eine aus fest begrenzten Rechten bestehende Prärogative, ein Bündel konkreter[,] nicht überschreitbarer Privilegien also zur Ausübung einzelner Herrschaftsbefugnisse als subjektiver Rechte[,] oder mehr als eine durch objektive Normen begrenzte, innerhalb dieser aber in ihren Mitteln freie Regierungsgewalt
n
[407]A, B: Regierungsgewalt,
und diese wieder mehr vereinsmäßig oder mehr anstaltsmäßig gestaltet sein. Inhaltlich konnte sie streng zweckverbandsmäßig gebunden oder relativ frei [A 27][B 60]beweglich sein. Danach richtete sich der Umfang der Autonomie. Sie konnte geradezu gänzlich fehlen, der Erwerb von Rechten und die Leistungspflicht sich automatisch nach festen Regeln verteilen, wie dies bei manchen leiturgischen Verbänden in England der Fall war.
47
[407] Weber bezieht sich offenkundig auf Maitland, Township, S. 79, der die Funktionsweise der englischen Kommunalverbände seit der angelsächsischen Zeit als „Automatismus“ bezeichnet, als „automatic, selfadjusting, scheme of ›common‹ rights and duties“. Ebd., S. 36, heißt es: „[…] in the old days the community was too automatic to be autonomous […].“ Diesen „Automatismus“ betont – im Anschluß an Maitland – auch Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 40, wenn er über die mittelalterlichen englischen „Lasten- und Pflichtverbände“ schreibt, sie „funktionierten größtenteils von selbst, denn alles war, sofern es rechtlich von Belang war […] als Realgerechtsame oder Reallast an dem einzelnen Grundstück festgelegt […].“ Vgl. unten, S. 414.
Oder es konnte autonome Satzung[,] in weitem Umfang nur durch elastische Normen, herkömmliche, gesetzte
o
Vermutliche falsche Lesung, ursprünglich wohl: gesatzte
oder heteronome, begrenzt, stattfinden.
Welche von all diesen Alternativen im Einzelfall stattfand[,] war und ist auf dem Boden der freien Verbandsbildung noch heute zunächst durch die konkreten Zwecke und insbesondere die ökonomischen Mittel des Einzelverbandes bestimmt. Der Verband kann vorwiegend wirtschaftende Gemeinschaft
48
Zum Begriff vgl. Weber, Gemeinschaften, MWG I/22-1, S. 79 f. Als „wirtschaftende Gemeinschaften“ gelten Weber solche, die ihre ökonomischen Mittel (mindestens auch) zur Verfolgung außerwirtschaftlicher Zwecke einsetzen (vor allem politische, aber z. B. auch religiöse Gemeinschaften). Die auf den rein wirtschaftlichen Erfolg ausgerichteten Formen des Gesellschaftshandelns, die Weber hier – wie das Weitere ergibt – primär im Auge hat (Bedarfsdeckung oder Erwerb), sind dort freilich als Fälle reiner „Wirtschaftsgemeinschaften“ angeführt.
sein. Dann bestimmt sich die Struktur wesentlich ökonomisch durch Maß und Art der Bedeutung des Kapitals und dessen innere Struktur einer[408]seits, der Kreditbasis und des Risikos andererseits. Kapitalistischer Erwerb als Zweck (vor allem bei der Aktiengesellschaft, bergrechtlichen Gewerkschaft, Reederei, Staatsgläubiger-
p
[408] Bindestrich fehlt in A, B.
und Kolonialgesellschaft) bedingt[,] infolge der vorwiegenden Bedeutung des Kapitals für die Leistungsfähigkeit des Verbandes, der Gewinnanteilchancen für die Interessen der Einzelnen, prinzipielle Geschlossenheit der Mitgliedschaft und relativ feste Zweckgebundenheit, dabei aber formal unantastbare, vererbliche und meist frei veräußerliche Mitgliedschaftsrechte, bürokratische Verwaltung, unmittelbare oder repräsentative, dem Recht nach demokratisch, faktisch plutokratisch beherrschte, durch Debatten und Abstimmung [WuG1 447]nach Kapitalanteilen mitwirkende Mitgliederversammlung, fehlende, weil für die Kreditwürdigkeit an Bedeutung zurücktretende, Haftung der Mitglieder nach außen und im allgemeinen, außer bei der Gewerkschaft
49
[408] Gewerkschaft ist der geläufige Terminus für die Bergwerksgenossenschaften in der zeitgenössischen Literatur.
infolge der Struktur des Bergbaukapitals[,] auch nach innen. Naturalwirtschaftliche Eigenbedarfsdeckung andererseits bedingt, je universaler der Gemeinschaftszweck ist desto mehr, Überwiegen der Gewalt der Gesamtheit, Fehlen fester Mitgliedschaftsrechte, Annäherung an kommunistische
q
A, B: kommunalistische Die Emendation folgt WuG5, S. 433.
Wirtschaft, sei es auf unmittelbar demokratischer oder auf patriarchaler Basis (Hausgemeinschaft, [A 28][B 61]Gemeinderschaft, strenge Feldgemeinschaft). Mit zunehmender Geschlossenheit und Appropriation nach innen treten (Dorf- und Markgemeinschaft
r
A, B: Marktgemeinschaft Die Emendation folgt WuG5, S. 433.
) die Mitgliedschaftsrechte zunehmend in den Vordergrund, während die in Gemeinschaftsverwaltung verbliebenen Nutzungen Pertinenzen der zu individuellem Besitz appropriierten Nutzungen werden,
s
A, B: Nutzen Pertinenzen der zu individuellem Besitz appropriierten Nutzen, Die Emendation folgt WuG5, S. 433; werden sinngemäß ergänzt.
die Verwaltung aber je nachdem
t
A, B: nachdem,
durch Turnus oder durch erbliche Organe oder herrschaftlich (durch Grundherren) geführt wird
a
Fehlt in A, B; wird sinngemäß ergänzt.
. Wo es sich endlich um gewillkürte Vergesellschaftungen zur gemeinwirtschaftlichen Ergänzung individueller Produktions- oder Konsumtionswirtschaften handelt, wie bei den sogen[annten] Genossenschaften des [409]modernen Rechts,
50
[409] Wie sie etwa das „Reichsgesetz betr. die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften“ vom 1. Mai 1889 in der Rechtsform der „eingetragenen Genossenschaft“ zur Verfügung stellt (§§ 119–142).
pflegt die Mitgliedschaft Folge zu sein, da Mitgliederrechte zwar fest appropriiert und ebenso wie die Mitgliedspflichten fest begrenzt, aber regelmäßig nicht frei veräußerlich sind;
b
[409]A, B: veräußerlich ; sind sinngemäß ergänzt.
die persönliche Haftung pflegt dann an Bedeutung für die Kreditwürdigkeit des Verbandes wesentlich stärker hervorzutreten, aber entweder begrenzt
c
A, B: begrenzt,
oder[,] wo das Risiko übersehbar bleibt, unbegrenzt zu sein, die Verwaltung formell bürokratisch, faktisch nicht selten honoratiorenmäßig. Die individuellen Mitgliederrechte am Gesamtvermögen müssen ihre strukturgebende Bedeutung zunehmend verlieren, je mehr der Verband den Charakter einer Veranstaltung für eine unbestimmte Vielheit von Interessen und vollends von begünstigten
d
A, B: künstlichen Die Emendation folgt WuG5, S. 433.
Personen annimmt
e
A, B: annimmt,
und die Kapitaleinlage zu Gunsten dauernder Beitragsleistungen oder Entgelts für die Leistungen der Gesamtheit seitens der Interessenten an Bedeutung zurücktritt. So schon bei den rein ökonomisch orientierten Versicherungsgesellschaften, vollends aber bei Anstalten, welche sozialpolitischen und caritativen Zwecken dienen. Je mehr endlich die Gemeinschaft nur eine wirtschaftende Gemeinschaft im Dienst primär außerökonomischer Zwecke ist, desto bedeutungsloser werden die garantierten Vermögensrechte der Mitglieder und desto weniger geben überhaupt ökonomische Bedingungen für die Struktur den Ausschlag.
Überhaupt aber ist die Entwicklung der Rechtsstruktur der Verbände im ganzen keineswegs vorwiegend ökonomisch bedingt ge[A 29][B 62]wesen. Dafür liefert in erster Linie schon der starke Gegensatz zwischen der mittelalterlichen und auch noch der neuzeitlichen englischen gegenüber der kontinentalen, vor allem der deutschen Entwicklung den Beweis. Das englische Recht seit der normannischen Eroberung kannte eine Genossenschaft im Sinne der Gierkeschen Terminologie
51
Nach Gierke, Grundzüge (wie oben, S. 345, Anm. 85), S. 208, sind die Genossenschaften im altdeutschen Recht Verbände mit Rechten und Pflichten, deren Rechtspersönlichkeit zunächst von der sinnlichen Vorstellung der Gesamtheit „ohne Unterscheidung ihrer Einheit und Vielheit als Subjekt von Gesamtrecht“ nicht differenziert wurde (vgl. ders., Genossenschaftsrecht II, S. 46–48). Erst allmählich entwickelte sich [410]der Gedanke einer von der sinnlich-anschaulichen Gesamtheit verschiedenen, selbständigen Rechtspersönlichkeit der Genossenschaft und damit der deutschrechtliche Körperschaftsbegriff (vgl. ebd., S. 39; auch Gierke, Grundzüge, S. 211; ders., Deutsches Privatrecht I, S. 457 f.).
überhaupt nicht. Einen Körperschafts[410]begriff nach Art des kontinentalen hat es erst in der Neuzeit entwickelt. Es kannte weder Autonomie von Verbänden in dem Sinne und Umfang, wie sie dem deutschen Mittelalter selbstverständlich war – sondern nur Ansätze dazu –[,] noch andererseits eine durch Normen allgemein geregelte Rechtspersönlichkeit von Verbänden. Die Gierkesche Genossenschaftstheorie hat, wie Maitland und nach ihm Hatschek gezeigt haben,
52
Maitland, Township, bes. S. 18–36; ders., Domesday Book, S. 200 ff., 340–356, bes. 351 ff.; Pollock/Maitland, English Law I, S. 486–511, bes. 494 ff., sowie Hatschek, Englisches Staatsrecht I, bes. S. 36–41 und S. 92 f.
im englischen Rechtsgebiet fast keine Stätte gehabt außer in der von Gierke als Herrschaftsverband bezeichneten Form,
53
Nach Gierke, Grundzüge (wie oben, S. 345, Anm. 85), S. 208, ist in „Herrschaftsverbänden“ (Gefolgschaften, Lehns-, Dienst-, Hofverbände, Territorien, Reiche) ursprünglich „der Herr ohne Unterscheidung seiner Stellung als Verbandshaupt und als Individuum Subjekt von Herrenrecht“ (vgl. ders., Genossenschaftsrecht I, S. 89; II, S. 43–46). Im Mittelalter wird aus dem Herrschaftsverband die Vorstellung der anstaltlichen Verbandspersönlichkeit ausdifferenziert, deren Haupt die Verbandseinheit repräsentiert (vgl. ders., Genossenschaftsrecht II, S. 39; ders., Deutsches Privatrecht I, S. 457 f.).
welche aber leider mit anderen als mit den von Gierke geschaffenen Kategorien juristisch konstruierbar ist und in England auch konstruiert worden ist.
54
Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 61–66, zeigt, wie spezifische Rechtskonstruktionen der englischen Korporationstheorie („corporation sole“, „trust“ bzw. „Trustkorporation“) eine anstaltsförmige Verbandsstruktur stützen.
Und dieses Fehlen der vermeintlich germanistischen Form des Verbandsrechts bestand dort nicht nur trotz der Nichtrezeption des römischen Rechts, sondern teilweise geradezu infolge derselben. Das Fehlen des römischen Korporationsbegriffs hatte es erleichtert, daß in England zunächst nur die kirchlichen Anstalten vermöge des kanonischen Rechts wirksame Korporationsrechte besaßen und daß allen englischen Verbänden zunächst die Tendenz innewohnte, einen ähnlichen Charakter aufgeprägt zu erhalten. Die [WuG1 448]Theorie von der corporation sole, der durch die Reihe der Amtsträger dargestellten dignitas,
55
Die „corporation sole“ ist nach Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 61, die „korporierte Dignitas, Amtswürde des kanonischen Rechts. Die aufeinanderfolgende Reihe gewisser Amtsträger wird als Korporation aufgefaßt und heißt dann Corporation sole.“ Darunter fielen nach englischer Rechtslehre vor allem die Kirchenämter und der [411]König. Maitland spricht von einem mißglückten Versuch juristischer Personifikation, da bei näherer Prüfung die corporation sole sich „entweder als eine natürliche Person“ herausstelle, „oder als eine juristische Mißgeburt, als eine Art Zwischending zwischen Anstalt und Mensch“ (Maitland, F[rederic] W[illiam], Trust und Korporation, in: Zeitschrift für das Privat- und Öffentliche Recht der Gegenwart, Band 32, 1904, S. 1–76, hier S. 33 (hinfort: Maitland, Trust); vgl. auch ders., The Corporation Sole, in: The Law Quarterly Review, Vol. 16, 1900, S. 335–354, bes. 352–354).
ermöglichte der englischen [411]Jurisprudenz die Behandlung der staatlichen und kommunalen Verwaltung als einer Rechtspersönlichkeit in gleicher Art[,] wie es die kirchliche Behörde nach kanonischem Recht war. Der König galt bis in das 17. Jahrhundert als eine corporation sole, und wenn noch heut nicht der Staat und nicht der Fiskus, sondern die Krone als Träger aller Rechte und Pflichten des politischen Verbandes gilt, so ist das eine Folge des früheren, durch die politische Struktur des Ständestaates bedingten Fehlens des römisch-rechtlich beein[A 30][B 63]flußten deutschen Korporationsbegriffs und zugleich eine Folge des Einflusses des kanonischen Rechts.
56
Die englische Rechtstheorie hatte nicht den Staat als selbständige Rechtspersönlichkeit konzipiert. Statt dessen galt ihr – vermittels der Theorie von der corporation sole und, nach der Glorious Revolution, durch die Auffassung des Königs als trustee, der Krone als Trustkorporation – allein der König bzw. die Krone als Rechtssubjekt. Für die Auffassung der Kommunalverbände (lange Zeit einschließlich der Städte) als reine Lastenverbände wies das kanonische Recht mit seinem Anstaltsbegriff nicht nur den Weg ihrer später allein möglichen korporativen Verfassung (als Staatsanstalten!); es blockierte mit der Konzeption der corporation sole und einer dem Bischofsamt analogen Inkorporierung des Königs, ebenso wie mit der seit dem 18. Jahrhundert sich ausbreitenden Lehre von der Trustkorporation zugleich den Weg zur Vorstellung des Staates als Korporation. Weber stützt sich vermutlich auf die Darstellung von Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 75 ff., bes. 81, 88 ff., 90; vgl. auch Maitland, F[rederic] W[illiam], The Crown as Corporation, in: The Law Quarterly Review, Vol. 17, 1901, S. 131–146 (hinfort: Maitland, Crown as Corporation).
In der Neuzeit behielt die englische Korporation, nachdem sie überhaupt entstand, wesentlich Anstalts- und nicht Vereinscharakter und wurde jedenfalls keine deutschrechtliche Genossenschaft. Dies läßt vermuten, daß auf dem Kontinent das römische Recht bei dem Prozeß des Absterbens des mittelalterlichen Genossenschaftsrechts nicht die entscheidende Macht war, wie man oft geglaubt hat.
57
Dies war eine zentrale Streitfrage in der zeitgenössischen Diskussion über Ursachen und Wirkungen der Rezeption des römischen Rechts; zusammenfassend dazu Below, Georg von, Die Ursachen der Rezeption des Römischen Rechts in Deutschland (Historische Bibliothek, Band 19). – München, Berlin: R. Oldenbourg 1905 (hinfort: Below, Ursachen).
In der Tat haben die romanistischen Juristen, so völlig fremd das justinianische Recht den mittelalterlichen Verbänden gegenüberstand, bei der [412]Interpretation, die sie ihm gaben, den Tatsachen der sie umgebenden Praxis auf so vielen Punkten Rechnung tragen müssen, daß ihre Theorie, mochte sie mit noch so fragwürdigen Denkmitteln arbeiten, den mittelalterlichen Verbänden schwerlich die Existenz abgegraben hätte.
58
[412] Über den allgemeinen Hergang schreibt Gierke, Genossenschaftsrecht III, S. 646: „Hier [in Deutschland, Hg.] wie überall wurde die Reception nur dadurch möglich, daß nicht das römische Recht, sondern die in langer Arbeit den Zeitverhältnissen angepaßte italienische Doktrin Aufnahme fand. Die italienische Doktrin aber war […] von mittelalterlich-germanischen Elementen durchsetzt. Sie konnte daher zu einer Zeit, in welcher die Anwendung des reinen römischen Rechts auf die deutschen Verhältnisse schechthin undenkbar gewesen wäre, langsam ein- und vordringen.“
Sie haben die Konzeption des Korporationsbegriffs an Stelle der immerhin sehr schwankenden deutschrechtlichen Denkform zwar nicht aus eigener Kraft vollzogen, aber doch sehr stark gefördert. Der Grund für die englische Entwicklung einerseits, die kontinentale, speziell deutsche[,] anderseits lag vielmehr sowohl im Mittelalter wie im Beginn der Neuzeit ganz vorwiegend in politischen Umständen. Der Unterschied beider
f
[412] Lies: beider Entwicklungen
war im wesentlichen durch die starke königliche Zentralgewalt und die technischen Verwaltungsmittel der Plantagenets und ihrer Nachfolger einerseits, durch das Fehlen einer starken politischen Zentralgewalt in Deutschland andererseits hervorgerufen. Daneben durch die Nachwirkung bestimmter feudaler Grundlagen des englischen common law auf dem Gebiete des Immobilienrechts.
g
Es folgt am linken Rand von fremder Hand der Hinweis auf die hier einzufügende Seite: (S. 30a) > S. 63a
[A 30a][B 63a]Diese
h
Am linken Rand oben steht (maschinenschriftlich): Einlage Blatt A 30a/ B 63a ist nur zu zwei Dritteln beschrieben.
extrem anstaltsmäßige und herrschaftliche Struktur des Korporationsbegriffs in England blieb nun zwar nicht die einzige. Neben sie trat als Surrogat der festländischen Korporation die Behandlung bestimmter Personen oder Amtsträger als Treuhänder, denen bestimmte Rechte zu Gunsten entweder bestimmter Destinatäre oder zu Gunsten des Publikums im allgemeinen anvertraut sind: so wurde seit Ende des 17. Jahrhunderts der König zeitweilig als trustee des public aufgefaßt, ebenso die Kirchspiel- und Kommunalbehörden, und überall, wo bei uns heute der Begriff des Zweckvermögens auftaucht, ist im englischen Recht der trustee das technische Mittel.
59
In seinen Ausführungen über den „trustee“ und den „Trust“ bzw. die „Trustkorporation“ stützt sich Weber weitgehend auf Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 63–66; [413]vgl. auch Maitland, Trust (wie oben, S. 410 f., Anm. 55), S. 14–41. Über die zeitweilige Vorstellung vom König als trustee des „Publick“ vgl. Hatschek, a. a. O., S. 78 f.; Maitland, Crown as Corporation (wie oben, S. 411, Anm. 56), S. 137.
Das Spezifische
i
A, B: spezifische
dieser Anstaltskonstruk[413]tion ist: daß der Treuhänder nicht nur tun darf, sondern tun soll, was in seiner Kompetenz liegt: ein Surrogat des Amtsbegriffs. Der Ursprung der Trusts in diesem Sinn des Worts lag, etwa wie beim römischen Fideicommissum, zunächst in dem Bedürfnis der Umgehung bestimmter Verbotsgesetze, namentlich der Amortisationsgesetze
60
Die Amortisationsgesetze, Gesetze gegen die „tote Hand“ oder Statutes of mortmain, sind die seit der Magna Carta wiederholten Versuche der englischen Könige, Landveräußerungen an Kirche und Klöster gesetzlich zu unterbinden, um so den drohenden Verlust einträglicher Lehensgefälle für die Krone und die großen Lehensherren zu verhindern. Mit der Einsetzung von Treuhändern (trustee), die solche Güter für weltliche oder geistliche Korporationen innehatten, schuf man ein wirksames Instrument zur Umgehung jener Verbote und der königlichen Lizensierungspflichtigkeit von Landveräußerungen.
und anderer Rechtsschranken des geltenden Rechts. Daneben in dem Fehlen eines Korporationsbegriffs im Mittelalter. Als das englische Recht einen solchen konzipierte, verwendete man jenes rechtstechnische Mittel für die nicht als Korporationen konstituierbaren Anstalten weiter. Aber ein ähnlicher Grundzug hat das ganze englische Korporationsrecht dauernd, auch außerhalb dieser Sphäre, grundlegend beherrscht.
[A 30][B 63, Forts.]Der zuletzt genannte Umstand bedingte es, daß die Markgenossenschaft im englischen Recht weit radikaler als in Deutschland herrschaftliches Gepräge trug, vor allem der Grundherr regelmäßig als Eigentümer des nicht aufgeteilten Landes, die Bauern nur als bewidmet mit Nutzungsrechten an fremder Sache galten. Daß ihnen die Königsgerichte offen standen, nutzte ihnen gegenüber dieser konsequent durchgeführten Auffassung nicht viel, und [A 31][B 64]das Endresultat war die Anerkennung [WuG1 449]des fee simple als der grundlegenden Form englischen Bodeneigentums in einem weit radikaleren Maße, als der ager optimo iure privatus des römischen Rechts in der Realität der Dinge je geherrscht hat. Ganerbschaften und alle die Gestaltungen, welche im deutschen Recht an sie als Typus anknüpften, wurden dadurch schon infolge des feudalen Primogenitur-Prinzips ausgeschlossen. Und daß aller Bodenbesitz letztlich auf königliche Verleihung zurückzuführen war, mußte Konsequenzen für die Auffassung der Verfügungsgewalten auch aller Verbände als nur durch Privileg zu erwerbender Spezialrechtstitel [414]bestimmter Personen und ihrer Rechtsnachfolger haben. Die englische Praxis hat, wie nach Maitlands Untersuchungen angenommen werden muß,
61
[414] Maitland, Domesday Book, S. 129 ff., 172 ff., 340–356, und ders., Township, bes. S. 25–36, beschreibt – unter Bezug auf Gierkes Genossenschaftstheorie (vgl. ebd., S. 32 ff.) – die Agrarverfassung der village community (Dorfgenossenschaft) in vornormannischer Zeit, die dem Prinzip nach symmetrische Verteilung von Ackerstreifen und Allmendrechten an die Dorfgenossen sowie den daraus resultierenden „Automatismus“ von Rechten und Pflichten; vgl. oben, S. 407, Anm. 47.
vermöge der rein automatischen, der alten Hufenverfassung eigentümlichen Verteilung von Rechten und Pflichten an jeden einzelnen nach Maßgabe seines Anteils, welche sich auf alle ähnlichen Verbände übertrug, zunächst nur ein sehr geringes Bedürfnis nach rechtlicher Behandlung der Gesamtheit der an einer Gemeinschaft Beteiligten
j
[414]A, B: beteiligten
als eines selbständigen Rechtssubjektes empfunden. Das steigerte sich durch die teils feudale Teilung[,] teils
k
Fehlt in A, B; teils sinngemäß ergänzt.
spezifisch ständische
l
A, B: ständischer
Struktur des Staatswesens. Zunächst durch die Amortisationsgesetze, welche im Interesse des Königs und Adels jede Grundbesitzveräußerung an die tote Hand[,] einschließlich der Gemeinden, verboten.
62
Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 44, erwähnt unter den gesetzlichen Verboten der Veräußerung von liegenden Gütern an geistliche Korporationen ohne königliche Lizenz (Statutes of Mortmain) vor allem die von Heinrich III. konfirmierte Magna Carta (9 H. III c. 36), das „Statutum de viris religiosis“ Eduards I. (7 Ed. Ι c. 13) sowie insbesondere ein Gesetz Richards II. (15 Rich. II c. 5), wodurch das Verbot auch auf die Städte ausgedehnt wurde; dies und das Folgende vermutlich im Anschluß an Hatschek, ebd., S. 44–48.
Eine Befreiung davon konnte nur durch speziales Privileg erlangt werden, und tatsächlich sind die Stadtprivilegien des 15. Jahrhunderts, welche für die betreffenden Städte Korporationsrechte mit positivem Inhalt schufen (zuerst das Privileg für Kingston 1439)
63
Die Verleihung einer Inkorporationscharter an die Stadt Kingston upon Hull 1439 (18 H. VI) findet ausdrückliche Erwähnung bei Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 46.
[,] mit unter dem Druck eben jener Verbote von den Städten erstrebt worden. Aber das Korporationsrecht blieb damit spezifisches Privilegienrecht und den allgemeinen Konsequenzen der ständischen Rechtsbildung unterstellt. Vom König und Parlament angefangen galt jede Herrschaftsgewalt als ein Komplex bestimmter Prärogativen und Privilegien. Wer immer ein nicht durch reinen Privatkontrakt erwerbbares Recht welcher Art immer ausübte, mußte es rechtlich [415]kraft gültigen Privilegs und konnte es also nur in einem fest begrenzten [A 32][B 65]Umfang besitzen. Nur unvordenkliche Gewohnheit konnte den ausdrücklichen Nachweis des Privilegs ersetzen. Auch nach Entstehung des Korporationsbegriffs blieb daher in der Neuzeit die Doktrin in aller Schroffheit bestehen, wonach jeder Verband, der durch Rechtshandlungen das Gebiet der ihm ausdrücklich eingeräumten Privilegien überschritt, ultra vires handelte, dadurch privilegbrüchig wurde und der Privilegienkassation verfiel, wie sie die Tudors und Stuarts massenhaft haben verfügen lassen.
64
[415] Neben dem sich im Spätmittelalter herausbildenden Grundsatz der Konzessionspflichtigkeit durch die Krone war die seit der Tudorzeit (16. Jahrhundert) aufkommende und bis ins 20. Jahrhundert fortgeltende „Ultra Vires“-Doktrin: das Verbot nämlich, jenseits der jeweils zugestandenen Machtsphäre zu handeln, Ausdruck für den staatsanstaltlichen Charakter vor allem der städtischen und gewerblichen englischen Korporationen; vgl. hierzu Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 48–54.
Alle Korporationsbildung, öffentliche wie privatrechtliche –
m
[415]A, B: privatrechtliche, –
ein dem englischen Recht eigentlich nicht bekannter Gegensatz
65
Dieser Gegensatz entfällt im englischen Recht gerade deshalb, weil der „Staat“ nicht als selbständiges, dem einzelnen gegenüberstehendes Rechtssubjekt konzipiert ist; vgl. Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 81; auch Maitland, Trust (wie oben, S. 410 f., Anm. 55), S. 4.
[,] wurde dadurch in die Bahn der speziell konzessionierten und konzessionspflichtigen, der Kontrolle und Aufsicht unterstellten und offiziell ausschließlich auf public utility abzustellenden Zweckverbandsbildung gedrängt. Alle Korporationen entstanden als politische oder politisch autorisierte Zweckanstalten. Dieser Rechtszustand war historisch offensichtlich in seinem letzten Ursprung Produkt des später zu besprechenden
66
Siehe die Ausführungen in der „Herrschaftslehre“: Weber, Patrimonialismus, MWG I/22-4, S. 282–284.
leiturgischen Charakters der normannischen Verwaltung. Der König sicherte sich die für Rechtspflege und Verwaltung erforderlichen Leistungen durch Bildung von Zwangsverbänden mit Kollektivpflichten, denen
n
A, B: dann
prinzipiell ähnlich[,] wie sie den chinesischen, hellenistischen, spätrömischen, russischen und anderen Rechten auch bekannt waren. Eine Gemeinde (communaltie) bestand ausschließlich im Sinn eines leiturgischen Pflichtenverbandes im Interesse der königlichen Verwaltung und hatte Rechte lediglich kraft königlicher Verleihung oder Duldung. Andernfalls blieben alle solche [416]Gemeinschaften rechtlich auch in der Neuzeit bodies non corporate. Die Verstaatlichung des Verbandswesens stand also am Anfang der nationalen englischen Rechtsgeschichte infolge der straffen patrimonialen Zentralverwaltung auf dem Gipfel und hat von da aus allmähliche Abschwächungen erfahren, während für die kontinentale Rechtsgeschichte erst der bürokratische Fürstenstaat der Neuzeit die überkommenen korporativen Selbständigkeiten sprengte, Gemeinden, Zünfte, Gilden, Markgenossenschaften,
o
[416]A, B: Marktgenossenschaften, Die Emendation folgt WuG5, S. 435.
Kirchen, Vereine aller denkbaren Art seiner Aufsicht unter[WuG1 450]warf, konzessionierte, regle[A 33][B 66]mentierte und kontrollierte und alle nicht konzessionierten Rechte kassierte und so der Theorie der Legisten: daß alle Verbandsbildung selbständige Gesamtrechte und Rechtspersönlichkeit nur kraft der Funktion des Princeps haben könne,
67
[416] So im 14. Jahrhundert etwa Lucas de Penna, neapolitanischer Zeitgenosse des großen Kommentators Bartolus: „Solus princeps fingit quod in rei veritate non est.“ Zit. nach Gierke, Genossenschaftsrecht III, S. 371; vgl. auch ebd., S. 354, Anm. 3, sowie Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 91.
die Herrschaft über die Praxis überhaupt erst ermöglichte.
p
A, B: ermöglicht. In B folgt ein Absatzzeichen (vermutlich) von der Hand Max Webers.
Die französische Revolution hat dann im Umkreis ihrer bleibenden Einwirkung jede Korporationsbildung nicht nur, sondern auch jede Art einer nicht für ganz eng begrenzte Zwecke ausdrücklich konzessionierten
q
A, B: konzessionierte
Vereinsbildung und alle Vereinsautonomie überhaupt zerstört. Vornehmlich aus den für jede radikale Demokratie typischen politischen Gründen, daneben aus naturrechtlich doktrinären Vorstellungen heraus, schließlich zu einem Teil auch aus bürgerlichen[,] ökonomisch bedingten, aber in ihrer Rücksichtslosigkeit ebenfalls stark doktrinär beeinflußten Motiven.
r
A, B: Motive.
Der Code schweigt von dem Begriff der juristischen Person überhaupt, um ihn damit auszuschließen. Erst die ökonomischen Bedürfnisse des Kapitalismus und, für die nichtkapitalistischen
s
A, B: nicht kapitalistischen
Schichten, der Marktwirtschaft einerseits, die politischen Agitationsbedürfnisse der Parteien andererseits und endlich die steigende sachliche Differenzierung der Kulturansprüche in Verbindung mit der persönlichen Differenzierung der Kulturinteressen unter den Individuen haben diese Entwicklung wieder rückwärts revidiert.
68
Vgl. hierzu allgemein oben, S. 367 f.
Einen sol[417]chen schroffen Bruch mit der Vergangenheit hat das englische Korporationsrecht nicht erlebt.
69
[417] Die folgenden Ausführungen zur Entwicklung der englischen Korporationstheorie stützen sich sehr wahrscheinlich auf Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 53–61, 66–70.
Seine Theorie begann seit dem 16. Jahrhundert zunächst für die Städte den Begriff des Organs und Organhandelns als rechtlich gesondert von der Privatsphäre zu entwickeln und bediente sich dabei des Begriffs des body politick
70
Zuerst unter der Regierung Königin Elisabeths I. (1558–1603) erhielten sog. „select bodies“ das Recht, als Organe für die (inkorporierte) Stadtgemeinde zu handeln. Sie waren insbesondere befugt „bye laws“ aufzustellen, rechtliche Anordnungen zur Vermeidung von Mißwirtschaft und Unordnung („for avoiding of popular disorder and confusion“); vgl. Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 55. – Der Begriff des „body politic“ entstammte der mittelalterlichen organischen Staatslehre; die damit gemeinte metaphysische Identität von Mensch und Staat sollte die absolute Gewalt des Königs als der „Seele“ des Staates begründen – unabhängig vom Staatsabsolutismus des Corpus iuris („princeps legibus solutus“); vgl. ebd., S. 76.
(des römischen corpus), bezog die Zünfte in den Bereich der Korporationstypen ein, gab den Gemeinden im Fall des Besitzes eines Siegels
71
Das „Siegel“ war das aus dem mittelalterlichen Rechtsformalismus überkommene Instrument zur rechtswirksamen Beglaubigung sämtlicher (Korporations-)Handlungen und ersetzte den bis ins 16. Jahrhundert fehlenden Organbegriff. Noch den berühmten englischen Juristen Edward Coke (1549–1634) und William Blackstone (1723–1780) galt das Siegel als selbstverständliches Merkmal der Korporationsqualität; vgl. z. B. Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 43, 47 f., 56 f.; Heymann, Überblick, S. 305 f.
die Möglichkeit prozessualer und kontraktlicher Selbständigkeit, gestattete den konzessionierten Korporationen bye-laws unter Zulassung des Majoritätsprinzips statt der Einstimmigkeit,
72
Ein Gesetz Heinrichs VIII. aus dem Jahre 1542 (33 Henry VIII c. 27) erlaubte zunächst den städtischen Korporationen den Erlaß von Verordnungen („bye-laws“) durch Mehrheitsbeschluß; vgl. Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 55; ders., Englische Verfassungsgeschichte, S. 488. Ursprünglich bedeutet der Begriff „bye-laws“ – worauf Maitland, Trust (wie oben, S. 410 f., Anm. 55), S. 71 mit Anm. 50, hinweist – ein Dorfgesetz.
also eine begrenzte Autonomie, verneinte im 17. Jahrhundert die Deliktsfähigkeit der Korporationen,
73
Die Richter Jakobs I. (1603–25) begründen diese Rechtsauffassung mit dem fehlenden „Gewissen“ („conscience“) der Korporation. Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 56, zitiert exemplarisch den Richter Manwood: „A Corporation is a body aggregate, none can create souls but God; but the King creates them and therefore they have no souls, they cannot speak nor appear in person, but by Attorney – no sub poena lieth against them because they have no conscience“; vgl. Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte, S. 490 mit Anm. 1.
behandelte zwar bis ins 18. Jahrhundert die Korporationen vermögensrechtlich nur als Trustee [A 34][B 67]zu Gunsten der Einzelnen, deren Ansprüche gegen sie nach [418]equity geltend zu machen waren, ließ erst Ende des 18. Jahrhunderts und sehr zögernd für die companies Übertragung der Aktien mit der Wirkung zu, daß die Haftung des Aktionärs für Schulden der Korporation damit, jedoch mit Ausnahme des Falls der Insolvenz, erlöschen sollte, und erst bei Blackstone findet sich unter Bezugnahme auf das römische Recht die wirkliche Scheidung zwischen Korporations- und Privatvermögen.
74
[418] Blackstone, Commentaries I, S. 484: „The debts of a corporation, either to or from it, are totally extinguished by its dissolution; so that the members thereof cannot recover, or be charged with them, in their natural capacities; agreeable to that maxim of the civil law, ,si quid universitati debetur, singulis non debetur; nec, quod debet universitas, singuli debent.‘“ Die Blackstone-Referenz, der seinerseits auf die bekannte Digestenstelle Ulp. D. 3,4 7,1 verweist, erfolgt vermutlich im Anschluß an Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 58 f.
In dieser Entwicklung macht sich der allmählich steigende Einfluß kapitalistischer Bedürfnisse geltend. Die großen Companies der merkantilistischen Tudor- und Stuartzeit waren juristisch noch Staatsanstalten. Nicht minder die Bank von England. Das mittelalterliche Erfordernis der Beurkundung durch Siegel für jede gültige Urkunde, welche die Korporation ausstellte, die Behandlung der Aktien als Immobilien, wenn irgend ein Bestandteil des Korporationsvermögens aus Grundbesitz bestand, die Begrenzung auf öffentliche oder gemeinnützige Zwecke war für diese Erwerbsgesellschaften undurchführbar und fiel daher im Lauf des 18. Jahrhunderts. Aber erst das 19. Jahrhundert sah die Einführung der Limited liability für die Handelskorporationen
75
Die beschränkte Haftbarkeit („limited liability“) der Handelskorporationen wurde durch die erste Company-Act von 1855 (18 & 19 Vict. c. 33) statuiert; vgl. Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 60.
und die Schaffung von Normativbestimmungen für alle joint stock companies,
76
Durch die Companies-Act von 1862 (25 & 26 Vict. c. 89) wurden für die sog. Handelsgesellschaften auf Aktien („joint stock companies“) die Bedingungen, unter denen ihnen Korporationsqualität zukommt, gesetzlich formuliert. Diese Normativvorschriften traten an die Stelle des hier besonders unzuträglichen Konzessionierungssystems; vgl. Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 60 f., 67.
dann die Schaffung von Spezialnormen für die friendly und benevolent societies,
77
Die „friendly und benevolent societies“ sind Regelungsgegenstand der Friendly Societies Act von 1896 (59 & 60 Vict. c. 25). Unter die friendly societies fallen vor allem die Alters- und Unfallversicherungsgesellschaften von Arbeitern und kleinen Gewerbetreibenden, während die benevolent societies alle möglichen wohltätigen Zwecke außerhalb der reinen Mitgliederunterstützung verfolgen; vgl. hierzu und zum folgenden die Ausführungen bei Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 67–70.
die wissenschaftlichen und Versicherungsgesellschaften und die Sparkassen, endlich [419]für die Trade unions der Arbeiterschaft
78
[419] Die Gewerkschaften gelten aber – im Unterschied zu den friendly societies – als Vereine ohne Rechtspersönlichkeit, sind also nicht inkorporiert. Sie können jedoch – wie die friendly societies – durch von ihnen zu bestellende Treuhänder („trustees“) im ordentlichen Rechtsverkehr auftreten; vgl. Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 67 f., 69 f.
ziemlich parallel mit der entsprechenden kontinentalen Gesetzgebung. Keineswegs durchweg wurden die alten Formen verlassen. Die Stellung von Trustees ist für eine ganze Reihe der zugelassenen Vereine (so die friendly societies) noch heute die Vorbedingung gerichtlichen Auftretens, während für nichtinkorporierte Vereine (Clubs) einstimmig erteilte Vollmacht für jedes Rechtsgeschäft nötig ist.
79
Hinsichtlich der Prozeßvertretung der friendly societies durch trustees, die nicht mit „Beamten“ oder „Organen“ zu verwechseln sind, ist Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 67, zu vergleichen. – Die „Clubs“ werden als Resultate eines Vertrags aufgefaßt. Entsprechend gelten die Clubsatzungen als Vertragsofferten, denen sich die beitretenden Vereinsmitglieder freiwillig unterwerfen. Die Vornahme von Rechtsgeschäften oder die Ermächtigung einzelner Personen dazu setzt folgerichtig die Zustimmung aller Clubmitglieder voraus (vgl. ebd., S. 68 f.; auch oben, S. 204 mit Anm. 33).
Das Verbot des ultra vires
t
[419] Lies: ultra vires-Handelns Vgl. die Emendation in WuG5, S. 436.
und außerhalb der gesetzlichen Schemata auch das
a
A, B: des
Konzessionsprinzip stehen noch immer in Kraft. Praktisch weicht [WuG1 451]aber der Zustand nicht allzu sehr von demjenigen ab, welcher auch in Deutschland seit dem Bürgerlichen
b
A, B: bürgerlichen
Gesetzbuch
80
Vgl. zum Vereinsrecht §§ 21–79 BGB.
besteht.
[A 35][B 68]Daß
c
Blatt A 35/ B 68 ist nur mit wenigen Zeilen beschrieben.
mit dem allzuviel gebrauchten Schlagwort vom individualistischen Charakter des römischen im Gegensatz zum sozialen Charakter des germanischen Rechts
81
Vielfach variiert wurde das „Schlagwort“ in der zeitgenössischen Kontroverse um die Qualitäten von deutschem und römischem Recht sowie um die Folgen der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland – besonders im Hinblick auf die inhaltliche Gestaltung des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Weber hatte dazu bereits pointiert Stellung bezogen in: „Römisches“ und „deutsches“ Recht, MWG I/4, S. 524–534.
die starken Abweichungen der Rechtsentwicklung nicht erklärt sind, zeigt nicht nur diese kurze vergleichende Skizze, sondern auch jeder Blick auf die anderen großen Rechtsgebiete.
[A 36][B 69]Der Reichtum des deutschen mittelalterlichen Genossenschaftswesens, bedingt durch höchst individuelle[,] und zwar vornehmlich rein politische Schicksale[,] steht und stand einzig in der Welt da. Das russische und das orientalische einschließlich des indischen Rechts kennen leiturgische Kollektivhaftung und entsprechende [420]Kollektivrechte von Zwangsgenossenschaften, vor allen Dingen von Dorfgemeinden, aber auch von Handwerkern.
82
[420] Zu den orientalischen und indischen (kommunalen und berufsständischen) Lastenverbänden vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, MWG I/6, S. 385 f., 411, 430–435, 559, mit wiederkehrenden Bezügen zu den russischen agrar- und gewerberechtlichen Verhältnissen sowie Weber, Hinduismus und Buddhismus, MWG I/20, S. 89 f., 92, 153, 167, 150.
Sie kennen ferner, nicht überall, aber meist[,] die Solidarhaftung der Familiengemeinschaft und vielfach, so in den russischen Artjels, der durch Verbrüderung geschaffenen familienartigen Arbeitsgemeinschaft. Aber ein differenziertes Genossenschaftsrecht nach Art des mittelalterlichen Okzidents ist ihnen unbekannt geblieben und erst recht der rationale Korporationsbegriff, wie ihn das römische und das mittelalterliche Recht zusammenwirkend erzeugt haben. Das Stiftungsrecht des islamischen Rechts ist, wie wir sahen,
83
Siehe oben, S. 396 f.
durch die
d
[420] Fehlt in A, B; die sinngemäß ergänzt.
altorientalische, namentlich ägyptische[,] und vor allem durch die
e
Fehlt in A, B; die sinngemäß ergänzt.
byzantinische Rechtsentwicklung vorgebildet und enthielt keinen Ansatz zu einer Korporationstheorie. Endlich das chinesische Recht zeigt in typischer Art das Zusammenwirken der Erhaltung der Familien und Sippen in ihrer Bedeutung als Garantinnen der sozialen Stellung des Einzelnen mit der patrimonialen Fürstenherrschaft.
84
Zum Nachstehenden vgl. Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, bes. S. 256–284, 279 ff. (patrimoniale Rechts- und Staatsstruktur), 262 ff. (Sippenorganisation), 266 ff. (Dorfautonomie).
Ein Staatsbegriff unabhängig von der Privatperson des Kaisers existiert nicht, ebensowenig ein privates Korporationsrecht, ein Vereinsrecht, abgesehen von den politisch bedingten Polizeiverboten gegen alle nicht entweder familienhaften oder fiskalischen oder speziell konzessionierten Verbände. Gemeinden existieren für das offizielle Recht nur als Familienhaftungsverbände für Steuern und Lasten. Daß sie tatsächlich, auf der Basis der Sippenverbände, noch immer ihren Mitgliedern gegenüber die denkbar stärkste Autorität üben, für die Wirtschaft gemeinsame Institutionen aller Art schaffen und nach außen eine Geschlossenheit zeigen, mit welcher die Organe der kaiserlichen Herrschaft als mit der stärksten lokalen Gewalt zu rechnen haben, ist eine Tatsache, welche hier so wenig wie anderwärts in Rechtsbegriffen des offiziellen Rechts ausge[A 37][B 70]prägt ist, die Wirkung von solchen vielmehr [421]gehemmt hat. Denn einen klar umschriebenen Inhalt konnte eine Autonomie, die sich nach außen in Blutfehden der Sippen und Gemeinden äußerte, von dem offiziellen Recht aber nie anerkannt wurde, nicht annehmen. Der Zustand der privaten Verbände aber außerhalb der Sippen und Familien, vor allem das stark entwickelte Darlehens- und Sterbekassenwesen und die Berufsverbände[,]
85
[421] Zu den Gilden und anderen Berufsverbänden als – neben Sippen und Dörfern – normalen Trägern der chinesischen Lokalverwaltung vgl. Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, bes. S. 155–158, 322 f.; über die „chinesische Kreditvereinigung“ als einer Vereinigung u. a. zum Zweck der Begräbnisausrichtung und Ahnenverehrung vgl. ebd., S. 277 mit Anm. 32, und S. 425, Anm. 140.
entspricht teils dem Zustand der römischen Kaiserzeit, teils dem russischen Recht des 19. Jahrhunderts.
86
Die Parallele zwischen chinesischem und russischem Zunftwesen (letzterem noch im 19. Jahrhundert) zieht Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 275.
Trotzdem fehlt der Begriff der Rechtspersönlichkeit im antiken Sinne völlig, und die leiturgische Funktion ist heute im wesentlichen abgestorben, soweit sie einmal existiert haben sollte, was nicht ganz sicher ist.
87
In der Konfuzianismusstudie hält es Weber für „nicht feststehend und nicht wahrscheinlich“, daß die offizielle Empfehlung zugunsten der Erblichkeit der Berufe „auf einer früheren durchgreifenden leiturgischen Organisation der Gewerbe beruhe“ (Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 274, Webers Fn. 5). Er vermerkt freilich die „zeitweise anscheinend durchgeführte Absicht leiturgischer Schließung der Berufe“ (ebd., S. 275).
Die kapitalistischen Vermögensgemeinschaften aber sind zwar, ähnlich wie im südeuropäischen Mittelalter, von der formalen Gebundenheit an die Hausgemeinschaft emanzipiert, aber trotz faktischen Gebrauchs solcher Einrichtungen wie der festen Firma doch nicht zu den Rechtsformen entwickelt, wie dort schon im 13. Jahrhundert.
88
Vgl. hierzu Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 257, 273 f., 461 f.
Die Gesamthaftung knüpft[,] dem Zustand des Obligationenrechts entsprechend[,] auch hier an die Deliktshaftung der Sippe an, welche überhaupt noch in einzelnen Resten besteht. Aber die Kontrakthaftung, welche noch reine Personalhaftung ist, besteht nicht solidarisch, sondern erschöpft sich in der Pflicht, flüchtige Gesellschafter zu gestellen, welche den übrigen obliegt, die aber sonst materiell nur pro rata der Anteile und nur persönlich haften. Nur das Fiskalrecht kennt die Solidarhaft der Familie
89
Zur fiskalischen Solidarhaft der Familie vgl. Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 231, S. 233 f., Anm. 10, und S. 234, 235 f., 238 f.
und den Zugriff auf ihr Vermögen, [WuG1 452]während ein Gesamtvermögen der privaten Vergesellschaftungen rechtlich hier ebensowenig existiert wie in [422]der römischen Antike, die modernen Handelsgesellschaften aber, ähnlich wie die antiken Publikanengesellschaften, rechtlich als Konsortial- und Kommanditbeteiligungen mit persönlich haftenden Direktoren behandelt werden. Die Fortdauer der Bedeutung der Sippe, innerhalb deren dem Schwerpunkt nach auch alle ökonomische Sozietätsbildung sich vollzieht, die Hemmung autonomer Korporationen durch den politischen Patrimonialismus und die Verankerung des eigenständigen [A 38][B 71]Kapitals in fiskalischen
f
[422]A, B: Verantwortung des eigenständigen | Kapitals an fiskalische
Gewinnchancen und im übrigen nur im Handel hat hier wie in der Antike und im Orient diesen unentwickelten Zustand des privaten Verbandsrechts und des Rechts der Vermögensgesellschaften bedingt.
Daß die okzidentale mittelalterliche Entwicklung anders verlief, hatte seinen Grund zunächst und vor allem darin: daß hier der Patrimonialismus ständischen und nicht patriarchalen Charakter trug, was, wie später zu erörtern,
90
[422] Zu dieser Unterscheidung siehe die ältere „Herrschaftslehre“ Max Webers in: Patrimonialismus, MWG I/22-4, S. 247 ff., bes. 287–289, und Feudalismus, MWG I/22-4, S. 380 ff., bes. 409–411, 440–442.
wesentlich politisch, speziell militärisch und staatswirtschaftlich[,] bedingt war. Dazu trat ferner die Entwicklung und Erhaltung der dinggenossenschaftlichen Form der Justiz, deren historische Stellung bald zu besprechen sein wird.
91
Siehe die folgenden Bemerkungen sowie unten, S. 466 ff.
Wo sie fehlte, wie z. B. in Indien seit der übermächtigen Stellung der Brahmanen, da hat sich auch der tatsächliche Reichtum der Körperschafts- und Genossenschaftsformen nicht in einer entsprechend reichen Rechtsentwicklung niedergeschlagen. Das lange dauernde Fehlen rationaler und überhaupt starker Zentralgewalten, welches mit nur zeitweiligen Unterbrechungen immer wieder eintrat, hat zwar auch dort die Autonomie der kaufmännischen, beruflichen und landgemeindschaftlichen Verbände erzeugt, welche das Recht ausdrücklich anerkennt.
92
Zu Verbandsautonomie und Ansätzen „ständischer“ Rechtsbildung vgl. Weber, Hinduismus und Buddhismus, MWG I/20, S. 113, 166.
Aber eine Rechtsbildung von der Art der deutschen ist daraus nicht entstanden. Die praktische Konsequenz der dinggenossenschaftlichen Justiz war der Zwang gegen den Herrn, den
g
A, B: dem
politischen wie den
h
A, B: dem
Grundherrn, Urteile und Weistümer nicht selbst und auch nicht durch Beamte,
i
A, B: Bekannte, Die Emendation folgt WuG5, S. 438.
[423]sondern durch Dingleute aus dem Kreise der Rechtsgenossen oder doch unter deren maßgebender Mitwirkung finden zu lassen, widrigenfalls sie nicht als wirklich objektiv verbindliche Rechtsweisung galten. Die Interessenten der einzelnen Rechtskreise also wirkten bei jeder derartigen Feststellung mit: die Grundholden, Hofhörigen, Dienstmannen, über Rechte und Pflichten, die aus ihrem ökonomischen und persönlichen, die Vasallen und Stadtbürger über solche, welche aus ihrem kontraktlichen oder politischen Abhängigkeitsverhältnis folgten. Dies stammte ursprünglich aus dem Wehrverbandscharakter der öffentlichen Gerichtsgemeinden, ist aber von da aus mit dem Zerfall der [A 39][B 72]Zentralgewalt auf alle mit verliehener oder usurpierter Justiz ausgestatteten Verbände übernommen worden. Es ist klar, daß dies eine Garantie autonomer Rechtsbildung und zugleich körperschaftlicher und genossenschaftlicher Organisation darstellte, wie sie stärker nicht gefunden werden konnte. Das Entstehen dieser Garantie und damit auch der tatsächlichen Autonomie der einzelnen Rechtsinteressentenkreise
j
[423]A, B: Rechtsinteressenkreise Die Emendation folgt WuG5, S. 438.
in der Ausgestaltung ihres Rechtes, wie sie der Entwicklung des okzidentalen Genossenschafts- und Körperschaftsrechtes ebenso wie der spezifisch kapitalistischen Assoziationsformen
k
A, B: Assoziationsform
erst die Möglichkeit bot, war aber wesentlich politisch und verwaltungstechnisch bedingt: der Herr war in aller Regel militärisch derart in Anspruch genommen und verfügte so wenig über einen rationalen, von ihm abhängigen Verwaltungsapparat zur Kontrolle seiner Untergebenen, daß er von deren Gutwilligkeit abhängig war und auf ihre Mitwirkung bei der Wahrung seiner eigenen Ansprüche, damit aber auch
l
Zu ergänzen wäre: auf die Wahrung
der traditionellen oder usurpierten Gegenansprüche der von ihm Abhängigen angewiesen blieb. Die Stereotypierung und Appropriation der Rechte dieser abhängigen Schichten zu Genossenrechten hatten hier ihre Quelle. Die aus den Formen der dinggenossenschaftlichen Rechtsweisung folgende Gepflogenheit, das geltende Verbandsrecht periodisch durch mündliche Zeugnisse festzustellen und weiterhin urkundlich in Weistümern niederzulegen, und die Gewöhnung der Abhängigen, diese Rechtszustände sich bei [WuG1 453]günstiger Gelegenheit durch Privileg bestätigen zu lassen, steigerte die Garantien der Verbandsnormen. Diese Vor[424]gänge innerhalb der herrschaftlichen, politischen und ökonomischen Verbände steigerten naturgemäß die Chancen der Erhaltung genossenschaftlicher Autonomie auch für die nicht herrschaftlichen, freien vereinsmäßigen Einungen. Wo, wie in England, diese Situation fehlte, weil die Königsgerichte der starken patrimonialen Gewalt die alte dinggenossenschaftliche Justiz der Grafschaften, Gemeindeverbände usw.
m
[424] Fehlt in A, B; usw. sinngemäß ergänzt.
verdrängten, da ist auch die Entwicklung des Genossenschaftsrechts ausgeblieben, fehlen die Weistümer und Autonomieprivilegien oder sind seltener und haben nicht den Charakter der kontinentalen Er[A 40][B 73]scheinungen. Und sobald in Deutschland die politischen und grundherrlichen Gewalten sich die Verwaltungsapparate schaffen konnten, um die Genossenjustiz zu entbehren, ging es mit der genossenschaftlichen Autonomie und mit dem Genossenschaftsrecht selbst auch dort schnell abwärts. Daß dies mit dem Eindringen grade des romanistisch gebildeten Herrschertums zusammenfiel, war natürlich nicht zufällig, aber das römische Recht als solches hat nicht die entscheidende Rolle gespielt.
n
In B steht auf Zeilenhöhe am Rand die Notiz Max Webers: Prozeßtechnik
93
[424] Zu den ökonomischen und politischen Interessenten der „Rezeption des römischen Rechts“ und zum Einfluß der romanistisch geschulten Juristen auf die (patrimoniale) Herrschafts- bzw. Rechtsstruktur vgl. unten, S. 578–585.
In England haben germanistische
o
A, B: germanistische,
rechtstechnische Mittel das Genossenschaftsrecht nicht aufkommen lassen. Und übrigens wurden dort die nicht unter die Struktur der corporation sole oder der Trustkorporation oder der konzessionierten Schemata der Vergesellschaftung zu bringenden Verbände ganz ebenso als reine Kontraktbeziehungen der Mitglieder, die Statuten als gültig nur im Sinn einer durch den Eintritt akzeptierten Vertragsofferte angesehen,
94
Dies gilt namentlich für die „clubs“ als typische Vereinigungen vorwiegend der besitzenden Klassen zu geselligen und besonders politischen Zwecken; vgl. oben, S. 419 mit Anm. 79.
wie dies einer romanistischen Konstruktion entsprechen würde. Die politische Struktur des rechtssetzenden Verbandes und die Eigenart der beruflichen Träger der Rechtsbildung, von der wir später zu sprechen haben werden,
95
Siehe unten, S. 476–509.
waren die entscheidenden Momente.
Die Entwicklung der rechtlich geordneten Beziehungen zur [425]Kontraktgesellschaft und des Rechts selber zur Vertragsfreiheit, speziell zu einer durch Rechtsschemata reglementierten Ermächtigungsautonomie[,] pflegt man als Abnahme der Gebundenheit und Zunahme individualistischer Freiheit zu charakterisieren. In welchem relativen Sinn dies formal zutrifft, geht aus dem vorstehend Gesagten hervor. Die Möglichkeit, in Kontraktbeziehungen mit anderen zu treten, deren Inhalt durchaus individuell vereinbart wird[,] und ebenso die Möglichkeit, von einer wachsend großen Zahl von Schemata nach Belieben Gebrauch zu machen, welche
p
[425]A, B: welchen Die Emendation folgt WuG5, S. 439.
das Recht für Vergesellschaftung im weitesten Sinne des Wortes zur Verfügung stellt,
q
A, B: steht, Die Emendation folgt WuG5, S. 439.
ist im modernen Recht wenigstens auf dem Gebiete des Sachgüterverkehrs und der persönlichen Arbeit und Dienstleistungen ganz außerordentlich gegenüber der Vergangenheit erweitert. Inwieweit dadurch nun auch im praktischen Ergebnis eine Zunahme der [A 41][B 74]individuellen
r
Blatt A 41/ B 74 ist nicht ganzseitig beschrieben.
Freiheit in der Bestimmung der Bedingungen der eigenen Lebensführung dargeboten worden ist oder inwieweit trotzdem[,] und zum Teil vielleicht in Verbindung damit[,] eine Zunahme der zwangsmäßigen Schematisierung der Lebensführung eingetreten ist, dies kann durchaus nicht aus der Entwicklung der Rechtsformen allein abgelesen werden. Denn die formal noch so große Mannigfaltigkeit der zulässigen Kontraktsschemata und auch die formale Ermächtigung, nach eigenem Belieben unter Absehen von allen offiziellen Schemata Kontraktinhalte zu schaffen, gewährleistet an sich in keiner Art, daß diese formalen Möglichkeiten auch tatsächlich jedermann zugänglich seien. Dies hindert vor allem die vom Recht garantierte Differenzierung der tatsächlichen Besitzverteilung. Das formale Recht eines Arbeiters, einen Arbeitsvertrag jeden beliebigen Inhalts mit jedem beliebigen Unternehmer einzugehen, bedeutet für [WuG1 454]den Arbeitsuchenden praktisch nicht die mindeste Freiheit in der eigenen Gestaltung der Arbeitsbedingungen und garantiert ihm an sich auch keinerlei Einfluß darauf. Sondern mindestens zunächst folgt daraus lediglich die Möglichkeit für den auf dem Markt Mächtigeren, in diesem Falle normalerweise den
s
A, B: dem
Unternehmer, diese Bedingungen nach seinem Ermessen festzustellen, sie dem Arbeitsuchenden zur Annahme oder Ablehnung anzubieten und bei der durchschnittlich stärkeren [426]ökonomischen Dringlichkeit seines Arbeitsangebots für den Arbeitsuchenden diesem zu oktroyieren. Das Resultat der Vertragsfreiheit ist also in erster Linie die Eröffnung der Chance, durch kluge Verwendung von Güterbesitz auf dem Markt diesen unbehindert durch Rechtsschranken als Mittel der Erlangung von Macht über andere zu nutzen. Die Marktmachtinteressenten
t
[426]A, B: Marktmachtsinteressenten
sind die Interessenten einer solchen Rechtsordnung. In ihrem Interesse vornehmlich liegt insbesondere die Schaffung von [A 9][B 75]„Ermächtigungsrechtssätzen“, welche
u
A: ist die Schaffung solcher Satzanschluß an den Typoskripttext, oben, S. 368, textkritische Anm. d ; B: 〈sind〉 „Ermächtigungsrechtssätzen“, welche
Schemata von gültigen Vereinbarungen schaffen, die
a
A: Vereinbarungen, welche
bei formaler Freiheit der Benutzung durch alle doch tatsächlich nur den Besitzenden zugänglich sind und also im Erfolge deren und nur deren Autonomie und Machtstellung
b
A: nur deren Autonomie
stützen.
Es
c
c–c (bis S. 429: Zwangsgewalten dienen.) In B steht am Rand die Satzanweisung Max Webers: Petit
ist auch deshalb
d
A: war
notwendig, diesen Sachverhalt speziell hervorzuheben, um nicht in den geläufigen
e
Fehlt in A.
Irrtum zu verfallen:
f
A: verfallen,
daß diejenige Art von „Dezentralisation der Rechtsschöpfung“ (ein an sich guter Ausdruck Andreas Voigts),
96
[426] Nachweislich ist in diesem Zusammenhang nur die sinnentsprechende Redeweise Voigts von der „Dezentralisation des Rechtes“; Voigt, Wirtschaft und Recht, S. 313 und S. 395.
welche in Gestalt
g
Fehlt in A.
dieser modernen Form
h
In B folgt: 〈durch Rechtsschem〉 〈durch 〈Rechts〉 Geschäftsschemata〉
der schematisch begrenzten
i
Fehlt in A.
Autonomie der Interessenten durch Rechtsgeschäfte vorliegt,
j
A: liegt,
etwa identisch sei mit einer Herabsetzung des innerhalb einer Rechtsgemeinschaft geübten Maßes von Zwang im Vergleich mit anderen, z. B. „sozialistisch“, geordneten Gemeinschaften. Die relative Zurückdrängung des durch Gebots- und Verbots-Normen angedrohten
k
A: Herabsetzung des
Zwanges durch steigende Bedeutung der „Vertragsfreiheit“, speziell der
m
B: der,
l
Fehlt in A.
Ermächtigungsgesetze, welche alles der „freien“ Vereinbarung überlassen, ist
n
In A folgt: nur
formell gewiß
o
Fehlt in A.
eine Verminderung des Zwangs. Aber offenbar lediglich
p
A: Zwangs
zu Gunsten derjenigen, welche von jenen Ermächtigungen Gebrauch zu machen ökonomisch
q
Fehlt in A.
in der Lage sind. Inwieweit dadurch
r
A: sie
materiell das Gesamtquantum von „Freiheit“ innerhalb einer gegebenen Rechtsgemeinschaft [427]vermehrt wird, ist aber
s
[427]A: vermehrt ist
durchaus eine Frage der konkreten Wirtschaftsordnung und speziell der Art der Besitzverteilung, jedenfalls aber ist es
t
Fehlt in A.
nicht aus dem Inhalt des Rechts abzulesen. In einer „sozialistischen“ Gemeinschaft z. B.
a
Fehlt in A.
würden Ermächtigungsgesetze der hier erörterten Art sicherlich eine geringe Rolle spielen;
b
A: geringere Rolle spielen,
es würden ferner die Stellen, welche Zwang üben, die Art des Zwanges und diejenigen, gegen welche er sich eventuell
c
Fehlt in A.
richtet, andere sein, als bei der privatwirtschaftlichen Ordnung.
d
A: in einer privatwirtschaftlich organisierten Gemeinschaft.
In dieser letzteren wird der Zwang zum erheblichen Teil
e
Fehlt in A.
durch den privaten Besitzer der Produktions- und Erwerbsmittel kraft dieses seines ihm
f
Fehlt in A.
vom Recht garantierten Besitzes und in der Form der Machtentfaltung im Marktkampf geübt. Diese Art von Zwang macht mit dem Satz „coactus voluit“
97
[427] Über den zugrunde liegenden Digestensatz und dessen allgemeine ökonomische Bedeutung vgl. oben, S. 243 mit Anm. 21.
insofern besonders consequent Ernst, als er sich aller autoritären Formen enthält. Es steht im „freien“ Belieben der Arbeitsmarktinteressenten, sich den Bedingungen des kraft Rechtsgarantie seines Besitzes ökonomisch Stärkeren zu fügen.
g
Fehlt in A.
In einer sozialistischen Gemeinschaft würden formell die direkten Gebots- und Verbots-Anordnungen
h
A: durch Anordnungen
einer, wie immer zu denkenden, einheitlichen, die wirtschaftliche Tätigkeit regelnden Instanz weit stärker hervortreten. Diesen Anordnungen würde
i
A: Instanz, denen
im Fall des Widerstrebens Nachachtung durch „Zwang“ irgendwelcher Art, nur nicht durch Marktkampf, verschafft werden. Wo aber dabei im Ergebnis
j
A: werden würde. Wo
das Mehr an Zwang überhaupt
k
Fehlt in A.
und wo das Mehr an faktischer
l
Fehlt in A.
persönlicher Freiheitssphäre liegen würde, das ist jedenfalls
m
A: ist jedenfalls ; B: das ist 〈a priori nicht anzugeben,〉 jedenfalls
nicht durch bloße Analyse des im einen und anderen Fall geltenden oder denkbaren formalen
n
Fehlt in A.
Rechts zu entscheiden. Soziologisch erfaßbar ist
p
B: relevant ist > erfaßbar ist
heute lediglich jener Unterschied der
o
A: entscheiden, sondern höchstens durch Analyse der
qualitativen Eigenart des Zwanges und dessen Verteilung unter die an der Rechtsgemeinschaft jeweils Beteiligten.
q
In B folgt die Satzanweisung Max Webers: Absatz
[428]Eine (demokratisch) sozialistische Ordnung (im Sinn der heute gangbaren Ideologien) lehnt den Zwang nicht nur in der Form ab, wie
r
[428]A: Die sozialistische Idee perhoresziert den Zwang nicht nur, wo
er auf Grund des privaten Besitzes durch den Marktkampf geübt wird, sondern andrerseits
s
A: vor allem
auch den direkten
t
Fehlt in A.
Zwang kraft rein
a
Fehlt in A.
persönlicher Autoritätsansprüche. Sie könnte nur die Geltung
c
B: Sie 〈kennt〉 könnte nur die Geltung 〈abstrakter Satzungen.〉
vereinbarter abstrakter Gesetze [A 10][B 76](einerlei
d
Blatt A 10/ B 76 ist nur zu zwei Dritteln beschrieben.
ob dieser Name gewählt wird) kennen.
b
A: Autorität. Mit welchen dauernden Chancen angesichts der | Notwendigkeit einer sehr universellen Organisation, mag gewiß höchst fraglich erscheinen.
Die Marktgemeinschaft ihrerseits kennt formalen
e
A: kennt, in ihrer reinen Form,
Zwang kraft persönlicher Autorität formal ebenfalls nicht.
g
B: nicht; 〈sondern〉
Sie gebiert an seiner Stelle aus sich heraus eine Zwangslage – und zwar diese prinzipiell unterschiedslos gegen Arbeiter wie Unternehmer, Produzenten wie
f
A: ebenfalls nicht ihrer Idee, sondern nur der Tatsache nach. Sie ihrerseits gebiert vielmehr aus sich heraus den Zwang – gegen Arbeiter und Unternehmer, Produzenten und
Konsumenten – in der ganz unpersönlichen Form der Unvermeidlichkeit, sich den rein ökonomischen „Gesetzen“ des Marktkampfs
h
A: Marktgesetzen
anzupassen, bei Strafe des (mindestens relativen) Verlustes an ökonomischer Macht, unter Umständen von ökonomischer Existenzmöglichkeit überhaupt. Sie macht[,]
i
A: Verlustes der ökonomischen Macht. Sie setzt diesen unpersönlichen Zwang an die Stelle der persönlichen Autorität. Sie macht im Ergebnis,
auf dem Boden der kapitalistischen Organisation, auch die thatsächlich bestehenden
j
A: unvermeidlich
persönlichen und autoritären
k
A: autoritären, weil Disziplin in sich schließenden
Unterordnungsverhältnisse im kapitalistischen
l
Fehlt in A.
„Betrieb“ zu Objekten des „Arbeitsmarktverkehrs“. Die Entleerung von allen normalen gefühlsmäßigen Inhalten
n
B: Inhalten > gefühlsmäßigen Inhalten
autoritärer Beziehungen
o
B: Macht > Beziehungen
aber hindert dabei nicht, daß der autoritäre Charakter des Zwangs dennoch fortbesteht und unter Umständen sich steigert.
m
A: Marktverkehrs, ohne daß es ihr dadurch allein gelänge, sie ihres autoritären Charakters wirklich zu entkleiden.
Je umfassender
p
A: umfassender vielmehr, im Gefolge der Marktbeherrschung und der Konzentration ökonomischer Macht ; B: umfassender,
die Gebilde, deren Bestand in spezifischer Art
q
Fehlt in A.
auf „Dis[WuG1 455]ziplin“ ruht: die kapitalistischen gewerblichen
r
Fehlt in A.
Betriebe, anwachsen, desto rücksichtsloser kann unter Umständen autoritärer Zwang in ihnen geübt werden und desto kleiner wird
s
A: autoritärer gefärbt wird der in ihnen geübte Zwang und desto enger
der Kreis derjenigen, in de[429]ren Händen sich die Macht zusammenballt, Zwang dieser Art gegen Andere zu üben und diese Macht sich durch Vermittlung der Rechtsordnung garantieren zu lassen.
t
[429]A: Macht, ihn zu üben und durch Vermittlung der Rechtsordnung garantieren zu lassen, zusammenballt.
Eine formell noch so viele „Freiheitsrechte“ und „Ermächtigungen“ verbürgende und darbietende und noch so wenig Gebots- und Verbotsnormen enthaltende Rechtsordnung kann daher in ihrer faktischen Wirkung einer quantitativ und
a
Fehlt in A.
qualitativ sehr bedeutenden Steigerung nicht nur des Zwangs überhaupt, sondern auch
b
A: Verschärfung des Zwangs und sogar
einer Steigerung des autoritären Charakters der Zwangsgewalten dienen.
c
c(ab S. 426: Es)c In B steht am Rand die Satzanweisung Max Webers: bis hierher: Petit.

[430][B Db][WuG1 396, Forts.]§ 3. Die
c
B: Der
Form des objektiven Rechts[.]
b
B: §. [Spatium] Der Normcharakter des Rechts > §. [Spatium] Der [sic!] Form des objektiven Rechts Normcharakter ist gestrichen und eingeklammert, darüber von Max Weber Form geschrieben, beides von Marianne Weber mit Formcharakter überschrieben. Das Spatium ist von fremder Hand mit 3 ausgeschrieben, gestrichen und mit 2 überschrieben.
a1
[430] Fehlt in A. In B steht am linken oberen Rand die Satzanweisung Max Webers (mit Bleistift): Pet[it] weiter Darunter steht die Notiz Webers: § 2: jurist[ische]Person. // § 3: Gewohnheitsrecht.

Problem der Neuentstehung von Rechtsnormen. Das
e
In B folgt: 〈angebliche〉
„Gewohnheitsrecht“. S. [430]
f
In B folgt: 〈〈Initiative〉 Gemeinschaftshandeln der Rechtsinteressenten und Rechtszwang. S. … –〉
Die thatsächlichen Componenten der Rechtsentwicklung. Interessentenhandeln
g
B: 〈〈Handeln der〉 Maß der Rücksichtnahme des〉 Interessentenhandeln
ga
B: Interessentenhandelns > Interessentenhandeln
〈auf den〉
und Rechtszwang. S. [433] – Irrationaler Charakter der urwüchsigen Streitschlichtung[.] S. [440]
h
In B folgt: 〈„Satzung“ und Rechtsprophetentum.〉
Charismatische Rechtsschöpfung und Rechtsfindung[.] S. [446] – Dinggenossenschaftliche Rechtsfindung[.] S. [454] – Die „Rechtshonoratioren“
i
Der zweite Teil des Worts ist von fremder Hand unterstrichen und am Rand als honoratioren aufgelöst.
als Träger der Rechtsschöpfung[.] S. [460]
d
Die Inhaltsübersicht ist links mit eckiger Klammer und Satzanweisung von fremder Hand: Petit versehen.
a2
Fehlt in A.
[A 25][B 1]Wie
j
In B geht am oberen Rand voraus: §. [Spatium] Der Normcharakter des Rechts. In das Spatium ist von fremder Hand die Ziffer 2 [sic!] eingefügt.
entstehen neue Rechtsregeln?
k
A: Rechtsnormen?
Heute normalerweise durch Gesetz, d. h. menschliche Satzung in den dafür kraft gewohnter oder oktroyierter Verfassung
1
[430] Im Kategorienaufsatz hat Weber die „Entstehung neuer Anstalts-Satzungen“ typologisch differenziert nach ihrem Entstehungsgrund: autonome „Vereinbarung“ und „Oktroyierung“ (Kategorien, S. 289 f.). Die Vorstellung von der geltenden „Oktroyierungsgewalt“, d. h. der Satzungsgewalt eines Verbandes bzw. einer Anstalt, nennt Weber „Verfassung“ im empirischen Sinne (vgl. ebd., S. 290).
eines Verbandes als legitim geltenden Formen. Daß dies nichts Urwüchsiges
l
A, B: urwüchsiges
ist, versteht sich von selbst. Allein auch unter ökonomisch und sozial weitgehend differenzierten Verhältnissen ist es nicht das Normale. Das englische Common Law wird dem durch Satzung entstandenen Recht: „Statute Law“,
2
U.a. Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 113 ff., weist darauf hin, daß ein statute ursprünglich nur ein judicium, nicht eine Satzung war, dem modernen Gesetzesbegriff also fernstand; vgl. unten, S. 457 f.
direkt entgegengesetzt. Bei uns pflegt man
m
A: ist den durch Satzung entstandenen Arten von Rechtsnormen: Statute Law und Equity, direkt entgegengesetzt. Man pflegt bei uns
das nichtgesatzte Recht als „Gewohnheitsrecht“ zu bezeichnen. Allein [431]das ist ein relativ sehr moderner Begriff, der im römischen Recht erst spät
n
[431]A: in sehr späten Andeutungen
[WuG1 397]auftaucht
3
[431] Zur Anerkennung des Gewohnheitsrechts als derogierender Rechtsquelle (desuetudo) gegenüber dem Zwölftafelgesetz in spätrepublikanischer Zeit vgl. etwa: Kipp, Theodor, Geschichte der Quellen des römischen Rechts, 3., verm. und verb. Aufl. – Leipzig: A. Deichert Nachf. 1909, S. 20–26 (hinfort: Kipp, Geschichte). Zwar wird die Geltung grundlegender Institute wie patria potestas, mancipatio etc. noch vor dem Zwölftafelgesetz auf „Gewohnheit“ zurückgeführt, doch erst Cicero und die Klassiker messen ihr gesetzesgleiche Kraft bei.
und bei uns Produkt der gemeinrechtlichen Jurisprudenz ist.
4
Das Gewohnheitsrecht ist ein Schlüsselkonzept der gemeinrechtlichen Jurisprudenz. Mit seiner Hilfe ließ sich die Fortgeltung des Römischen Rechts über die Rezeption bis in die Neuzeit trotz fehlender Satzung „erklären“ und zugleich via derogierenden Gewohnheitsrechts differenzierend behandeln; vgl. Puchta, G[eorg] F[riedrich], Pandekten, 12., rev. und verm. Aufl., hg. von Th. Schirmer. – Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1877, S. 26, Anm. m. Daher fließt in seine Konstruktion sowohl die kommunalistische Variante der Volksgeistlehren wie die Vorstellung vom Juristen als wahrer Hüter der Rechtskultur ein.
Vollends sind die Voraussetzungen: – 1) faktische gemeinsame Übung, 2) gemeinsame Überzeugung von der Rechtmäßigkeit, 3) Rationabilität
5
Hiernach wird der gemeinsamen Übung und Überzeugung nur dann eine Autorität zugeschrieben, wenn sie nicht gegen die ratio verstößt, ein allerdings schon bei Puchta als höchst problematisch angesehenes Erfordernis (vgl. ders., Gewohnheitsrecht II (wie oben, S. 211, Anm. 52), S. 49–61, bes. 51 ff.). Zur Bedeutung des Irrtums über die „Rationabilität“ vgl. Zitelmann, Gewohnheitsrecht (wie oben, S. 73, Anm. 1), S. 342.
–,
p
B: Rationabilität, –
an welche die gemeinrechtliche
o
A: Voraussetzungen, an welche heute die
Wissenschaft seine Geltung zu knüpfen pflegte, Produkt des theoretischen
q
A: pflegt, Produkt modernen
Denkens.
Auch
s
In B geht die eigenhändige Satzanweisung Max Webers voraus: Absatz
alle seine heute üblichen Definitionen gelten als juristische Construktionen
t
In B folgt: 〈und 〈nur〉 für das heutige Recht. Für dieses ist sie, in der sublimierten Form, die etwa Zitelmann ihr gegeben hat, wohl allein möglich.〉
. Für diese ist allerdings der Begriff in der sublimierten Form, die etwa Zitelmann
6
Die „sublimierte Form“ des Gewohnheitsrechts knüpft bei Zitelmann an die vermeintliche „Detailfrage“ der Beachtlichkeit des Irrtums über die tatsächlichen Voraussetzungen oder den Geltungssinn von Gewohnheitsrecht an. Ganz im Sinne einer neukantianisch aufgeklärten Rechtstheorie des Gewohnheitsrechts befreit sich Zitelmann von einer naturalistischen Geltungslehre, indem er – Formulierungen Max Webers verwandt – „die Vorstellung des Geltens einer Ordnung“ für das Recht im allgemeinen entscheiden läßt (ders., Gewohnheitsrecht (wie oben, S. 73, Anm. 1), S. 463), für das Gewohnheitsrecht im besonderen die Vorstellung, daß allein die Dauer „das Wunder“ (ebd., S. 461) normativer Kraft vollbringe. – Übrigens hat sich Zitelmann 1920 für die Berufung Max Webers an die Universität Bonn eingesetzt; siehe dazu die Einleitung oben, S. 131–133.
oder auch Gierke
7
Dogmatisch grundlegend etwa Gierke, Deutsches Privatrecht I, S. 159–176. Gierkes [432]Auffassung zeichnet sich im wesentlichen dadurch aus, daß sie für das Vorhandensein eines Rechtssatzes als Gewohnheitsrecht die faktische Übung wie eine ihr entsprechende Rechtsüberzeugung für gleichermaßen konstitutiv hält, hingegen sowohl die konkreten Beweggründe für die gewonnene Rechtsüberzeugung wie auch ihren Inhalt, also insbesondere ihre „Rationabilität“, für gleichgültig erklärt (vgl. ebd., S. 165 ff.).
ihm [432]gegeben haben, nicht entbehrlich, es sei denn durch die Beschränkung alles nicht statutarischen Rechts auf bindende Präjudizien. Auf juristischem Gebiet ist der heftige Kampf der Rechtssoziologen (Lambert, Ehrlich)
8
Weber bezieht sich hier vor allem auf Ehrlich, Grundlegung, S. 352–380, sowie Lambert, fonction. Für Ehrlich ist die Lehre vom Gewohnheitsrecht soziologisch unzureichend. Soweit diese behaupte, über die Entstehung von Recht empirisch aufzuklären, um doch nur die Rezeption des Römischen Rechts zu rechtfertigen, hätte sie dazu vor allem zwischen „Rechtseinrichtungen“ und „Rechtssätzen“ zu unterscheiden (vgl. ders., Grundlegung, S. 367). Rechtsdogmatisch pflichtet er Zitelmann bei, der „die Geltung des Gewohnheitsrechts einfach auf seine Geltung“ zurückgeführt habe (ebd., S. 379), ohne hieraus die Schlußfolgerung zu ziehen, die Ehrlich seit seiner Inaugurationsrede über „Die Tatsachen des Gewohnheitsrechts“ (vgl. Ehrlich, Tatsachen (wie oben, S. 73, Anm. 4)) als zwingend ansieht: einen „so bunt zusammengesetzten Begriff“ zu verwerfen (ders., Grundlegung, S. 379). Auch wenn Ehrlich bei Vertretern einer juristischen Dogmatik des Gewohnheitsrechts, etwa bei Georg Beseler, das Postulat einer Beobachtung des „Volksrechts“ aufkommen sieht (ebd., S. 375), verdeckt das Konzept des Gewohnheitsrechts das für ihn zentrale Anliegen, die Suche nach dem „lebenden Recht“.
gegen ihn m. E. durchaus unbegründet und bedeutet eine Vermischung juristischer und soziologischer Betrachtungsweise.
9
Dies richtet sich beispielsweise gegen Ehrlichs Kritik der Gewohnheitsrechtslehre der historischen Rechtsschule, nach der aus der Aufdeckung der „rechtserzeugenden Kräfte in der Gesellschaft“ das rechtlich Anzuwendende herzuleiten sei (Ehrlich, Grundlegung, S. 362). Im übrigen widerspricht die Vorstellung einer „soziologischen Rechtswissenschaft“, wie sie Ehrlich verfolgt, den methodologischen Prämissen Webers; vgl. auch die Ausführungen in § 8, unten, S. 624–627. Nach Ehrlich behandelt sie verschiedene Fragestellungen: „Die Entstehung der Rechtseinrichtungen in der Gesellschaft unabhängig vom Staate, die Entstehung von Rechtssätzen durch die Tätigkeit der Juristen als Schriftsteller, als Lehrer und als Richter“, schließlich „die Frage, inwiefern die Gerichte und andere staatliche Behörden an außerstaatliches Recht gebunden sind“ (Ehrlich, Grundlegung, S. 379 f.). Vgl. dazu auch die vorangehende Kommentierungsanmerkung.
Ganz anders[,] wenn es sich um die uns hier beschäftigende Frage handelt: inwieweit die überkommene juristische Construktion der Geltungsbedingungen des „Gewohnheitsrechts“ etwas Richtiges über die faktische Entstehung der empirischen „Geltung“
a
[432] In B folgt: 〈von „Gewohnheitsrechtssätzen“〉
nicht durch Satzung geschaffenen Rechts aussage.
N
MWG: aussagen. Fehler in MWG-Druckfassung; Korrektur in MWG digital nach Vorlage B.
Das ist in der That nur in sehr geringem Maß der Fall. Als Aussagen über die thatsächliche Entwicklung von Recht in der Vergangen[433]heit, grade in den Zeiten ganz oder fast ganz fehlender „Gesetzgebung“ wären diese juristischen Begriffe unbrauchbar und historisch unwirklich. Zwar finden sie ihren Anhalt sowohl in spätrömischen wie in mittelalterlichen, continentalen sowohl wie englischen Aussprüchen über die Bedeutung und die Voraussetzungen der „consuetudo“ als Rechtsquelle. Allein dabei handelte es sich stets um das typische Problem des Ausgleichs zwischen einem universale Geltung beanspruchenden rationalen Recht und den vorgefundnen lokalen (oder nationalen) Rechten. Im spätrömischen Reich um den Gegensatz zwischen dem Reichsrecht und den nationalen Rechten der Provinzialen. In England um den Gegensatz zwischen dem
b
[433] In B folgt: 〈Juristenrecht der〉
Reichsrecht (lex terrae) des Common Law und den örtlichen Rechten, auf dem Continent um die Beziehung des rezipierten römischen Rechts zu den nationalen Rechten. Nur diese dem universalen Recht widerstrebenden Partikularrechte wurden von den Juristen unter jene Definition gebracht und in ihrer Geltung an jene Voraussetzungen gebunden, wie dies – da das universale Recht als allein legitim auftrat – nicht wohl anders sein konnte. Dagegen hat nie Jemand daran gedacht, etwa das englische Common Law, welches ganz gewiß kein „Gesetzesrecht“ ist, durch die übliche Definition des „Gewohnheitsrechts“ zu qualifizieren. Und die Definition des islamischen
c
B: islamische ; des sinngemäß ergänzt.
„idschma“ als „tacitus consensus omnium“
10
[433] Vgl. hierzu den entsprechenden Glossareintrag.
hat mit „Gewohnheitsrecht“ schon deshalb nichts zu thun, weil er
d
B: sie
ja „heiliges“ Recht zu sein prätendiert.
r
Fehlt in A.
Die
e
In B geht die Satzanweisung Max Webers voraus: Absatz
urwüchsige Konzeption von Rechtsnormen könnte – sahen wir früher
11
Siehe oben, S. 213–217, 226 f.
– rein theoretisch am einfachsten so
f
A: Recht kann zweifellos nur so
gedacht werden: daß anfangs rein
g
Fehlt in A.
faktische Gewohnheiten des Sich-Verhaltens infolge der psychologischen „Eingestelltheit“ 1) als „verbindlich“ empfunden und mit dem Wissen von ihrer überindividuellen Verbreitung
i
B: dadurch > mit dem Wissen von ihrer überindividuellen Verbreitung
2) als „Einverständnisse“ in das halb oder ganz bewußte „Erwarten“ des sinnhaft entsprechenden Handelns andrer hineingehoben werden, denen dann 3) die sie gegenüber den „Conven[434]tionen“ auszeichnende
h
A: als verbindlich empfunden und also zu Einverständnissen wurden, denen dann die
Garantie von Zwangsapparaten zuteil wird. Allein schon rein theoretisch fragt es sich dann: wie kam Bewegung in eine träge Masse derart kanonisierter „Gewohnheiten“
j
[434]A: wurde. Allein wie kommt nun Bewegung in diese träge Masse,
welche ja aus sich heraus, gerade weil sie als „verbindlich“ galten,
k
A: gilt,
nichts Neues
l
A, B: neues
gebären zu können scheint?
12
[434] Zur Parodoxie der Rechtsentwicklung durch Gewohnheit vgl. schon oben, S. 210 ff., bes. 215 ff.; dort fehlt noch der im folgenden (unten, S. 446) entwickelte Begriff der „charismatischen Rechtsoffenbarung“.
Die historische Schule der Juristen
13
Die von Gustav Hugo (1764–1844) begründete rechtswissenschaftliche Schule, die sich später in eine römisch-rechtliche und eine deutsch-rechtliche Richtung teilte, hatte in Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) ihren einflußreichsten Vertreter. Dessen Abhandlung „Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ (Heidelberg: Mohr und Zimmer 1814; hinfort: Savigny, Beruf) wurde gleichsam zur Programmschrift der Schule; die von Savigny zusammen mit Karl Friedrich Eichhorn (1781–1854) und Johann Friedrich Ludwig Göschen (1778–1837) herausgegebene „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft“ (aus der später die beiden Abteilungen der „Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte“ hervorgingen) war ihr wichtigstes Publikationsorgan. Der Kampf der historischen Rechtsschule galt rechtsmethodisch dem seinerzeit dominierenden Naturrecht und rechtspolitisch den damit eng zusammenhängenden Kodifikationsbestrebungen des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Rechtstheoretischer Ausgangspunkt war dabei die Verknüpfung einer neuartigen Rechtsquellenlehre, in der die „Volksüberzeugung“ bzw. der „Volksgeist“ als primärer Rechtsbildungsfaktor wirkte, mit volksbezogenen „Organismus“-Vorstellungen – hierin vielfach durch die Philosophie Herders und Schellings beeinflußt; vgl. Weber, Roscher und Knies I, S. 9 f., sowie unten, S. 589 f.
neigte dazu, Evolutionen
n
In B geht voraus: 〈unbewußte〉
eines „Volksgeistes“ anzunehmen,
14
Der Volksgeist ist nicht nur Geltungsgrund des Rechts, sondern auch schöpferische Kraft der Rechtsentwicklung. Als prägnante Formulierung vgl. Puchta, Gewohnheitsrecht I (wie oben, S. 211, Anm. 52), S. 139: „Es giebt Ansichten und Überzeugungen, welche dem Einzelnen nicht als solchem, sondern als Glied eines Volks angehören, und die ihm aus diesem natürlichen Grunde mit den übrigen Gliedern desselben gemein sind. Dieß heißt nun nichts anderes, als daß die Quelle dieser Ansichten nicht der Geist des Einzelnen, sondern der Volksgeist ist, daß also die Überzeugungen eine Thätigkeit des Volkes sind. […] Und Gewohnheitsrecht ist also dasjenige Recht, welches unmittelbar aus dem Geiste des Volks hervorgegangen ist“ (ebd., S. 147). Vgl. auch Puchta, Cursus (wie oben, S. 25, Anm. 29), S. 24, 28 f., 30 f.
als deren Träger dann eine überindividuelle organische Einheit hypostasiert wurde. Dazu neigte z. B. auch Karl Knies.
15
Zur Annahme einer überindividuellen organischen Einheit bei Knies vgl. z. B. ders., Die politische Ökonomie, S. 244: „Weil […] die Eigentümlichkeit der einzelnen Menschen wie die eines ganzen Volkes sich aus einem einheitlichen Springquell erschließt, alle Erscheinungskreise der menschlichen Tätigkeit sich auf eine Totalität zurückbeziehen und eben deshalb untereinander in Wechselwirkung stehen, so können weder die Triebfedern der wirtschaftlichen Tätigkeit, noch auch die ökonomischen Tatsachen [435]und Erscheinungen ihren eigentlichen Charakter, ihr ganzes Wesen offenbaren, wenn sie nur isoliert ins Auge gefaßt werden“. – Weber thematisiert Knies’ Rückgriff auf den Emanatismus der historischen Rechtsschule als philosophische Basis seines Freiheitsbegriffs in: Roscher und Knies III, S. 113 ff.
[435]Mit dieser Auffassung ist wissenschaftlich nichts anzufangen. „Unbewußte“, das heißt von den Beteiligten nicht als Neuschöpfungen empfundene Entstehung von empirisch geltenden Regeln, auch Rechtsregeln, für das Handeln ist freilich zu jeder Zeit vor sich gegangen und geht noch vor sich. Vor Allem im Wege des unbemerkten Bedeutungswandels. Also durch Vermittlung
o
[435]B: Annahme > Vermittlung
des Glaubens, daß faktisch neuartige Thatbestände thatsächlich für die rechtliche Beurteilung nichts Neues
p
B: neues
enthielten. Aber auch so, daß auf alte [WuG1 398]oder neuartige Thatbestände thatsächlich neues Recht angewendet wurde, in dem Glauben, es habe immer so gegolten und sei immer so angewendet worden. Allein daneben steht von jeher die breite Schicht all derjenigen Fälle, in welchen beides: sowohl der Thatbestand als das auf ihn angewendete Recht, als – in verschiedenem Sinn und Grade – „neu“ gewerthet wurde. Woher stammt dies Neue?
m
Fehlt in A.
Man wird antworten: es entstand
q
Fehlt in A.
durch Änderung der äußeren Existenzbedingungen,
r
A, B: Existenzbedingung,
welche Änderungen der bisher empirisch geltenden
s
Fehlt in A.
Einverständnisse nach sich ziehen. Die
t
A: Allein die
bloße Änderung der äußeren Bedingungen ist dafür aber
u
Fehlt in A.
weder ausreichend noch unentbehrlich. Entscheidend ist vielmehr stets ein neuartiges
a
Fehlt in A.
Handeln, welches zu einem Bedeutungswandel
b
A: einer Änderung
von geltendem Recht oder zur Neuschaffung von Recht
c
A: solchem
führt. An diesem, im Erfolg, rechtumbildenden
d
A: diesem
Handeln sind nun verschiedene Kategorien von Personen be[A 26][B 2]teiligt. Zunächst die einzelnen Interessenten eines konkreten Gemeinschaftshandelns.
e
In B folgt am Rand die als Einschub gekennzeichnete Notiz Max Webers: Nicht auf Schaffung von Recht [gerichtet]
Teils um
f
A: Sowohl um
unter „neuen“ äußeren Bedingungen seine Interessen zu wahren[,] ganz ebenso aber auch
g
A: wahren wie
um unter den alten Bedingungen sie besser als bisher zu wahren, ändert der einzelne Interessent
h
A: Einzelne
sein Handeln, insbesondere sein Gemeinschaftshandeln. Dadurch ent[436]stehen neue Einverständnisse oder auch rationale Vergesellschaftungen mit inhaltlich neuem Sinngehalt, die dann ihrerseits wieder
i
A: Gemeinschaftshandeln, und treffen
N
MWG: teffen ; Druckfehler in MWG digital korrigiert.
mehrere Einzelne, in Vergesellschaftung miteinander
treten, inhaltlich neue Vereinbarungen. Durch die Einwirkung dieser beiden Momente entstehen
neue[,] rein faktische Gewohnheiten entstehen lassen. Allerdings können auch ganz ohne solche Neuorientierungen des Handelns durch veränderte Existenz-Bedingungen Änderungen im Gesammtzustand des Gemeinschaftshandelns entstehen.
j
[436]A: oder neue als geltend behandelte Einverständnisse.
Es kann entweder von mehreren schon bestehenden Arten des Sich-Verhaltens diejenige, welche unter den veränderten
k
A: gegebenen neuen
Bedingungen die für die ökonomischen oder sozialen Chancen der betreffenden Interessenten günstigste Art des Gemeinschaftshandelns
m
B: Gemeinschaftshandelns,
darstellt[,] zu ungunsten anderer[,] unter den bisherigen Bedingungen ebenso „angepaßt“ gewesener Arten
n
B: „angepaßter“ Formen > „angepaßt“ gewesener Arten
durch einfache „Auslese“ überleben, um schließlich Gemeingut zu werden, ohne daß – im theoretischen Grenzfall – irgend ein Einzelner sein Handeln geändert hätte. Im Ausleseprozeß zwischen ethnischen oder religiösen, besonders zäh an ihren Sitten festhaltenden Gruppen kommt Derartiges wenigstens annäherungsweise wohl vor. Aber im Ganzen häufiger wird ein neuer
l
A: günstigste Art des Gemeinschaftshandelns darstellt, durchaus zu ungunsten anderer Inhalte überleben, um schließlich Gemeingut zu werden. Oder der neue
Inhalt des Gemeinschaftshandelns und der Vergesellschaftungen von Einzelnen
o
A: wird
durch „Erfindung“ geschaffen und verbreitet sich dann
p
Fehlt in A.
durch Nachahmung und Auslese.
16
[436] Vgl. oben, S. 217 mit Anm. 64. „Erfindung“ durch den einzelnen und „Nachahmung“ durch die Masse sind die von Gabriel Tarde genannten Momente der sozialen Entwicklung (vgl. ders., Les transformations du droit: étude sociologique. – Paris: Félix Alcan 1893; ders., Lois de l’imitation (wie oben, S. 217, Anm. 64)). Auf beide Aspekte wiederum macht Ehrlich, Grundlegung, S. 328, ausdrücklich aufmerksam, während Weber das evolutionistische Moment der „Auslese“ hinzufügt.
Dieser letztere Fall ist speziell als Quelle ökonomischer Neuorientierung
q
Fehlt in A.
auf allen auch nur mäßig rationalisierten Stufen der Lebensführung, nicht erst in moderner Zeit, von der
r
A: Lebensführung von der weitaus
hervorragendsten Bedeutung.
s
A: Bedeutung, speziell für die ökonomisch wichtigen Rechtsänderungen. Durch Schaffung konkreter Vereinbarungen oder Einverständnisse zwischen einzelnen konkreten Interessenten ist zu allen Zeiten
sa
In B folgt am Rand die als Einschub gekennzeichnete Notiz Max Webers: ⟨, keineswegs erst in der modernen Wirtschaft,⟩
die ökonomische Neuorientierung in Fluß geraten.
Diese Vereinbarungen kümmern sich aber
t
In A folgt: normalerweise zunächst
um die [437]Frage, ob sie die Chance haben[,] durch Rechtszwang, wenigstens durch politischen
b
B: staatliche > politischen
Rechtszwang,
a
[437]A: Rechtszwang
garantiert zu sein, zunächst vielfach
d
B: sehr oft > zunächst vielfach
gar nicht. Den politischen Rechtszwang halten die Interessenten sehr oft
c
A: gar nicht. Die Interessenten halten das
entweder für unnötig oder für selbstverständlich, und noch häufiger hält jeder Beteiligte, je nachdem, mehr
e
A: selbstverständlich. Nach der Rechtsgültigkeit fragt man nur in einem kleinen Bruchteil der Fälle. Jeder Beteiligte hält, je nachdem, In B folgt am Rand die Notiz Max Webers: 〈verschieden!〉
das Eigeninteresse oder mehr
f
Fehlt in A.
die Loyalität der anderen Beteiligten oder beides und daneben den Druck der Convention
g
Fehlt in A.
für eine ausreichende Bürgschaft[.] [A 27][B 3]Thatsächlich ist eine „rechtliche“ Garantie einer Norm vor dem Bestehen irgend eines Zwangsapparats, ja selbst vor geregelter Garantie durch die Sippenrachepflicht zweifellos dadurch ersetzt worden, daß der nach allgemeiner Convention für „im Recht“ befindlich Angesehene die Chance hatte, Helfer gegen den Verletzer zu finden.
h
Fehlt in A.
Wo aber
i
Fehlt in A.
besondere Garantien erwünscht scheinen, ersetzte den Interessenten noch unter sehr differenzierten Verhältnissen
j
A: ersetzt den Parteien
in weitestem Umfang die magische Selbstverfluchung:
k
A: Selbstverfügung:
der Eid, jede andere Garantie, auch die schon bestehende Rechtszwangsgarantie
l
Fehlt in A.
. Für die meisten Epochen vollzog sich wohl der überwiegende Teil der einverständnismäßigen Ordnung auch ökonomischer Dinge auf diese Art ohne Rücksicht wenigstens auf die Chancen eines staatlichen Rechtszwangs,
m
A: Ein ganz ungeheurer, für die meisten Epochen wohl der weit überwiegendste Teil der vereinbarungsmäßigen Ordnung ökonomischer Dinge vollzog sich auf diese Art ohne alle Rücksicht auf die Chancen des Rechtszwangs. Subjektive Rechte in unserem Sinn schaffen also solche Einverständnisse nur zum Teil.
ein erheblicher
n
n–n (bis S. 440: die Chance.) Fehlt in A.
Teil ohne Rücksicht auf Zwangsmöglichkeiten überhaupt. Institute wie die südslawische „Zadruga“ (Hauscommunion) freilich, an denen man die Entbehrlichkeit des Rechtszwangs zu demonstrieren pflegt, entbehrten in Wahrheit nur des staatlichen Rechtsschutzes, standen dagegen ohne Zweifel in der Zeit [WuG1 399]ihrer universellen Verbreitung unter einem höchst wirksamen Zwangsschutz der Dorfautorität.
17
[437] Vgl. oben, S. 203 mit Anm. 30. – Nach Johann Peisker ist die Institution nicht einem „utopischen altslawischen Sippenkommunismus“ zu verdanken (ders., Die serbische Zadruga, in: Zeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Band 7, 1900, S. 211– 326, hier S. 263), sondern schon in der Vorform der bäuerlichen Doppelfamilie sowohl [438]eine wirtschaftliche Notwendigkeit der Landbestellung wie ein im Interesse der Steuereinheit willkommenes Objekt fiskalischer Zugriffe gewesen (vgl. ebd., S. 220). Peisker versucht mit empirisch-statistischen Mitteln nachzuweisen, daß sich die türkische Herrschaft seit der Mitte des 15. Jahrhunderts das byzantinisch-serbische Besteuerungssystem zunutze machte und somit die Rechtskultur der Zadruga, auch die erstarkte Gewalt des Hausvorstandes, aus Steuerpolitik und Verwaltungsmisere der türkischen Herrschaft zu erklären sei (vgl. ebd., S. 227 ff.). Demgegenüber hält Milan Marković an dem Zusammenhang von Wirtschaftsform und Hauskommunion als urgeschichtlicher Erscheinungsform fest (vgl. ders., Die serbische Hauskommunion (Zadrůga). – Leipzig: Duncker & Humblot 1903, S. 47–56; anders auch Meitzen, der die Hauskommunion als „volkstümliche Verfassung der Slawen“ „seit den ältesten Erinnerungen“ ansieht (vgl. Meitzen, August, „Feldgemeinschaft“, in: HdStW3, Band 4, 1909, S. 57–71, hier S. 61 (hinfort: Meitzen, Feldgemeinschaft); vgl. ders., Ansiedlung, in: HdStW3, Band 1, 1911, S. 493–508, hier S. 504).
Jahrhunderte lang kön[438]nen derartige einmal eingelebte Formen des Einverständnishandelns ohne alle Rücksicht auf staatlichen Rechtszwang fortexistieren. Die Zadruga war dem gerichtlich anerkannten
o
[438]B: offiziellen > gerichtlich anerkannten
Recht Österreichs nicht nur unbekannt, sondern stand mit manchen seiner Normen direkt im Widerspruch,
18
Der Widerspruch von Zadruga und ABGB, besonders auf den Gebieten des Erb- und Familienrechts, wird namentlich von Ehrlich herausgestellt, dem dies als Argument für die dem staatlichen Recht entgegenstehenden „lebendigen“ Kräfte der Gesellschaft gilt (ders., Grundlegung, S. 129, 157, 403 und bes. S. 299); vgl. auch Meitzen, Feldgemeinschaft (wie oben, S. 437 f., Anm. 17), S. 61.
beherrschte aber dennoch das praktische Handeln der Bauernschaft. Solche Beispiele
p
p–p (bis S. 440: die Chance.) Auf der Rückseite der Allonge steht die Notiz Max Webers (mit Bleistift): antiformal // [freie Wählbarkeit] z[um] Richter
dürfen allerdings keineswegs zum Normalfall verallgemeinert werden. Zunächst ist selbst bei Anerkennung der völligen Gleichberechtigung mehrerer neben einander bestehenden
q
B: bestehender
und gleichmäßig für ihre Anhänger religiös legitimierten
r
B: legitimierter
Rechtssysteme und bei Freistellung des Anschlusses an jedes derselben die Thatsache, daß einem von ihnen außer der religiösen Verbindlichkeit noch der staatliche Rechtszwang zur Verfügung steht, selbst bei streng traditionalistischen Bedingungen in Staat und Wirtschaft für ihre Chancen im Konkurrenzkampf ausschlaggebend. So galten die 4 orthodoxen Rechtsschulen des Islam offiziell als gleich geduldet, und es gilt unter ihnen der Grundsatz der Personalität des Rechts so, wie etwa im fränkischen Reich für die Stammesrechte,
19
Zum Personalitätsprinzip vgl. oben, S. 363 f.; speziell bei den Franken u. a. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 259–273. Es vermeidet Normenkonkurrenz, solange die personale Zuordnung zu einem Rechtskreis eindeutig ist.
auch sind sie [439]z. B. an der Universität in Kairo alle vier vertreten. Aber der Umstand, daß bei den weltlichen Behörden und Gerichten die persönliche Rechtsconfession der osmanischen Sultane: das Hanafitentum, den Zwangsschutz genießt, hat das früher einmal ebenso privilegierte, jetzt aber dieses Schutzes entbehrende Malekitentum und vollends die beiden andern Rechtssekten trotz des Fehlens aller und jeder sonstigen Störung ihrer Existenz doch zum langsamen Absterben verurteilt. Und die Unbekümmertheit der Interessenten um die Chance des politischen Rechtszwangs gilt auch in ziemlich geringem Maß für das eigentliche „Geschäfts“-Leben, das heißt für die Contrakte des Gütermarkts. Hier vollzieht und vollzog sich vielmehr von jeher grad die Neubildung von Formen der Vergesellschaftung ganz regelmäßig so, daß die Chancen
s
[439]B: Folge > Chancen
des Rechtszwangs durch die Gerichte der politischen Gewalt
t
B: staatlichen Gerichte > Gerichte
N
MWG: die Gerichte ; Relativpronomen in MWG-Druckfasssung irrtümlich angeführt; Korrektur in MWG digital.
der politischen Gewalt
sehr genau kalkuliert werden
u
Fehlt in B; werden sinngemäß ergänzt.
und der abzuschließende „Zweck-Contrakt“ ihnen angepaßt wird, namentlich auch die Erfindung neuer Contraktschemata mit Rücksicht auf diese Chancen vor sich geht. Der Bedeutungswandel des geltenden Rechts wird dann also zwar durch die Thätigkeit der einzelnen Rechtsinteressenten – oder vielmehr regelmäßig durch die Thätigkeit ihrer berufsmäßigen Berather – herbeigeführt, aber dabei ganz bewußt und rational an die Erwartungen bezüglich der Rechtsfindung angepaßt. Die älteste Art der Thätigkeit eigentlich „berufsmäßiger“ rational arbeitender „Juristen“ besteht grad in dieser Thätigkeit (dem römischen „cavere“)[.] Die Berechenbarkeit
a
B: Chance > Berechenbarkeit
des Funktionierens der Zwangsapparate ist unter den Bedingungen sich entwickelnder Marktwirtschaft die technische Voraussetzung und eine der Triebkräfte für die Erfindungsgabe der „Cautelarjuristen“, die wir als ein selbständiges Element der Rechtsneubildung durch private Initiative überall, am entwickeltsten und kontrollierbarsten im römischen und englischen Recht,
20
[439] Auch Ehrlich betont die Rolle juristischer Phantasie in der Arbeit der Kautelarjurisprudenz, die in ihren Urkunden ja den Fall des Rechtsstreits antizipieren muß (vgl. ders., Grundlegung, S. 198). Ähnlich wie in der römischen sieht er in der englischen Jurisprudenz das „Geschäft der Errichtung von Urkunden“ zu einer „vollendeten Kunst“ gebracht (ebd., S. 234); die Parallele zieht auch Bryce, James, Studies in Hi[440]story and Jurisprudence, Vol. 2. – Oxford: Clarendon Press 1901, Essay XV: The History of Legal Development at Rome and in England, S. 339–380, hier: S. 339–349, 357–360. Nach Ehrlich, Grundlegung, S. 341 f., ist auch die ältere gemeinrechtliche Jurisprudenz wesentlich Urkundenjurisprudenz und hat zuletzt die Kodifikationsepoche des späten 18. und des 19. Jahrhunderts in größtem Umfang Kautelarjurisprudenz in Gesetzesform hervorgebracht.
thätig finden.
b
In B folgt die Satzanweisung Max Webers: Absatz
[440]Andererseits wird natürlich überall die Chance
n
n(ab S. 437: ein erheblicher)n Fehlt in A.
p
[440] p(ab S. 438: Solche Beispiele)p Zur rückseitigen Beschriftung der Allonge vgl. oben, S. 438.
des
c
In A geht voraus: Die Chance ; Chance in B zur Markierung des Anschlusses im Typoskript verdoppelt.
Rechtszwangs ihrerseits
d
A: wird aber natürlich
im stärksten Maße durch die
e
In A folgt: bloße
Tatsache der Verbreitung von Einverständnissen und rationalen
f
Fehlt in A.
Vereinbarungen eines bestimmten Typus beeinflußt. Denn nur das Singuläre pflegt unter normalen Verhältnissen
g
A: geschaffen oder gesteigert. Nur das Singuläre pflegt
keine Garantie durch einen Zwangsapparat zu finden. Einmal universell verbreitete Gepflogenheiten und Einverständnisse werden dagegen von den Zwangsapparaten dauernd nur dann ignoriert, wenn bestimmte
h
A: ignorieren die Zwangsapparate nur dann, wenn
formale Gründe oder ein Eingreifen autoritärer Gewalten sie absolut dazu nötigen, oder wenn die Organe des Rechtszwanges[,] sei es[,] weil sie
i
A: Rechtszwanges, weil
durch die Macht eines ethnisch oder politisch fremden Herrschers den Beherrschten aufgezwungen oder sei es[,] weil sie
j
Fehlt in A.
durch berufliche und sachliche Spezialisierung dem privaten
k
A: realen
Geschäftsleben entrückt sind, diesen fremd gegenüberstehen, wie dies namentlich unter Bedingungen weitgehender gesellschaftlicher Differenzierung der Fall sein kann. Der
l
A: entrückt, diesen fremd gegenüberstehen. Dies kann der Fall sein und wir werden einige Bedingungen dafür noch kennen lernen. Es kann ferner der
gemeinte Sinn von Vereinbarungen kann strittig
m
A: strittig sein
oder ihre Verbreitung eine noch prekäre Neuerung sein. Dann
n
A: Neuerung, und daher
ist der „Richter“, wie wir hier a potiori [WuG1 400]den Rechtszwangsapparat nennen wollen,
21
Vgl. oben, S. 209.
eine
o
A: die
zweite selbständige Instanz. Aber auch davon abgesehen drückt er keineswegs nur sein
p
A: Keineswegs immer drückt sie nur ihr
Siegel auf die schon faktisch einverständnismäßig oder vereinbartermaßen geltenden Ordnungen. Sondern in allen Fällen beeinflußt er
q
A: Ordnungen, sondern mindestens in Fällen schwankender Eindeutigkeit dieser oder von Konflikten zwischen ihnen ist er zu wählen genötigt und beeinflußt dadurch
die Auslese des als Recht Überlebenden,
r
A: überlebenden ; B: überlebenden,
oft [A 28][B 4]sehr stark durch die über den Einzelfall hinauswirkenden Consequenzen einer einmal [441]getroffenen Entscheidung. Wir werden zwar bald sehen,
22
[441] Siehe unten, S. 445 ff.
daß die Quelle „richterlicher“
s
A: stark. Wir [441]werden bald sehen, daß hier unter Richter zunächst nicht etwa ein Beamter oder dergleichen zu verstehen ist und daß die Quelle seiner
Entscheidungen zunächst entweder gar nicht oder doch nur für gewisse formale Vorfragen durch generelle Normen – „Entscheidungsnormen“
23
Weber greift insoweit offensichtlich die Terminologie von Ehrlich auf. Dieser unterscheidet zwischen den handlungsleitenden allgemeinen Rechtsnormen und denjenigen Normen, die über die Beachtung dieser allgemeinen Regeln des Handelns befinden – die „Entscheidungsnormen“ (ders., Grundlegung, S. 97–100). Nur bezweifelt Weber, wie er im folgenden weiter ausführt, daß in einfachen Rechten oder auch in der Laienjustiz die Entscheidungsmaximen zu „Normen“ generalisiert seien.
t
Fehlt in A.
irgendwelcher Art gebildet wird
a
A: werden
, welche er auf den konkreten Fall „anwenden“ könnte. Sondern gerade umgekehrt: indem der Richter in einem konkreten Fall aus noch so konkreten Gründen die Zwangsgarantie eintreten läßt, schafft er unter Umständen die empirische Geltung
c
B: Geltung > empirische Geltung
einer generellen Norm als „objektives Recht“, weil seine Maxime über diesen Einzelfall hinaus
b
A: generelle Normen, objektives Recht also, welches nicht nur für diesen Einzelfall
Bedeutung gewinnt.
24
Ehrlich faßt diesen Sachverhalt geradezu als „Gesetz der Stetigkeit der Entscheidungsnormen“, ein Gesetz, das aus Gründen der psychologischen Konsistenz, der Denkökonomie und der Erwartungen von Berechenbarkeit zu einer zeitlich-räumlichen Generalisierung von Entscheidungsnormen führe (ders., Grundlegung, S. 106 f.).
Auch dies ist keineswegs etwas Urwüchsiges oder Allgemeines. Es fehlt ganz bei der urwüchsigen Entscheidung durch magische Mittel der Rechtsoffenbarung[.] Aber in aller noch nicht formaljuristisch rationalisierten Rechtsfindung, auch wo sie das Stadium des Gottesurteils verlassen hat[,] wirkt zunächst sehr stark die Irrationalität
e
In B geht voraus: 〈Tendenz〉 〈Überzeugung〉
des Einzelfalls. Weder wird eine generelle „Rechtsnorm“ auf ihn angewendet, noch gilt die Maxime der konkreten Entscheidung – soweit eine solche überhaupt vorhanden ist und bewußt wird – als eine, nachdem sie einmal „erkannt“ ist, auch für künftige „Erkenntnisse“ maßgebende Norm.
f
In B folgt: 〈Dennoch wirkt sie in gewissem Umfang fast stets in dieser Richtung. Dabei spielt,〉
Muhammed widerruft in den Suren mehrfach die früher gegebenen Anweisungen, obwohl diese doch göttlichen Ursprungs waren,
25
Solche Änderungen werden als göttliche „Besserungen“ eingeführt, wie Sure 2, 106: „Wenn wir einen Vers (aus dem Wortlaut der Offenbarung) tilgen oder in Vergessenheit geraten lassen, bringen wir (dafür) einen besseren oder einen, der ihm gleich ist.“ Oder sie sollen satanische Interpolationen beseitigen, wie Sure 22, 52: „Und wir [442]haben vor dir keinen Gesandten oder Propheten (zu irgendeinem Volk) geschickt, ohne daß ihm, wenn er etwas wünschte der Satan (von sich aus etwas) in seinen Wunsch unterschoben (oder: eingegeben) hätte. Aber Gott tilgt dann (jedesmal), was der Satan (dem Gesandten oder Propheten) unterschiebt.“
und auch Jahweh „gereut“ seine [442]Entschlüsse. Auch in bezug auf Rechtsentscheidungen kommt dies νοr[.] Ein Orakel Jahwehs ordnet das Töchtererbrecht (Num. 27). Aber auf Remonstration der Interessenten wird dies Orakel korrigiert (Num. 36)[.]
26
Num. 27, 8; 11: „Sag zu den Israeliten: Wenn jemand ohne Söhne stirbt, dann übertragt seinen Erbbesitz auf seine Tochter! […] Das wurde für die Israeliten geltendes Recht, wie der Herr es Mose befohlen hatte.“ Auf die Einrede, daß mit dem Töchtererbrecht auch die von Jahwe garantierten Grundbesitzverhältnisse zwischen den Stämmen durch Einheirat in Nachbarstämme gefährdet würden, folgt die Korrektur, Num. 36, 8: „Jede Tochter, die Anspruch auf Erbbesitz in einem israelitischen Stamm hat, muß einen Mann aus einer Sippe ihres väterlichen Stammes heiraten, damit bei den Israeliten jeder im Erbbesitz seiner Väter bleibt.“
Hier sind also sogar Weistümer über generelle Regeln labil. Wo vollends der Einzelfall durch Loos (Urim und Tummim bei den Juden) oder Zweikampf oder andre Gottesurteile oder konkretes Orakel entschieden wird, da ist von „Regelhaftigkeit“ der Entscheidung weder im Sinne von Regelanwendung noch von Regelschaffung die Rede. Aber auch die Rechtssprüche von Laienrichtern entwickeln sich recht schwer und spät zu der Vorstellung, daß dies Urteil eine „Norm“ über den einzelnen Fall hinaus bedeute, wie z. B. Wladimirski-Budanow’s Untersuchungen zeigen.
27
Als Substrat dieser Untersuchungen u. a. Wladjimjirski-Budanoff, [Michael Fl.], Geschichte des russischen Rechts. Rechtsquellen (übersetzt von [Friedrich] Neubecker), in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 14, 1900, S. 219–293. Weber bezieht sich wohl auf die noch bis 1917 bestehenden und gesetzlich nur spärlich geregelten Gemeindegerichte, deren Streiterledigung nur wenige generelle Normen („Rechtssätze“) produziert hat; vgl. dazu auch Ehrlich, Grundlegung, S. 113.
Denn die Entscheidung ergeht, je mehr sie eine Angelegenheit von „Laien“ ist, desto weniger „ohne“, desto mehr vielmehr „mit Ansehen der Person“ und der ganz konkreten Lage der Sache[.] Ein gewisses Maß von Stabilität und Stereotypierung zu Normen tritt immerhin ganz unvermeidlich ein, sobald die Entscheidung Gegenstand irgend einer Diskussion wird oder rationale Gründe dafür gesucht oder vorausgesetzt werden, also mit jeder Abschwächung des
g
[442]B: des 〈, wie wir sehen w〉
ursprünglichen rein irrationalen Orakelcharakters. Allerdings wirkt, wie wir sehen werden,
28
Siehe unten, S. 447–453, zum formalen Prozeß- und Beweisrecht in der frühen Rechtsentwicklung.
zunächst innerhalb gewisser Grenzen grade auch der magische Charakter des
h
In B folgt: 〈Prozesses:〉
[443]Beweisrechts der Frühzeit: die Notwendigkeit „richtiger“ Formulierung der zu stellenden Frage[,] mit. Zum andern Teil aber die Natur der Sache.
d
Fehlt in A.
Denn offenbar ist es für einen Richter, dem eine bestimmte Maxime einmal bewußt und erkennbar als Entscheidungsnorm gedient hat, sehr erschwert, oft
i
[443]A: mindestens ist es nun für ihn sehr erschwert und
fast unmöglich, in anderen gleichartigen Fällen die in jenem Fall gewährte Zwangsgarantie zu versagen, ohne sich dem Verdacht der Befangenheit auszusetzen. Auch für andere Richter nach ihm gilt das Gleiche, und zwar je ungebrochener im allgemeinen die „Tradition“ das Leben beherrscht, desto mehr.
j
A: Zwangsgarantie zu versagen, auch für andere Richter nach ihm, und zwar je ungebrochener im allgemeinen die Tradition herrscht, desto schwieriger.
Denn gerade dann erscheint naturgemäß jede
k
A: die
getroffene Entscheidung, einerlei wie sie zustande kam, als Ausfluß, also
l
Fehlt in A.
entweder als Ausdruck oder als Bestandteil der allein, also dauernd, richtigen Tradition, und wird so ein Schema, welches dauernde Geltung zum mindesten prätendiert. In diesem Sinn ist der subjektive Glaube, nur schon geltende
n
n B: bestehende > schon geltende
Normen anzuwenden, in der That urwüchsig für jede dem prophetischen Zeitalter entwachsene Rechtsfindung und durchaus nichts „Modernes“. Das Typischwerden bestimmter Einverständnisse und vor Allem: zweckrationaler Vereinbarungen, welche das [WuG1 401]Handeln der Einzelnen zunehmend bewußt schafft,
m
A: richtiger Tradition. Die einmal getroffene Entscheidung wird also ein Schema, welches Geltung als Traditionsnorm zum mindesten prätendiert. Das Zusammentreffen bestimmter Einverständnisse, welche das Handeln der Einzelnen geschaffen hat,
indem sie ihre Interessensphären gegeneinander, unter Mithilfe des geschulten „Anwalts“, abgrenzen,
o
A: gegeneinander abgrenzen,
und die „Präjudizien“ der „Richter“ sind also primäre Quellen der Rechtsnormbildung.
p
A: Normbildung.
So ist in Wirklichkeit z. B. die breite Masse des englischen Common Law entstanden.
q
A: das englische Common Law entstanden. In A folgt: Wir wollen zunächst bei diesen beiden Quellen von neuem Recht stehen bleiben. Der Grad der faktischen Gebundenheit an dieses Präjudizienrecht ist dabei sehr verschieden. Denn keineswegs jede einmal getroffene Entscheidung gewinnt unbedingte Bedeutung für andere Fälle. |
Die weitgehende Mitwirkung rechtserfahrener
s
B: erfahrene > rechtserfahrener
N
MWG: rechtserfahrenener ; Korrektur in MWG digital.
und geschulter, in zunehmendem Umfang „berufsmäßig“ sich diesem Zweck widmender Experten als Anwälte und Richter stempeln die Masse des auf diesem Wege entstehenden Rechts zum „Juristen[444]recht“.
29
[444] Zum „Juristenrecht“ als Gegenstück zu dem im „Volksleben“ und nur dort wurzelnden und zu beobachtenden „Volksrecht“ vgl. Beseler, Georg, Volksrecht und Juristenrecht. – Leipzig: Weidmann 1848, hier S. 299–327, bes. 308–315 (hinfort: Beseler, Volksrecht); auch Ehrlich, Grundlegung, Kap. XV: Das Werk der Jurisprudenz, S. 275–294. Gegen die privilegierte Rolle der Juristen bei der Erkenntnis des vermeintlichen Volksrechts in Savignys und Puchtas Rechtsentwicklungskonzeption setzt Beseler die Geltung eines wirklichen Volksrechts (vgl. bes. ebd., S. 58–80).
Die Mitwirkung rein „gefühlsmäßiger“ Determinanten: des sogenannten „Billigkeitsgefühls“, bei der Rechtsbildung ist damit keineswegs geleugnet. Aber die Beobachtung lehrt, wie außerordentlich labil das „Rechtsgefühl“ funktioniert, soweit ihm nicht das feste Pragma einer äußeren oder inneren Interessenlage die Bahnen weist.
30
Die Bedeutung eines „Billigkeits-“ und „Rechtsgefühls“ für die Rechtsfindung ist in der zeitgenössischen Methodenlehre umstritten; vgl. dazu Rumpf, Gesetz und Richter (wie oben, S. 75, Anm. 13), S. 29–38, bes. 35 f., sowie S. 113–120, bes. 117 f. Von der juridischen Romantik bis zu Versuchen, das Rechtsgefühl „wissenschaftlich“, mit den Mitteln der Psychologie, zu erfassen, reicht sein juristisches Rezeptionsfeld. Letzteres namentlich bei Gustav Rümelin, der – im Unterschied zu Weber – gerade eine spezifische, Konsistenz befördernde Logik des „Rechtsgefühls“ behauptet, welches aus einem „sittlichen Ordnungstrieb“ hergeleitet wird (ders., Rechtsgefühl (wie oben, S. 75, Anm. 14), S. 48–67, bes. 54 ff.). – Eine ausschlaggebende Rolle spielt das richterliche „Billigkeitsgefühl“ vor allem in der Programmatik der freirechtlichen Jurisprudenz.
Es ist, wie man noch heute leicht erfahren kann, jäher Umschläge fähig, und nur wenige sehr allgemeine und inhaltsleere Maximen sind ihm universell eigen: grade die Besonderheiten „nationaler“ Rechtsentwicklungen dagegen lassen sich aus einer Verschiedenheit des Funktionierens „gefühlsmäßiger“ Quellen, so viel bisher bekannt, nirgends ableiten.
31
Dies bezieht sich wohl auf die Vorstellungen in der Tradition der historischen Rechtsschule, nach der Unterschiede nationaler Rechtsentwicklungen zwar nicht unmittelbar auf Differenzen der Gefühlkulturen, aber auf Ausprägungen des Volksgeistes zurückgeführt werden, der die nationalen Besonderheiten der objektiven Kultur, also auch der Rechtskultur, hervorbringen soll. „Durch dieses gemeinsame Rechtsbewußtseyn“, sagt Puchta, Cursus (wie oben, S. 25, Anm. 29), S. 24, „wie durch eine gemeinsame Sprache, und durch eine gemeinsame Religion, wenn diese eine natürliche ist, sind die Glieder eines Volks verbunden, einer auf leiblicher und geistiger Verwandtschaft beruhenden, über die Innigkeit des Familienbandes hinaus sich erstreckenden, durch eine Scheidung der Menschheit entstandenen Vereinigung.“
Stark emotional, ist grade das „Gefühl“ sehr wenig geeignet, stabil sich behauptende Normen zu stützen,
a
[444]B: erzeugen, > stützen,
sondern vielmehr eine der verschiedenen Quellen irrationaler Rechtsfindung. Nur so kann vielmehr die Frage gestellt werden: inwiefern „volkstümliche“, d. h. unter den Rechtsinteressenten verbreitete Anschauungen sich im Gegensatze [445]zum „Juristenrecht“ der ständig mit der Contraktserfindung
b
[445]B: Rechtserfindung > Contraktserfindung
und Rechtsfindung befaßten Rechtspraktiker („Anwälte“ und „Richter“) durchzusetzen vermögen. Das eben ist eine je nach der Art des Hergangs der Rechtsfindung, wie wir sehen werden,
32
[445] Siehe unten, S. 464–473, zur „charismatischen“ und „dinggenossenschaftlichen“ Rechtsfindung.
verschieden sich lösende Frage.
r
Fehlt in A.
[A 1][B 5]Außer durch den Einfluß und (meist) das Zusammenwirken dieser verschiedenen Faktoren: durch eine um die Chance des Rechtszwangs zunächst ganz unbekümmerte Neuorientierung des Gemeinschaftshandelns von
d
B: die Initiative des > das um die Chance des Rechtszwangs zunächst ganz unbekümmerte Handeln der > eine um die Chance des Rechtszwangs zunächst ganz unbekümmerte Neuorientierung des Gemeinschaftshandelns von
Rechtsinteressenten, welches dann die Rechtsfindung
e
B: Zwangsapparate > Rechtsfindung
vor neue Situationen stellt, durch die an der Chance des Funktionierens der Rechtsfindung und der Zwangsapparate sich orientierende Thätigkeit (Rechtserfindung) der berufsmäßigen Parteiberather (Anwälte), durch die Consequenzen der Entscheidungen (Präjudizien) der Rechtsfindung (Richter), kann aber die Neubildung von Rechtsregeln auch durch spontane Oktroyierung von solchen (Rechtsschöpfung) erfolgen. Freilich geschieht diese zunächst in sehr andren Formen[,] als wir sie heute gewohnt sind. Denn überall fehlt ursprünglich der Gedanke: daß man Regeln für das Handeln
f
B: „Normen“ > Regeln für das Handeln
, welche den Charakter von „Recht“ besitzen, also durch „Rechtszwang“ garantiert sind, als Normen absichtlich
g
B: künstlich > als Normen absichtlich
schaffen könne, vollständig. Es fehlt den Rechtsentscheidungen zunächst, wie wir sahen,
h
B: sehen werden, > sahen,
33
Siehe oben, S. 441–443.
der Begriff der „Norm“ überhaupt. Sie geben sich durchaus nicht als „Anwendung“ feststehender „Regeln“, wie wir das heute für die Urteile als selbstverständlich ansehen.
c
Fehlt in A.
Wo
i
In B steht am oberen Rand, unterhalb einer am oberen Blattrand angeklebten Allonge, die gestrichene Überschrift: 〈§ [Spatium] Die primitive Rechtspflege
ia
B: Das primitive Recht > Die primitive Rechtspflege Am linken Rand steht über der Überschrift die Satzanweisung Max Webers: Absatz
aber die Vorstellung von für das Handeln „geltenden“ und für die Streit-Entscheidung verbindlichen
k
B: bindenden > verbindlichen
Normen conzipiert ist, werden diese vielmehr
j
A: immer man von der empirischen Geltung sozialer Ordnungen sprechen kann, gelten diese
zunächst nicht [446]als Produkte oder auch nur als möglicher Gegenstand menschlicher Satzungen aufgefaßt.
l
[446]A: menschlicher zweckrationaler Satzungen.
Sondern ihre „legitime“ Existenz beruht entweder auf der absoluten Heiligkeit bestimmter Gepflogenheiten
m
A: Traditionen
als solcher, von denen abzuweichen
n
A: deren Verletzung
bösen Zauber oder die Unruhe der Geister oder den Zorn der Götter hervorrufen kann. Sie gelten als „Tradition“ wenigstens theoretisch als unabänderlich. Sie müssen erkannt und richtig, den Gepflogenheiten entsprechend, interpretiert
o
A: sind unabänderlich, müssen erkannt und interpretiert, also richtig angewendet
werden, aber man kann sie nicht schaffen. Sie
q
B: ⟨Das Gewohnheitsrecht, dessen Mutter⟩ Sie
qa
B: sie > Sie
⟨sind,⟩
zu interpretieren fällt denen zu, welche sie
r
B: es
am längsten kennen, also den physisch „ältesten Leuten“ oder den Sippenältesten, oder – und besonders oft – den Zauberern und Priestern[,] weil sie allein kraft ihrer fachmäßigen Kenntnis der magischen Kräfte bestimmte Regeln: Kunstregeln für den Verkehr mit den übersinnlichen Mächten, kennen und kennen müssen. Trotzdem nun entstehen Normen auch bewußt als oktroyierte neue Regeln. Dies aber kann geschehen nur
p
A: Die Interpretation der Tradition fällt naturgemäß denen zu, welche sie am längsten kennen, entweder also den Sippenältesten oder den Zauberern und Priestern kraft ihrer Beziehungen zu den übersinnlichen Mächten. Oder aber die Normen entstehen neu
auf dem hierfür ausschließlich möglichen Wege einer neuen [WuG1 402]charismatischen Offenbarung[.] Entweder der Offenbarung einer nur individuellen Entscheidung, was im konkreten Einzelfall Rechtens sei. Das ist das Ursprüngliche. Oder auch einer generellen Norm, was
s
A: charismatischen Offenbarung darüber: was im konkreten Einzelfall oder
künftig in allen ähnlichen Fällen zu geschehen habe. Die Rechtsoffenbarung
b
B: Offenbarung also > Rechtsoffenbarung
in diesen Formen ist das urwüchsige
a
A: Diese Offenbarung ist das
revolutionierende Element gegenüber der Stabilität der Tradition und die Mutter aller „Satzung“ des Rechts. Die Eingebung neuer Normen kann den charismatisch Qualifizierten wirklich oder wenigstens scheinbar ganz unvermittelt durch konkrete Anlässe, insbesondere also ohne alle Änderung der äußeren Bedingungen[,] kommen. Derartiges hat sich thatsächlich oft ereignet. Die Regel aber ist, daß, wenn Verschiebungen der ökonomischen [447]oder sonstigen Lebensbedingungen neue Normen für bisher nicht geordnete Probleme fordern, man sie künstlich sich verschafft
c
A: Tradition. Sie kann den charismatisch Qualifizierten wirklich oder scheinbar unvermittelt durch konkrete Anlässe kommen. Die Regel aber ist, daß Verschiebungen der ökonomischen Bedingungen neue Regeln für bisher nicht geordnete Probleme fordern und man sie künstlich herbeiführt
durch Zaubermittel der verschiedenen möglichen Art. Normaler Träger dieser primitiven Form einer
d
[447]A: Art: die universellen primitiven Wege zur
Anpassung von Ordnungen an neu entstandene Situationen
e
A: Situationen. Normaler Träger
ist der Zauberer oder der Priester eines Orakelgottes oder ein Prophet. Der Übergang von der Interpretation der alten
f
Fehlt in A.
Tradition zur Offenbarung neuer Ordnungen ist dabei natürlich
g
Fehlt in A.
flüssig. Denn auch für jene
h
A: die Interpretation
gibt es, sobald die Weisheit der Ältesten oder Priester versagt, nur den gleichen Weg. Der gleiche Weg aber ist auch im Rechtsgang
i
A: Weg und vor allem ist dieser auch
für die Tatsachenfeststellung, wo diese streitig ist, unentbehrlich.
j
In B folgt die Satzanweisung Max Webers: Absatz.
Uns interessieren nun hier die Consequenzen dieser Wege
l
B: Formen > Wege
der Rechtserfindung, Rechtsfindung und Rechtsschöpfung für die formalen Qualitäten des Rechts. Die Folge des
k
A: Die Folge dieses
Hineinragens der Magie in alle Schlichtung von Streitigkeiten und in alle Schaffung neuer Normen ist der allem primitiven
m
A: nun der allem primitiven Recht und
Rechtsgang eigentümliche streng formale Charakter. Denn nur
n
A: Nur
auf die formal richtig gestellte Frage geben ja die Zaubermittel die richtige Antwort. Und man kann nicht jede beliebige Frage nach Recht oder Unrecht jedem beliebigen Zaubermittel unterwerfen, sondern für jede Art von Rechtsfrage giebt es spezifische Mittel. Daher zunächst der aller urwüchsigen und dabei doch zu fester Regelung gelangten Justiz gemeinsame Grundsatz: daß jeder kleinste Fehler in der von der Partei zu vollziehenden Aussprache der irgend einen Prozeßakt begründenden feierlichen Formeln den Verlust des betreffenden Rechtsmittels, eventuell des ganzen Prozesses, zur Folge hat. Er gehört den römischen Legisaktionen
p
B: Legisaktionen,
ebenso wie dem frühmittelalterlichen Recht an.
q
In B folgt: 〈und〉 Ebenso 〈den〉
34
[447] Zu den Konsequenzen der Formbindung bzw. des Formalismus im römischen, germanischen und germanisch beeinflußten (französischen, englischen) Privat- und Prozeßrecht vgl. z. B. Ihering, Römisches Recht II, 2, S. 470–674, hier S. 470–472, 518–520; Brunner, Heinrich, Zeugen und Inquisitionsbeweis der karolingischen Zeit, in: ders., Forschungen, S. 88–247, hier S. 88 (hinfort: Brunner, Inquisitionsbeweis); Brunner, Heinrich, Wort und Form im altfranzösischen Prozeß, in: ders., Forschungen, S. 260–389, hier S. 260 (hinfort: Brunner, Wort und Form).
Der Prozeß aber war, sahen [448]wir,
35
[448] Siehe oben, S. 314, 327 f.
das älteste „Rechtsgeschäft“
36
Zur Entwicklungsgeschichte des „Rechtsgeschäfts“ vgl. oben, S. 314 ff., S. 326 ff.
(weil er auf einem Contrakt – Sühnevertrag – beruht)
r
[448] Schließende Klammer fehlt in B.
. Daher besteht das
s
In B steht das doppelt.
entsprechende Prinzip in den in
t
Fehlt in B; in sinngemäß ergänzt.
feierlicher Form vollzogenen privaten Rechtsgeschäften
a
B: Kontrakten > Rechtsgeschäften
des strengen Rechts
37
Von „strengem Recht“, ius strictum, wird insbesondere in der romanistischen Forschung mit Bezug auf das zeitlich frühe, formgebundene Recht im Gegensatz zu einem evolutionär nachfolgend angesetzten formfreieren Recht gesprochen, das den fortgeschrittenen Verkehrsverhältnissen besser angepaßt sei (fürstliches oder magistratisches „Amtsrecht“; in Rom: ius honorarium; ius praetorium).
in Rom wie im frühen Mittelalter: sie sind nichtig, falls die geringste Abweichung von der (magisch) wirksamen Formel vorfällt. Vor allem aber steht am Anbeginn des Rechtsformalismus im Prozeß das formal gebundene Beweisrecht. Einen prozessualen „Beweis“ im heutigen Sinn reglementiert dasselbe überhaupt nicht. Man bringt nicht
b
In B folgt: 〈rationale〉
Beweismittel vor, durch welche eine „Thatsache“ als „wahr“ oder „falsch“ erwiesen werden soll. Sondern es handelt sich darum: welche Partei und in welchen Formen sie die Frage über ihr Recht an die magischen Gewalten soll stellen dürfen oder müssen.
o
Fehlt in A.
Dem
c
A: Diesem
formalen Charakter der Prozedur selbst steht also
d
A: steht aber
der durchaus irrationale Charakter der Entscheidungsmittel gegenüber. Und auch das in den Wahrsprüchen sich realisierende „objektive Recht“ ist daher, soweit nicht ganz strenge Traditionsnormen allgemein anerkannt sind, durchaus flüssig und biegsam.
e
Fehlt in A.
Es fehlen alle logisch rationalen Begründungen der konkreten Entscheidung. Dies
f
A: Entscheidung,
auch da, wo nicht ein Gott oder ein magisches
g
A: irrationales
Beweismittel, sondern der Wahrspruch eines charismatisch qualifizierten Weisen oder, später, eines traditionskundigen Alten oder eines Sippen-Ältesten
h
A: Ältesten
oder gewählten
i
Fehlt in A.
Schiedsrichters oder eines ein für alle Mal gewählten Rechtsweisers (Gesetzessprechers) oder eines vom politischen Herrn
j
Fehlt in A.
oktroyierten Richters entscheidet.
38
Zu diesen Typen von Rechtshonoratioren vgl. für die germanisch-deutsche Rechtsgeschichte z. B. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 150–154; weiterhin unten, S. 459–465.
Denn ein solcher Wahrspruch könnte [449]immer nur entweder dahin lauten: so ist es immer gehalten worden, oder: so hat der Gott befohlen es diesmal, oder: es jetzt und in Zukunft bei solchen Fällen zu halten. Und ganz ähnlich steht es auch mit der bekannten großen Neuerung König Hein[WuG1 403]richs II[.] von England: der Quelle der Jury im Zivilprozeß. Die „assisa novae disseisinae“,
39
[449] Es handelt sich dabei um eine neuartige Besitzklage, die im Zuge der Prozeßreformen durch die Assize of Clarendon (1166) dem in seinem Besitzrecht gestörten Pächter gegen den Rechtsverletzer, gegebenenfalls den Eigentümer (auch den König), und gegen jeden Dritten offenstand, der sich seinerseits in fehlerhafter Weise oder nachdem der Streit um die Immobilie gerichtsanhängig war in deren Besitz gebracht hatte. Zweck der Klage war die Wiedereinsetzung in den rechtmäßigen Besitz („possession“ oder „seisin“). Tatsächlich fand die „assize of novel disseisin“ im Jahre 1217 Eingang in die Magna Carta; vgl. Pollock/Maitland, English Law I, S. 145 f.; zur Formulierung in der Charta: ebd., S. 146, Anm. 3; dies., English Law II, S. 47–56; Text der Assize of Clarendon in: Stubbs, William (ed.), Select Charters and Other Illustrations of English Constitutional History from the Earliest Times to the Reign of Edward the First, 9. ed., rev. throughout by H.W.C. Davis. – Oxford: Clarendon Press 1913, S. 170–173.
welche durch königlichen „writ“
40
Zum „Writprozeß“ vgl. oben, S. 300 mit Anm. 73.
auf Anrufung der Partei gewährt wird, bedeutet den Ersatz der Entscheidung von Grundbesitzklagen durch die alten magisch-irrationalen
l
[449] Bindestrich fehlt in B.
Beweismittel: Eideshilfe und Zweikampf insbesondere, durch die Befragung von 12 vereidigten Nachbarn
m
B: von 〈Sippen- [oder]〉 12 〈„Nachbarn“〉 vereidigten Nachbarn
über den Besitzstand. Indem die Parteien späterhin für alle möglichen Streitigkeiten sich freiwillig (faktisch aber bald: gezwungen) darauf einigten, statt der Extraktion der assisa und des alten irrationalen Verfahrens sich einem Spruch von 12 Geschworenen zu unterwerfen, wurde daraus die „jury“.
41
Die verschiedenen in Frage kommenden Assisen sind klassifiziert bei Pollock/Maitland, English Law I, S. 149, wo auch der subtile Mechanismus beschrieben ist, der die streitenden Parteien zur Akzeptierung der Juryentscheidung nötigt: „The principle from which it [der Jury-Prozeß, Hg.] starts is simply this, that if in any action the litigants by their pleadings come to an issue of fact, they may agree to be bound by the verdict of a jury and will be bound accordingly. In course of time the judges will in effect drive litigants into such agreements by saying, ‘You must accept your opponent’s offer of a jury or you will loose your cause’; but in theory the jury only cornes in after both parties have consented to accept its verdict.“
Sie tritt also gewissermaßen an Stelle der Befragung des Orakels
n
In B folgt: 〈oder 〈Or〉 der alten beamteten Gesetzessprecher des Nordens oder der〉
und giebt so wenig wie dieses rationale Gründe ihrer Entscheidung an. Zwischen dem leitenden „Richter“ und der
o
Fehlt in B; der sinngemäß ergänzt.
Jury teilt sich die Erledigung
p
B: Entscheidung > Erledigung
des Verfahrens
q
B: Rechtsstreits > Verfahrens
. Daß die populäre [450]Ansicht: die Geschworenen hätten dabei die „Thatfrage“, der Richter die „Rechtsfrage“ zu erledigen, irrig ist, steht fest.
42
[450] Diese verbreitete These einer geteilten Zuständigkeit für Tat- und Rechtsfragen vertreten z. B. Heymann, Überblick, S. 289, und Ehrlich, Grundlegung, S. 221, 283–285. Anders dagegen Pollock/Maitland, English Law I, S. 138: „The essence of the jury […] seems to be this: a body of neighbours is summoned by some public officer to give upon oath a true answer to some question. That question may take many different forms: it may or it may not be one which has arisen in the course of litigation; it may be a question of fact or a question of law, or again what we should now-a-days call a question of mixed fact and law.“ So bereits Brunner, Heinrich, Die Entstehung der Schwurgerichte. – Berlin: Weidmann 1871, S. 21.
Was die Rechtspraktiker
r
[450]B: Rechtsinteressenten > Rechtspraktiker
an der Jury (grade in Zivilsachen) schätzen, ist vielmehr: daß sie auch gewisse konkrete Rechtsfragen entscheidet, ohne daß daraus aber ein künftige Urteile in andren Sachen bindendes
s
B: beeinflussendes > in andren Sachen bindendes
„Präjudiz“ entsteht,
43
Ehrlich, Grundlegung, S. 283 f., hebt – allerdings aufgrund der von ihm prinzipiell angenommenen geteilten Zuständigkeit für Tat- und Rechtsfragen (vgl. oben, Anm. 42) – diesen Vorzug der Jury ausdrücklich hervor.
also der
t
In B folgt: 〈„Kadijustizcharakter“ ihrer [??]〉
irrationale Charakter ihrer Entscheidungen über Rechtsfragen. Im englischen Recht beruht auf dieser Bedeutung der Civiljury die sehr allmälige Entwicklung mancher praktisch längst geltenden Regeln zur Dignität von rechtlich „geltenden“ Normen
a
B: Dignität „geltender“ Rechtssätze > Dignität von rechtlich „geltenden“ Normen
. Je nachdem nämlich der Richter Bestandteile des Wahrspruchs, welche, als ungeschieden von der Thatfrage[,] in ihrer Unerkennbarkeit vorhanden, aus diesem Incognito heraushob und zu Prinzipien des Urteils stempelte, wurden sie Bestandteile geltenden Rechts. Ein großer Teil des geltenden Handelsrechts ist so durch die Richterthätigkeit Lord Mansfield’s präjudiziell formuliert und dadurch mit der Dignität eines Rechtssatzes ausgestattet worden, während man sich vorher auf das konkrete „Rechtsgefühl“ der Jury verlassen hatte, welche die betreffenden Rechtsprobleme
b
B: die Probleme > die betreffenden Rechtsprobleme
gleichzeitig mit der Thatfrage erledigte und, wenn sie erfahrene Geschäftsleute enthielt, auch ganz sachgemäß erledigen konnte.
44
Auf diese Ausdifferenzierung der Rechtsprinzipien aus einer ungeschiedenen Gemengelage von Tat- und Rechtsfragen stellen auch Ehrlich, Grundlegung, S. 285, und Heymann, Überblick, S. 298, ab.
Im römischen Rechtsleben beruhte eben hierauf: auf der Beratung der Civilgeschworenen, die schöpferische Thätigkeit der respondierenden Juristen. Mit dem Unterschied, [451]daß hier die Analyse der Rechtsfrage eben durch eine selbständige rechtskundige Instanz außerhalb des Gerichts erledigt wurde und daher die Tendenz zur Abwälzung der Arbeit von Geschworenen auf den Respondenten hier ebenso die Ausmünzung von „ Gefühls“-Maximen
c
[451]B: „Gefühls“-Justiz > „Gefühls“-Maximen
zu rationalen Rechtssätzen beförderte[,] wie im englischen Verfahren die Versuchung, die Arbeit vom vorsitzenden Richter auf die jury abzuwälzen, den umgekehrten Effekt haben konnte und vielfach hatte. In der Form der jury ragt also die urwüchsige
d
B: alte > urwüchsige
Irrationalität der Entscheidungsmittel und dadurch auch des „geltenden Rechts“ selbst im englischen Prozeß bis in die Gegenwart hinein. – Auch soweit aber sich typische „Thatbestände“, welche nach typischen Regeln beurteilt werden, aus dem Zusammenwirken der privaten Geschäftspraxis und der Präjudizien des „Richters“ entwickelt haben, tragen diese nicht den rationalen Charakter eines von dem modernen Rechtsdenken herauspräparierten „Rechtssatzes“ an sich.
e
In B folgt die Satzanweisung Max Webers: Absatz Sodann zur Markierung des Textanschlusses im Typoskript: Durchaus …
k
Fehlt in A.
Durchaus anschaulich, nach hand[A 2][B 6]greiflichen Merkmalen, nicht aber nach dem durch Rechtslogik zu erschließenden Sinngehalt, werden dabei
f
A: Sinngehalt, werden
die rechtlich relevanten Tatbestände von einander geschieden, stets nur
g
A: durchweg
unter dem Gesichtspunkt: welche Frage und welcher Weg der Befragung der Götter oder der charismatischen Instanzen in jedem der Fälle zulässig sein solle und welcher von den interessierten Parteien das Recht und die Pflicht zukomme, das betreffende Beweismittel zur Anwendung zu bringen. Der primitive Rechtsgang mündet daher, wo er streng formal und consequent entwickelt ist, in ein „bedingtes Beweisurteil“
45
[451] Unter der für den altdeutschen Rechtsgang typischen Verhandlungsmaxime obliegt es den im „Beweisurteil“ benannten Zeugen nach strengen Formen zum Beweisthema Zeugnis abzulegen; vgl. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte l, S. 180 f.; ders., Deutsche Rechtsgeschichte II, S. 362–369, sowie ders., Inquisitionsbeweis (wie oben, S. 447, Anm. 34), S. 89 f.; vgl. dazu weiter unten, S. 514 f.
aus, entsprechend am meisten den Fällen, wo heut auf einen Parteieid erkannt wird.
46
Noch die RZPO vom 30. Jan. 1877 sieht den von der Partei beantragten (§§ 445–474) bzw. durch das Gericht auferlegten Eid (§§ 475–477) sowie entsprechend das durch die Eidesleistung bedingte richterliche Urteil (§§ 460, 477) vor. Erst mit dem Änderungsgesetz vom 27. Okt. 1933 (RGBl. I, S. 780) tritt an die Stelle des „Beweises [452]durch Eid“ der „Beweis durch Parteienvernehmung“ (§§ 445 ff. ZPO), verschwindet also der Parteieid als Beweismittel und das bedingte Urteil als Prozeßmittel.
[452]Es wird einer von beiden Parteien ein bestimmter Beweis als Pflicht (und:
i
[452] Öffnende Klammer fehlt in B.
Recht) zugesprochen und daran als Rechtsfolge (ausdrücklich oder stillschweigend) der Gewinn oder Verlust der Sache geknüpft. Sowohl das prätorische Formularverfahren in Rom wie der [WuG1 404]englische writ-Prozeß mit jury
j
B: jury-Prozeß > writ-Prozeß mit jury
knüpfen mit ihrer Zweiteilung des Verfahrens (obwohl sie sonst technisch verschieden ist) an diese Grundlage an.
47
Zur Zweiteilung des Verfahrens im römischen und englischen Recht vgl. oben, S. 300 mit Anm. 72, 73.
Die Frage: was eigentlich für eine Frage an die magischen Instanzen zu richten ist, ist daher der erste Weg der Bildung von technischen „Rechtsbegriffen“
h
Fehlt in A.
. Weder aber werden dabei
k
A: Weder werden
Tatfrage und Rechtsfrage geschieden, noch objektive Normen und subjektiver, durch sie gewährter „Anspruch“ des einzelnen, noch der Anspruch auf Erfüllung einer Verbindlichkeit von dem Verlangen nach Rache wegen eines Delikts –
m
B: Delikts,
denn schlechthin Alles, was einen Grund zur Klage geben kann, ist ursprünglich Delikt –[,]
l
A: Delikts,
noch öffentliche von privaten Rechten, noch Rechtsschöpfung von Rechtsanwendung, noch auch immer – trotz dem, was darüber früher gesagt worden ist
48
Siehe oben, S. 274–282, S. 297 f.
n
Fehlt in A.
„Recht“ im Sinne einer den einzelnen Interessenten „Ansprüche“
o
A: Ansprüche und Pflichten
zuweisenden Norm von „Verwaltung“ im Sinn rein technischer Anordnungen, als deren „Reflex“ den Einzelnen bestimmte Chancen zufließen. Alle diese
p
A: technischer Anordnungen innerhalb der durch das Recht gezogenen Grenzen. Alle diese heutigen
Unterscheidungen finden sich zwar – wie es nicht anders sein kann – sozusagen „latent“ und
q
Fehlt in A.
in Ansätzen. Aber wesentlich so, daß die verschiedene Art der Zwangsmittel und eventuell
r
Fehlt in A.
die Verschiedenheit der zwingenden Instanzen sich, von uns aus gesehen,
s
A: sich
bis zu einem gewissen, sehr verschieden hohen Grade mit einigen von ihnen
t
A: jener Scheidungen
deckt. So entspricht – wie wir schon sahen
49
Siehe oben, S. 293 f.
u
Fehlt in A.
in einem begrenzten Sinn die religiöse Lynchjustiz der durch die Tat eines Genossen von magischen Übeln bedrohten Gemeinschaft [453]in ihrem Verhältnis zum Sühneverfahren zwischen den Sippen der heutigen Scheidung krimineller Ahndung „von Amts wegen“ von privater Rechtsverfolgung, und ebenso lernten wir die an formale Schranken und Grundsätze nicht gebundene
b
In B folgt: 〈Art, wie der Hausherr durch direkte [??] Anordnung nach Willkür und Gnade Streitigkeiten der Kinder und der Hausuntergebenen schlichtet, 〈die Quelle〉 als primitive〉
hausherrliche Streitschlichtung als primitiven Sitz aller „Verwaltung“ kennen im Gegensatz zum streng formalen Sühneverfahren beim Streit zwischen Sippen als dem Vorläufer der geordneten „Rechtspflege“,
50
[453] Siehe oben, S. 282 f., 323 f. und S. 362.
welche nur einen Wahrspruch über das „Geltende“ produziert. Wo ferner eine in ihren Funktionen spezifisch besonderte,
c
In B folgt: begrenzte, Gewalt〉
also eine andre als die schrankenlose innerhäusliche Gewalt entsteht, ein „imperium“,
51
Zu Webers Verwendung des Begriffs vgl. oben, S. 295 mit Anm. 58.
wollen wir sagen, scheint zwar im Prinzip der Unterschied zwischen „legitimem“ Befehl und diesen „legitimierender“ Norm conzipiert. Denn die
a
[453]A: amtlicher Ahndung von privater Rechtsverfolgung. Am relativ deutlichsten ist noch die bloße technische Anordnung von rechtsverbürgenden Normen geschieden. Denn innerhalb ihrer Herrschaftssphäre ihres Imperium, wollen wir sagen, geben die Gewalthaber, welcher Art sie sein mögen, konkrete Befehle. Die
geheiligte Tradition oder die konkrete charismatische Qualifikation ergeben ja dann entweder die sachliche oder die persönliche Legitimität der einzelnen Befehle und also auch die Schranken ihrer „Berechtigung“. Aber in der Auffassung bleibt beides doch ungeschieden: das Imperium wird als eine conkrete rechtliche „Qualität“ seines Trägers angesehen, nicht als eine sachliche „Competenz“. Auch legitimer Befehl, legitimer Anspruch und beide legitimierende Norm scheiden sich also nicht wirklich deutlich. Die Abgrenzung
d
A: dann die Legitimität der Befehle und zugleich die Schranken des Imperium. Aber auch hier scheiden sich legitimer Befehl und diesen legitimierende Normen nicht wirklich deutlich. Denn soweit ein Imperium legitim ist, können kraft seiner auch Anordnungen getroffen und deren Befolgung erzwungen werden, welche einzelnen Interessenten Ansprüche verleihen, also subjektive Rechte schaffen und folglich ihrerseits als objektives Recht zu gelten hätten. Die traditionelle Abgrenzung
der Sphäre der unabänderlichen Tradition gegen diejenige
e
A: und derjenigen
des Imperium ist ebenfalls durchaus schwankend, weil
f
A: ferner durchaus schwankend und
keine wichtige Entschließung von dessen Träger, wie „legitim“ er auch zu herrschen beanspruchen möge, gefaßt wird[,] ohne nach Möglichkeit eine spezielle
g
A: seines Trägers wird gefaßt, ohne nach Möglichkeit eine
Offenbarung einzuholen.
[454][A 3][B 7]Und
i
Auf der Rückseite des Blattes A 3/ B 7 steht die Notiz Max Webers: [Vollstreckung]
auch innerhalb der „Tradition“ bleibt das praktisch zur Anwendung gelangende Recht nicht etwa wirklich stabil. So lange wenigstens, als die Tradition noch nicht einer Schicht von spezifisch geschulten Trägern mit festen empirischen Kunstregeln anheimfällt – regelmäßig zunächst den Magiern und Priestern –[,] kann sie auf weiten Gebieten relativ labil sein. Als „Recht“ gilt,
j
In B folgt: 〈– sobald eine entsprechende Conzeption entstand –〉
was als solches „angewendet“ worden ist.
k
In B folgt: 〈Das sind, sahen wir,〉 zunächst wesentlich
Die Entscheidungen der afrikanischen „Palaver“ werden durch Generationen hindurch
l
B: von Geschlecht zu Geschlecht > durch Generationen hindurch
überliefert und als „geltendes Recht“ behandelt,
52
[454] Als „Präjudizienrecht“ und Vorstufe von Gewohnheitsrecht behandelt dies namentlich Post, Albert Hermann, Afrikanische Jurisprudenz. Ethnologisch-juristische Beiträge zur Kenntniss der einheimischen Rechte Afrikas, 2 Bände (in 1). – Oldenburg, Leipzig: Schulze 1887, hier Band 1, S. 4 f. (hinfort: Post, Afrikanische Jurisprudenz I und II).
und Munzinger berichtet das Gleiche von den ostafrikanischen Rechtssprüchen („buthas“).
53
Weber bezieht sich auf Munzinger, Ostafrikanische Studien, S. 477 f.: „Über die Gemeinde richten die Greise, die sich unter einem bestimmten Baum versammeln oder unter einer eigens als Rathplatz mitten im Dorfe errichteten Schattenlaube (Logodat). […] Die Sprüche sind meist sehr einfach, die Berathung kurz und gut. Die Greise haben gewisse gesetzgebende Gewalt; aber im Allgemeinen gilt die Tradition früherer Rechtssprüche, die unter dem Namen Butha mit Gesetzeskraft citirt werden.“
Das Präjudizienrecht ist die älteste Form der Neubildung von „Gewohnheitsrecht“. Inhalt dieser Rechtsbildung sind freilich zunächst, sahen wir,
54
Siehe oben, S. 447–452.
wesentlich bewährte Kunstregeln der magischen Befragung. Erst mit dem Zurücktreten der Bedeutung der Magie gewinnt die Tradition den Charakter, welchen
m
B: Charakter 〈, welcher der 〈heutigen〉 heute üblichen Definition des „Gewohnheitsrechts“ entspricht.〉 welchen
sie z. B. im Mittelalter vielfach an sich trug: das Bestehen einer als Recht geltenden Übung kann Gegenstand eines „Beweises“ durch die Parteien werden, ganz wie „Thatsachen“.
h
[454] Fehlt in A.
Von
n
A: Immerhin aber führt von
der charismatischen Offenbarung neuer Gebote führt
o
Fehlt in A.
über das Imperium hinweg der [WuG1 405]direkteste
p
A: der
Weg der Entwicklung zur Rechtsschöpfung durch vereinbarte und oktroyierte „Satzung“. Denn
q
A: oktroyierte Satzung und auch zur Vereinbarung darüber, was künftig als Norm gelten soll.
Träger solcher Vereinbarungen sind zunächst die Sippenhäupter oder lokalen Häuptlinge. Wo
r
A: Häuptlinge, wo
immer aus irgend welchen politischen oder ökonomi[455]schen Gründen neben Dorf und Sippe umfassendere politische
s
[455]A: umfassende ; B: umfassendere, politische,
Verbände oder Einverständnisgemeinschaften, welche weitere Gebiete beherrschen, bestehen, pflegen deren Angelegenheiten
t
A: bestehen. Deren Angelegenheiten pflegen dann
durch gelegentliche oder regelmäßige Zusammenkünfte jener Autoritäten geregelt zu werden. Die von ihnen getroffenen Verabredungen pflegen
u
A: können
rein technischer und ökonomischer Natur zu
a
Fehlt in A, B; zu sinngemäß ergänzt.
sein, nach unseren Begriffen also bloße „Verwaltung“ oder bloße private Abmachungen
c
B: Vereinbarungen > Abmachungen
zu
b
A: Verwaltungsangelegenheiten
betreffen. Sie können aber von da aus auf die verschiedensten anderen Gebiete übergreifen. Die
d
A: übergreifen und die
versammelten Autoritäten können vor Allem
e
Fehlt in A.
die Neigung gewinnen, ihren gemeinsamen Erklärungen
f
A: sich gemeinsam
eine erhöhte Autorität zur Interpretation der heiligen Tradition zuzusprechen, und es unter Umständen wagen, selbst in so
g
A: unter Umständen selbst in solche
streng magisch garantierte Normen, wie z. B.
h
A: Normen wie
die der Sippenexogamie,
i
Komma fehlt in A.
interpretierend einzugreifen. Zunächst freilich geschieht dies in aller Regel so, daß charismatisch qualifizierte Zauberer oder Weise der Versammlung die Offenbarung der neuen Grundsätze, die ihnen in der Ekstase oder auch im Traum eingegeben wurden, vorlegen und die Mitglieder, weil sie die charismatische
j
A: wenn sie die
Qualifikation anerkennen, diese zur Nachachtung und Mitteilung an ihre Verbände
k
A: Verwandten
mit nach Hause nehmen. Da aber die Grenzen zwischen technischer Anordnung, Interpretation der Tradition durch Rechtsspruch
l
Fehlt in A.
und Neuoffenbarung von Regeln nicht eindeutig sind und das Prestige der Zauberer labil ist, so kann – wie dies z. B.
m
Fehlt in A.
in Australien zu beobachten ist
55
[455] Hinweise auf die von Weber beschriebene Rechtssäkularisierung durch beschlußfassende Ältestenversammlungen australischer Stämme finden sich etwa bei Spencer, Baldwin/Gillen F[rancis] J[ames], The Native Tribes of Central Australia. – London: Macmillan and Co. Ltd. 1899, S. 12–15.
– die Säkularisierung der Rechtssatzung Fortschritte machen, die Offenbarung faktisch
n
Fehlt in A.
ausgeschaltet oder nur zur nachträglichen Legalisierung der Vereinbarungen angewendet werden, und so können
o
Fehlt in A; B: so ; können sinngemäß ergänzt.
schließlich weite Gebiete der ursprünglich nur durch Offenbarung möglichen Rechtsschöpfung der einfachen Vereinba[456]rung der versammelten Autoritäten anheimfallen. Auch bei den afrikanischen Stämmen ist der Gedanke der
q
In B folgt: 〈rationalen〉 ; Streichung unsicher.
„Satzung“ von Recht nicht selten schon voll entwickelt. Zwar gelingt es den Ältesten und Honoratioren unter Umständen nicht, das zwischen ihnen vereinbarte neue Recht den Volksgenossen aufzuzwingen. An der Guinea-Küste fand Monrad, daß die Vereinbarungen der Honoratioren zwar den ökonomisch Schwachen gegenüber durch Geldbußen durchgeführt wurden, die Reichen und Angesehenen sich ihnen thatsächlich völlig entzogen, sofern sie ihnen nicht freiwillig zugestimmt hatten
56
[456] Gemeint ist vermutlich Monrad, H[ans] C[hristian], Gemälde der Küste von Guinea und der Einwohner derselben, wie auch der Dänischen Colonien auf dieser Küste (aus dem Dänischen übersetzt von H. E. Wolf). – Weimar: Landes-Industrie-Comptoir 1824; der Bezug war nicht nachzuweisen. – Post, Afrikanische Jurisprudenz I (wie oben, S. 454, Anm. 52), S. 2 mit Anm. 5, schildert den Sachverhalt ebenfalls mit – allerdings fehlerhafter – Bezugnahme auf Monrad: „Bei den Fantis an der Goldküste versuchen es die Rathsherren in den Küstenstädten wohl einmal Verordnungen zu verkünden, deren Beobachtung sie durch Körper- und Geldstrafen zu erzwingen drohen. Solche Verordnungen sind aber nur gegen Arme und Schwache anwendbar; gegen Reiche und Angesehene sind sie nicht wirksam.“
– ganz wie oft in den ständischen Gebilden des Mittelalters. Andrerseits pflegten die Ahantas und die Dahomey-Neger teils periodisch[,] teils nach Gelegenheit die alten Satzungen zu revidieren oder neue zu beschließen.
57
In diesem Zusammenhang sind beide Stämme genannt bei Post, Afrikanische Jurisprudenz I (wie oben, S. 454, Anm. 52), S. 1 f.
Indessen dieser Zustand ist nichts Urwüchsiges mehr. In aller Regel fehlt die Rechtssatzung gänzlich oder, wo sie faktisch besteht, bringt die Ungeschiedenheit von Rechtsfindung und Rechtsschöpfung es mit sich, daß der Gedanke des „Gesetzes“ als einer durch den Richter „anzuwendenden“ Regel im Allgemeinen noch ganz fehlt. Der Rechtsspruch hat einfach die Autorität eines Präjudizes.
p
[456] Fehlt in A.
Diesen Typus der Zwischenstufe
r
A: Den Typus des Übergangs
von der Interpretation schon geltenden Rechts zur Neuschaffung von Recht weist z. B. noch das germanische „Weistum“
58
Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 110, definiert das „Weistum“ als „Wahrspruch, welchen zu diesem Zweck ausgewählte ältere und erfahrene Männer auf amtliche Anfrage hin über das geltende Recht abgaben.“
auf, der Wahrspruch von Autoritäten, deren Legitimation auf persönlichem Charisma oder auf Alter oder auf Wissen oder auf Honoratiorenqualität ihres Geschlechts oder
s
Fehlt in A.
[457]schließlich auf Amt ruht, über konkrete oder abstrakte Rechtsfragen. Auch das Weistum (wie beim nordgermanischen „Gesetzessprecher“)
u
Schließende Klammer fehlt in B.
59
[457] Die Einrichtung des „Gesetzsprechers“ gehört dem älteren nordischen Recht (mit Ausnahme des dänischen) an. Der Gesetzsprecher mußte teils öffentliche Rechtsvorträge in regelmäßigen Abständen halten, teils gutachterliche, schließlich auch rechtsprechende Funktionen übernehmen; vgl. unten, S. 460–463.
scheidet zunächst
t
[457]A: scheidet
weder objektives von subjektivem Recht, noch Rechtssatzung von Urteil, [A 4][B 8]noch öffentliches von privatem Recht, noch sogar Verwaltungsanordnungen von normativer Regel. Nur der Sache nach ist es bald mehr das eine, bald mehr das andere. Auch der englische Parlamentsbeschluß hat bis fast an die Schwelle der Gegenwart einen ähnlichen Charakter bewahrt. Wie zunächst der Name assisa besagt, hatte er in der Zeit der Plantagenets und im Grunde bis ins 17. Jahrhundert nur den Charakter jedes anderen Rechtsspruchs.
60
Weber stützt sich hier und im folgenden vermutlich auf Julius Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 113 ff.: „Das Wort Assissa bedeutet in dieser Anwendung die Sententia Assissa, welche der König erläßt“ (ebd., S. 113).
Der König selbst band sich an seine eigenen assisae nicht unbedingt. Die Parlamente suchten [WuG1 406]mit verschiedenen Mitteln dem zu steuern. Die Protokollierung und die Schaffung der verschiedenen rolls dienten dem Zweck[,] den königlich bestätigten Parlamentssprüchen Achtung als Präjudicien zu verschaffen.
61
Gemeint sind die seit der Zeit Eduard I. (1272–1307) üblichen Aufzeichnungen sämtlicher Parlamentsvorgänge in den parliament rolls (rotuli parliamentorum) sowie die Aufnahme der von König und Parlament beschlossenen und vom König approbierten (observeri volumus) Gesetze in die statute rolls (rotuli de statutis). Während erstere zunächst den Kanzleijuristen als Grundlage für die Extraktion der späteren Gesetze diente, sollten doch beide vor allem Sicherheit und Beweiskraft des geltenden Statute Law gewährleisten; vgl. Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 113–116.
Dauernd aber blieb ihnen dadurch bis heute
a
A, B: heute,
der Charakter eines bloßen Amendements des bestehenden Rechts anhaften im Gegensatz zu dem Kodifikationscharakter des modernen kontinentalen Gesetzes,
62
Dieser Gegensatz wird vor allem von Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 122, 125, herausgearbeitet und als „Amendmentnatur“ der englischen Statutes gegenüber dem Common Law bezeichnet.
welches im Zweifel beansprucht, seinen Gegenstand erschöpfend neu zu regeln unter Beseitigung des bisherigen Rechtes. Der Grundsatz, daß neu geschaffenes Recht das bisherige aufhebt, ist daher im englischen Recht noch heute nicht voll durchgedrungen.
b
In B folgt ein Absatzzeichen von der Hand Max Webers.
[458]Der materielle Gesetzesbegriff, welchen in England der Rationalismus der Puritaner und dann der Whigs protegierte,
63
[458] Gemeint ist das Gesetz im Sinne einer den jeweiligen Sachverhalt allgemein und verbindlich regelnden Norm im Unterschied zum (individuellen) Urteilsspruch (iudicium), also der Natur des englischen Statute Law seit den Tagen Eduards I.; vgl. Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 119–121.
entstammt dem römischen Recht. In diesem selbst aber hatte er seine ursprüngliche
c
[458] Fehlt in A.
Wurzel in dem Amtsrecht, und also in
d
A: Amtsrecht,
dem ursprünglich militärisch bedingten Imperium der Magistrate. Lex rogata war derjenige Erlaß des Magistrats, den die Zustimmung des Bürgerheeres für die Bürger und nur für diese bindend und um des willen auch für den Nachfolger im Amt des Magistrats unverbrüchlich gemacht hatte. Die Urquelle des heutigen Gesetzesbegriffs war also die römische Disziplin und die Eigenart der römischen Wehrgemeinde. Auf dem mittelalterlichen Kontinent haben nach den Ansätzen der Karolinger zuerst die Hohenstaufen (Friedrich I[.]) mit dem römischen Begriff des Gesetzes operiert.
64
Wesentlich dafür war die Vorstellung der fränkisch-deutschen Herrscher, Rechtsnachfolger der römischen Imperatoren zu sein. Als eigentliches „Kaiserrecht“ galt den Saliern und Staufern neben den deutschen Reichsgesetzen immer mehr das Corpus iuris Justinians. Die staufischen Kaiser – so bereits Friedrich I. (Barbarossa: 1152–1190) – legten Wert auf die Einstellung ihrer Gesetze als „Authenticae“ in den justinianischen Codex durch die Juristen der Universität Bologna. Vgl. Goetz, Walter, Das Wiederaufleben des römischen Rechtes im 12. Jahrhundert, in: Archiv für Kulturgeschichte, Band 10, 1912, S. 25–39, hier S. 33 f., der dieses Wiederaufleben des Römischen Rechts dessen eigengesetzlicher „Überlegenheit“ zuschreibt (ebd., S. 36); vgl. auch Schröder, Lehrbuch, S. 767 f., und unten, S. 578–580.
Aber auch jenes Stadium des frühmittelalterlichen, speziell englischen Gesetzesbegriffs als einer gesatzten Rechtsamendierung wurde keineswegs früh erreicht. Die charismatische Epoche der Rechtsschaffung und Rechtsfindung ragt vielmehr, [A 5][B 9]wie wir schon mehrfach sahen,
65
Siehe oben, S. 447 ff.
in zahlreichen Institutionen in die Zeit rein rationaler Rechtssatzung und Rechtsanwendung hinein und ist noch heute nicht überall ganz beseitigt. Noch Blackstone nennt die englischen Richter eine Art lebendes Orakel,
66
Blackstone, Commentaries, S. 69: „They [die Richter, Hg.] are the depositaries of the laws; the living oracles, who must decide in all cases of doubt, and who are bound by an oath to decide according to the law of the land.“
und tatsächlich entspricht wenigstens die Rolle, welche die decisions als unentbehrliche und [459]spezifische Form der Fleischwerdung des common law spielen, in diesem Sinn derjenigen des Orakels im alten Recht: „was vorher ungewiß war (die Existenz des Rechtsprinzips) ist nun (durch die Entscheidung) eine dauernde Regel geworden“.
67
[459] Weber zitiert Blackstone, Commentaries, S. 69: „[…] what before was uncertain, and perhaps indifferent, is now become a permanent rule […].“
Nur wenn die Entscheidung offenbar „absurd“ oder „gegen Gottes
f
A, B: gutes
Gebot“
e
[459] Alle Anführungszeichen in A und B.
ist, entbehrt sie des charismatischen Charakters und kann man also ohne Gefahr von ihr abweichen.
68
Weber bezieht sich auf Blackstone, Commentaries, S. 69 f.: Der Richter ist demnach „not delegated to pronounce a new law, but to maintain and expound the old one. Yet this rule admits of exception, where the former determination is most evidently contrary to reason; much more if it be clearly contrary to the divine law“. Und weiter ebd., S. 70: „For if it be found that the former decision is manifestly absurd or unjust, it is declared, not that such a sentence was bad law, but that it was not law; […] and that what is not reason is not law. Not that the particular reason of every rule in the law can at this distance of time be always precisely assigned; but it is sufficient that there be nothing in the rule flatly contradictory to reason […].“ Dasselbe gilt für Parlamentsakte: „[…] acts of parliament that are impossible to be performed are of no validity: and if there arise out of them collaterally any absurd consequences, manifestly contradictory to common reason, they are, with regard to those collateral consequences, void“ (ebd., S. 91).
Nur durch das Fehlen rationaler Begründungen unterschied sich das echte Orakel vom englischen Präjudiz. Diese Eigenschaft aber teilt es mit dem Geschworenenverdikt. Historisch freilich sind die Geschworenen
g
A, B: geschworenen
als solche nicht etwa Rechtsnachfolger charismatischer Rechtspropheten, sondern ganz im Gegenteil vielmehr ein Ersatz der irrationalen Beweismittel der dinggenossenschaftlichen Justiz durch das Zeugnis der Nachbarn (insbesondere über Besitzstände), im Königsgericht also ein Produkt fürstlichen Rationalismus.
69
Vgl. oben, S. 449–451.
Eine wirkliche Deszendenz von der charismatischen Rechtsweisung liegt dagegen sowohl in der Stellung der germanischen Schöffen zum Richter wie in der Institution des Gesetzessprechers im nordischen Recht vor.
70
An die Stelle der bei den Franken ursprünglich von Fall zu Fall berufenen Rachimburgen, die die Gerichtsversammlung beraten und den Urteilsvorschlag einbringen sollten, trat unter Karl dem Großen ein fester Kreis lebenslänglich angestellter Schöffen; vgl. etwa Sohm, Gerichtsverfassung (wie oben, S. 288, Anm. 37), S. 372–390. – Zum „Gesetzessprecher im nordischen Recht“ vgl. das Folgende.
Die auffallende, die Entwicklung der genossenschaftlichen und ständischen Autonomie im mittelalterlichen Okzident, wie wir [460]sahen,
71
[460] Siehe oben, S. 422–424.
so außerordentlich befördernde Tatsache: daß in aller Regel der Gerichtsherr oder seine Stellvertreter im Gericht nur den Vorsitz führen und Ordnung gebieten, das Urteil aber ohne ihre Beteiligung zustandekommt, durch charismatische Rechtsweiser oder später durch ernannte Schöffen aus dem Kreise derjenigen, innerhalb deren
h
[460]A, B: dessen
das Urteil Recht schaffen soll, geschaffen wird, dieser mit großer Konsequenz festgehaltene Grundsatz hat zwar zum Teil politische, schon erwähnte Gründe.
72
Ebd.
Zu einem Teil aber führt er auf die Natur der charismatischen Rechtsfindung zurück. Der Richter, der das Gericht [A 6][B 10]kraft seines Amts beruft und hegt,
73
Den Verhandlungen der germanischen Gerichtsgemeinde geht die sog. Hegung des Dinges (der Gerichtsstätte und der Gerichtsversammlung) voraus. In einem sakralen Akt wird der Verhandlungsplatz einem besonderen Frieden unterstellt, was die Abmarkung mittels Pflock und Seil räumlich symbolisiert. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 145, bemerkt, daß es nach „allen jüngeren Quellen der deutschen Stammesrechte […] der Vorsitzende Richter [ist], der das Ding eröffnet und den Frieden wirkt“, d. h. das Ding hegt.
konnte gar nicht in den Bereich der Rechtsfindung eingreifen, weil nach der charismatischen Rechtsauffassung ihm sein Amt eben nicht auch den Verstand: das Charisma der Rechtsweisheit, gab. Seine Aufgabe war erschöpft, wenn er die Parteien dazu gebracht hatte, die Sühne der Rache, den gerichtlichen Frieden der Selbsthülfe vorzuziehen und diejenigen Formalitäten [WuG1 407]vorzunehmen, welche sie zur Innehaltung des Prozeßvertrages verbindlich machten und welche zugleich die Voraussetzung einer richtigen und wirksamen Befragung der Götter oder der durch ihr Charisma qualifizierten Weisen schufen.
74
Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 149, und Schröder, Lehrbuch, S. 43 f., vermuten allerdings, daß zumindest im frühgermanischen Prozeß der Richter auch an der Urteilsfindung beteiligt gewesen sei, wenigstens das Urteil ausgegeben habe.
Diese Rechtswissenden aber waren ursprünglich durchweg magisch Qualifizierte,
i
A, B: qualifizierte,
die nur im Einzelfall kraft ihrer charismatischen Autorität zugezogen wurden, weiterhin entweder Priester – wie die Brehons in Irland, die Druiden bei den Galliern – oder durch Wahl als Autoritäten anerkannte Rechtshonoratioren, wie die Gesetzessprecher bei den Nordgermanen oder die Rachinburgen bei den Franken.
75
Zur Volkswahl des Gesetzsprechers vgl. Maurer, Konrad, Vorlesungen über Altnor[461]dische Rechtsgeschichte, Band 4: Das Staatsrecht des isländischen Freistaates. – Leipzig: A. Deichert Nachf. 1909, S. 265 f. (hinfort: Maurer, Altnordische Rechtsgeschichte IV); Schröder, Richard, Gesetzsprecheramt und Priestertum bei den Germanen, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Band 3, 1882, S. 215–231, hier S. 217 f. (hinfort: Schröder, Gesetzsprecheramt). – Umstritten war seinerzeit, ob die Wahl der Rachimburgen durch den Richter (so u.a. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 150, 154), die Parteien (so etwa Siegel, Heinrich, Geschichte des deutschen Gerichtsverfahrens, Band 1. – Gießen: J. Ricker 1857, S. 107, 145) oder die Gerichtsgemeinde (so z. B. Sohm, Gerichtsverfassung (wie oben, S. 288, Anm. 37), S. 377 f. und S. 378, Anm. 20) erfolgte.
Der charismatische Gesetzessprecher wurde später ein durch periodische Wahl, schließlich [461]auch durch tatsächliche Ernennung legitimierter Beamter, und an Stelle der Rachinburgen traten als königlich patentierte Rechtshonoratioren die Schöffen. Der Grundsatz aber: daß nicht die Obrigkeit als solche, sondern nur der durch sein Charisma Qualifizierte das Recht weisen könne, blieb bestehen. Der nordische Gesetzessprecher war seiner charismatischen Würde entsprechend[,] ebenso wie die Schöffen in Deutschland[,] ein auch politisch oft höchst wirksamer Vertreter der Gerichtsgemeinden gegen die Macht der Obrigkeit. So namentlich in Schweden.
76
Das politische Gewicht des Gesetzsprechers in Schweden betonen namentlich Maurer, Konrad, Über die altschwedischen Gesetze und deren Ausgabe, in: Kritische Vierteljahrsschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Band 13, 1871, S. 51–89, hier S. 75 f. (hinfort: Maurer, Altschwedische Gesetze), und Lehmann, K[arl], Zur Frage nach dem Ursprunge des Gesetzsprecheramtes, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Band 6, 1885, S. 193–199, hier S. 198 f. Über die geringere oder zurückgehende politische Bedeutung des Gesetzsprechers in Norwegen dagegen Maurer, Konrad, Das Alter des Gesetzsprecher-Amtes in Norwegen, in: Festgabe zum Doctor-Jubiläum Ludwig Arndts, hg. von Alois von Brinz und Konrad Maurer. – München: Christian Kaiser 1875, S. 1–69, S. 42, 46 f. (hinfort: Maurer, Alter des Gesetzsprecher-Amtes).
Stets gehörte er, ebenso wie die Schöffen in Deutschland[,] vornehmen Familien an,
77
Gegenüber der Tendenz zur plutokratischen Besetzung und Erblichkeit des Gesetzsprecher-Amtes betont besonders Maurer dessen „demokratische“ Herkunft und ursprüngliche Unvererbbarkeit (vgl. ders., Alter des Gesetzsprecher-Amtes (wie oben, Anm. 76), S. 4, 11, 42–49, 68; ders., Altnordische Rechtsgeschichte IV (wie oben, Anm. 75), S. 265 f., 268.
und naturgemäß wurde speziell das Schöffenamt sehr oft gentilcharismatisch an ein Geschlecht gebunden.
78
Die zeitgenössischen Rechtshistoriker weisen freilich eher auf sozial- und machtpolitische Motive hin, die Karl der Große Ende des 8. Jahrhunderts mit der Schöffenverfassung verfolgt habe. Die mit dem Schöffenamt verbundene Last sollte nach Möglichkeit nur noch von den größeren Grundbesitzern getragen werden. In der grundsätzlich lebenslänglichen Anstellung vermögender Honorationen lag dann der Ausgangspunkt für die spätere faktische Besitzbindung und Erblichkeit des Schöffenamtes. Sie hatte danach eher „leiturgischen“ als „charismatischen“ Charakter; vgl. dazu Sohm, Gerichtsverfassung (wie oben, S. 288, Anm. 37), S. 376 f., 386 ff., 390; Brunner, Grundzüge (wie oben, S. 291, Anm. 47), S. 66, 99.
Der Gesetzessprecher, seit [462]dem 10. Jahrhundert nachweisbar, war nie ein Richter. Er hatte mit Vollstreckung nichts zu schaffen, besaß überhaupt ursprünglich gar keine, erst später in Norwegen eine begrenzte Zwangsgewalt.
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[462] Zu dieser Datierung des Gesetzsprecher-Amtes bis ins 10. Jahrhundert vgl. Maurer, Alter des Gesetzsprecher-Amtes (wie oben, S. 461, Anm. 76), S. 43; Schröder, Gesetzsprecheramt (wie oben, S. 460 f., Anm. 75), S. 216 f. – Daß der altnordische Gesetzsprecher weder Richter gewesen sei noch exekutive Befugnisse gehabt habe, meint Schröder, ebd., S. 220 f., 226 f.; die Amtsbefugnisse in Island, Norwegen und Schweden sachlich und zeitlich differenzierend dagegen Maurer, Alter des Gesetzsprecher-Amtes, S. 14, 19, 27–29; ders., Altschwedische Gesetze (wie oben, S. 461, Anm. 76), S. 81; Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 154. – Seit dem späten 12. Jahrhundert ist der norwegische Gesetzsprecher als königlicher Beamter mit einer richterlichen Gewalt ausgestattet, die er mittels des Königsbannes (Ladung und Urteilsspruch sub poena des Königs) durchsetzen kann; vgl. dazu Maurer, Alter des Gesetzsprecher-Amtes (wie oben, S. 461, Anm. 76), S. 50.
Der Zwang, soweit in Rechtssachen ein solcher bestand, lag vielmehr in den Händen [A 7][B 11]der politischen Beamten. Aus dem im Einzelfall angerufenen Rechtsfinder war der Gesetzessprecher ein dauernder Beamter geworden und mit dem rationalen Bedürfnis nach Vorherberechenbarkeit, also Regelhaftigkeit des geltenden Rechts entwickelte sich seine Pflicht[,] jährlich einmal alle jene Normen, nach denen er Recht fand, der versammelten Gemeinde vorzusprechen, sowohl zu deren Kenntnis wie zu seiner eigenen Kontrolle. Bei aller Abweichung hat man mit Recht die Ähnlichkeit mit der jährlichen Publikation des prätorischen Ediktes hervorgehoben.
80
So z. B. Pardessus, J[ean] M[arie], Collection de lois maritimes antérieures au ΧVIIIe siècle, tome 3. – Paris: L’imprimerie Royale 1834, S. 47; ders., Besprechung von: Hin Forna Lögbók íslendínga sem nefnist grágás. Codex juris Islandorum antiquissimus […], von J. F. G. Schlegel (Premier Article), in: Journal des Savans, Année 1831, S. 193–206, hier S. 201. Dagegen betont Maurer, Altnordische Rechtsgeschichte IV (wie oben, S. 460 f., Anm. 75), S. 274 f., die Differenz: Der Rechtsvortrag des Gesetzsprechers habe – im Unterschied zum prätorischen Edikt – kein neues Recht schaffen, sondern lediglich eine Zusammenfassung geltenden Rechts geben können.
Der Nachfolger war an die Lögsaga seines Vorgängers nicht gebunden. Denn kraft seines Charisma konnte jeder Gesetzessprecher neues Recht schaffen. Er konnte dabei Anregungen und Beschlüsse der Volksgemeinde berücksichtigen, aber er mußte es nicht, und solche Beschlüsse schufen solange kein Recht, als die Aufnahme in die Lögsaga nicht erfolgt war. Denn Recht konnte nur offenbart werden: diesen charakteristischen Grundsatz und die daraus folgende Art der Entstehung von Rechtsschöpfung und Rechtsweisung greift man hier mit Händen. Spuren ähnlicher [463]Einrichtungen finden sich außer bei den Thüringern in den meisten germanischen Rechten, speziell in Friesland (der Asega),
81
[463] Nach Schröder, Lehrbuch, S. 44, Anm. 21, ist das Institut des Rechtsprechers historisch bezeugt bei Isländern, Norwegern, Friesen, Alamannen, Baiern und Sachsen. Der „asega“ ist der friesische Gesetzsprecher; vgl. dazu Schröder, Gesetzsprecheramt (wie oben, S. 460 f., Anm. 75), S. 221–224.
und es wird wohl mit Grund angenommen, daß die von der Vorrede der Lex salica erwähnten Redaktoren als solche Rechtspropheten zu denken sind und daß die Art der Entstehung der Capitula
j
[463]A, B: Kapitula
legibus addenda der fränkischen Königszeit mit der Verstaatlichung des Rechtsprophetentums zusammenhängt.
82
Der sog. längere Prolog der Lex Salica (von mehreren überlieferten) – den Sohm, Gerichtsfassung (wie oben, S. 288, Anm. 37), S. 51, auf Ende des 6., Anfang des 7. Jahrhunderts datiert – erwähnt einen Kreis von vier rechtskundigen Männern, die ältere Weistümer kompilieren und auf mehreren Dingversammlungen vortragen. Obwohl aus der weiteren Erzählung des Prologs der sagenhafte Charakter der Lex als eines juridischen Ursprungsmythos hervorgeht, wird die maßgebliche Beteiligung von Rechtskundigen (sapientes, legislatores, iudices) bei der Aufzeichnung der Volksrechte nicht angezweifelt; vgl. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 287, 298–303. – Die fränkischen „capitula legibus addenda“ sollten einzelne oder alle Stammesrechte ergänzen und konnten deshalb nur mit Zustimmung des Volkes wirkliches Volksrecht werden. Voraussetzung war damit die Anerkennung einer rechtsschöpferischen Rolle des Königtums. Die Capitula bildeten also ein Übergangsstadium zum reinen Königsrecht, woraus sich ihre ursprüngliche Weistums-Form erklärt; vgl. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 302 f., 378 f.
Spuren ähnlicher Entwicklung finden sich fast überall. Die ursprüngliche Entscheidung von Rechtshändeln durch Einholung eines Orakels ist massenhaft auch für sonst stark rationalisierte politische und soziale Zustände bezeugt. Z. B. auch für Ägypten (Ammons Orakel) und für Babylon. Sie bildete sicherlich auch einen der ursprünglichen Pfeiler der Machtstellung der hellenischen Orakel. Die israelitischen Rechtsorakel haben
k
A: jüdischen Nabis haben sicherlich
ähnliche Funktionen versehen.
83
Oberste Pflicht der alttestamentlichen Priester-Richter seit Moses war die Orakelspendung. Orakel konnten wie in allen Lebensbereichen, so im Rechtsleben zu einem wichtigen Rechts- und Prozeßmittel werden (etwa bei der Entscheidung von Rechts- und Schuldfragen durch Schütteln der heiligen Lose, „Urim und Tummim“, nach feststehendem Ritual); vgl. dazu Greßmann, [Hugo Ernst Friedrich Wilhelm], Gericht und Gerichtsverfassung im alten Israel, in: RGG, Band 2, 1909/10, Sp. 1321–1324, hier Sp. 1322 f.
Die Herrschaft der Rechtsprophetie ist vermutlich eine ganz allgemeine Erscheinung. Die Macht der Priester beruhte überall zum sehr großen Teil auf ihrer Funktion als Spender von [A 8][B 12]Orakeln oder Leitern der Prozedur bei Gottesurtei[464]len, und deshalb stieg sie oft ganz gewaltig mit steigender Befriedung infolge des zunehmenden Ersatzes der Rache durch Sühne und schließlich Klageprozeduren. Obwohl in Afrika die Bedeutung der irrationalen Beweismittel durch die Häuptlingsprozedur relativ schon weit zurückgedrängt ist, ruht die oft furchtbare Macht der Fetischpriester bis heute auf dem [WuG1 408]verbliebenen Rest: dem sakralen Zaubereiprozeß mit Gottesurteil unter ihrer Leitung, der es ihnen gestattet[,] jeden ihnen selbst oder einem anderen, der sie zu gewinnen weiß, Mißliebigen durch Erhebung einer Zaubereiklage um Leben und Gut zu bringen.
84
[464] Das „rationalisierte“ Beweisrecht im Häuptlingsprozeß (vor allem den Zeugenbeweis) sucht Kohler in zahlreichen Studien und Literaturberichten nachzuweisen; vgl. u. a. Kohler, Josef, Bemerkungen zum Bericht von Asmis über die Akposso und Atakpame, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 25, 1911, S. 131–139, hier S. 137; ders., Bemerkungen zu dem Bericht von Asmis über die Rechte von Misahöhe, Anecho und Lome, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 26, 1911, S. 134–142, hier S. 137 (hinfort: Kohler, Bemerkungen); ders., Über das Negerrecht, namentlich in Kamerun, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 11, 1895, S. 413–475, hier S. 415, 465 (hinfort: Kohler, Negerrecht). – Zur Prozedur des Zaubereiprozesses bemerkt Post, Afrikanische Jurisprudenz II (wie oben, S. 454, Anm. 52), S. 153: „Es kann einem Zweifel nicht unterliegen, daß der Zaubereiprozeß häufig gar nichts ist, als ein von Zauberpriestern und Häuptlingen geschmiedetes Komplott gegen bestimmte unliebsame Persönlichkeiten, namentlich gegen solche, die mit Glücksgütern gesegnet sind, in deren Besitz sich jene zu setzen wünschen.“
Aber auch rein weltliche Justizverwaltungen haben unter Umständen dauernd wichtige Züge der alten charismatischen Rechtsfindung behalten. Auch die Thesmotheten Athens deutet man wohl mit Recht als Produkt einer Reglementierung und Umwandlung ursprünglich charismatischer Rechtsprophetie in ein gewähltes Beamtenkolleg.
85
Von den neun obersten attischen Beamten (Archonten) waren die sechs niederrangigen („Thesmothetai“) vorzugsweise mit Aufgaben der „Rechtsprechung“ befaßt. Über die Umwandlung der „Rechtsprophetie“ und die Einsetzung der Thesmotheten vgl. etwa Ziehen, Ludwig, Die drakontische Gesetzgebung, in: Rheinisches Museum für Philologie, Neue Folge, Band 54, 1899, S. 321–344, bes. S. 337 ff. Umstritten war, ob die Thesmotheten primär mit Rechtsaufzeichnung und Prozeßleitung (so etwa Busolt, Georg, Die griechischen Staats- und Rechtsaltertümer (Handbuch der klassischen Altertums-Wissenschaft in systematischer Darstellung, hg. von Iwan von Müller, Band 4, Abt. 1, 1. Hälfte), 2., umgearb. und sehr verm. Aufl. – München C. H. Beck 1892, S. 132, 231 f.; hinfort: Busolt, Rechtsaltertümer), oder mit Rechtsberatung (vgl. Ledl, Artur, Studien zur älteren Athenischen Verfassungsgeschichte. – Heidelberg: Carl Winter 1914, S. 270) oder doch auch selbst mit richterlichen Aufgaben befaßt waren (vgl. Lipsius, Justus Hermann, Das attische Recht und Rechtsverfahren (mit Benutzung des Attischen Processes von Μ. H. Meier und G. F. Schömann), Band 1. – Leipzig: O. R. Reisland 1905, S. 11 f. mit Anm. 44, und S. 68 (hinfort: Lipsius, Das attische Recht).
Inwieweit in [465]Rom die Beteiligung der Pontifices an der Rechtspflege
86
[465] Zur pontifikalen Rechtsweisung vgl. unten, S. 497–501.
ursprünglich in einer der sonstigen Rechtsprophetie ähnlichen Art geregelt war, entzieht sich der Feststellung. Der Grundsatz der Trennung von formaler Prozeßleitung und Rechtsweisung jedenfalls galt auch in Rom, wenn auch freilich in technisch stark von der germanischen Urteilsfindung abweichender
l
[465]A, B: abweichenden
Art. Was das prätorische und ädilizische
m
A, B: ädiligische
Edikt anlangt, so tritt seine Verwandtschaft mit der Lögsaga auch darin hervor, daß seine den Beamten selbst bindende Kraft an die Stelle einer ursprünglich großen Ungebundenheit der Beamten trat.
87
Seit dem frühen 4. Jahrhundert v. Chr. waren Prätor und Ädil die für Ziviljurisdiktion bzw. Marktgerichtsbarkeit zuständigen Gerichtsmagistrate. In mündlich und schriftlich veröffentlichten Jurisdiktionsedikten gaben sie eine Zusammenfassung derjenigen Grundsätze und Normen, die für ihre Amtszeit maßgeblich sein sollten (edictum perpetuum). Obwohl das Edikt den Amtsnachfolger ursprünglich nicht band, wurde die Übernahme schließlich zur Regel und bildete sich so ein fester Bestand von Ediktssätzen heraus (edictum tralaticium); vgl. vor allem Lenel, Edictum Perpetuum (wie oben, S. 388, Anm. 86); ders., Beiträge zur Kunde des Praetorischen Edikts. – Stuttgart: Ferdinand Enke 1878.
Rechtlich ist der Grundsatz: daß der Prätor sich an sein Edikt zu binden habe, endgültig erst in der Kaiserzeit durchgeführt,
88
Bereits die lex Cornelia de iurisdictione 67 v. Chr. wies die Prätoren an, „ut […] ex edictis suis perpetuis ius dicerunt“, da die ursprüngliche Ungebundenheit offenbar zu Mißbräuchen geführt hatte; zit. nach Bruns/Lenel, Geschichte (wie oben, S. 319, Anm. 31), S. 342. Andererseits betrachtete Cicero, ad Familiares, 13, 59, noch 50 v. Chr. die fides et dignitas des Magistrats als Grund für das servare edictum.
und es muß angenommen werden, daß die ursprünglich auf esoterischer Kunstlehre beruhende pontifikale Rechtsweisung sowohl wie die Prozeßinstruktionen des Prätors infolgedessen zunächst ziemlich stark irrationalen Charakter hatten. Die Tradition läßt das Verlangen der Plebs nach Kodifikation und Publizität des Rechts gegen beide sich richten.
n
A, B: sich das Verlangen der Plebs […] gegen beide richten.
89
Gemeint ist der Digesten-Bericht, den Pomponius (2. Jahrhundert n. Chr.) über die Entwicklung der republikanischen Rechtsgeschichte und -wissenschaft gegeben hat (D. 1,2,2,7). Weber gibt eine kurze Zusammenfassung der hier interessierenden Überlieferung unten, S. 497–501.
Die Trennung von Rechtsfindung und Rechtszwang, welche man oft als Eigentümlichkeit der deutschen Rechtspflege und Quelle [A 9][B 13]der
o
Blatt A 9/ B 13 ist nur zu zwei Dritteln beschrieben.
Machtstellung der Genossenschaften anspricht, war an sich nichts nur Deutsches. Sondern das deutsche Schöffenkolleg trat an [466]die Stelle der alten charismatischen Rechtsprophetie. Das Spezifische an der germanischen Entwicklung ist vielmehr die Erhaltung und die Art der technischen Ausgestaltung dieses Prinzips, und diese steht mit einigen anderen wichtigen Besonderheiten im Zusammenhang. Vor allem mit der ziemlich lange Zeit erhaltenen Bedeutung des „Umstandes“
p
[466] Anführungszeichen in A und B.
, d. h. der Teilnahme der nicht zu den Rechtshonoratioren gehörigen Rechtsgenossen an der Rechtsfindung in der Form, daß die Ratifikation des von den Urteilern gefundenen Rechtsspruchs durch ihre Akklamation als unentbehrlich galt und daß prinzipiell das Recht zur Urteilsschelte einem jeden Rechtsgenossen zustand.
90
[466] Vgl. oben, S. 287–289.
Das erstere: die Beteiligung des Umstandes durch Akklamation, findet sich auch außerhalb des germanischen Rechtsgebietes: man darf annehmen, daß die Schilderung der Prozeßhergänge bei Homer auf dem Schilde des Achilleus Reste davon enthält,
91
So etwa Busolt, Rechtsaltertümer (wie oben, S. 464, Anm. 85), S. 29. Die berühmte Gerichtsszene auf dem Schild des Achilleus schildert Homer, Ilias (im Versmaß der Urschrift übersetzt von W. Ehrental), 2., verb. Aufl. – Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut o. J., XVIII. Gesang, S. 351. – Webers Deutung des Volkes als „Umstand“, d. h. als Gerichtsgemeinde (vgl. auch Weber, Die Stadt, MWG I/22-5, S. 175), steht allerdings eher gegen die seinerzeit herrschende Interpretation der Gerichtsszene, die ein aus den Ältesten zusammengesetztes Schiedsgericht annimmt, dessen Spruch sich die Streitparteien freiwillig unterwerfen; vgl. Lipsius, Das attische Recht (wie oben, S. 464, Anm. 85), S. 3–6, und die Literaturnachweise ebd., S. 4 f., Anm. 7, und S. 6, Anm. 15.
und auch anderwärts (Israel, Prozeß des Jeremia)
q
Fehlt in A.
92
über den Prozeß vgl. Jer 26, 8–19.
finden sich Spuren. Spezifisch ist die Urteilsschelte. Diese reglementierte Teilnahme der Gemeinfreien am Urteil ist aber keineswegs notwendig als etwas Urwüchsiges anzusprechen, sondern sehr wahrscheinlich ein Produkt besonderer, und zwar militärischer Entwicklungen.
[A –][B 14]Von den Mächten, welche
r
Fehlt in A. Die Anfangszeilen des Typoskripttextes sind (inkl. maschinenschriftlicher Pagina) abgeschnitten. Sie setzten vermutlich ursprünglich den Typoskripttext von Blatt A 3/ B 7 (vgl. oben, S. 454–457) fort.
die Säkularisierung des Denkens über das Geltensollende, speziell
s
A: Geltensollende und
seine Emanzipation von der magisch garantierten Tradition, befördern,
t
t–t (bis S. 467: unvermeidlich inhaltlich) A: Tradition befördern. Eine der stärksten von ihnen ist die kriegerische Umwälzung. Das Imperium des Kriegsführers ist unvermeidlich
ist eine der stärksten die kriegerische Umwälzung.
u
In B folgt die Satzanweisung Max Webers: Absatz
[467]Das Imperium des erobernden Kriegsführers ist, mag seine Handhabung auch für alle wichtigen Fälle an die freie Zustimmung seines Heeres gebunden sein[,] unvermeidlich inhaltlich
t
t(ab S. 467: Tradition, befördern, )t Zum Text der Fassung A vgl. oben, S. 466.
sehr umfassend und bezieht sich der Natur der Sache nach ungewöhnlich oft auf die Ordnung
a
[467]A: Regelung
von Verhältnissen, welche in befriedeten Zeiten nur durch offenbarte Norm
b
A: Satzung
hätten geregelt werden können, die aber nun
c
A: jetzt, auf Grund des Sieges,
durch vereinbarte oder oktroyierte Satzung aus dem Nichts zu schaffen sind. Über
d
A: Nicht nur über
Gefangene, Beute und vor allem erobertes Land wird von Kriegsfürst und Kriegsheer
e
A: dem Kriegsherr
verfügt und dadurch werden sowohl
f
Fehlt in A; B: sowohl ; werden sinngemäß ergänzt.
Rechte einzelner wie unter Umständen
g
A: und
geltende Regeln neu geschaffen. Und andrerseits muß der Kriegsfürst
h
A: geschaffen, sondern der Kriegsfürst muß
im Interesse der gemeinsamen Sicherheit auch gegen Disziplinbruch und Anzettelung inneren Unfriedens weit umfassendere Vollmachten haben als ein „Richter“ in Friedenszeiten. Der Bereich des [WuG1 409]Imperium wächst also schon dadurch
i
Fehlt in A.
auf Kosten der Tradition. Und der Umsturz der bestehenden ökonomischen und sozialen Verhältnisse, welche der Krieg bringt, macht es jedem handgreiflich, daß das Gewohnte als solches nicht das schlechthin ewig Geltende und Heilige sein kann. Systematische Feststellungen schon geltenden oder neu gesetzten Rechtes finden sich daher auf den allerverschiedensten Entwicklungsstufen gerade im Anschluß an kriegerische Expansion besonders häufig. Rechtsschöpfung und Rechtsfindung aber zeigen dann
j
A: zeigen
unter dem Einfluß der zwingenden Bedürfnisse der Sicherheit gegen äußere und innere Feinde die Tendenz, rationaler gestaltet zu werden. Vor allem gewinnen auch die verschiedenen möglichen Träger des Rechtsgangs ein neues Verhältnis zu einander. Behält der auf dem Boden des Krieges und der Kriegsbereitschaft entstehende politische Verband dauernd militärischen Charakter, so behält auch
k
A: gewinnt
der Wehrverband als solcher den entscheidenden
l
A: steigenden ; B: solcher 〈〈in Dorf und〉 auf Kosten der 〈Dorfautoritäten〉 Sippen〉 den entscheidenden
Einfluß auf die Schlichtung von Streitigkeiten der ihm
m
A: seiner
Zugehörigen und damit auch auf die Fortentwicklung des Rechts. Das Prestige des Alters und in gewissem Umfang auch das Prestige der Magie pflegen dann
n
Fehlt in A.
zu sinken. Der Ausgleich zwischen dem Imperium des [468]Kriegsfürsten einerseits, den weltlichen oder geistigen Hütern der heiligen Tradition [A 5][B 15]andererseits und endlich den Ansprüchen der Wehrgemeinde, welche der Tradition gegenüber relativ ungebunden dasteht, auch ihrerseits
o
[468] Fehlt in A.
an der Kontrolle der Anordnungen beteiligt zu sein, vollzieht sich mit sehr verschiedenen Resultaten. Die Art der Militärverfassung ist dabei stets sehr wichtig.
p
Fehlt in A.
Die germanische Dinggemeinde des einzelnen Gaues
r
B: des Gerichtsbezirks > des einzelnen Gaues
ebenso wie die große Landesgemeinde des politischen Verbandes sind Aufgebote
q
A: ist die Gemeinde
der wehrhaften und deshalb am Grundbesitz beteiligten Genossen, ebenso wie der römische populus ursprünglich
s
Fehlt in A.
das versammelte[,] in seinen taktischen Gliederungen „angetretene“ Grundbesitzer-Heer ist.
t
A: versammelte Heer ist. In B folgt: 〈Die germanische Landesgemeinde scheint in der Zeit der großen militärischen 〈Umwälzung〉 der großen 〈Wanderzeit〉 Wanderungen sich 〈das Recht〉 die Fähigkeit 〈der Satzung〉 der Satzung von 〈Recht〉 Recht zugeschrieben zu haben, und zwar ohne bindende Mitwirkung d〉
In der Zeit
a
a–a (bis S. 470: der Provokation) Fehlt in A.
der großen Umwälzungen der Völkerwanderung scheint sich die germanische politische Landesgemeinde die Beteiligung an der Schöpfung neuen
b
B: gewillkürten > neuen
Rechts zugeeignet zu haben: – es ist ganz unwahrscheinlich, daß, wie Sohm annimmt, alles gesatzte Recht Königsrecht sei.
93
[468] Weber bezieht sich auf die vor allem von Sohm, Gerichtsverfassung (wie oben, S. 288, Anm. 37), S. 102 ff., bes. 134–138, vertretene Auffassung, wonach die Kapitularien der Könige – die gesatzte Ordnung – neben dem geltenden „Stammesgewohnheitsrecht“ (Volksrecht) zwar ursprünglich nicht wirkliches „Recht“ gewesen seien, sich in karolingischer Zeit aber doch zu einem eigenständigen „Amtsrecht“ des Königtums entwickelt hätten; vgl. auch Sohm, Recht (wie oben, S. 364, Anm. 35), S. 9 f. Gegen Sohm bemerkt dagegen Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 278, wie das Volksrecht sei auch das Königsrecht teilweise Gewohnheitsrecht, teilweise Satzung. Ursprünglich sei allerdings die volksrechtliche Satzung und die bloße Mitwirkung des Königtums gewesen. Und auch später finde der begriffliche Gegensatz zwischen Volksrecht und Königsrecht in der historischen Wirklichkeit keine durchgängige Entsprechung, erführen vielmehr „die Grenzen zwischen Volksrecht und Königsrecht durch die thatsächlichen Verhältnisse mancherlei Trübung“ (ebd., S. 279).
An dieser Art von Satzung scheint vielmehr dem Träger des imperium keinerlei vorwiegender Anteil zugekommen zu sein. Sondern bei den mehr seßhaften Völkern bleibt die Gewalt der charismatischen Rechtsweisen ungebrochener bestehen, bei den durch kriegerische Wanderungen
c
B: Unterwerfungen > Wanderungen
in neue Verhältnisse
d
B: Gebiete > Verhältnisse
überführten (den Franken und Langobarden spezi[469]ell) steigert sich dagegen das Machtgefühl der Wehrgemeinde, welche
e
[469] In B folgt: 〈sich die 〈[??]〉 Initiative zu Rechtssatzungen zuschreibt. 〈und die Macht〉〉
das Recht der aktiven beschließenden Teilnahme an Rechtssatzungen und Urteil in Anspruch nimmt und durchsetzt.
Im frühmittelalterlichen Europa war andrerseits die christliche Kirche mit ihrem Beispiel: der Machtstellung der Bischöfe, überall eine Stütze der Eingriffe
f
B: Ansprüche > Eingriffe
des Fürsten in die Rechtspflege und Rechtssatzung, die sie oft ihrerseits im kirchlichen und ethischen Interesse direkt angeregt hat. Die Kapitularien der Frankenkönige gehen mit der Entwicklung der subtheokratischen Sendgerichte parallel.
94
[469] Parallel zu den königlichen Sendgerichten bestanden zwischen dem 9. und 14. Jahrhundert sog. bischöfliche Sendgerichte. Die häufig zugleich als königliche missi fungierenden geistlichen Würdenträger übten auf ihren jährlichen Visitationsreisen eine geistliche Gerichtsbarkeit in einer ad hoc als Gericht konstituierten Versammlung, dem sog. Send (synodus), aus, und zwar mittels eines aus dem weltlichen Recht rezipierten Verfahrens; vgl. darüber etwa Dove, R[ichard] W[ilhelm], Beiträge zur Geschichte des deutschen Kirchenrechts. I. Die fränkischen Sendgerichte, in: Zeitschrift für Kirchenrecht, Jg. 4, 1864, S. 1–45.
Und in Rußland ist sehr bald nach der Einführung des Christentums, in der zweiten Redaktion der Russkaja Prawda, die in der ersten noch ganz fehlende Ingerenz des Fürsten in Rechtsfindung und Rechtssatzung und sofort auch ein sehr umfangreiches neues materielles Fürstenrecht entwickelt.
95
Vermutlich bezieht sich Weber auf die Resultate, die Leopold Karl Goetz in seinen Studien über „Das russische Recht“ gewonnen hat. Danach steht die im wesentlichen in der Regierungszeit des Fürsten Vladimir (980–1015) verfaßte zweite Redaktion des russischen Rechts (Russkaja Prawda) für den Übergang vom allrussischen Volksrecht der ersten Redaktion zu einem stark christlich geprägten Fürsten- oder Amtsrecht. Hierbei spielten die christliche Mission byzantinischer Bischöfe und der darüber vermittelte Import byzantinischer Kultur, insbesondere Rechtskultur, eine entscheidende Rolle; vgl. Goetz, Leopold Karl, Das russische Recht, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 24, 1910, S. 241–517, hier S. 384, 417, 422 f., 433, 440–443 (hinfort: Goetz, Das russische Recht I); ders., Das russische Recht, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 26, 1911, S. 176–426, hier S. 340 f., 417, 421; ders., Das russische Recht, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 31, 1913, S. 1–222, hier S. 79 f.
Immerhin stieß diese Tendenz des imperium im Occident auf das feste Gefüge der charismatischen und genossenschaftlichen Justiz innerhalb der Wehrgemeinde. Dagegen hat der römische populus, der Entwicklung der Disziplin des Hoplitenheeres entsprechend, nur anzunehmen oder zu verwerfen, was ihm der Träger des imperium vorschlägt, und das sind neben Rechtssatzungen nur Entscheidungen
g
B: Urteile > Entscheidungen
in Kapitalsa[470]chen im Fall der Provokation
h
[470] In B folgt: 〈, und zwar auch nicht als „Urteile“, sondern mehr als „Gnadensachen“〉
.
a
a(ab S. 468: In der Zeit)a Fehlt in A.
In der germanischen Dinggemeinde
i
A: Wehrgemeinde
gehörte zu einem gültigen Urteil die Akklamation des „Umstands“. An den römischen populus dagegen gelangten zunächst lediglich die Gesuche um gnadenweise Cassation magistratischer Kapitalurteile. Der geringeren Entwicklung der militärischen Disziplin entsprach in der germanischen Dingversammlung das Recht aller Einzelnen zur Urteilsschelte:
j
A: ebenso die Akklamation des gesamten Umstands, wie beim römischen populus dessen Zustimmung zu den wichtigsten generellen Anordnungen der Magistrate. Aber das Vorschlagsrecht für solche Anordnungen lag in beiden Fällen nicht in der Hand jedes einzelnen, sondern in der Hand berufener Instanzen. Und erst allmählich entwickelte sich dort die Urteilsschelte, welche stets den eigenen Vorschlag eines richtigeren Urteils einschließt In B zunächst überarbeitet, dann gestrichen: 〈[…] stets den eigenen eventuell durch Gottesurteil zwischen den Dissentierenden zu erprobenden Vorschlag eines richtigeren Urteils einschließt〉
das Charisma der Rechts[WuG1 410]findung ist nicht exklusiv an seine beruflichen Träger gebunden, sondern jeder einzelne Dinggenosse kann im Einzelfall den Versuch machen, durch einen Gegenvorschlag gegen die Urteilsweisung jener
l
B: jenes
sein besseres Wissen zur Geltung zu bringen.
96
[470] Der Gegenvorschlag eines Dinggenossen konnte prinzipiell auch ohne Urteilsschelte erfolgen. In diesem Fall entfiel das Zwischenverfahren zwischen Scheltendem und gescholtenen Urteilsfindern; die Gerichtsgemeinde entschied lediglich zwischen dem einen oder anderen Urteilsvorschlag; vgl. oben, S. 287–289, 466.
Der Austrag kann dann ursprünglich nur durch Gottesurteil zwischen den Vertretern der beiden Vorschläge erfolgen, oft mit Strafsanktionen für den Unterliegenden: denn falsches Urteil ist Frevel gegen die das Recht schützenden Götter. Thatsächlich fiel natürlich stets auch Akklamation oder Murren der Gemeinde (deren Stimme in diesem Sinn „Gottes Stimme“ ist) ins Gewicht.
97
Vgl. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 130: „Über die vor die Landesgemeinde gebrachten Anträge entscheidet das versammelte Volk mit gesammtem Munde, indem es seine Mißbilligung durch Murren, sein Vollwort, seine Zustimmung durch Waffenschlag zu erkennen gibt.“
Der straffen Disziplin der Römer entspricht die ausschließlich magistratische Prozeßinstruktion ebenso wie
k
Fehlt in A.
das ausschließliche Initiativrecht (agere cum populo) der verschiedenen
m
A: und hier das Initiativrecht verschiedener
mit einander konkurrierenden
n
A, B: konkurrierender
Kategorien von Beamten.
o
In A folgt, überklebt mit einem Papierstück, das einen Teil der in B folgenden Passage enthält: Der germanische Urteilsvorschlag ging von rechtskundigen Urteilsfindern aus, welche entweder für die einzelne Verhandlung [471]gewählt wurden (Rachinburgen) oder für Lebenszeit gewählt oder vom Fürsten ernannt wurden (Schöffen). In der allerverschiedensten Art hat sich auch überall sonst die Kombination von Trägern des überlieferten Rechtswissens mit den beamteten Trägern des fürstlichen oder magistratischen Imperium und den von den Interessenten oder von der Dinggemeinde gewählten Trägern der Richterfunktion vollzogen. Wo nicht das Imperium ganz die Oberhand gewann, entstand dabei regelmäßig eine nicht beamtete Schicht von spezifischen Rechtshonoratioren, welche als mehr oder minder maßgebliche Berater die Rechtspflege ähnlich beeinflußten, wie dies die Orakel der Magier und Priester getan hatten. Mit dem wichtigen Unterschied aber, daß dabei vorausgesetzt wurde, sie würden für ihre Urteilsvorschläge oder Gutachten logische Gründe wenn nicht angeben, so doch wenigstens besitzen
Die germanische Scheidung [471]von Rechtsfindung und Rechtszwang ist eine, die römische Concurrenz verschiedner, gegen einander mit dem Intercessionsrecht versehener Beamter und die Verteilung der Prozeßführung zwischen Beamten und judex ist eine andre Form der „Gewaltenteilung“ in der Rechtspflege. Diese war aber vor Allem auch durch die, hier und dort in der geschilderten Art verschieden geordnete, Notwendigkeit des Zusammenwirkens von Beamten, Rechtshonoratioren und Wehr- und Dinggemeinde
q
B: Rechtsgemeinde > Wehr- und Dinggemeinde
garantiert. Darauf beruht die Erhaltung des formalistischen Charakters des Rechts und der Rechtsfindung. Wo es dagegen „amtlichen“ Gewalten, also entweder dem Imperium des Fürsten und seiner Beamten, oder der Macht der Priester als der amtlichen Hüter des Rechts gelungen ist, die selbständigen charismatischen Träger des Rechtswissens einerseits, die Beteiligung der Dinggemeinde oder ihrer Repräsentanten andrerseits gänzlich zu Gunsten ihrer eignen Omnipotenz auszuschalten, da hat die Rechtsbildung früh jenen theokratisch-patrimonialen Charakter angenommen, dessen Consequenzen für die formalen Qualitäten des Rechts wir bald kennen lernen werden.
98
[471] Siehe unten, S. 510 ff., bes. S. 520 ff., und S. 552 ff., bes. S. 560 ff.
Anders, aber im formalen Erfolg für die Rechtsbildung, wie wir sehen werden,
99
Siehe unten, S. 516 f.
ähnlich verlief die Entwicklung da, wo die politisch allmächtig werdende Dinggemeinde, wie etwa in der hellenischen Demokratie, die alten magistratischen und charismatischen Träger der Rechtsfindung ihrerseits gänzlich bei Seite schob und sich selbst als alleinigen souveränen Träger von Rechtssatzung und, namentlich, Rechtsfindung an die Stelle setzte. Wir wollen den Zustand – der namentlich in der germanischen, in schon stark rational verändertem Sinn in der römischen Wehrgemeinde reali[472]siert ist: –, daß
r
[472] In B folgt: 〈die im Verband〉
die Gemeinde der Rechtsgenossen an der Rechtsfindung zwar beteiligt ist, aber die Rechtsfindung nicht souverän beherrscht, sondern nur den Urteilsvorschlag der charismatischen oder amtlichen Träger des Rechtswissens akzeptieren oder verwerfen kann, also auch, zuweilen durch besondre Mittel wie die Urteilsschelte,
s
In B folgt: 〈Versagung der Genehmigung,〉
beeinflussen kann[,] die „dinggenossenschaftliche“ Rechtsfindung nennen. Nicht entscheidend für ihre Existenz ist die Assistenz
t
B: Mitwirkung > Assistenz
der Gemeinde bei der Rechtsfindung überhaupt. Denn diese findet sich sehr verbreitet, z. B. auch bei den Togo-Negern und ebenso bei den Russen zur Zeit der ersten vorchristlichen
a
B: heidnischen > vorchristlichen
Redaktion der Russkaja Prawda. Und es findet sich in beiden Fällen auch ein dem Schöffencolleg entsprechender
b
In B folgt: 〈Ausschuß〉
engerer Kreis von Urteilsfindern (bei den Russen: zwölf)[.]
100
[472] Die afrikanischen Stammesrechte im damaligen Schutzgebiet Togo hat rechtsvergleichend vor allem Asmis untersucht. Den von ihm beschriebenen Gerichtsversammlungen (Palaver) kann jeder zuhören; sie sind zugleich Ort des Rechtsstudiums. Sitz und Stimme haben nur die Gemeindeältesten (Asmis berichtet von 4–12 Beratern), die als Ratgeber und Urteilsfinder des Häuptlings fungieren; dieser führt den Gerichtsvorsitz und kann dem Urteilsvorschlag folgen, sich aber auch gegen ihn entscheiden; vgl. Asmis, Die Stammesrechte des Bezirks Atakpame (Schutzgebiet: Togo), in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 25, 1911, S. 67–130, hier S. 83 ff., 116 f. (hinfort: Asmis, Stammesrechte I); ders., Die Stammesrechte der Bezirke Misahöhe, Anecho und Lome-Land, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 26, 1911, S. 1–132, hier S. 11, 13, 38 ff., 56 f., 71 ff., 75 (hinfort: Asmis, Stammesrechte II). – Die älteste Redaktion des russischen Rechts stammt aus der Zeit vor der Herrschaft des Fürsten Wladimir (980–1015). Als Kodifikation altrussischen Gewohnheitsrechts fällt sie in eine Epoche weitgehend autonomer Verwaltung und Rechtspflege durch die Gemeinden. Es ist darin u. a. die Rede von einem aus „12 Männern“ bestehenden Rechtsfinderkollegium (Russkaja Pravda, I, 19), welches Goetz, Das Russische Recht I (wie oben, S. 469, Anm. 95), S. 418, 423, als „Gemeindegericht“ bezeichnet.
Bei den Togo-Negern stellen diesen die Sippenältesten oder auch die Ortschaftsältesten, und dies dürfte sehr oft der Anfang der Entwicklung eines Urteilsfindergremiums gewesen sein. Eine Beteiligung des Fürsten fehlt in der Russkaja Prawda – wie früher erwähnt
101
Siehe oben, S. 469.
noch
c
Lies: zunächst noch
ganz, bei den Togonegern ist er der Vorsitzende, und das Urteil wird in gemeinsamer – aber hier schon geheimer – Beratung der Ältesten mit ihm gefunden.
102
Dies ergibt sich u. a. aus der Darstellung von Asmis, Stammesrechte II (wie oben, [473]S. 472, Anm. 100), S. 40, 75. Danach „gehen der Häuptling und die Ältesten beiseite, so daß sie von dem Umstand nicht gehört werden können“ (ebd., S. 40; vgl. auch ders., Stammesrechte I (wie oben, S. 472, Anm. 100), S. 84 f.); oder die „Beratung“ zwischen Ältesten und Häuptling wird – für die „versammelte Menge“ nicht erkennbar – über einen Sprecher vermittelt (vgl. ebd., S. 75). Zeigt Asmis schon mit dem zuletzt genannten Fall an, daß die geheime Urteilsberatung von Häuptling und Ältesten nicht ausnahmslos gilt, so gibt er andere Beispiele, in denen sie exklusives Ältestenrecht ist (vgl. ders., Stammesrechte I, S. 116 f.; ders., Stammesrechte II, S. 13, 57).
Was aber in beiden Fällen fehlt, ist die prinzipiell [473]gleichberechtigte Mitwirkung des „Umstandes“ bei der Rechtsfindung unter Wahrung des charismatischen Charakters dieser letzteren. Doch scheint in Afrika und auch sonst etwas Ähnliches gelegentlich vorzukommen. Wo die Beteiligung der Gemeinde als „Umstand“
d
[473]B: Wo 〈〈sie〉 der Umstand〉 die Gemeinde Die Emendation folgt WuG5, S. 455.
besteht, da wird einerseits der formale Charakter des Rechts und der Rechtsfindung weitgehend gewahrt: denn die Rechtsfindung
e
B: das Urteil > die Rechtsfindung
ist nicht Sache des Beliebens oder der Gefühlsemotionen derjenigen, für die das Recht gelten soll
f
Fehlt in B; soll sinngemäß ergänzt.
, denen [WuG1 411]es nicht zu
g
Fehlt in B; zu sinngemäß ergänzt.
„dienen“, sondern die es zu beherrschen prätendiert, sondern Produkt der Offenbarung der Rechtsweisen. Andrerseits steht deren Weisheit, wie jedes echte Charisma, unter dem Zwang, sich durch Überzeugungskraft „bewähren“ zu müssen und kann indirekt, durch diese Notwendigkeit, das „Billigkeits“-Gefühl
h
Bindestrich fehlt in B.
und die Alltagserfahrung der Rechtsgenossen sehr nachhaltig zur Geltung gelangen. Das geformte Recht ist auch dann formell „Juristenrecht“, denn ohne spezifische Sachkunde nimmt es die Form der rationalen Regel nicht an. Aber es ist zugleich materiell „Volksrecht“.
103
Zum Gegensatz von „Volksrecht“ und „Juristenrecht“ vgl. oben, S. 443 f. mit Anm. 29.
Der Epoche „dinggenossenschaftlicher“ Justiz – die übrigens, in ihrem hier gemeinten präzisen Sinne: als eine (verschiedenartig mögliche) Gewaltenteilung zwischen Autorität des Rechtscharisma und Ratifikation der Ding- und Wehrgemeinde[,] keineswegs universelle Verbreitung gehabt hat
i
B: haben muß > hat Index in MWG-Druckfassung irrtümlich als „j“ ausgewiesen; Korrektur in MWG digital.
– dürfen wir wohl mit großer Wahrscheinlichkeit die Entstehung der „Rechtssprichwörter“ zuschreiben. Ihr regelmäßiges Spezificum ist: daß sie die formalen Rechtsnormen zusammen mit einer anschaulich-populären Begründung enthalten, nach Art etwa des Satzes: „Wo
j
B: wo
Du dei[474]nen Glauben gelassen hast, mußt Du ihn suchen“, oder kürzer: „Hand muß Hand wahren“.
104
[474] Zu diesem Rechtssprichwort vgl. oben, S. 291, Anm. 48.
Sie entspringen einerseits der durch die Beteiligung der Gemeinde bedingten Popularität und relativ großen Laienkenntnisse vom Recht, andrerseits ist ihre Formulierung Produkt einzelner, geschult oder dilettantisch über die Maximen häufig wiederkehrender Entscheidungen nachgrübelnder Köpfe, besonders oft sicherlich der Rechtspropheten. Sie sind fragmentarische „Rechtssätze“ in Form von „Parolen“. Ein formell irgendwie entwickeltes „Recht“ dagegen, als Complex bewußter Entscheidungsmaximen, hat es ohne die maßgebende Mitwirkung geschulter Rechtskundiger nie und nirgends gegeben. Ihre Kategorien lernten wir schon kennen.
p
[474] Fehlt in A.
105
Über Rechtsprecher, Gesetzsprecher, Rachimburgen, Schöffen und Priester als „Rechtshonoratioren“ siehe oben, S. 460–465.
Zusammen mit den beamteten Trägern der Rechtspflege bilden die „Rechtshonoratioren“:
l
Doppelpunkt fehlt in B.
Gesetzessprecher, Rachimburgen, Schöffen, eventuell Priester[,] die mit der Rechtsfindung befaßte
k
A: diese Rechtshonoratioren die
Schicht der „Rechtspraktiker“. Mit zunehmenden Ansprüchen der Rechtspflege an Erfahrung und schließlich an fachmäßige Kenntnis treten ihnen die privaten Berater und Sachwalter (Fürsprecher, Advokaten)
m
A: (Anwälte und Fürsprecher)
der Rechtsinteressenten als eine weitere Kategorie von oft für die Rechtsgestaltung durch „Rechtserfindung“ sehr einflußreichen Rechtspraktikern zur Seite,
o
In B folgt: 〈Schon in fränkischer Zeit ist es üblich, daß die Partei einen an der Urteilsfindung Beteiligten als ihren 〈Für〉 „Vorsprecher“ wählte und daß der Richter die Vorsprecher der Parteien um ihre Urteilsvorschläge [ersuchte]. Hier 〈ist〉 war also Urteilsfindung und Anwaltschaft noch nicht geschieden, sondern in ganz naiver Weise ein persönliches 〈ein Patronage-〉 Clientel-Verhältnis 〈zwischen Partei und einem〉 hergestellt zwischen der Partei und einem an der Entscheidung von Amts wegen beteiligten Honoratioren. Die Trennung von Anwaltschaft und Urteilsfindung, „bar“ und „bench“, vollzog sich erst im Lauf des Mittelalters und für die Organisation der ersteren wurde [namentlich] das canonische Prozeßverfahren wichtig. 〈Jene〉 Wir werden davon noch zu reden haben.〉
von deren Entwicklungsbedingungen wir noch zu reden haben werden[.]
106
Siehe unten, S. 476–484.
Der zunehmende Bedarf nach juristischer Fachkenntnis schuf den Berufsanwalt. Diese
n
A: einflußreicher Rechtspraktiker zur Seite. Die
steigenden Ansprüche an Erfahrung und Fachkenntnis der Rechtspraktiker und damit der Anstoß zur Rationalisierung des Rechts im allgemeinen gehen [475]aber fast immer
p
[475] Fehlt in A.
aus von steigender Bedeutung des Güterverkehrs und der[A 6][B 16]jenigen
q
Blatt A 6/ B 16 ist nur mit wenigen Zeilen beschrieben.
Rechtsinteressenten, welche an ihm beteiligt sind. Denn von hier erwachsen
r
A: er schafft
die immer neuen Probleme, für deren Erledigung fachmäßige und d. h. rationale Schulung
s
In A folgt: der Rechtspraktiker
unabweisbares Erfordernis wurde.
t
In A folgt: Maß und Richtung der Rationalisierung aber hing von der Art dieser Schulung und damit von der Eigenart desjenigen Personenkreises ab, in dessen Händen sie lag. In B zunächst überarbeitet, dann gestrichen: 〈Die Entwicklung der 〈Rechtsentw〉 formellen Qualitäten des Rechts aber hing 〈〈von der Art dieser berufsmäßigen Träger〉 von 〈Rechtspraktikern〉 berufsmäßigen Trägern〉 überall zunächst von sozusagen „internen“ juristischen Verhältnissen 〈der Rechtspflege, [??] [??]〉 des Rechts ab, welche darauf den entscheidenden Einfluß ausübten. Zunächst natürlich von der Eigenart derjenigen ihrer berufsmäßigen Träger, in dessen Händen sie lag.〉
Uns gehen hier speziell die Wege und Schicksale der Rationalisierung des Rechts, der Entwicklung seiner heutigen spezifisch „juristischen“ Qualitäten also, an. Wir werden sehen,
107
[475] Gemeint sind die speziell in den §§ 5–8, unten, S. 510 ff., folgenden Ausführungen über den Rationalismus des theokratischen und patrimonialen Rechts, des Naturrechts und des modernen formalen Rechts.
daß ein Recht in verschiedner Art, und keineswegs notwendig in der Richtung der Entfaltung seiner „juristischen“ Qualitäten, rationalisiert werden kann. Die Richtung, in welcher diese formalen Qualitäten sich entwickeln, ist aber bedingt direkt durch so zu sagen „innerjuristische“ Verhältnisse: die Eigenart der Personenkreise, welche auf die Art der Rechtsgestaltung berufsmäßig Einfluß zu nehmen in der Lage sind, und erst indirekt durch die allgemeinen ökonomischen und sozialen Bedingungen. Allen voran steht die Art der Rechtslehre, das heißt hier: der Schulung der Rechtspraktiker.
u
Fehlt in A.

[476][B Db][WuG1 455, Forts.]§ 4. Die Typen des Rechtsdenkens und die Rechtshonoratioren.
a1
[476] Fehlt in a.

Empirische und rationale Rechtslehre:
c
In B folgt: 〈S …〉
Anwaltsschulung und Universitätsschulung
d
B: 〈Englische〉 Anwaltsschulung und 〈continentale〉 Universitätsschulung
[.] S. [476] – Theokratische Rechtsschulung
e
B: 〈Priesterliche〉 Theokratische Rechtsschulung 〈〈und S …〉 des Orients〉
[.] S. [486] – Die
f
B: 〈Empirische Rechtsschulung durch〉 Die
„Rechtsbücher“[.] S. [487] – Die römischen Juristen
g
B: Juristen. 〈S …〉
und die formalen Qualitäten des römischen Rechts. S. [495] –
b
Die Inhaltsübersicht ist links mit eckiger Klammer und Satzanweisung von fremder Hand: Petit versehen.
a2
Fehlt in A.
[A –][B 1]Für
i
In B geht am oberen Blattrand voraus: § [Spatium]. Die Typen des Rechtsdenkens
ia
B: der Rechtsschulung > des Rechtsdenkens
und die Rechtshonoratioren.
ib
B: formellen Qualitäten des Rechts > Rechtshonoratioren
In das Spatium ist von fremder Hand die Ziffer 4 eingefügt.
die
j
B: der
Entwicklung eines
k
In B folgt: 〈rationalen〉
„fachmäßigen“
h
A: Sehen wir zunächst von der Rolle ab, welche reine Privatleistungen einzelner in der Entwicklung des
Rechtslehrgangs und damit auch eines spezifischen Rechtsdenkens
l
A: des Rechtsdenkens zukam, so
gibt es zwei einander entgegengesetzte Möglichkeiten. Entweder: empirische
m
A: Möglichkeiten: Empirische
Lehre des Rechts durch Praktiker, ausschließlich oder doch
n
A: Praktiker ganz allein oder doch ganz
vorwiegend in der Praxis selbst, also „handwerksmäßig“ im Sinn von „empirisch“.
p
B: „empirisch“,
– Oder:
o
A: in diesem Sinn handwerksmäßig, oder
theoretische Lehre des Rechts in besonderen Rechtsschulen und in Gestalt rational systematischer Bearbeitung, also:
q
Doppelpunkt fehlt in A.
„wissenschaftlich“ in diesem rein technischen Sinn. Ein ziemlich reiner Typus der ersten Art von Behandlung war die englische zunftmäßige Rechtslehre durch die Anwälte.
r
In A folgt: Nur wer die Lehrzeit beim Anwalt durchgemacht hatte, innerhalb deren allerdings auch schulmäßiger Unterricht sich fand, also eine Analogie etwa der obligatorischen Lehrlingsschulen im Handwerk, wurde nach zünftigem Befähigungsnachweis zur Barre zugelassen. Nur aus der Zahl dieser durch die Zunft zugelassenen Anwälte gingen die Richter hervor. In B zunächst fortgesetzt, dann die gesamte Passage gestrichen: 〈Der englische „advocate“ war dabei [dem] subalternen Betrieb des unmittelbaren Parteiinteresses entrückt: die Herbeischaffung des Thatsachenmaterials und alles rein Technische besorgt für die Partei privatim ihr „solicitor“. Der „advocate“ dagegen war der Rechtshonoratiore, der für sie bei Gericht eintritt, indem er sich auf die Herauspräparierung des für die Entscheidung rechtlich Relevanten beschränkt. So hat er hinlänglich Distanz gegenüber dem bloßen Stoff, um ihm souverän gegenüberzustehen.〉
Das Mittelalter schied scharf den „Fürsprecher“ vom „Anwalt“.
1
[476] Hier stützt sich Weber im Folgenden vermutlich stark auf Brunner, Heinrich, Die [477]Zulässigkeit der Anwaltschaft im französischen, normannischen und englischen Rechte des Mittelalters, in: ders., Forschungen, S. 389–443 (hinfort, Brunner, Zulässigkeit), sowie Brunner, Wort und Form (wie oben, S. 447, Anm. 34), S. 357–362.
Ersterer ent[477]sprang den Eigentümlichkeiten des dinggenossenschaftlichen Prozesses, letzterer trat mit der Rationalisierung des Prozeßverfahrens in den
t
[477] In B folgt: 〈Königs〉
fürstlichen Gerichten mit Jury-Verfahren und Beweiskraft der Protokolle (Records) auf.
2
Zu den königlichen Prozeßreformen, speziell zur englischen Jury, vgl. oben, S. 449–451, und unten, S. 556–559.
Namentlich in der Geschichte des französischen Prozesses tritt der Wortformalismus als Quelle des „Fürsprecher“-Instituts im Zusammenhang mit der strengen Verhandlungsmaxime des dinggenossenschaftlichen Prozesses deutlich hervor.
3
Für den Ausgang des Prozesses war die „richtige“ Verwendung und Aussprache prozessualer Formeln entscheidend, weshalb Spezialisten (Vor- bzw. Fürsprecher) vor Gericht buchstäblich als „Sprachrohr“ der Parteien fungierten; vgl. dazu bes. Brunner, Wort und Form (wie oben, S. 447, Anm. 34), S. 260 ff., bes. 266–285.
Der Grundsatz: „Fautes valent exploits“,
4
Gemeint ist der im altfranzösischen Prozeßrecht geltende Grundsatz, daß formwidrige Prozeßhandlungen nicht wiederholbar oder heilbar waren. Diese von Brunner vorgeschlagene Deutung, der Weber folgt, war in der zeitgenössischen französischen Rechtsgeschichte allerdings umstritten; vgl. Brunner, Wort und Form (wie oben, S. 447, Anm. 34), S. 275 f., und die ebd., S. 275, Anm. 1, angegebene Literatur.
und die strenge Gebundenheit der Parteien selbst sowohl wie der Urteiler an das einmal ausgesprochene rechtsförmliche Wort nötigten den Laien zur Zuziehung eines „avantparlier“, „prolocutor“, der aus dem Kreise der Urteiler der Partei
a
B: Partei,
vom Richter auf Antrag beigegeben wurde, um statt ihrer und in ihrem Namen die für den Fortgang des Rechtsgangs erforderlichen Worte „vorzusprechen“,
5
Neben den im Text erwähnten „prolocutor“ und „avantparlier“ nennt Brunner, Wort und Form (wie oben, S. 447, Anm. 34), S. 358, weitere quellenübliche Bezeichnungen für den „Vorsprecher“. Im allgemeinen war seine Bestellung freiwillig, doch kam gelegentlich auch Vorsprecherzwang vor; vgl. dazu ebd., S. 361, und Brunner, Zulässigkeit (wie oben, S. 476 f., Anm. 1), S. 389.
wodurch zugleich die Partei – da sie nicht selbst gesprochen hatte – als Vorteil u. a. die Möglichkeit der „Wandelung“ (amendement)
6
Zum „droit d’amendement“, dem Recht der „Erholung und Wandelung“ des vom Vorsprecher „missegesprochenen“ Wortes, das den Grundsatz der Unwandelbarkeit des eigenen Wortes abschwächte, vgl. Brunner, Wort und Form (wie oben, S. 447, Anm. 34), S. 362–384; ders., Deutsche Rechtsgeschichte II, S. 350.
begangener Versehen gewann. Der Vorsprecher (counsel) steht ursprünglich neben der Partei vor Gericht. Er ist dadurch vom „Anwalt“ [478](avoué, solicitor, attorney, procurator)
7
[478] Die in französischen und englischen Rechtsquellen den „Anwalt“ als Prozeßführer vom „Vorsprecher“ unterscheidenden Ausdrücke listet Brunner, Zulässigkeit (wie oben, S. 476 f., Anm. 1), S. 390, auf.
durchaus geschieden;
b
[478]B: geschieden; da 〈sie, zunächst,〉
dieser übernimmt für die Partei den technischen Betrieb der Prozeßvorbereitung und der Herbeischaffung der Beweismittel[.]
c
In B folgt: besorgt 〈und später auch ihre „Vertretung“ übernimmt.〉
Er konnte in dieser Art erst funktionieren, nachdem der Prozeß weitgehend rationalisiert war[.] Ein „Anwalt“ in der heutigen Funktion
d
B: Funktion, als 〈der〉
war
e
Fehlt in B; war sinngemäß ergänzt.
ursprünglich im Prozeß gar nicht möglich. Als
f
Fehlt in B; Als sinngemäß ergänzt.
„Vertreter“ der Partei konnte er erst auftreten, nachdem die königlichen Prozeßrechte in England und Frankreich die Prozeßvertretung ermöglicht hatten,
8
Vor allem die Prozeßreformen Heinrichs II. in England und Ludwigs IX. in Frankreich (vgl. unten, S. 585 f.) bereiteten der prozessualen Stellvertretung und damit der Zulässigkeit der Anwaltschaft den Weg; vgl. dazu Brunner, Zulässigkeit (wie oben, S. 476 f., Anm. 1), S. 395 f.
und seine Bestellung beruht in aller Regel zunächst auf speziellem Privileg. Der Vorsprecher war durch seine Stellung nicht gehindert, bei der Urteilsfindung mitzuwirken; ja, um einen Urteilsvorschlag machen zu können, muß er sogar den Urteilern mit angehören.
9
Dies kennzeichnet zumindest die übliche Praxis in den deutschen Volksrechten; vgl. vor allem Brunner, Zulässigkeit (wie oben, S. 476 f., Anm. 1), S. 390; ders., Deutsche Rechtsgeschichte II, S. 351. Im altfranzösischen Recht ist nach Brunner dagegen die Teilnahme des Vorsprechers an der Urteilsfindung formal unzulässig gewesen und nur durch einen prozeßtechnischen „Trick“ (scheinbare Vorsprecher-Tätigkeit eines anderen) auch hier geübt worden (vgl. ders., Wort und Form (wie oben, S. 447, Anm. 34), S. 360 f.).
Der „Anwalt“ dagegen ist Parteivertreter und nichts als dies. Die Anwälte rekrutierten sich in England in den
g
In B folgt: 〈entstehenden〉
königlichen Gerichten ursprünglich fast ganz aus den einzigen Schreibkundigen: den Clerikern, zu deren Haupterwerbsquelle diese Thätigkeit gehörte. Die Interessen des Kirchendienstes einerseits, die steigende Rechtsbildung der vornehmen Laien andrerseits führten zum steigenden Ausschluß der Cleriker vom Anwaltsberuf und dem Zusammenschluß der Laienanwälte in den vier Zünften der „Inns of Court“,
10
Die Common Law-Lehrer schlossen sich im 14. Jahrhundert zu den bekannten Londoner Advokateninnungen („inns of court“): Inner Temple, Middle Temple, LincoIn’s Inn und Gray’s Inn zusammen. Gemeinsam mit den „inns of chancery“ suchten sie gegen die Universitäten einen eigenen juristischen Ausbildungsgang zu etablieren., [479]der allerdings nach Erreichen des Monopols wieder verfiel. Die inns waren seither Zünfte der ausschließlich vor Gericht verhandelnden „barristers“ (at law), während die den Verkehr mit den Parteien und die Prozeßvorbereitungen besorgenden „solicitors“ ihre eigene Ausbildung und Organisation hatten; vgl. Holdsworth, W[illiam] S[earle], The Legal Profession in the Fourteenth and Fifteenth Centuries I, in: The Law Quarterly Review, Vol. 23, 1907, S. 448–460, hier S. 456 ff.; ders., The Legal Profession in the Fourteenth and Fifteenth Centuries II, in: The Law Quarterly Review, Vol. 24, 1908, S. 172–183.
mit der ausgesprochenen Tendenz [479]zur Monopolisierung der richterlichen und Rechtskunde er[WuG1 456]fordernden Beamtenstellen, welche tatsächlich im 15[.]/16[.] Jahrhundert durchgesetzt wurde. Da die alten „prolocutores“ mit dem rationalen Prozeßverfahren fortgefallen waren, so bestanden
h
[479]B: bestand
jetzt die vornehmen Rechtshonoratioren der „counsels“, „advocates“ aus „Anwälten“. Aber der zur Parteivertretung von den Königsgerichten zugelassene Anwalt übernahm viele
i
B: die > viele
Züge der alten Stellung des Vorsprechers. Er unterlag der strengsten ständischen Etikette. Die technischen Betriebsdienste lehnte er ab, schließlich den persönlichen Verkehr mit der Partei überhaupt, die er nie zu sehen bekam. Der „Betrieb“ lag in den Händen der „attorneys“ und „solicitors“, einer
j
In B folgt: 〈reinen Erwerbsklasse von Berufs〉
berufsmäßigen unzünftigen Schicht von Erwerbsgeschäftsleuten ohne zünftige juristische Bildung, welche mit den „advocates“ verkehren, den status causae soweit vorbereiteten, daß der erstere sie juristisch vor Gericht vertreten konnte.
11
Als selbständige Berufsgruppe traten die „solicitors“ unter dem Namen „attorney“ (im Gegensatz zu den „countors“, späteren „barristers“) bereits am Ende des 13. Jahrhunderts auf. Unter der Bezeichnung „solicitor“ wurden sie erstmals erwähnt in einer Act von 1605 (3 Jac. I. c. 7) als Parteivertreter bei den Equity-Gerichten, während sie bei den Common Law-Gerichten weiterhin „attorney“ hießen. Die Unterscheidung verlor sich im Laufe der Zeit; umgekehrt wurde jetzt die zwischen „solicitor“ und „barrister“ bedeutsam; vgl. dazu Hatschek, Englisches Staatsrecht II, S. 178 f.; Pollock/Maitland, English Law I, S. 211–217.
Die wirklich praktizierenden advocates lebten, genossenschaftlich zusammengeschlossen, in den Zunfthäusern gemeinsam; die Richter gingen ausschließlich aus ihrer Mitte hervor und setzten die Lebensgemeinschaft mit ihnen fort. „Bar“ und „bench“ waren zwei Funktionsformen des geschlossenen Juristenstandes,
12
„Bar“ (Gerichtsschranke) steht für die (plädierende) Anwaltschaft, „bench“ für die Richterbank, also: Richterschaft. Beide rekrutieren sich aus dem „geschlossenen Juristenstand“ (Max Weber), den die „inns of court“ repräsentieren.
der sich sehr stark[,] im Mittelalter vorwiegend, aus Adligen rekrutierte, zunehmend autonom die Aufnahme in die Zunft
k
B: rekrutierte, 〈regulierte〉 zunehmend autonom die Aufnahme in die Zunft,
regelte – vierjähriges [480]Noviziat, verbunden mit Unterricht an den Innungsschulen, dann „Berufung zur Barre“, die das Recht des Plaidierens gab,
13
[480] Das „call to the bar“ bedeutet die Zulassung zur gerichtsplädierenden Barristerschaft nach bestandenen Prüfungen und ordnungsgemäßer Absolvierung der durch die inns vorgeschriebenen Ausbildung. Die für die students obligatorische Teilnahme an den Mahlzeiten während zwölf terms – Reminiszenz an den zünftigen Ursprung der Ausbildung – beinhaltete allerdings, anders als Weber vermutlich im Anschluß an Hatschek, Englisches Staatsrecht II, S. 178, meint, nicht eine vierjährige, sondern eine dreijährige Mindestvorbereitungszeit. Den Irrtum Hatscheks führt Gerland auf die Verwechslung von Studien- (vier pro Jahr) und Gerichtsterms (drei pro Jahr) zurück (vgl. Gerland, Heinrich B[althasar], Die englische Gerichtsverfassung, in zwei Halbbänden. – Leipzig: G. J. Göschen 1910, hier Halbband 2, S. 938, Anm. 5; hinfort: Gerland, Die englische Gerichtsverfassung). So auch Heymann, Überblick, S. 295: Verleihung der Barristerwürde nach Abschluß des Trienniums.
im Übrigen rein praktische Schulung – und auf Innehaltung der Etikette (Minimalhonorar, durchaus freiwillig und unklagbar) hielt. Die Vorlesungen der Innungsschulen waren lediglich Produkt des Concurrenzkampfs gegen den Universitätsunterricht: sobald das Monopol erreicht war, begannen sie abzusterben und hörten schließlich ganz auf. Seitdem war die Vorbildung rein praktisch-empirisch und führte, wie in den gewerblichen Zünften, zu weitgehender Spezialisierung.
s
[480] Fehlt in A.
Diese Art der Rechtslehre produzierte
l
A: produziert
naturgemäß eine formalistische, an Präjudizien und Analogien gebundene Behandlung des Rechts. Schon die handwerksmäßige Spezialisierung der Anwälte hinderte den systematischen Überblick über die Gesammtheit des Rechtsstoffes[.] Die Rechtspraxis
n
B: Anwaltspraxis > Rechtspraxis
erstrebte aber auch an sich nicht rationale Systematik, sondern
m
A: Sie ging nicht auf rationale Systematik, sondern auf
die Schaffung von praktisch brauchbaren, an typisch wiederkehrenden Einzelbedürfnissen der Rechtsinteressenten orientierten Schemata von Kontrakten und Klagen. Sie erzeugte daher das, was man auf römischem Boden „Cautelarjurisprudenz“ nannte. Ferner z. B.
o
A: Klagen aus. Sie erzeugt das, was man auf römischem Boden Cautelarjurisprudenz nannte, ferner
die Verwendung von prozessualen Fiktionen, welche die Einordnung und Aburteilung neuer Fälle nach dem Schema schon bekannter erleichterte
p
A: erleichtert
und ähnliche praktische Manipulationen. Aus
q
A: Dagegen geht aus
den ihr immanenten Entwicklungsmotiven geht ein rational systematisiertes Recht
r
A: ein rationales Recht in systematischer Form
nicht hervor. Auch nur in begrenz[481]tem Sinn eine Rationalisierung des Rechts überhaupt. Denn die Begriffe, die sie bildete, waren
s
[481]A: Rechts. Die Begriffe, die sie bildet, sind
an handfesten, greifbaren, der Alltagserfahrung anschaulich geläufigen und in diesem Sinn formalen
t
Fehlt in A.
Tatbeständen orientiert, welche sie thunlichst nach äußeren eindeutigen Merkmalen gegeneinander abgrenzte und
a
Fehlt in A.
durch die vorhin
b
Fehlt in A.
erwähnten Mittel nach Bedarf erweiterte.
c
A: erweitert.
Nicht aber waren
d
A: sind
sie Allgemeinbegriffe, welche durch Abstraktion vom Anschaulichen, durch logische Sinndeutung, durch Generalisierung und Subsumtion gebildet und syllogistisch als Normen angewendet wurden.
e
A: werden.
Der rein empirische Betrieb der Rechtspraxis und der Rechtslehre
g
B: des Rechts > der Rechtspraxis und der Rechtslehre
schließt immer nur vom Einzelnen auf das Einzelne und strebt nie vom Einzelnen zu allgemeinen Sätzen
h
B: zum Allgemeinen > zu allgemeinen Sätzen
, um dann aus diesen die Einzelentscheidung deduzieren zu können. Vielmehr ist er einerseits an das Wort gebannt, welches er nach allen Seiten wendet, deutet, dehnt, um es dem Bedürfnis anzupassen, andrerseits[,] soweit dies nicht ausreicht, auf die „Analogie“ oder technische Fiktionen verwiesen.
f
Fehlt in A.
Waren
i
A: Sind
einmal die von den praktischen Bedürfnissen der Rechtsinteressenten geforderten Kontrakt- und Klageschemata in hinlänglicher Elastizität geschaffen, so konnte daher
j
A: geschaffen, so kann
das offiziell geltende Recht einen hochgradig archaischen Charakter bewahren und die stärksten ökonomischen [A 2][B –]Wandlungen formell unverändert überdauern.
k
In A folgt: Eine rationale Rechtstheorie aber entsteht aus diesem Zustand heraus an sich überhaupt nicht.
Die archaische Casuistik des Seisinerechts z. B., heimisch in den Bedingungen der Hufenverfassung und Grundherrschaft der Nor[WuG1 457]mannenzeit, hatte sich bis an die Schwelle der Gegenwart mit, theoretisch betrachtet, zuweilen
l
Fehlt in A.
ganz grotesken Konsequenzen in den Siedlungsgebieten der amerikanischen Zentralstaaten behauptet.
14
[481] Das von Weber angesprochene mittelalterlich-feudale Seisinerecht war ein Besitzrecht, das zumindest bis zum 15. Jahrhundert für bewegliche Sachen und Land gleichermaßen galt. „[T]he further back we trace our legal history the more perfectly equivalent do the two words seisin and possession become“, sagt Maitland, F[rederic] W[illiam], The Mystery of Seisin, in: The Law Quarterly Review, Vol. 2, 1886, S. 481–496, Zitat S. 481. Gerade wegen seiner Herkunft aus der englischen Feudalverfassung wurde es allerdings von den Vereinigten Staaten nur teilweise, besonders in einigen Erbrechtsinstituten, und auch nicht in allen Bundesstaaten gleichmäßig rezipiert. Ent[482]sprechend differenziert fiel das Urteil der zeitgenössischen Kommentatoren über Theorie und Praxis des Seisinerechts in den Vereinigten Staaten aus; vgl. etwa Tiffany, Herbert Thorndike, A Treatise on the Modern Law of Real Property and Other Interests in Land, 2 vols. (in one). – Chicago: Callaghan and Co. 1912, S. 31 mit Anm. 36, und S. 422 f., 486 ff.; Kent, James, Commentaries on American Law, ed. by Oliver W. Holmes, Jr., Vol. 4, 12. ed. – Boston: Little, Brown and Co. 1873, S. 383 f.; Bordwell, Percy, Seisin and Disseisin, in: Harvard Law Review, Vol. 34, 1920/21, S. 592–626; 717–740, hier S. 730 ff.
Eine rationale Rechts[482]schulung und Rechtstheorie aber entsteht aus diesem Zustand heraus an sich überhaupt nicht. Denn wo
m
A: Wo
die Rechtspraktiker, speziell die Anwälte, als Träger der Rechtslehre und des zünftigen Monopols der Zulassung zur Rechtspraxis sich behaupten, pflegt für die Stabilisierung des offiziellen Rechts, die Fortbildung seiner Anwendung nur ausschließlich auf empirischem Wege
n
[482]A: Rechts
und die Verhinderung seiner legislatorischen oder wissenschaftlichen
o
Fehlt in A.
Rationalisierung auch ein ökonomisches Moment sehr stark ins Gewicht zu fallen: ihr Sportelinteresse. Jeder Eingriff in die überkommenen Formen des Rechtsgangs und damit in den Zustand, daß die
p
A: die Überlassenheit der
Anpassung der Kontrakts- und Klageschemata an die formellen Normen einerseits, die Bedürfnisse der Interessenten andrerseits den Praktikern überlassen ist, bedroht deren materielle Interessen. Es war
q
A: Praktiker bedroht solche Interessen. Es ist
z. B. den englischen Rechtspraktikern, speziell der Anwaltschaft, in starkem Maße gelungen, eine systematisch rationale
s
B: rationaler
Rechtsschöpfung ebenso hintanzuhalten wie eine rationale Rechtsschulung nach Art unsrer Universitäten, und das Verhältnis zwischen „bar“ und „bench“ ist in den angelsächsischen Ländern noch heute radikal anders wie etwa bei uns. Insbesondere lag und liegt
r
A: die Stabilität des Rechts und den Ausschluß rationaler Rechtsschöpfung hintanzuhalten, und auch
die Auslegung neuer Rechtsschöpfungen
t
In A, B folgt: lag
in den Händen von Richtern, die aus der Mitte der „bar“
a
A: Anwaltschaft ; B: „bench“ > „bar“
hervorgingen. Der englische Gesetzgeber mußte und
b
Fehlt in A.
muß sich daher noch heute bei jedem neuen Gesetz speziell bemühen, ausdrücklich allerhand mögliche „Konstruktionen“ der Rechtspraktiker auszuschließen, welche, wie dies immer wieder geschah, seinen Intentionen direkt zuwider laufen können.
15
Entsprechend der „Amendment“-Natur des englischen Statute Law (vgl. oben, S. 457), welches das Common Law lediglich ergänzen oder abändern soll, muß der [483]Gesetzgeber, was er ergänzen oder abändern will, genau bezeichnen. Seiner Ergänzungs- oder Abänderungsintention sucht er durch Interpretationsregeln Ausdruck zu verleihen, die der jeweiligen act eigens beigefügt werden; vgl. hierzu Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 121–140.
Diese sozusagen intern und teilweise [483]ökonomisch, im übrigen aber
c
A: zuwider laufen. Diese sozusagen innerjuristische, sehr stark ökonomisch, im übrigen
durch den Traditionalismus des Betriebspraktikers bedingte Tendenz hat die allererheblichsten praktischen Folgen gehabt. Das Fehlen des Grundbuchs z. B. und damit des rationalen Hypothekarkredits war durch ökonomische Anwaltsinteressen an den Sporteln, welche die bei der bestehenden Rechtsunsicherheit unumgängliche
d
[483]A, B: unumgänglichen
Prüfung der Besitztitel einbrachte,
16
Erst die sog. Land Transfer Act von 1897 (60 & 61 Vict. c. 65) brachte – nach Ansätzen zu Anfang des 16., in der 2. Hälfte des 17. und im frühen 18. Jahrhundert – die Einführung eines Grundbuchsystems. Doch war dies zunächst nur auf die Grafschaft London beschränkt; die Eintragung blieb fakultativ, verlieh allerdings nach 40 Jahren unangefochtenen Besitzes einen absoluten Titel. Solange aber mußten bei Eigentumsübertragung oder -beleihung die üblichen Titelnachweise („investigation of title“) geführt werden; vgl. Heymann, Überblick, S. 321 f., und Hatschek, Englisches Staatsrecht II, S. 404.
sehr wesentlich mitbedingt und hat die Grundbesitzverteilung Englands und speziell die Art der Gestaltung der Pacht („joint business“)
e
Fehlt in A.
17
Über diese Pachtform bemerkt Erwin Nasse, Agrarische und landwirthschaftliche Zustände in England, in: Freiherr von Reitzenstein, F[riedrich] und Nasse, Erwin, Agrarische Zustände in Frankreich und England. Auf Grund der neueren Enqueten dargestellt (Schriften des Vereins für Socialpolitik, Band 27). – Leipzig: Duncker & Humblot 1884, S. 126–217, hier S. 138: „Denn in England beschränkt sich herkömmlicher Weise der Grundeigenthümer nicht auf Verpachtung seines Landes und Einziehen des Pachtzinses, sondern befindet sich […] gewissermaßen in einer Art von Erwerbsgesellschaft (joint business) mit seinen Pächtern.“ – Weber hatte bereits in: Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 324, Webers Fn. 60, die Beziehung des spätrömischen colonus zu seinem Gutsherren mit dem „joint business“ als erwerbsartigem „Gemeinschaftsverhältnis des Herrn mit seinem Pächter“ in England verglichen.
tiefgreifend beeinflußt. In Deutschland fehlte ein derart ständisch abgegrenzter und zünftig organisierter Anwaltstand. Es fehlte sehr lange selbst der Anwaltszwang, der übrigens auch in Frankreich nicht bestand.
18
Gemeint ist i.e.S. – wie das Folgende ergibt – das Fehlen des Vorsprecherzwangs im altdeutschen und altfranzösischen Prozeßrecht. Weber stützt sich hier vermutlich auf Brunner, der dies in: Wort und Form (wie oben, S. 447, Anm. 34), S. 361, mit Ausnahme der Kreuzfahrerstaaten für das altfranzösische Recht und in: Zulässigkeit (wie oben, S. 476 f., Anm. 1), S. 389, mit Ausnahme einiger Volksrechte auch für das deutsche Prozeßrecht feststellt. Die zumindest für die Frühzeit des Instituts noch heute vertretene Auffassung war seinerzeit umstritten. So nehmen etwa Heinrich Siegel und Adolf Weißler generell Vorsprecherzwang an, der nur ausnahmsweise (z. B. im Sachsenspiegel und bayerischen Volksrecht) nicht bestanden habe (vgl. Siegel, Heinrich, Erholung und Wandelung im gerichtlichen Verfahren (Sonderdruck aus: Sitzungsbe[484]richte der phil.-hist. Classe der kais. Akademie der Wissenschaften, Band 42). – Wien: K.K. Hof- und Staatsdruckerei 1863, S. 6–8, Anm. 5; Weißler, Adolf, Geschichte der Rechtsanwaltschaft. – Leipzig: C.E.Μ. Pfeffer 1905, S. 32 f.).
Der Formalismus [484]der dinggenossenschaftlichen Prozedur hatte allerdings auch hier die Patronage durch „Fürsprecher“ und eine Regulierung von deren Pflichten zu einem universellen Bedürfnis werden lassen, dessen ausdrückliche Regelung sich übrigens zuerst in Baiern 1340
g
[484]B: 1330 Zur Emendation vgl. Anm. 19.
fand.
19
Gemeint ist wohl eine Instruktion Kaiser Ludwigs aus dem Jahre 1340, welche die bayerischen Gerichtsverwaltungen zur förmlichen Anstellung von Fürsprechern anwies; Wortlaut der Instruktion in: Monumenta Wittelsbacensia, Urkundenbuch zur Geschichte des Hauses Wittelsbach, Abt. II: Von 1293 bis 1397 (Quellen und Erörterungen zur Bayerischen und Deutschen Geschichte, hg. von der Kommission zur Herausgabe Bayerischer und Deutscher Quellenschriften), hg. von Franz Michael Wittmann. – München: Franz 1861 [ND Aalen: Scientia Verlag 1969], S. 358–361, hier S. 360 f. Die Fürsprecher waren in ihrer Berufsausübung bis zu einer ändernden Regelung der Landordnung von 1474 an ein bestimmtes Gericht gebunden (Lokalisierungszwang); vgl. dazu Rosenthal, Gerichtswesen, Band 1, S. 87.
Aber die Scheidung von Vorsprecher und Anwalt ist hier früh erreicht worden[,] wesentlich unter dem Einfluß des Eindringens des römischen Rechts.
20
Gemeint ist jener Prozeß, in dessen Verlauf, insbesondere durch die Errichtung des Reichskammergerichts (1495) und der nach seinem Vorbild organisierten Obergerichte, die romanistisch-kanonistische Unterscheidung von Advokatur und Prokuratur als Prozeßvertretungsformen rezipiert wurde. Damit einher ging freilich in den deutschen Rechtsquellen die allmähliche terminologische Konfundierung von „Fürsprecher“, „Prokurator“ und „Anwalt“ gegenüber dem „Advokaten“; vgl. hierzu Brunner, Zulässigkeit (wie oben, S. 476 f., Anm. 1), S. 390 f. Die interne Arbeitsteilung sah für den „Prokurator“ die prozessualischen Handlungen vor Gericht, für den „Advokaten“ die Erstellung von Schriftsätzen und die Parteienberatung vor. Die Trennung der Aufgabenbereiche verlor jedoch schon im Laufe des 16. Jahrhunderts an Verbindlichkeit und war später praktisch bedeutungslos.
Anforderungen an die Vorbildung der Anwälte finden sich erst spät, regelmäßig erst auf Beschwerden der Stände hin, in einer Zeit[,] als schon die römisch-rechtliche Universitätsbildung den Standard des vornehmen Rechtspraktikers bestimmte, und bei der Decentralisation der Rechtspflege konnte eine machtvolle Zunft gar nicht entstehen. Fürstliche Reglements, nicht Autonomie[,] bestimmten die Stellung der Anwälte.
f
Fehlt in A.
Den reinsten Typus der zweiten Art von Schulung des Rechtsdenkens stellt die moderne rationale juristische Universitätsbildung dar. Wo
h
A: Da
nur derjenige zur Rechtspraxis zugelassen ist, welcher sie absolviert, besitzt sie
i
A: sie, wo sie besteht,
das Monopol der Rechtslehre. Da sie heute [A 3][B –]durchweg durch Lehrjahre in der Praxis und daran an[485]schließenden nochmaligen
j
A, B: anschließendem nochmaligem
Befähigungsnachweis ergänzt wird – nur in den Hansestädten hatte sich in Deutschland der bloße Doktorgrad als Anwaltsqualifikation bis vor kurzem erhalten
21
[485] In den Norddeutschen Hansestädten (Bremen, Hamburg und Lübeck) reicht bis 1867 die Promotion zum Doctor iuris aus, um als Anwalt zugelassen zu werden. An die Stelle der Promotion trat 1869 eine obligatorische staatliche Prüfung vor dem Oberappellationsgericht Lübeck im unmittelbaren Anschluß an das Universitätsstudium. Erst die reichseinheitliche Regelung der Juristenausbildung durch die Rechtsanwaltsordnung von 1879 im Rahmen der sog. Reichsjustizgesetze führte den mehrjährigen praktischen Vorbereitungsdienst mit abschließendem zweiten Staatsexamen ein; vgl. Seelig, Geert, Die Reichsjustizgesetze und die Hanseatischen Anwälte, in: Hanseatische Rechts- und Gerichts-Zeitschrift, Band 12, 1929, Sp. 494–498, hier Sp. 496 f.
[,] so ist sie jetzt
k
[485]A: heute
überall mit der empirischen Rechtslehre kombiniert. Die Begriffe, welche sie bildet, haben den Charakter abstrakter Normen, welche, dem Prinzip nach wenigstens, streng formal und rational durch logische Sinndeutung gebildet und gegeneinander abgegrenzt
l
In A folgt: und angewendet
werden. Ihr rational-systematischer Charakter kann das Rechtsdenken zu einer weitgehenden Emanzipation [WuG1 458]von den Alltagsbedürfnissen der Rechtsinteressenten führen und auch
m
Lies: ebenso
der geringe Anschaulichkeitsgehalt. Die Gewalt der entfesselten
n
A: Anschaulichkeitsgehalt und die Gewalt
rein logischen
o
A, B: logischer
Bedürfnisse der Rechtslehre und der durch sie beherrschten Rechtspraxis kann die Konsequenz haben, daß
p
In A folgt: jene
Interessentenbedürfnisse als treibende Kraft für die Gestaltung des Rechts weitgehend gradezu
q
Fehlt in A.
ausgeschaltet werden. Es hat z. B. bekanntlich immerhin erheblicher Anstrengungen bedurft, um die Übernahme des aus den sozialen Machtverhältnissen der Antike übernommenen Satzes: daß Kauf Miete und Pacht bricht, in das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch zu hindern, zu dessen Bestandteil eine rein logische Konsequenzmacherei ihn werden lassen wollte.
22
Der Satz „Kauf bricht Miete (Pacht)“ spiegelt die Wohn- und sozialen Machtverhältnisse der spätrömischen Republik und des Kaiserreichs wie – in anderer Art – der entstehenden Industriestädte Deutschlands während des 19. Jahrhunderts (Interessenschutz der wirtschaftlich überlegenen Vermieter-(Verpächter-)klasse). Um seine Aufnahme ins Bürgerliche Gesetzbuch gab es erbitterte Auseinandersetzungen, in denen sich freilich am Ende die Gegenansicht („Kauf bricht nicht Miete“, § 571 BGB) durchsetzte. Noch der Entwurf zum Bürgerlichen Gesetzbuch gibt dem Mieter keinen Schutz für den Fall einer Veräußerung der Mietsache, nach dem Grundsatz „Kauf bricht Miete (Pacht)“; vgl. dazu: Zusammenstellung der gutachtlichen Äußerungen zu dem Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs, gefertigt im Reichs-Justizamt, Band 2: Äußerungen zum Recht der Schuldverhältnisse. – Berlin: Norddeutsche Buchdrucke[486]rei und Verlagsanstalt 1890, S. 244–264, und die ebd., S. 244, 246–248, angegebene Literatur.
[486]Eine eigentümliche Sonderform rationaler und doch nicht juristisch formaler Rechtslehre wird im reinsten Typus
r
[486]A: Die Übergangsformen zwischen der rationalen und der empirischen Rechtslehre wurden dargestellt durch eine ganze Reihe verschiedenartiger Gestaltungen. Zunächst
durch die Rechtslehre der Priesterschulen oder der an Priesterschulen angeschlossenen Rechtsschulen dargestellt. Wir werden sehen,
23
Siehe unten, S. 520 ff.
daß ein Teil dieser Eigentümlichkeiten dadurch bedingt wird, daß die priesterliche (und jede ihr nahestehende) Rechtsbehandlung nicht formale, sondern materiale Rationalisierung des Rechts erstrebt. Hier aber bleiben wir zunächst bei gewissen allgemeinen Folgen, die durch formale Besonderheiten ihrer Existenzbedingungen hervorgerufen werden.
s
Fehlt in A.
Die Rechtslehre solcher Schulen, ausgehend regelmäßig von einem entweder durch ein heiliges Buch oder durch feste mündliche oder, später, litterarische Tradition fixierten
t
Fehlt in A.
heiligen Recht, pflegt rationalen Charakters in dem speziellen Sinn zu sein:
a
A: sein,
daß sie mit Vorliebe eine rein theoretisch konstruierte, weniger
c
B: nicht > weniger
an den praktischen Bedürfnissen der Rechtsinteressenten orientierte,
d
B: orientierten,
als den Bedürfnissen frei bewegten Intellektualismus der Gelehrten entsprungene
b
A: begrifflich konstruierte
Kasuistik treibt. Im Fall der Anwendung der „dialektischen“ Methode kann sie aber
e
Fehlt in A.
auch abstrakte Begriffe zeitigen und sich dadurch der rational systematischen Rechtslehre annähern. Allein andererseits ist sie traditionsgebunden, wie alle Priesterweisheit. Ihre Kasuistik ist daher[,] soweit sie praktischen und nicht intellektualistischen Bedürfnissen dient, formalistisch in dem speziellen Sinn, daß sie die traditionellen[,] für sie unantastbaren
f
A: daher oft formalistisch, aber wesentlich in dem Sinn, daß sie die traditionellen
Normen gegenüber den sich verschiebenden Bedürfnissen der Rechtsinteressenten durch Umdeutung praktisch anwendbar erhalten muß, nicht dagegen
g
Fehlt in A.
in dem Sinn der Schaffung einer rationalen Rechtssystematik. Und sie schleppt sehr regelmäßig Bestandteile mit sich, welche nur ideale
h
A, B: Ideale
religiös-ethische Forderungen [A 4][B –]an die Menschen oder die Rechtsordnung bedeuten, nicht aber die logische Bearbeitung einer empirisch geltenden Ordnung.
i
A: Ordnung in sich enthalten.
[487]Ähnlich pflegt es auch mit den von direkt priesterlicher Leitung ganz oder teilweise emanzipierten, aber an ein heiliges Recht gebundenen Rechtsschulen
j
[487] In A folgt: (z. B. den hinduistischen und muhammedanischen)
zu stehen.
k
In B folgt die Satzanweisung Max Webers: Absatz!
Alle „heiligen“
l
l–l (bis S. 491: canonische Recht.) Fehlt in A.
Rechte nähern sich in der Form, in welcher sie sich rein äußerlich darstellen, einem Typus, welchen namentlich das indische Recht sehr deutlich wiedergiebt. Soweit nicht, wie in der „Buchreligion“, bestimmte Gebote durch eine schriftliche
m
B: schriftlich
Offenbarung oder inspirierte Niederschrift von Offenbarungen fixiert sind, muß das heilige Recht
n
B: die Tradition > das heilige Recht
„authentisch“ überliefert sein, das heißt durch eine geschlossene Kette von Zeugen; bei den Buchreligionen aber muß sowohl die authentische Interpretation der heiligen Normen wie ihre Ergänzung durch anderweite Überlieferung ebenso garantiert sein. Dies ist einer der wesentlichen Gründe für die Ablehnung der schriftlichen Tradition, die z. B. dem hinduistischen mit dem islamischen Recht gemeinsam ist: die Tradition muß unmittelbar von Mund zu Mund durch verläßliche heilige Männer gegangen sein: ein Vertrauen auf schriftliche Aufzeichnungen würde bedeuten: daß man Pergament und Tinte glaubt statt den charismatisch qualifizierten Menschen, den Propheten und Lehrern.
24
[487] Über den von den indischen Brahmanen festgehaltenen Grundsatz der Mündlichkeit der Tradition vgl. Weber, Hinduismus und Buddhismus, MWG I/20, S. 256 f.; auch Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 203–205. Im Islam jedoch scheint seine strenge Durchführung schon früh relativiert. So wird auf die Umdeutung schriftlicher Überlieferung in mündliche hingewiesen (vgl. Goldziher, Ignaz, Neue Materialien zur Literatur des Überlieferungswesens bei den Muhammedanern, in: Zeitschrift der deutschen morgenländischen Gesellschaft, Band 50, 1896, S. 465–506, hier S. 497 f.; hinfort: Goldziher, Materialien); es wird die Schriftlichkeit als früheste Überlieferungsmethode diskutiert (vgl. Goldziher, Ignaz, Muhammedanische Studien, Theil 2 (2 Teile in einem Band). – Halle a.S.: Max Niemeyer 1890, S. 8–11; hinfort: Goldziher, Muhammedanische Studien); Juynboll, Th[eodoor] W[illem], Handbuch des islamischen Gesetzes. Nach der Lehre der schafi’itischen Schule nebst einer allgemeinen Einleitung. – Leiden, Leipzig: E. J. Brill, Otto Harrassowitz 1910, S. 15); und zumindest die spätere Anerkennung schriftlicher Tradition bei sorgfältiger Dokumentation der Gewährsmännerkette angenommen (vgl. Goldziher, Materialien, S. 475 f., Becker, C[arl] H[einrich], „Islam“, in: RGG, Band 3, 1912, Sp. 706–745, hier Sp. 721; hinfort: Becker, Islam). Die Frage der Schriftlichkeit der Tradition ist allerdings in der zeitgenössischen Forschung umstritten; vgl. darüber Goldziher, Muhammedanische Studien, S. 194–202.
Daß der Koran selbst ein Schriftwerk war – schon die Suren wurden ja von Muhammed normalerweise in sorgsamer schrift[488]licher Fixierung nach Beratung mit Allah
o
[488]B: Gott > Allah
publiziert –[,] sucht daher die islamische Lehre gradezu durch ein Dogma von der physischen Erschaffung der einzelnen Koranexemplare durch Allah selbst zu rechtfertigen. [WuG1 459]Für die Hadiths galt Mündlichkeit. Erst in einem späteren Stadium pflegt die Schriftlichkeit im Interesse der durch rein mündliche Tradition gefährdeten Einheitlichkeit der Überlieferung vorgezogen zu werden. Dies verbindet sich dann regelmäßig mit der uns schon bekannten
25
[488] Siehe Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 207.
typischen Ablehnung neuer Offenbarungen mit der Motivierung: daß das charismatische Zeitalter längst zu Ende sei. Stets pflegt dabei der für den „Anstalts“-Charakter der religiösen Gemeinschaft
26
Die anstaltsmäßig verfaßte religiöse Gemeinschaft nennt Weber, Kategorien, S. 287, „Kirche“. – Zum kirchlichen Ursprung des juristischen Anstaltsbegriffs vgl. aber oben, S. 397–399.
grundlegende Satz festgehalten zu werden (den neuestens noch Fr[ei]h[err] v. Hertling gut formuliert hat):
27
Der Philosoph und spätere Reichskanzler Georg Freiherr von Hertling hat in religionswissenschaftlichen und -philosophischen Publikationen diesen Unterschied zwischen katholischem und protestantischem Bibelglauben aus der Sicht des bekennenden Katholiken wiederholt zur Sprache gebracht, so daß ein sicherer Nachweis der Weberschen Bezugsstelle nicht möglich ist. In der Abhandlung: Das Princip des Katholicismus und die Wissenschaft. – Freiburg i. Br.: Herder 1899, S. 15, heißt es beispielsweise: „Nach unserer Auffassung ist die Kirche älter wie die heiligen Schriften, aus ihrer Hand entnehmen wir diese letzteren, sie verbürgt ihre Glaubwürdigkeit, und gegenüber den Gefahren der handschriftlichen Überlieferung, gegenüber den Umgestaltungen des Wortlautes bei dem Übergange in alle Sprachen der Erde ist uns die Kirche die allein zuverlässige Auslegerin des Sinnes und der Tragweite aller einzelnen Aussprüche.“
daß nicht die heiligen Schriften die Wahrheit der Tradition und der Kirchenlehre, sondern umgekehrt die Heiligkeit der als Fideicommiß der Wahrheit von Gott gestifteten Kirchen und ihrer Tradition die Echtheit der heiligen Schriften garantiere. Das ist consequent und praktisch: das umgekehrte (altprotestantische) Prinzip setzt ja die heiligen Quellen der historischen und philologischen Kritik aus.
28
Der (lutherische) Protestantismus negierte die kirchliche Lehrautorität und betrachtete statt dessen die Bibel als unmittelbar göttliche Offenbarung. Wissenschaftliche Bibelexegese und -kritik waren die Konsequenz aus diesem Paradigmenwechsel.
Für den Hinduismus sind die Veden die heiligen Bücher. „Recht“ enthalten sie wenig, noch weit weniger als der Koran und
p
In B folgt: 〈Bibel〉,
nament[489]lich die Thora.
q
[489] In B folgt ein Doppelstrich. Bedeutung unklar.
29
[489] Vermutlich stützt sich Weber hier und in den folgenden Bemerkungen über das indische Recht – wie ders., Hinduismus und Buddhismus, MWG I/20, S. 52, Forts. von Webers Fn. 1 (S. 49), nahelegt – wesentlich auf Jolly, Recht (wie oben, S. 325 f., Anm. 41), bes. S. 1 f., 44; vgl. auch Jolly, Julius, Über die Systematik des indischen Rechts, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 1, 1878, S. 234–260, hier S. 238 f.
Die Veden
r
B: Dharmasutra’s > Veden
galten als „sruti“ (Offenbarung). Alle abgeleiteten heiligen Quellen als
s
Fehlt in B; als sinngemäß ergänzt.
smeti („Erinnerung“, Tradition). Die wichtigsten Kategorien der sekundären Litteratur[,] die Dharmasutras und Dharmasastras (letztere versifizierte, erstere prosaische, letztere durchweg zu den smetis gezählt, erstere eine Mittelstellung einnehmend)[,] sind dagegen Kompendien der Dogmatik, Ethik und Rechtslehre und stehen als solche neben der Tradition über die als exemplarisch geltende Lebenspraxis und die Lehre heiliger Männer. Dieser letzten Quelle entsprechen genau die islamischen „hadiths“: Tradition über exemplarisches Verhalten des Propheten oder seiner Genossen und nicht in den Koran aufgenommene Aussprüche des ersteren. Nur daß das prophetische Zeitalter des Islam als mit dem Leben des Propheten abgeschlossen gilt. Die indischen Dharma-Bücher dagegen konnten im Islam[,] dem Charakter der Buchreligion mit nur einer heiligen Schrift entsprechend[,] ebensowenig wie im Judentum und Christentum eine Analogie haben. Als „Rechtsbücher“, das heißt Privatarbeiten von Rechtsgelehrten, sind sie, namentlich eines der späteren von ihnen – das Rechtsbuch des Manu
30
Das dem Manu, dem mystischen Urvater Indiens, zugeschriebene religiöse Rechtsbuch (Manusmrti) enthält Normen höchst heterogenen Inhalts. Neben religiös-ethischen Normen und Ritualvorschriften stehen rein weltliche Normen öffentlich- und privatrechtlichen Charakters. Seine Entstehungszeit läßt sich nicht näher bestimmen, doch reichen Teile wohl bis ins 10. Jahrhundert v. Chr. zurück; den Text findet man in: The laws of Manu, transl. with extracts from 7 commentaries by G[eorg] Bühler (The Sacred Books of the East, Vol. 25). – Oxford: Clarendon Press 1886.
[,] lange Zeit in den Gerichten maßgebend gewesen, bis sie durch die systematischen Compilationen und Commentare der Gelehrtenschulen so völlig aus der Praxis verdrängt wurden, daß zur Zeit der englischen Eroberung eine solche tertiäre Quelle: die Mitaksara (aus dem 11. Jahrhundert)[,] thatsächlich die Praxis bestimmte.
31
Weber stützt sich vermutlich auf Jolly, Recht (wie oben, S. 325 f., Anm. 41), S. 2: „Als die Producte einer neueren Zeit und inspiriert von mächtigen Fürsten und Mini[490]stern haben diese umfänglichen Compilationen nach und nach die Smrtis so völlig aus dem Gebrauch verdrängt, daß zur Zeit der Begründung der englischen Herrschaft über Ostindien die Mitākṣarā, ein Rechtscompendium des 11. Jahrhunderts, in dem größten Teil Indiens als das maßgebende Werk galt.“
Ähnlich ist es der islamischen [490]„Sunna“ durch die kanonisch gewordenen systematischen Compendien und die Commentare dazu ergangen, wie noch zu erwähnen sein wird;
32
Siehe unten, S. 526–529.
in geringerem Grad der Thora durch die Arbeiten der Rabbinen in der Antike (den Talmud) und im Mittelalter
t
[490]B: des Mittelalters
[.] Die rabbinische Rechtsbildung lag aber in der Antike und
a
In B folgt: und ⟨für⟩
in gewissem Umfang bis heute, die islamische hegt in starkem Maße bis heute in der Hand respondierender theologischer Juristen, während weder der Hinduismus
b
B: Hinduismus,
noch die christlichen Kirchen – nach dem Erlöschen der charismatischen Prophetie und Didaskalie, welche aber nicht rechtlichen, sondern ethischen Charakters war –,
c
B: war,–
etwas Derartiges gekannt haben. Aus entgegengesetzten Gründen. Nach indischem Recht gehört der Hauspriester des Königs dessen Gericht an und büßt falsches Urteil durch Fasten. Alle wichtigen Sachen sind Königsgerichtssachen. Die Einheit der weltlichen und religiösen Justiz ist also gewahrt,
d
B: gewahrt.
und für einen konzessionierten Stand von respondierenden Rechtshonoratioren ist kein Raum[.] Die christliche Kirche des Abendlandes dagegen schuf sich in den Conzilien, dem Amtsapparat der Bischöfe und der Kurie und vor Allem der päpstlichen Jurisdiktionsgewalt und dem unfehlbaren Lehramt Organe zu rationaler Rechtsschöpfung, wie sie den sämtlichen anderen großen Religionen fehlen. Daher spielen hier neben Conzilsschlüssen und den Dekretalen der Päpste die Rechtsauskünfte und Verfügungen der kirchlichen Behörden die Rolle, welche im Islam dem Fetwa des Mufti und im Judentum dem Gutachten der Rabbinen zukommt.
e
In B folgt: ⟨Der systematische Charakter sowohl des hinduistischen wie des christlichen heiligen Rechts ist zum Teil die Folge dieses ⟨Zustandes.⟩ Gegensatzes⟩
Die hinduistische Rechtsgegelehrsamkeit war daher sehr stark rein schulmäßig-theoretisch und systematisierend, in den Händen von Philosophen und Theoretikern liegend und trug die typischen Züge eines sacral ge[WuG1 460]bundenen theoretischen und systematischen[,] aber sehr wenig an der Hand der Praxis sich entwickelnden Rechtsdenkens in besonders hohem Grad an sich, wesentlich stärker jedenfalls als das [491]canonische
f
[491]B: christliche > canonische
Recht.
g
In B folgt: ⟨Denn ⟨es ist – wie⟩ alle schulmäßigen Bearbeitungen von ⟨Recht) heiligen Rechten ⟨–⟩ sind Produkte der „Lehre“.⟩
l
l(ab S. 478: Alle „heiligen“)l Fehlt in A.
Alle eigentlich typischen „heiligen“ Rechte, also namentlich das indische, sind Produkte der Schullehre. In allen ihren Bearbeitungen wird daher eine Fülle
h
A: Von ihren Erzeugnissen, z. B. den heiligen Rechten der Inder, wie sie in den Bearbeitungen der aus den Unterrichtszwecken hervorgegangenen privaten Rechtskompendien (Manu u. a.) sich präsentieren, wird ein Wust
von Kasuistik längst veralteter Institute vorgetragen
i
A: mitgeschleppt
(z. B. die Ordnung der vier Kasten bei Manu, alle veralteten
j
A: große
Teile des Schariat in den islamischen Schulen). Nicht selten pflegt, infolge des Primats des Lehrzwecks und der rationalen Natur des priesterlichen Denkens, die Systematik derartiger Rechtsbücher eine rationalere zu sein, als diejenige von priesterfreien Schöpfungen ähnlicher Art. Indische Rechtsbücher sind wesentlich „systematischer“ als etwa der Sachsenspiegel. Aber die Systematik ist keine juristische, sondern eine solche nach Ständen oder nach praktischen Lebensproblemen. Denn diese Rechtsbücher sind[,] da ihnen das Recht im Dienst heiliger Zwecke steht[,]
k
A: Sie sind ferner
Kompendien nicht nur des Rechts, sondern zugleich auch des Rituals,
l
Fehlt in A.
der Ethik und unter Umständen der gesellschaftlichen Konvention und Höflichkeitslehre. Kasuistische und deshalb unanschauliche und unkonkrete, dabei aber doch weitgehend juristisch unformale und nur relativ rational systematisierte Behandlung des Rechtsstoffs ist die normale Folge. Denn in allen diesen Fällen ist weder[,] wie beim reinen Rechtspraktiker[,] der Geschäftsbetrieb mit seinem konkreten Anschauungsmaterial und seinen Bedürfnissen, noch, wie beim reinen juristischen
m
A: rein fachjuristischen
Doktrinär, die dogmatisch nur an fachmäßige Voraussetzungen gebundene Logik die treibende Kraft, sondern jene anderen, jedem Fachbetrieb der Rechtspflege heterogenen materialen
n
Fehlt in A.
Grundlagen.
Wiederum anders mußte sich dagegen der Effekt der Rechtsschulung gestalten,
o
A: Ganz anders stellt sich der Effekt der privaten Rechtsschulung,
wo ihre Träger Honoratioren waren,
p
A: sind,
welche zu der Praxis des Rechtsbetriebs
q
A: eines Rechtsbetriebs ; B: des Rechtsbetriebs ⟨, als Schöffen oder Belehnte⟩
Beziehungen beruflicher, aber nicht in der Art
r
A: nicht –
wie die englischen Anwälte spezifisch zünftiger und erwerbsberuflicher Art hatten. Eine solche spezifisch mit der [492]Rechtspraxis befaßte Honoratiorenschicht ist im Ganzen nur dann möglich, wenn einerseits der Rechtsbetrieb
s
A: Anwälte – erwerbsberuflicher Art haben, welcher
von sakraler Beherrschung frei ist, andrerseits der Umfang der beruflichen Belastung noch nicht das durch städtische Verkehrsbedürfnisse bedingte Maß erreicht hat. Dahin gehören
t
[492]A: ist. Dahin gehören vor allem
die mittelalterlichen empirischen Juristen des nordeuropäischen kontinentalen Okzidents.
a
A: Okzidents,
Zwar in
b
b–b (bis S. 494: befaßt waren.) Fehlt in A.
den ökonomischen Zentren des Verkehrs findet nur eine Verschiebung der Rechtshonoratiorenfunktion vom Consulenten auf den Cautelarjuristen statt. Und auch diese unter eigentümlichen Bedingungen. Nach dem Untergang des Römerreichs blieben in Italien als einzige Schicht, innerhalb deren sich die Traditionen eines entwickelten Verkehrsrechts fortpflanzen und umbilden konnten, die Notare. Sie wurden dort die spezifische und lange Zeit beherrschende Rechtshonoratiorenschicht[.] Innerhalb der schnell wachsenden Städte schlossen sie sich zu Zünften zusammen
c
B: ⟨In Italien waren⟩ Innerhalb
ca
B: innerhalb > Innerhalb
der schnell wachsenden Städte ⟨die Notare als Stand⟩ schlossen sie sich zu Zünften zusammen ⟨-geschlossen.⟩
und waren ein sehr wichtiger Bestandteil des popolo grasso,
33
[492] Gemeint sind damit die im 13. Jahrhundert in den italienischen Städten zur politischen Herrschaft gelangenden sog. arti maggiori („popolo grasso“, wörtlich: „fettes Volk“), welche sich nach Weber, Die Stadt, MWG I/22-5, S. 204 f., aus „den Schichten mit Universitätsbildung oder Kapitalbesitz“ zusammensetzten: „denn jene 7 oberen Zünfte, welche die Richter, Notare, Wechsler, Händler in fremden Tuchen, Händler in Florentiner Wolltuchen, Seidenhändler, Ärzte, Spezereihändler, Pelzhändler umfaßten, führten jenen Namen.“ Zur bedeutenden politischen und verwaltungstechnischen Funktion der Notarsschicht vgl. ebd., S. 207.
also eine auch politisch mächtige Honoratiorenschicht. Gerade der kaufmännische Geschäftsverkehr bewegte sich hier von Anfang an
d
B: sehr früh > von Anfang an
in der Form notarieller Urkunden; die Prozeßordnungen der Städte, so z. B. Venedigs, bevorzugten den Urkundenbeweis als rationales Beweismittel
34
Vgl. etwa die Quellennachweise bei Goldschmidt, Universalgeschichte, S. 174 f.
gegenüber den irrationalen Beweisformen des alten dinggenossenschaftlichen Prozesses. Ihren Einfluß auf die Entwicklung der Wertpapiere lernten wir schon kennen.
35
Siehe oben, S. 334–339.
Die Notare waren aber überhaupt eine der für die Rechtsentwicklung maßgebendsten Schichten[,] bis zur Entwicklung des gelehrten Richterstandes in Italien wohl die maßgebende Schicht. Ebenso wie ihre Vorgänger im hellenistischen Osten der Antike
36
Vgl. oben, S. 336 f.
haben sie an der [493]interlokalen Rechtsausgleichung und vor Allem an der Rezeption des römischen Rechts, welche hier wie dort zuerst durch die Urkundenpraxis erfolgte, einen sehr entscheidenden Anteil gehabt. Die eigene Tradition, die langedauernde
e
[493] Alternative Lesung: langandauernde
Verknüpfung mit den kaiserlichen Gerichten, die Notwendigkeit, schnell ein rationales Recht zur Hand zu haben, um den rapid wachsenden Verkehrsbedürfnissen zu genügen, und die soziale Macht der großen Universitäten ließ die italienischen Notare das römische Recht als eigentliches Verkehrsrecht
f
B: „Urkundenrecht“ > Verkehrsrecht
rezipieren, [WuG1 461]zumal für sie nicht, wie für den nationalen englischen Juristenstand, zünftige und speziell Sportelinteressen im Wege standen. So sind die italienischen Notare eine der wichtigsten und ältesten, an der Schaffung des usus modernus des römischen Rechts
37
[493] Gemeint ist die Form, die die Rechtspraktiker des Mittelalters und der frühen Neuzeit – die sog. gemeinrechtliche Jurisprudenz – dem klassischen römischen Recht gaben, um es angesichts stark veränderter sozialer und wirtschaftlicher Verhältnisse anwendbar zu halten; vgl. unten, S. 582–585.
interessierten und praktisch beteiligten Schichten von Rechtshonoratioren geworden, nicht aber, wie die englischen Anwälte, Träger eines nationalen Rechts[.] Denn sie hatten auf den Versuch, durch eine eigene zünftige Rechtslehre den Universitäten Konkurrenz zu machen, schon um deswillen verzichten müssen, weil sie, im Gegensatz zu den englischen Juristen, der nationalen Einheit, welche für diese aus der Conzentration der Justiz bei den Königsgerichten ermöglicht war, entbehrten. Eine Weltmacht blieb aber, dank den Universitäten, in Italien das römische Recht für die formale Struktur des Rechts und der Rechtslehre auch dann, als sein ursprünglicher politischer Interessent: der Kaiser, politisch nichts mehr bedeutete. Schon die Podestate der italienischen Städte waren sehr oft dem universitätsgebildeten Rechtshonoratiorenstand entnommen;
38
Vgl. hierzu Weber, Die Stadt, MWG I/22-5, S. 160 f., sowie den Glossareintrag „Podestate“.
die Signorien vollends stützten sich auf politische Doktrinen, welche aus ihm abgeleitet waren. Ebenso stand es mit den Notaren in den französisch-ostspanischen Seestädten.
g
In B folgt die Satzanweisung Max Webers: Absatz
Ganz anders war dagegen die Lage der deutschen und nordfranzösischen Rechtshonoratioren,
h
B: Lage der ⟨continentalen⟩ deutschen und nordfranzösischen ⟨Juristen.⟩ Rechtshonoratioren,
welche, zunächst wenigstens, [494]weit weniger auf dem Boden städtischer, weit stärker dagegen im Umkreise ländlich-grundherrlicher Rechtsbeziehungen mit der Handhabung des Rechts als Schöffen oder Beamte befaßt waren.
i
[494] In B folgt zur Markierung des Textanschlusses im (überarbeiteten) Typoskript: Ihre …
b
b(ab S. 492: Zwar in)b Fehlt in A.
Ihre einflußreichsten
k
B: einflußreichste
Typen[,] wie etwa Eike von Repgow, Beaumanoir
39
[494] Eike von Repgow (oder: von Repchow, geb. um 1190) gehörte der anhaltischen Ministerialität an und leistete selbst Schöffendienst (vgl. zu dem ihm zugeschriebenen Rechtsbuch den Glossareintrag „Sachsenspiegel“); Philippe de Remy Beaumanoir (um 1250–1296) übte zeitweilig ein Richteramt aus, ehe er im Auftrag des Grafen Robert von Clermont das bekannteste französische Rechtsbuch des Mittelalters, die „Coutumes de Beauvaisis“, verfaßte (um 1283).
und ihresgleichen, schufen
j
A: deren einflußreichste Typen Eike von Repgow, Beaumanoir und ihresgleichen,
eine auf der anschaulichen Problematik der Alltagspraxis und ihrer wesentlich empirischen, nur wenig durch Abstraktion raffinierten Begriffe ruhende Systematik des Rechts.
l
A: Rechts schufen.
Die von ihnen zusammengestellten
m
A: geschaffenen
Rechtsbücher wollten
n
A: wollen
Feststellung der Tradition sein
o
A, B: sein,
und enthielten zwar gelegentlich
p
A: enthalten zwar
Raisonnement, aber wenig spezifisch
q
In B folgt: ⟨formal⟩
juristische ratio. Statt dessen enthielt namentlich die bedeutendste dieser Leistungen, der Sachsenspiegel, nicht wenige Construktionen von Rechtsinstitutionen, welche in Wahrheit nicht geltendes Recht waren, sondern phantasievolle Ausfüllung von Lücken oder Unfähigkeiten des Rechts, die des Verfassers plastisches
s
B: systematisches > plastisches
Bedürfnis oder seine Vorliebe für heilige Zahlen sich schuf.
r
Fehlt in A.
40
Diese inhaltliche Eigenart des Sachsenspiegels und die „konstruktiven“ Fähigkeiten seines Verfassers würdigt namentlich Schröder, Lehrbuch, S. 651 f. Die von Weber erwähnte „Zahlenmystik“ betrifft dabei insbesondere die Sieben-, Drei- und Zweizahl.
Formell waren
t
A: sind
ihre systematischen Rechtsaufzeichnungen Privatarbeiten ebenso wie diejenigen der indischen, römischen, islamischen [A 5][B 5]Juristen. Auf die Rechtspraxis haben sie aber wie diese
a
Fehlt in A.
als bequeme Kompendien sehr erheblich gewirkt, und von den Gerichten sind einzelne von ihnen
b
A: gewirkt und in einzelnen Fällen sind sie auch
ganz direkt als maßgebliche Rechtsquellen
c
In A folgt: offiziell
anerkannt worden. Ihre Schöpfer waren einerseits Vertreter einer Honoratiorenjustiz, andrerseits aber bildeten sie nicht, wie die englischen Anwälte und die italienischen Notare,
d
A: Weil ihre Schöpfer Vertreter einer Honoratiorenjustiz waren, dabei aber nicht, wie die englischen Anwälte,
einen zu einer machtvollen Zunft vereinigten Stand,
e
A: Stand bildeten,
der, durch seine zünftigen
f
Fehlt in A.
Erwerbsin[495]teressen und die Monopolisierung der Richterstellen einheitlich am Sitz der Centralgerichte
g
[495] Fehlt in A.
zusammengeschlossen, eine auch durch König und Parlament nicht leicht zu beseitigende Macht in Händen hielt. Daher vermochten sie nicht, wie die englischen Anwälte,
h
A: hielt, so vermochten sie auch nicht, wie jene,
Träger einer zünftigen Rechtsschulung und deshalb auch nicht einer
j
B: eines
festen empirischen Tradition und
i
A: einer rationalen
Rechtsentwicklung zu werden, welche dem Rechtsdenken der rationalen Universitätslehre und den dort geschulten Juristen auf die Dauer hätte Widerstand leisten können. Formal war das empirische
k
Fehlt in A.
Rechtsbücherrecht des Mittelalters ziemlich entwickelt, systematisch und kasuistisch aber von geringer Rationalität, wenig an abstrakter Sinndeutung und
l
Fehlt in A.
Rechtslogik und statt dessen stark an anschaulichen Unterscheidungsmitteln orientiert.
Die Art des Einflusses der antik römischen Juristen auf das Recht beruhte zunächst auf dem später
41
[495] Siehe unten, S. 507–509, und Weber, Bürokratismus, MWG I/22-4, S. 180–182 und 191–193. Die republikanische Honoratiorenverwaltung machte durch den von Weber diagnostizierten Wandel vom Küsten- zum Binnenstaat in der spätrömischen Kaiserzeit einer bürokratischen Leistungsverwaltung Platz.
unter allgemeineren Gesichtspunkten
m
A: römische Recht beruht zunächst auf dem später
zu erörternden Umstand, daß die römische Honoratiorenverwaltung mit ihrer Ersparnis an Beamten das Eingreifen des prozeßleitenden Beamten in die konkrete Prozeßleitung minimisierte. Die spezifischen
n
A: der politischen Gewalt und speziell der Beamten in die materielle Prozeßleitung minimisierte. Diese speziellen
Tendenzen der Honoratiorenherrschaft, welche Rom im Gegensatz z. B. zur
p
In B folgt: ⟨antiken⟩
hellenischen Demokratie kennzeichnen, schlossen aber auch die „Kadijustiz“ der attischen Volksgerichte
42
Aristoteles, Staat der Athener, 9, führt die Anfänge der Volksgerichte als Appellationsgerichte auf die Solonische Verfassung zurück. Ihre volle Bedeutung entfalteten sie erst Mitte des 5. Jahrhunderts nach der Entmachtung des Areopags durch Ephialtes und Perikles. Die Beamten waren nunmehr auf Prozeßvorbereitung und -leitung beschränkt. Neben die Volksgerichte trat bei zunächst noch unklarer Kompetenzabgrenzung die ebenfalls mit Rechtsprechungsbefugnissen ausgestattete Volksversammlung („Heliaia“); vgl. u. a. Lipsius, Das attische Recht (wie oben, S. 464, Anm. 85), S. 28–45; Busolt, Rechtsaltertümer (wie oben, S. 464, Anm. 85), S. 150–152, 275–278.
aus. Die amtliche Prozeßleitung und die [WuG1 462]Gewaltenteilung zwischen Beamten und Rechtssprecher blieb erhalten. – Dies zusammen
o
A: zur attischen Demokratie kennzeichnen, schloß die Kadijustiz der Volksgerichte aus, und
schuf die spezifisch römische Praxis [496]der Prozeßinstruktion: eine streng formale Anweisung des Magistrats an den aus der Richterliste ausgelesenen Bürger: unter welchen, rechtlichen und faktischen, Bedingungen
q
[496]A: welchen rechtlichen und faktischen Grundlagen
er den erhobenen Anspruch als vorhanden anerkennen oder nicht anerkennen solle. Die Schemata dieser Prozeßinstruktionen begannen die Magistrate, speziell die Prätoren und Ädilen, schließlich bei Beginn ihres Amtsjahrs in ihrem „Edikt“ niederzulegen, an dessen Inhalt sie übrigens, im Gegensatz zu der bindenden Kraft der nordischen lögsaga,
r
A: soll. Diese Anweisungen legten die Magistrate, speziell die Prätoren und Ädilen, bei Beginn ihres Amtsjahrs in ihrem Edikt nieder, an dessen Inhalt sie übrigens
43
[496] Zur „lögsaga“ des nordischen Gesetzessprechers vgl. auch oben, S. 462 und 465, wo Weber allerdings eine den römischen Verhältnissen vergleichbare ursprüngliche Ungebundenheit des Gesetzsprechers an die lögsaga annimmt.
erst spät gebunden wurden.
44
Im Fall des Prätors durch die lex Cornelia de iurisdictione des Jahres 67 v. Chr.; vgl. oben, S. 465, Anm. 88.
Das Edikt aber
s
Fehlt in A.
wurde naturgemäß unter Mithülfe von Rechtspraktikern konzipiert
b
B: konzipiert,
und dadurch
a
A: Juristen konzipiert,
den jeweilig neu auftauchenden Bedürfnissen der Rechtsinteressenten angepaßt, im übrigen aber meist einfach vom Amtsvorgänger übernommen. Die große Mehrzahl der anerkannten Klagegründe mußte dabei naturgemäß nicht durch konkrete Thatbestände
d
B: Thatsachen > Thatbestände
, sondern durch Rechtsbegriffe der Alltagssprache definiert werden. Der
c
A: von dem einen Magistrat vom Vorgänger übernommen. Die Mehrzahl der Klagetatbestände war dabei durch Rechtsbegriffe definiert, sodaß der
Gebrauch einer juristisch falschen Formel von Seiten der Partei, welche das Klage[A 6][B –]schema wählte, bedingte infolgedessen den Verlust des Prozesses
e
A: den Verlust des Prozesses bedingte,
im Gegensatz zu unserem Prinzip der ,Klagesubstanzierung“,
45
Zum Prinzip der „Klagesubstanzierung“, d. h. der erforderlichen Angabe aller klagebegründenden Tatsachen, im zeitgenössischen deutschen Prozeßrecht vgl. § 253 III Nr. 3 ZPO (Die Civilprozeßordnung für das Deutsche Reich. Auf der Grundlage des Kommentars von L. Gaupp erläutert von Friedrich Stein, Band 1, 8. und 9. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1906, S. 552 ff.).
bei welcher
g
B: welches
der Vortrag von Thatsachen zur Begründung der Klage genügt, falls sie unter irgend einem, einerlei welchem, rechtlichen Gesichtspunkt
h
B: Gesichtspunkten
den erhobenen Anspruch rechtfertigen. Es ist klar, daß beim „Substanziierungsprinzip“
f
A: Klagesubstanzierung, welches die vorgetragenen Tatsachen, einerlei unter welchen rechtlichen Gesichtspunkten sie den erhobenen Anspruch begründen mögen, der Erörterung zugrunde legt. Damit ist
die Nötigung zu ganz scharfer juristischer Fixierung der [497]Begriffe eine weit geringere ist[,] als sie im römischen Verfahren war,
i
[497]A: geringere als im römischen Verfahren,
welches die Praktiker zu einer juristisch ganz strengen und scharfen Scheidung und Abgrenzung der juristischen Alltagsbegriffe
j
A: Tatbestände
nötigte. Und auch wo der instruierende Magistrat seine Prozeßanweisung an rein faktische
k
A: praktische
Tatbestände knüpfte (actiones in factum),
l
A: knüpfte,
nahm infolge jener
m
In A folgt: hoch entwickelten
Technik des juristischen Denkens die Interpretation einen
n
Fehlt in A.
streng formal juristischen Charakter an. Die praktische
o
Fehlt in A.
Entwicklung der Rechtstechnik war bei diesem Zustand zunächst in sehr weitgehendem Maße der „Kautelarjurisprudenz“ überlassen, d. h. also der Tätigkeit von Rechtskonsulenten, welche die Vertragsschemata für die Parteien entwarfen, ebenso aber
p
Fehlt in A.
die Magistrate im „consilium“, dessen Zuziehung für jeden römischen Beamten typisch war,
q
Fehlt in A.
als Sachverständige bei der Herstellung ihrer Edikte und Klageschemata und endlich den zur Entscheidung berufenen Bürger
r
A: Richter
bei der Behandlung der ihm vom Magistrat
s
Fehlt in A.
vorgelegten Fragen und der Interpretation seiner Prozeßinstruktion berieten.
t
Die hier ursprünglich folgende Passage wurde aus dem Blatt A 6/ B– ausgeschnitten und als Seitenallonge an Blatt A 7/ B– angeklebt, vgl. unten, S. 500, textkritische Anm. f.
Die konsultierende
a
A: Konsultierende
Tätigkeit in jeder dieser Bedeutungen lag nach der Tradition
46
[497] Weber bezieht sich auf den berühmten Digestenbericht des Pomponius über die Rechtsgeschichte und -wissenschaft der Römischen Republik. Dort heißt es Pomp. D. 1,2,2,6: „Omnium tamen harum (legum XII tab.) et interpretandi scientia et actiones apud collegium pontificum erant, ex quibus constituebatur, quis quoquo anno praeesset privatis.“ (Für alle diese (Zwölftafelgesetze) aber besaß das Pontifikalkollegium sowohl die Kompetenz zur Auslegung wie die Klagformeln und es bestimmte, wer in welchem Jahr den Privaten Gutachten erteilen sollte.)
zunächst anscheinend
b
A: zunächst
in den Händen der pontifices, deren einer jährlich dafür ausgelesen sein soll. Unter diesem priesterlichen Einfluß hätte nun die Justiz trotz der Codifikation der Zwölftafeln
47
Nach der Überlieferung der auf das Jahr 451 v. Chr. zu datierende Gesetzgebungsakt einer verfassunggebenden Zehnmännerkommission („Decemviri“); vgl. auch unten, S. 571–573, und den Glossareintrag „Zwölf Tafeln“.
an sich leicht einen Charakter annehmen können, ähnlich demjenigen, welchen die konsultierende Tätigkeit [498]etwa des islamischen Mufti für das mohammedanische Recht erzeugte: sakral gebunden und irrational.
c
[497]A: Unter deren Einfluß mußte die Justiz einen Charakter annehmen, ähnlich demjenigen, welchen die konsultierende Tätigkeit des islamischen Mufti erzeugte. Sie war sakral gebunden, irrational und es läßt sich schwer entscheiden, in welchem Maße bereits rationale Elemente in sie eingedrungen sein mögen.
Denn es scheint zwar festzustehen, daß für den materiellen Inhalt des altrömischen Rechts religiöse Einflüsse nur eine sehr sekundäre Rolle gespielt haben. Aber grade für die welthistorisch wichtigsten Qualitäten des römischen Rechts: die rein formalen, ist, wie Demelius
48
[498] Weber bezieht sich hier und im folgenden auf Demelius, Rechtsfiktion.
wenigstens für wichtige Einzelbeispiele wahrscheinlich gemacht
e
B: nachgewiesen > wahrscheinlich gemacht
hat, der Einfluß des Sakralrechts offenbar beträchtlich gewesen. Solche wichtigen Institute der Rechtstechnik, wie die Prozeßfiktionen, scheinen unter dem Einfluß des sakralrechtlichen Grundsatzes: „simulata pro veris accipiuntur“,
49
„Das Scheinbare wird für das Wirkliche gehalten“. Der sakralrechtliche Ursprung ist in der Variante „in sacris (heiligen Dingen/Handlungen) simulata pro veris accipiuntur“ aufbewahrt. Der Satz findet sich im Vergilkommentar des römischen Grammatikers Servius (ca. 400 n. Chr.): „et sciendum in sacris simulata pro veris accipi: unde cum de animalibus quae difficile inveniuntur est sacrificandum, de pane vel cera fiunt et pro veris accipiuntur“ (Servii grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii, recensuerunt Georgius Thilo und Hermannus Hagen, Vol. 1: Aeneidos librorum I–V commentarii, recensuit Georgius Thilo. – Leipzig: B. G. Teubner 1881, S. 238; wo seltene oder schwer zu besorgende Tiere geopfert werden müßten, sollten solche aus Brot oder Wachs gefertigt werden und an ihre Stelle treten).
entstanden zu sein[.]
50
Demelius, Rechtsfiktion, S. 49–59, 59–75, erörtert die „Fiktion im römischen Proceß“. Sie liefert nach dieser Darstellung das geeignete Instrument, um den überkommenen Legisaktionenprozeß in den beweglicheren Formularprozeß zu überführen. – Die sakralrechtliche Herkunft der Rechtsfiktion nimmt – im Anschluß an Demelius – auch Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 30 mit Anm. 17, an.
Wir erinnern uns,
51
Siehe Webers Bemerkungen zum „Symbolismus“ in: Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 129.
welche Rolle das „Scheingeschäft“ im Totenkult vieler Völker spielte und speziell unter Verhältnissen spielen mußte, wo die
f
In B folgt: ⟨formalen ⟨[??]⟩ religiösen
rituellen Pflichten formal absolut feststanden, die Abneigung einer wesentlich bürgerlichen Gesellschaft aber gegen die materiale Erfüllung dieser ökonomisch höchst lästigen Verpflichtungen ganz besonders stark dazu drängen mußte, sie durch
g
In B folgt: ⟨„Papiergeld“
den Schein der Erfüllung abzuwälzen. Die materiale Säcularisierung des römischen Lebens und die politische Machtlosigkeit der Priesterschaft züchteten in dieser ein Mittel zu einer rein formalistischen und juristischen Behandlung religiöser Dinge[.] Die frühe Ent[WuG1 463]wicklung der cautelarjuristischen Methodik im bürgerlichen Verkehr hat [499]selbstverständlich ihrerseits diese Methode auch auf kultischem Gebiet weiter gesteigert. Aber wir dürfen getrost annehmen, daß in ziemlich weitgehendem Maße die Priorität auch auf sacralrechtlichem Gebiet lag. Eine der allerwichtigsten Eigentümlichkeiten schon des frührömischen Rechts war – das wenigstens bleibt an den sonst vielfach veralteten Formulierungen Ihering’s bestehen
52
[499] Gemeint ist Iherings ausführliche Erörterung der „Analytik“ des römischen Rechts in: Römisches Recht III, S. 1–241.
– sein eminent analytischer Charakter. Speziell die Zerlegung der prozessualen Fragestellung und damit auch des rechtsgeschäftlichen Formalismus in die logisch „einfachsten“ Thatbestände. Ein Prozeß nur über eine Frage, über dieselbe Frage nur ein Prozeß, ein Rechtsgeschäft nur über eine Sache, ein Versprechen nur über eine Leistung,
h
[499]B: Leistung;
daher nur einseitig u.s.w.:
53
So sieht Ihering, Römisches Recht III, S. 20, den Grundgedanken im altrömischen Prozeß darin, „daß in je einem Proceß nur über je einen Anspruch verhandelt werden kann, daß also, wo ein Verhältniß mehrere Ansprüche in sich schließt, dasselbe in eben so viele separate Klagen und Processe aufgelöst werden muß, als Ansprüche vorhanden sind […].“ Derselbe Grundsatz gelte für das Rechtsgeschäft: „so viel Ansprüche, so viel Rechtsgeschäfte“ (ebd., S. 139). Und allgemein gelte für das altrömische Zivil-, speziell das Obligationenrecht: „der Gedanke der Gegenseitigkeit ist kein ursprünglicher Gedanke des römischen Civilrechts, das specifisch Römische ist die Einseitigkeit“ (ebd., S. 201).
die Zersetzung der plastischen
i
B: sinnlichen > plastischen
Thatbestandskomplexe des Alltagslebens in lauter juristisch eindeutig qualifizierte Elementarakte ist in der That ganz unverkennbar die eine und methodisch überaus folgenreiche Tendenz grade des alten Civilrechts
j
B: Rechts > Civilrechts
. Während die construktive Fähigkeit zur Synthese in der Erfassung plastischer Rechtsinstitute, wie sie als Produkte der nicht logisch zersetzten Rechtsphantasie entstehen
k
Fehlt in B; entstehen sinngemäß ergänzt.
[,] darunter empfindlich leidet. Diese Tendenz zur Analytik aber entspricht der ganz urwüchsigen Behandlung der rituellen Pflichten innerhalb der nationalrömischen Religion auf das Genaueste.
l
In B folgt zur Markierung des Textanschlusses im Typoskript: Wir
d
Fehlt in A.
Wir erinnern uns,
m
A: Allerdings erinnern wir uns,
54
Siehe Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 134–137; zur Eigenart der römischen öffentlichen und privaten Kultorganisation vgl. zusammenfassend etwa Wissowa, Religion (wie oben, S. 403, Anm. 39), bes. S. 330–338.
daß die Eigentümlichkeit der genuinen römischen „religio“, namentlich die begriffliche und abstrak[500]te[,] durchaus „analytische“
o
[500]B: „analytische“,
Scheidung der Competenzen der numina, ein
n
A: Religion, der begrifflichen und abstrakten Scheidung der numina, ein gewisses
erhebliches Maß von rationa[A 7][B –]ler juristischer Behandlung religiöser Probleme geschaffen hatte. Nach der Tradition
55
[500] Hier und im folgenden nimmt Weber Bezug auf den rechtshistorischen Bericht des Pomponius in Dig. 1,2,2.
hätten schon die pontifices feste Schemata der zulässigen Klagen geschaffen. Dabei aber scheint diese pontificale Rechtskunstlehre
q
B: Consultationsjustiz > Rechtskunstlehre
ständisch monopolisierte Geheimlehre geblieben zu sein. Erst das 3. Jahrhundert brachte
p
A: selbst rein religiöser Probleme geschaffen hatte. Die Epoche des Ständekampfs brachte dann
die Emanzipation von der sakralen Rechtsfindung. Ein Freigelassener des nach der Tyrannis strebenden Censors Ap[pius] Claudius soll nach der Tradition die pontificalen Klageschemata publiziert haben.
r
A: Nunmehr traten die politischen Honoratioren als Konsulenten, Sachwalter und Vertrauensmänner in die Lücke.
Der erste plebejische Pontifex maximus, Ti[berius] Coruncanius
s
A: Coruncanius
, soll auch der erste öffentliche Respondent gewesen sein. Nunmehr erst konnten sich die Edikte der Beamten zu ihrer späteren Bedeutung entwickeln. Und zugleich traten nun Laien-Honoratioren als Konsulenten und Sachwalter in die Lücke.
t
Fehlt in A.
Der Bescheid des Rechtskonsulenten
a
Fehlt in A.
wurde den Parteien mündlich erteilt, der ersuchenden Behörde schriftlich, auch bis in die Kaiserzeit aber
b
A: jetzt
noch in der Form, wie das Orakel des charismatischen Rechtsweisen oder das Fetwa des Mufti:
c
A: Weisen, das Fetwa des Mufti und der Bescheid des Pontifex:
ohne Beifügung einer Begründung. Aber die zunehmende fachmäßige Schulung und berufsmäßige juristische
d
A: zunehmende Fachmäßigkeit der Schulung und
Tätigkeit mit dem Wachsen des Bedarfs brachte die Entwicklung einer formalen Rechtslehre
e
Fehlt in A.
schon in republikanischer Zeit mit sich. Schüler (auditores) wurden zu den Konsultationen dieser Rechtspraktiker schon in republikanischer Zeit
g
A: Rechtspraktiker, wie es scheint, schon früh
zugelassen. Daß das praktisch geltende Recht und seine prozessuale Behandlung dabei einen sehr hochgradig formalen und rationalen Charakter annehmen mußte, war[,] außer durch die schon erwähnten Momente[,] natürlich auch durch die Objekte der Rechtspraxis bestimmt, welche die städtische[,] in [501]Zweckkontrakten
h
A: ein städtisches Erwerbsleben mit seiner in Kontrakten
sich vollziehende
i
[501]A, B: vollziehenden
Geschäftstätigkeit darbot, im Gegensatz zu den vorwiegend ländlichen Verhältnissen des deutschen Mittelalters, unter denen das Interesse vorwiegend sich um
j
A: im Gegensatz zu ländlichen Verhältnissen, deren Interesse vorwiegend
den sozialen Rang, Immobiliarbesitz, Erb- und Familienrecht drehen mußte.
k
A: darbot.
f
Text der von Blatt A 6/ B– ausgeschnittenen und als Seitenallonge an Blatt A 7/ B– befestigten Passage, vgl. oben, S. 497, textkritische Anm. t.
Dagegen fehlte dem römischen Rechtsleben bis in die Kaiserzeit nicht nur der synthetisch-construktive, sondern auch
l
Fehlt in A.
der rational systematische Charakter weit mehr[,] als dies zuweilen angenommen wird. Die Systematik
m
A: Diesen
hat dem praktisch geltenden Recht erst die byzantinische Bürokratie endgültig verliehen, welche dagegen in Bezug auf formale Strenge des juristischen Denkens außerordentlich weit hinter den Leistungen der Rechtskonsulenten der republikanischen und der Principatszeit zurückstand. Und innerhalb der Rechtsconsulentenlitteratur
n
A: dieser
selbst fällt ins Auge, daß die systematisch brauchbarste Leistung, die Institutionen des Gajus,
56
[501] Gaius (geb. unter Hadrian, gest. nicht vor 178 n. Chr.) schuf mit den „institutiones“ (entstanden um 161) ein weitverbreitetes Lehrbuch für juristische Schulzwecke. Die herausragende dogmatische Leistung bestand dabei in der Ablösung der kasuistischen durch eine systematische Betrachtungsweise (Einteilung des Rechtsstoffs in personae, res, actiones). Vor allem diesem Lehrbuchcharakter verdankten die „Institutionen“ des Gaius ihre Aufnahme ins Corpus iuris Justinians; vgl. unten, S. 586 mit Anm. 84, sowie den Glossareintrag „Pandekten“.
ein Kompendium zur Einführung in die Rechtsschulung, einen unbekannten, zu [WuG1 464]seinen Lebzeiten also sicher autoritätslosen und insbesondere außerhalb des juristischen Honoratiorenkreises stehenden Mann zum Autor hat und etwa die Stellung einnahm
p
A: einnahm,
o
A: hat, so etwa
wie die modernen Kompendien der Einpauker neben den Produkten der Rechtsgelehrten.
q
A: Rechtsgelehrten stehen.
Nur daß eben die literarischen Produkte der römischen praktischen Juristen, neben denen es stand, nicht den Charakter eines rationalen Rechtssystems, wie es akademischer Unterricht entstehen läßt, besaßen, sondern meist mäßig rational geordnete Sammlungen
r
A: Juristen nicht den Charakter eines Rechtssystems, sondern einer mäßig rational geordneten Sammlung
von einzelnen Rechtssprüchen enthielten.
[502]Die konsultierenden Juristen blieben eine spezifische Honoratiorenschicht. Sie waren für die besitzenden Schichten Roms die universellen „Beichtväter“ in allen ökonomischen Angelegenheiten. Ob es in der älteren
t
B: frühen > älteren
Zeit, wie eine Stelle bei Cicero vermuthen lassen könnte,
57
[502] Weber bezieht sich hier wohl auf eine Bemerkung in: De officiis, 2, 65, mit der Cicero den verblassenden Glanz von Rechtspflege und Rechtswissenschaft zu seiner Zeit beklagt. Als Gegenbild dienen ihm die Rechtsverhältnisse vor dem zunehmenden Eindringen des Ritterstandes in das Justizwesen (1. Jahrhundert v. Chr.), als Recht und Gericht „in possessione sua principes retinuerunt“, d. h. als die führenden, senatorischen und konsularischen Geschlechter die Rechtspflege wie das Rechtskonsulententum kontrollierten.
eine förmliche Licenz zum Respondieren gegeben hat, bleibt unsicher. Später nicht mehr. Die respondierenden Juristen
s
[502]A: Sie
hatten sich mit zunehmendem logischen Raffinement des juristischen Denkens von der Methode der alten Kautelarjurisprudenz und offenbar auch von der persönlichen Identität mit den Urkundenconzipienten emanzipiert und schlossen sich zu Ende der Republik zu Schulen zusammen.
a
A: emanzipiert und zu privaten Schulen entwickelt.
Zwar zeigte die republikanische Zeit auch in Rom, soweit die spezifisch politischen Geschworenengerichte (Repetundengerichte)
b
A: Geschworenengerichte
sich dem Charakter der Volksjustiz annäherten, die aus Athen wohlbekannte
c
A: naturgemäße
Tendenz der Gerichtsredner –
e
B: Gerichtsredner, –
wie etwa Cicero –, mehr emotional und „ad hominem“
d
A: Gerichtsredner, wie in Athen, mehr emotional
als rational zu wirken
f
A, B: wirken,
und [A 8][B –]dadurch
g
In A folgt: – wie bald zu erörtern –
zur Abschwächung präziser Begriffsbildung beizutragen
h
Fehlt in A.
. In Rom betraf dies aber wesentlich nur politische Prozesse. In der Kaiserzeit wurde die Justiz endgültig zur Fachangelegenheit. Ein Teil des Rechtskonsulentenstandes wurde von Augustus durch Verleihung des Privilegs, daß ihre responsa den Richter banden,
i
A: für den Richter bindend sein sollten,
in eine offizielle Stellung zur Rechtspflege gebracht.
58
Gemeint sind die Respondierjuristen, deren Gutachten aus dem ihnen (zuerst durch Augustus) verliehenen „ius respondendi ex auctoritate principis“ besondere Autorität gewannen; vgl. Pomp. D. 1,2,2,49.
Diese Konsulenten waren nun nie mehr Sachwalter (causidici), vollends also nicht eine
j
A: Sachwalter, vollends also, – im Gegensatz zu den englischen Juristen, – keine
Anwaltszunft, deren Denkschulung an der Alltagspraxis und den Bedürfnissen der Rechtsinteressenten sich orientierte. Die Gutachten der [503]Consulenten bezogen sich vielmehr auf die unter Abstreifung aller reinen Anwaltsbetriebsfragen ausschließlich zur rechtlichen Beurteilung vorgelegten[,] vom Anwalt und Richter oder einem von beiden vorpräparierten Thatbestände: sicherlich eine optimale Chance der Herauspräparierung einer streng abstrakten juristischen Begriffsbildung. Dergestalt trennte die Respondenten vom eigentlichen Rechtsbetrieb eine hinlängliche Distanz, um ihnen die Reduktion des Konkreten auf allgemeine Prinzipien durch wissenschaftliche
l
B: wissenschaftlicher
Methodik nahezulegen[.] Diese Distanz war größer als die der englischen Advokaten, welche immerhin Parteivertreter blieben. Die Schulcontroversen aber waren das Mittel, sie dazu zu nötigen. Durch ihre bindenden Gutachten beherrschten sie die Rechtspflege. Die responsa wurden auch jetzt noch zunächst ebenso
k
A: orientierte, sondern es trennte sie von diesen eine hinlängliche [503]Distanz, um ihnen die Reduktion des Konkreten auf allgemeine Prinzipien in wissenschaftlicher Methodik nahezulegen, und sie dazu zu nötigen. Durch ihre bindenden Gutachten beherrschten sie die Rechtspflege. Diese Gutachten aber bezogen sich auf die unter Abstreifung aller reinen Tatsachenfragen ausschließlich vorgelegten rechtlichen Probleme: sicherlich eine optimale Chance der Herauspräparierung einer streng abstrakten juristischen Begriffsbildung. Die Rechtskonsulenten begannen ihre responsa, welche zunächst nach wie vor
wie das Orakel eines Weisen oder das Fetwa eines Mufti ohne Begründung gegeben. Die Juristen begannen sie aber
m
A: gegeben wurden,
zu sammeln und, zunehmend mit Beifügung juristischer Gründe, herauszugeben. Schulmäßige Erörterung und Disputation von Rechtsfällen für die „auditores“ entwickelte sich aus der Zulassung von solchen bei der Konsultationspraxis. Erst zu Ende der Republik entstand daraus ein fester Lehrgang[.]
n
A: deren Zulassung zur Konsultationspraxis.
Wie für das juristische Denken die zunehmende formale Schulung an der hellenischen Philosophie immerhin eine gewisse Bedeutung gewann, so wurden offenbar auch für die äußere Einrichtung der Juristenschulen die hellenischen Philosophenschulen vielfach Muster.
59
[503] Dies betrifft insbesondere die beiden einflußreichsten (frühklassischen) Rechtsschulen, die sich unter der Autorität des C. Ateius Capito (gest. 22 n. Chr.) und des M. Antistius Labeo (gest. 10–11 n. Chr.) herausbildeten. Die eigentliche Schulbildung, Sabinianer bzw. Cassianer und Prokulianer, erfolgte erst nach dem Tod der namengebenden Rechtslehrer – Massurius Sabinus und C. Cassius Longinus bzw. M. Cocceius Nerva und Proculus –, aber noch in der frühen Prinzipatszeit. Die Schulen waren – ähnlich den griechischen Philosophenschulen – korporativ, d.h. vereinsartig organisiert. Das Schulhaupt fungierte als Vereinsvorstand, die Vorstandschaft ging durch Rechtsnachfolge von einem auf den anderen Lehrer über und die Schüler waren als [504]ordentliche Vereinsmitglieder zu Beitragszahlungen, einer Art Studiengebühr, verpflichtet; vgl. Kipp, Geschichte (wie oben, S. 431, Anm. 3), S. 115 f.
Aus dieser leh[504]renden und publizistischen Tätigkeit der Juristenschulen entwickelte sich die zunächst bei aller Präzision der Begriffe
o
[504] Fehlt in A.
noch stark empirische, aber zunehmend rationale Technik des römischen Rechts und seine wissenschaftliche
p
A, B: wissenschaftlichen
Sublimierung. Die durchaus sekundäre Stellung der theoretischen Rechtsschulung gegenüber der Rechtspraxis erklärt es, daß mit hochgradiger Abstraktion des Rechtsdenkens doch eine sehr geringe Entwicklung von abstrakten Rechtsbegriffen überall da verbunden blieb, wo diese nicht praktischen Interessen, sondern wesentlich systematischen Bedürfnissen gedient hätten
r
Alternative Lesung: hätte
. Die einheitliche Zusammenfassung zahlreicher scheinbar heterogener Sachverhalte unter [WuG1 465]der Kategorie „locatio“ z. B. hatte gewichtige praktische Folgen.
60
Gemeint ist, daß so unterschiedliche Regelungsfälle wie Miete, Pacht, Dienst- und Werkvertrag im römischen Recht unter die Kontraktsform der „locatio-conductio“ gebracht werden konnten. Die locatio-conductio war dabei eine jener – gegenüber dem ius civile – formfreien Verträge, welche vor allem in Handel und Wirtschaft erforderlich wurden und zunächst allein auf der bona fides beruhten.
Dagegen die Bildung des Begriffs „Rechtsgeschäft“ hat sie direkt wenigstens nicht bewirkt
s
Fehlt in B; bewirkt sinngemäß ergänzt.
:
61
Zu dieser Begriffsbildung vgl. auch Webers Ausführungen unten, S. 582.
sie dient uns zunächst systematischen Bedürfnissen. Daher fehlt dieser Begriff[,] ebenso wie etwa der des „Anspruchs“, der „Verfügung“ und ähnliche[,] dem antiken römischen Recht und ist dessen Systematik überhaupt noch in justinianischer Zeit relativ in recht bescheidenem Maße rationalisiert. Die Sublimierung der Begriffe erfolgte eben durchweg im Anschluß an konkrete Klage- und
t
B: Prozeß- und > Klage- und
Kontrakts-Schemata.
q
Fehlt in A.
Diese Sublimierung aber führte zu dem uns heut vorliegenden Ergebnis vornehmlich aus zwei Gründen: Zunächst war entscheidend die völlige Säkularisierung der Rechtspflege einschließlich vor allem des Konsulententums. Das Fetwa des islamischen Mufti ist durchaus eine Parallele des bindenden Responsum des römischen Juristen.
a
A: der römischen Responsen.
Denn auch der islamische Mufti ist konzessionierter Rechtskonsulent. Seine Bildung aber empfängt er durch Unterricht an den [A 9][B –]islamischen Hochschulen, welche zwar nach dem Muster der späteren[,] offiziell anerkannten [505]oströmischen Rechtsschulen
62
[505] Gemeint sind vor allem die bereits im 2. Jahrhundert entstandene Rechtsschule von Berytos in Syrien und die 425 n. Chr. gegründete Rechtsschule von Konstantinopel. In diesen Rechtsschulen fand ein geregelter Lehrbetrieb nach festem Studienplan durch besoldete Lehrer statt. Berytos genoß dabei wegen seiner Tradition besonderes Prestige, während andere, weniger bedeutende oströmische Rechtsschulen – wie die von Alexandria, Athen, Antiochia, Caesarea – wohl in erster Linie der zentralistischen Kulturpolitik Justinians zum Opfer fielen und verboten wurden.
sich entwickelt hatten und zeitweise, unter dem Einfluß der formalen Schulung an der antiken Philosophie, auch eine der antiken ähnliche Methodik entwickelt haben. Allein die Bildung blieb
b
[505]A: ist
vorwiegend theologisch, die religiöse und Traditionsgebundenheit, die unklare und praktisch höchst unsichere Lage des heiligen Rechts,
c
A: Beziehung zum heiligen Recht,
dessen Geltung weder zu beseitigen noch in der Praxis durchzuführen war,
d
A: war und ist,
und die sonstigen Eigentümlichkeiten aller theokratischen[,] an heilige Bücher gebundenen Justiz haben
e
A: der theokratischen Justiz haben aber
diese Entwicklungsansätze immer wieder verkümmern lassen und die Rechtslehre auf eine stark mechanische und empirische Aneignung des Rechtsstoffs mit rein theoretischer[,] lebensfremder
f
A: und theoretische
Kasuistik beschränkt. Die Art der Gerichtsorganisation und
g
A: Gerichtsorganisation,
die politisch bedingten Schranken der Rationalisierung der Wirtschaft taten dazu das Ihrige: in diesen
h
A: Ihrige. In den letzteren
Umständen liegt der zweite Grund des Unterschieds. Der theologische Einschlag fehlte der römischen Rechtsentwicklung völlig. Der
i
A: des Unterschieds: der
rein weltliche und zunehmend bürokratische spätrömische
j
Fehlt in A.
Staat war es, welcher aus den immerhin nur relativ
k
A: wenig
rational systematisierten Produkten des höchst präzisen römischen Rechtsdenkens der Respondenten und ihrer Schüler jene in der Weit einzigartige Sammlung der „Pandekten“ auslas und systematisch durch eigene Rechtsschöpfungen ergänzte, die dann noch nach Jahrhunderten das Material für das
l
In A folgt: systematische
Rechtsdenken der mittelalterlichen Universitätsbildung darbot[.]
m
A: darbot,
Schon während der Kaiserzeit war neben den im römischen Recht von alters her heimischen analytischen Grundzug ein weiteres Element getreten: der zunehmend abstrakte Charakter des Rechtsbegriffs. Dieser abstrakte Charakter lag teils vorgebildet im Wesen der römischen Klageformeln. [506]Diese bezogen sich zwar jede auf einen Rechtsbegriff als Thatbestand. Aber diese Begriffe waren teilweise so gefaßt, daß sie es ermöglichten und also den Rechtspraktikern[,] zumal den Cautelarjuristen, Anwälten und Consulenten, den Anlaß gaben[,] außerordentlich
o
[506]B: außerordentlich,
verschiedene ökonomische Sachverhalte unter einem geeigneten Begriff unterzubringen. Die Anpassung an neue ökonomische Bedürfnisse vollzog sich also zum sehr bedeutenden Teil in der Art, daß die alten Begriffe
p
In B folgt: ⟨durch „Projektion“ ⟨(wie⟩ (um einen Ausdruck⟩
rational interpretiert, gedehnt und erstreckt wurden. Damit aber wurde die rechtslogische und konstruktive Arbeit erst auf die Höhe gehoben, deren sie, auf dem Boden der rein analytischen Methode, überhaupt fähig ist. Auf die außerordentliche Elastizität von Rechtsbegriffen wie locatio conductio
q
In B folgt: ⟨(fast jede Art von „[Transport] un⟩
, emtio venditio, mandatum (speziell auch der actio quod jussu), depositum und vor Allem auf
r
Fehlt in B; auf sinngemäß ergänzt.
die schrankenlose Aufnahmefähigkeit der stipulatio, des constitutum für die meisten
s
B: alle > die meisten
[,] heut durch Wechsel oder andre formalen, auf feste Verträge lautenden Verpflichtungen hat Goldschmidt
63
[506] So betont z. B. Goldschmidt, Universalgeschichte, S. 78 f., die Elastizität jener Kategorien, welche die Anpassungsfähigkeit des ius civile gegenüber einem „weltweiten“ Handelsverkehr gewährleistet habe. Ebd., S. 78, Anm. 93, heißt es: „Die erstaunlich weite Kategorie des mandatum bez. iussus […] reichte aus […] auch für den entgeltlichen Auftrag, wie Kommissions- und Speditionsgeschäft, für die Handelsanweisung, die Kreditbürgschaft u.v.a.; die Kategorie emtio venditio für die kompliziertesten Lieferungs- und Prämiengeschäfte; die Kategorie locatio conductio für das Transport- und Entreprisegeschäft jeder Art; die Kategorieen stipulatio, […], constitutum, […], depositum für den umfassendsten Geld- und Kreditverkehr […].“ – Vgl. im übrigen die entsprechenden Glossareinträge.
mit Recht hingewiesen. Das Spezifische der römischen Rechtslogik, wie sie aus den gegebenen formalen Bedingungen herauswuchs, wird besonders anschaulich, wenn man damit etwa die Art des Vorgehens der englischen Cautelarjurisprudenz vergleicht. Auch sie hat oft mit größter Kühnheit einzelne Rechtsbegriffe benutzt, um mit ihrer Hülfe höchst verschiedenen Sachverhalten die recht[WuG1 466]liche Klagbarkeit zu verschaffen. Aber der Unterschied, der vorliegt, wenn etwa auf der einen Seite die römischen Juristen
t
B: das römische Recht > die römischen Juristen
die Kategorie des „jussus“ zur Construktion von Kreditbürgschaft und Anweisung benutzen oder auf der andern die englischen aus dem Deliktsbegriff des trespass die [507]Klagbarkeit zahlreicher[,] unter einander ganz verschiedner Kontrakte
a
[507]B: Vereinbarungen > Kontrakte
gewinnen,
64
[507] Vgl. dazu oben, S. 332 f.
liegt auf der Hand. Im letzten Fall wird juristisch Heterogenes zusammengeworfen[,] um auf einem Umweg den Rechtszwang zu erlangen, bei den Römern werden ökonomisch (äußerlich
b
B: (formalistisch > (äußerlich
N
MWG: formalistisch > äußerlich; öffnende Klammern in MWG digital entsprechend Vorlage B ergänzt.
) verschiedene und neue Thatbestände einem ihnen adäquaten Rechtsbegriff unterstellt. Allerdings ist der abstrakte Charakter vieler heute als spezifisch „römisch“ geltenden Rechtsbegriffe nichts Urwüchsiges, zum Teil nicht einmal etwas Antikes[.] Der viel besprochene römische Eigentumsbegriff z. B. war erst Produkt der Denationalisierung des römischen Rechts zum Weltrecht. Das nationale römische Eigentum war keineswegs ein besonders „abstrakt“ geartetes, überhaupt kein einheitliches Institut. Erst Justinian hat die radikalen Unterschiede beseitigt
c
B: beseitigt,
oder doch auf wenige Formen reduziert, welche das Bodenrecht aufwies, und erst infolge des Absterbens der alten prozessualen und sozialen Bedingungen des Interdiktenschutzes
65
Über die Entstehung und Bedeutung der Besitzinterdikte als prätorischer Rechtsmittel gegen verschiedene Arten der Besitzstörung handelt Weber, Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 177–183. Den ebd., S. 179, angedeuteten Plan einer Untersuchung der agrarischen Besitzinterdikte hat er allerdings nicht ausgeführt. Es findet sich lediglich eine tentative Bemerkung zur Frage der Entstehung und Geltung der possessorischen Interdikte in: Agrarverhältnisse, S. 160. – Wortlaut und Stellung der verschiedenen Besitzinterdikte im prätorischen Edikt bei Lenel, Edictum Perpetuum (wie oben, S. 388, Anm. 86), S. 430 ff.; vgl. im übrigen den Glossareintrag „possessio“.
blieben für die mittelalterliche Analyse des Begriffsgehalts der Pandekten
d
B: Rechtstheorie > Analyse des Begriffsgehalts der Pandekten
die beiden Institute: dominium und possessio[,] als ganz abstrakte Thatbestände übrig. Nicht wesentlich anders steht es mit zahlreichen andren Instituten. Vollends der ursprüngliche Charakter der meisten genuinen römischen Rechtsinstitute war nicht wesentlich abstrakter als derjenige der germanischen. Die eigenartige Form der Pandekten aber entsprang den eigentümlichen Peripetien der römischen Staatsform.
n
n(S. 507)n Fehlt in A.
Die
e
A: und auch die
Sublimierung des juristischen Denkens selbst war, in ihrer Richtung, wie das früher Gesagte ergibt,
f
A: war
66
Siehe oben, S. 501 ff.
zum Teil Konsequenz politischer Verhältnisse. Und zwar in verschiedener Art in republikanischer und in spätkaiserlicher [508]Zeit. Die
g
[508]A: Die dafür
so überaus wichtige technische Eigenart der älteren Rechtspflege und des Consulententums
h
A: Rechtspflege
war, wie wir sahen,
67
[508] Siehe oben, S. 495–497.
zum wesentlichen Teil Produkt der republikanischen
i
Fehlt in A.
Honoratiorenherrschaft. Andererseits war aber dieseHerrschaft einer eigentlich juristischen Fachschulung der gewählten kurzfristigen politischen vornehmen Beamten
k
B: politischen ⟨, ständisch⟩ vornehmen Beamten
nicht unbedingt
j
A: einer eigentlich rationalen juristischen Schulung der Beamten nicht
günstig gewesen. Die Kenntnis der XII
l
A: 12
Tafeln war von jeher Schulunterrichtsgegenstand.
m
A: Schulunterrichtsgegenstand gewesen,
Die Kenntnis der Gesetze aber eignete sich der republikanische römische Beamte wesentlich nur praktisch an. Seine Consulenten besorgten ihm das Übrige.
n
A: praktisch an.
Dagegen wurde nun die Notwendigkeit systematischen juristischen Studiums durch die kaiserliche Verwaltung mit ihren ernannten Beamten,
o
Fehlt in A.
ihrer Rationalisierung und Bürokratisierung,
p
In A folgt: also durch das Ausschalten der reinen
pa
B: ⟨alten⟩
Honoratiorenverwaltung
pb
In B folgt: ⟨des Römeradels, und zwar⟩
,
vor allem im Provinzialdienst, sehr stark gefördert. Diese allgemeine Wirkung jeder Bürokratisierung der Herrschaft werden wir später noch in größerem Zusammenhang verstehen.
68
Vgl. die Ausführungen über die Entwicklungsbedingungen und Folgen „bürokratischer Verwaltung“ in der sog. Herrschaftssoziologie: Weber, Bürokratismus, MWG I/22-4, S. 185–197.
Weil sie z. B.
q
A: Da sie
in England fehlte, blieb dort auch die systematische Rationalisierung des Rechtes weit stärker
r
Fehlt in A; B: dort weit stärker
im Rückstande.
s
In A folgt: Durch welche Mittel im übrigen die Bann | Fortsetzung des Typoskripttextes, unten, S. 510, textkritische Anm. f.
So lange die Consulenten als juristische Honoratioren die römische Rechtspflege beherrschten, blieb auch dort das Streben nach Systematik schwach und blieb, vor Allem, das codifizierende und systematisierende Eingreifen der politischen Gewalt gänzlich aus. Der Sturz des Römeradels unter den Severen
69
Die Severer-Dynastie (193–235 n. Chr.) begründete Septimius Severus (193–211), dem sein Sohn Caracalla (211–217), dann Elagabal (218–222) und schließlich Severus Alexander (222–235) nachfolgten. Unter diesen sog. Soldatenkaisern avancierte das Heer zum entscheidenden Faktor nicht nur bei der Kaiserproklamation, sondern in der gesamten Reichsverwaltung. Der Prinzipat wurde zur offenen Militärmonarchie umgewandelt. Italien verlor gegenüber den übrigen Provinzen seine privilegierte Stellung. Verstärkt wurden Ritter in administrative Spitzenstellungen berufen, während sich gleichzeitig Ritter- und Senatorenstand in wachsendem Umfang außeritalisch rekrutierten.
bezeichnet [509]zugleich den Rückgang der Bedeutung des Respondentenstandes und geht parallel einer rasch zunehmenden Bedeutung kaiserlicher Reskripte für die Gerichtspraxis. Die Rechtsschulung, in der Spätzeit an staatlich conzessionierten Schulen dargeboten, wurde nun litterarischer Unterricht an der Hand der Werke der Juristen. Die Gerichtspraxis arbeitete mit diesen als autoritären Quellen
u
[509]B: Hülfsmitteln > autoritären Quellen
, und die Kaiser stellten durch die sog. „Citiergesetze“
70
[509] Gemeint sind zwei Gesetze des Kaisers Konstantin aus dem vierten Jahrhundert und eines der Kaiser Theodosius II. und Valentinian III. aus dem fünften Jahrhundert, mit deren Hilfe Rechtssicherheit und Kohärenz der Rechtsordnung formell hergestellt werden sollten. Konstantin setzte 321 durch das sog. Kassiergesetz die kritischen Anmerkungen der Spätklassiker Paulus und Ulpian zu den Schriften Papinians außer Kraft und verkündete zugleich dessen maßgebliche Autorität. Durch Kaiserkonstitution erlangten im folgenden Jahr auch die Schriften des Paulus autoritative Geltung. 426 verliehen dann Theodosius II. und Valentinian III. durch Gesetz sämtlichen Schriften der Spätklassiker (Papinian, Paulus, Ulpian und Modestin) Rechtskraft. Bei der Entscheidung einer Rechtsfrage gab die Mehrheitsmeinung den Ausschlag, bei Stimmengleichheit die Auffassung Papinians; fehlte in einem konkreten Fall eine Äußerung Papinians, so stand dem Richter die Wahl der Meinung, der er beitreten wollte, frei.
für die Fälle des Dissenses Majoritätsentscheid und Rangfolge der juristischen Werke fest. Die Responsen-Sammlungen vertraten hier also jetzt die Stelle der Präjudizien-Sammlungen im Common Law. Diese Situation bedingte die Form der Pandekten und die Erhaltung wenigstens des in sie aufgenommenen Teils der klassischen juristischen Litteratur.
t
Fehlt in A.

[510][B Db][WuG1 467]§ 5. Formale und materiale Rationalisierung des Rechts. Theokratisches und profanes Recht[.]
a1
[510] Fehlt in A.

Bedeutung
c
B: ⟨Prinzipielle⟩ Bedeutung
und allgemeine Bedingungen des Rechtsformalismus[.] S. [510] – Materiale Rationalisierung des Rechts: das sakrale Recht.
d
B: Das sakrale Recht. > Materiale Rationalisierung des Rechts: das sakrale Recht.
S. [515] – Islamisches Recht[.] S. [526] [–] Jüdisches Recht[.] S. [535] [–] Kanonisches Recht[.] S. [544] –
b
Die Inhaltsübersicht ist links mit eckiger Klammer und Satzanweisung von fremder Hand: Petit versehen.
a2
Fehlt in A.
[A 10][B 1]Wir
e
In B geht am oberen Blattrand voraus: § [Spatium] Formale und materiale Rationalisierung des Rechts.
ea
In B folgt: ⟨Theokratisches Recht.
In das Spatium ist von fremder Hand die Ziffer 5 eingefügt.
sind
f
In A geht voraus: gewalt der englischen und übrigen Fürsten und ihrer Justizbeamten (Grafen, Kanzler) und das Imperium der antiken städtischen Magistrate den Inhalt des Rechts und den Rechtsgang beeinflußt haben, kann ebenfalls erst bei Besprechung der Herrschaft erörtert werden, ebenso der Einfluß der kirchlichen Organisation. Wo immer ; Anschluß an den Typoskripttext, oben, S. 508, textkritische Anm. s.
sind mit diesen Erörterungen bei dem wichtigen[,] schon gelegentlich
1
[210] Siehe oben, S. 283–285, 293 ff., 367 f., 422–424, 464–473 und S. 501 ff.
gestreiften Problem der Einwirkung der politischen Herrschaftsform auf die formalen Qualitäten des Rechts angelangt. Seine abschließende Erörterung setzt freilich die Analyse der Herrschaftsformen voraus, zu der wir erst weiterhin kommen.
2
Über die Einwirkung der patrimonialfürstlichen Gewalt auf die formale Rechtsstruktur handelt Weber unten, S. 560 ff. Eine eingehende Erörterung der Herrschaftsformen geschieht freilich erst in der „Herrschaftslehre“ (vgl. Weber, Bürokratismus, MWG I/22-4, S. 157 ff.), ohne daß eine abschließende Erörterung der Konsequenzen für die formalen Qualitäten des Rechts ersichtlich wäre.
Aber einige allgemeine Bemerkungen sind schon hier zu machen. Die alte Volksjustiz
h
In B folgt: ⟨der Sippenhäupter, Häuptlinge und gewählten Schiedsrichter⟩
, ursprünglich ein Sühneverfahren zwischen den Sippen, wird überall durch die Einwirkung der fürstlichen und magistratischen Gewalt
i
B: Banngewalt > Gewalt
(Bann, imperium) und, unter Umständen, der organisierten Priestergewalt aus ihrer primitiven formalistischen Irrationalität gerissen und zugleich auch der Rechtsinhalt von diesen Mächten nachhaltig beeinflußt. Und zwar verschieden je nach dem Charakter der Herrschaft. Je mehr
g
Fehlt in A.
der Herrschaftsapparat der Fürsten und Hierarchen ein rationaler, durch „Beamte“ vermittelter war, desto mehr
j
A: d. h. ein bürokratischer war oder ihmja nahestand, da
richtete sich auch ihr Einfluß (im ius [511]honorarium und den prätorischen Prozeßmitteln in der Antike, in den Capitularien der Frankenkönige, in den prozessualen Schöpfungen der englischen Könige und des Lordkanzlers,
k
A: [511]in den prozessualen Schöpfungen der englischen Könige und des Lordkanzlers, in den Capitularien der Frankenkönige,
in der kirchlichen Inquisitionsprozedur)
l
In B folgt: ⟨in aller Regel⟩
3
[511] Zu diesem gesamten Komplex vgl. unten, S. 547–549 und 555–560.
darauf, der Rechtspflege nach Inhalt und Form rationalen – freilich in verschiedenem Sinn rationalen –
m
Fehlt in A.
Charakter zu verleihen, irrationale Prozeßmittel auszuschalten und das materielle Recht zu systematisieren, und das bedeutete zugleich stets irgendwie:
n
A: eben wie immer:
zu rationalisieren. In eindeutiger Weise hatten aber
o
Fehlt in A.
jene Gewalten diese rationalen Tendenzen
p
A: Tendenzen aber
nur da, wo entweder die Interessen ihrer eigenen rationalen Verwaltung sie auf diesen Weg wiesen (wie das päpstliche Kirchenregiment) oder wo sie im Bunde mit mächtigen Gruppen
q
A: Rechtsgruppen
von Rechtsinteressenten standen, welche an dem rationalen Charakter des Rechts und Prozesses ein starkes Interesse hatten, wie die bürgerlichen Klassen in Rom, im ausgehenden Mittelalter und in der Neuzeit.
r
A: wieder in der neuesten Zeit.
Wo dies Bündnis fehlte, ist die Säkularisation des Rechts und die Herausdifferenzierung eines streng formal juristischen Denkens entweder in den Anfängen stecken geblieben
s
A: in den Anfängen stecken geblieben.
oder es ist ihr gradezu entgegengewirkt worden. Dies liegt, allgemein gesprochen, darin, daß der „Rationalismus“ der Hierarchen sowohl wie der Patrimonialfürsten materialen Charakters ist.
4
Zur patrimonialfürstlichen (materialen) Rechtsrationalisierung vgl. unten, S. 561–566.
Nicht die formal juristisch präziseste, für die Berechenbarkeit der Chancen und die rationale Systematik des Rechts und der Prozedur optimale, sondern die inhaltlich den praktisch-utilitarischen und ethischen Anforderungen jener Autoritäten entsprechendste Ausprägung wird erstrebt;
a
B: erstrebt,
eine Sonderung von „Ethik“ und „Recht“ liegt, wie wir schon sahen,
5
Siehe oben, S. 486.
gar nicht in der Absicht dieser[,] jeder selbstgenugsam und fachmäßig „juristischen“ Behandlung des Rechts durchaus fremd gegenüberstehenden Faktoren der Rechtsbildung. Speziell gilt dies in aller Regel von der theokratisch beeinflußten [512]Rechtsbildung mit ihrer Combination ethischer Anforderungen
b
[512]B: Combination ⟨sittlicher⟩ ethischer ⟨und juristischer⟩ Anforderungen
und juristischer Vorschriften.
t
Fehlt in A.
Aus den nichtjuristischen Bestandteilen einer von priesterlichen Einflüssen getragenen Rechtslehre konnten sich allerdings mit zunehmender Rationalisierung des Rechtsdenkens
c
A: Aus den Bestandteilen des von priesterlichen Rechtsschulen getragenen Rechtslehre konnten sich mit zunehmender Rationalisierung des Denkens
einerseits, der Vergesellschaftungsformen andererseits verschiedenerlei Konsequenzen ergeben.
d
In A folgt: Entweder ein zuerst religiös orientiertes, dann aber ein rein philosophisch begründetes abstraktes Naturrecht neben dem positiven Recht. Oder gerade umgekehrt In B zunächst überarbeitet, dann gestrichen: ⟨Entweder – dies geschah, sahen wir, nur im Occident – ein zuerst religiös orientiertes, dann aber ein rein philosophisch begründetes formal abstraktes Naturrecht neben dem formalen positiven Recht, mit einem nur nach Art und Maß verschieden starken Einfluß des ersteren auf das letztere. Oder […]⟩
Entweder löste sich das heilige Gebot
f
B: Sittengebot > Gebot
als „fas“ von dem „jus“ als dem gesatzten Recht für die Schlichtung der religiös indifferenten Interessenkonflikte der Menschen.
g
In B folgt zur Anschlußmarkierung für die den Text fortsetzende Allonge: Dann
Dann war diesem letzteren eine autonome Entwicklung zu einem je nachdem mehr logisch
i
i B: rein logisch juristischen > mehr logisch
oder mehr empirisch gearteten rationalen und formalen Recht möglich und ist auch in Rom ebenso wie im Mittelalter eingetreten. In welcher Art die Beziehungen zwischen religiös gebundenem Recht und frei gesatztem Recht sich dabei regulierten, wird noch zu erörtern sein.
6
[512] Siehe unten, S. 520 ff.
Das religiöse Recht konnte dabei – wie wir noch sehen werden
7
Siehe unten, S. 544 f. und S. 595–597, über die Rolle der stoischen Naturrechtskonzeption im Verhältnis von Staat und Kirche des Mittelalters. Vgl. aber auch die korrespondierenden Passagen über das Verhältnis von altem und mittelalterlichem Christentum zum Staat in Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 396–398.
– mit wachsender Säcularisierung des Denkens einen Concurrenten oder Ersatz in einem philosophisch begründeten „Naturrecht“ erhalten, welches neben [WuG1 468]dem positiven Recht teils als ideales Postulat[,] teils als eine verschieden stark die Rechtspraxis beeinflussende Doktrin herging. Oder jene Lösung der heiligen Gebote vom weltlichen Recht fand nicht statt und
h
Die am linken Blattrand unten angegklebte Allonge wurde von der an Blatt A 12/ B 3 befestigten Allonge (S. 519, textkritische Anm. j) abgeschnitten und hier angebracht. Ihre Rückseite enthält Text eines Brieffragments oder -entwurfs; vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 269, und den Wortlaut im Anhang zum Editorischen Bericht, oben, S. 273.
die spezifisch theokra[513]tische Vermischung von religiösen und rituellen mit rechtlichen Anforderungen blieb bestehen: Dann entstand
e
Fehlt in A.
ein verschwommenes Ineinanderschieben von ethischen und rechtlichen Pflichten, sittlichen Vermahnungen und Rechtsgeboten ohne formale Schärfe: spezifisch unformales Recht also. Welche Alternative eintrat,
j
[513]A: Was von beiden entstand,
hing teils von der früher schon erörterten
8
[513] Siehe oben, S. 487–491, über die priesterlichen Einflüsse auf das hinduistische und islamische Recht, sowie Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 386–402, über das prinzipielle Verhältnis von rationaler ethischer Religion und politischem Verband.
inneren Eigenart der betreffenden Religion und ihrem prinzipiellen Verhältnis zu Recht und Staat ab, teils – wovon später zu reden sein wird
9
Siehe Weber, Staat und Hierokratie, MWG I/22-4, S. 579 ff., über die Beziehungen zwischen politischer und hierokratischer Gewalt.
– von der Machtstellung der Priesterschaft im Verhältnis
k
A: Verhältnis zur staatlichen Herrschaft – wovon später zu reden sein wird –, teils von der äußeren Machtstellung der Priesterschaft
zur politischen Gewalt, teils endlich von der Struktur dieser letzteren.
l
A: letzteren ab. In A folgt: Spezifisch unformales Recht und unformale Rechtsprozedur Fortsetzung des Satzes auf der neuen Seite, vgl. unten, textkritische Anm. n.
Es ist eine Folge der später zu erörternden
10
Siehe Webers Bemerkungen über die religiöse Bedeutung und Wirkung des Cäsaropapismus in: Staat und Hierokratie, MWG I/22-4, S. 586–589, 644–650.
Bedingungen der Herrschaftsstrukturen, daß in fast allen asiatischen Rechtsgebieten der zuletzt genannte Zustand eintrat und bestehen blieb.
m
Fehlt in A.
[A 11][B 2]Gewisse gemeinsame Züge in der logischen Struktur des Rechts können aber Produkt unter einander sehr verschiedener Herrschaftsformen sein. Unformales Recht insbesondere pflegen auf der einen Seite die auf Pietät gestützten autoritären
n
A: pflegen die patriarchalen
Gewalten zu schaffen, die Theokratie sowohl wie der Patrimonialfürst. Auf der anderen Seite können aber
o
Fehlt in A.
auch bestimmte Formen der Demokratie formal sehr ähnliche Konsequenzen
q
B: Konsequenz
haben. Der Grund liegt darin, daß in all diesen Fällen es sich um Mächte handelt, deren Träger – der Hierarch, der Despot (gerade der „aufgeklärte“), der Demagoge
r
B: Despot, (gerade der „aufgeklärte“) der Demagoge,
p
A: die gleiche Konsequenz haben. In all diesen Fällen handelt es sich um Mächte, deren Träger
außer an solchen Normen, die von ihnen für schlechthin
s
Fehlt in A.
religiös heilig und daher absolut verbindlich angesehen werden müssen,
t
A: werden,
an keinerlei formale Schranken, auch [514]nicht an die von ihnen selbst gesetzten Regeln, gebunden sein wollen. Ihnen allen steht der unvermeidliche
b
B: unvermeidlichen
a
[514]A: Regeln gebunden sein wollen. Denn sie alle empfinden den unvermeidlichen
Widerspruch zwischen dem abstrakten Formalismus der Rechtslogik
c
Fehlt in A.
und dem Bedürfnis nach Erfüllung materialer Postulate durch das Recht im Wege. Denn indem
e
B: Indem
der spezifische Rechtsformalismus
d
A: Recht. Indem der Formalismus
den Rechtsapparat wie eine technisch rationale Maschine funktionieren läßt, gewährt er dem
f
A, B: den
einzelnen Rechtsinteressenten das relative Maximum an Spielraum für seine Bewegungsfreiheit und insbesondere für die rationale Berechnung der rechtlichen Folgen und Chancen seines Zweckhandelns. Er behandelt den Rechtsgang als eine spezifische Form befriedeten Interessenkampfs, den er an feste, unverbrüchliche „Spielregeln“ bindet.
h
In B folgt: ⟨Er wartet für seine Entschließungen⟩
Das urwüchsige
i
B: alte > urwüchsige
Sühneverfahren zwischen den Sippen
11
[514] Vgl. oben, S. 283, 327 und S. 448 f.
ebenso wie die dinggenossenschaftliche Justiz
12
Vgl. oben, S. 467–473; zum Begriff vgl. bes. S. 471 f., 473.
haben ein streng formal gebundenes Beweisrecht. Seinem Ursprung nach war dies, wie wir sahen[,]
13
Siehe oben, S. 447 f.
durch magische Vorstellungen bedingt: die Beweisfrage
j
B: Frage > Beweisfrage
muß richtig und von der richtigen Seite gestellt werden. Und auch weiterhin bleibt der Gedanke, daß man durch rationale Mittel eine „Thatsache“ im Sinn des heutigen Prozesses „feststellen“ könne, insbesondere durch das heute wichtigste Mittel der Vernehmung von „Zeugen“ oder durch „Indizien“[,] der Rechtspflege lange Zeit fremd. Der „Eideshelfer“ des alten Prozesses schwört nicht, daß eine „Thatsache[] wahr sei, sondern er bekräftigt das „Recht“ seiner Partei durch Einsetzung seiner Person dem göttlichen Fluch gegenüber.
14
Namentlich Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte II, S. 390, hat demgegenüber darauf hingewiesen, daß nicht nur das „Recht“ einer Partei, sondern auch die „Thatsachen“ auf indirekte Weise bekräftigt werden, indem sich an den Meineid nicht nur göttliche, sondern auch weltliche Strafen knüpfen. Zu „Parteieid und Eideshilfe“ vgl. ausführlich ebd., S. 378–391.
Die Praxis selbst ist übrigens mindestens so realistisch wie die heutige: die Mehrzahl aller Zeugen auch im heutigen Prozeß faßt ihre Rolle kaum anders auf, als so: daß sie zu schwören haben, wer „recht“ habe. Das alte Recht faßt demgemäß den „Beweis“ nicht als eine „Pflicht“, son[515]dern mindestens sehr weitgehend als ein Recht der Partei auf, das es ihr zuweist. Der Richter aber ist streng an diese Regeln und an die traditionellen Beweismittel gebunden. Die moderne „Beweislast“-Theorie noch des „gemeinen“ Prozesses unterscheidet sich davon nur durch die Auffassung des Beweises als „Pflicht“. Im Übrigen aber bindet auch sie den Richter an die Beweisanträge und Beweismittel, welche die Parteien ihm darbieten. Nicht anders in der
k
[515] In B folgt: ⟨Würdigung der materiellen Rechtsfrage selbst („Verhandlungsmaxime“)⟩
gesammten Behandlung des Prozeßbetriebs. Kraft der „Verhandlungsmaxime“ wartet der Richter die Anträge der Parteien ab. Was diese nicht beantragen
l
In B folgt: ⟨wollen⟩
oder nicht verbürgen, existiert für ihn nicht, was mit den allgemein geordneten Beweismitteln, irrationalen oder rationalen, nicht ermittelt wird, eben[WuG1 469]falls nicht. Er erstrebt also nur diejenige relative Wahrheit, welche innerhalb der durch Prozeßakte der Parteien gegebenen Grenzen erreichbar ist. Genau dies war auch hier der Charakter der Rechtsfindung in deren ältester scharf ausgeprägter zugänglicher Form: dem Sühne- und Schiedsverfahren zwischen streitenden Sippen, mit Orakel oder Gottesurteil als Prozeßmittel[.]
15
[515] Zu den verschiedenen Arten der Verbindung von Prozeßrecht und materiellem Recht im römischen, englischen und germanischen Recht vgl. oben, S. 299 f.
Streng formal, wie alle auf Anrufung magischer oder göttlicher Mächte ausgerichtete Thätigkeit, erwartete dieser Rechtsgang ein material „richtiges“ Urteil durch den irrationalen, übernatürlichen Charakter der entscheidenden Prozeßmittel. Wenn aber die Autorität und der Glaube an diese irrationalen Mächte geschwunden ist und nun rationale Beweismittel und logische
m
B: rationale > logische
Urteilsbegründung an ihre Stelle treten müssen, so bleibt der formalen Rechtspflege lediglich der Charakter des in der Richtung einer wenigstens relativ optimalen Chance der Wahrheitsermittlung
n
B: im Interesse der Wahrheitsfindung > in der Richtung einer wenigstens relativ optimalen Chance der Wahrheitsermittlung
geregelten Interessenkampfs der Parteien. Deren Angelegenheit, nicht die der öffentlichen Gewalt, ist der Betrieb des Prozesses. Der Richter zwingt sie nicht, etwas zu thun, was sie nicht von sich aus verlangen
o
B: wollen > verlangen
.
g
Fehlt in A.
Eben deshalb kann er aber dem [516]Bedürfnis nach optimaler Erfüllung materialer Anforderungen an eine dem konkreten Zweckmäßigkeits- oder Billigkeitsgefühl für den einzelnen Fall genügende Rechtspflege der Natur der Sache nach garnicht entsprechen, möge es sich bei jenen materialen Forderungen nun um politisch-zweckrational oder ethisch-gefühlsmäßig
p
A: Dagegen kann er dem Bedürfnis nach optimaler Erfüllung inhaltlicher Gerechtigkeitsforderungen für jeden einzelnen Fall der Natur der Sache nach garnicht entsprechen. Möge es sich bei jenen Forderungen nun um politisch oder ethisch
motivierte Zumutungen an die Rechtspflege handeln. Denn jene durch formale Justiz gewährte maximale Freiheit der Interessenten in der Vertretung ihrer formal legalen Interessen muß schon
q
[516]A: kann
infolge der Ungleichheit der ökonomischen Machtverteilung, welche durch sie legalisiert wird, immer wieder
r
A: besonders häufig
den Erfolg haben, daß materiale Postulate der religiösen Ethik oder auch
s
Fehlt in A.
der politischen Räson verletzt erscheinen. Dies aber gibt allen autoritären Gewalten: der Theokratie wie dem Patriarchalismus, Anstoß schon deshalb[,] weil es die Abhängigkeit des Einzelnen von der freien Gnade und Macht der Autoritäten lockert, der Demokratie aber deshalb[,] weil es die Abhängigkeit der Rechtspraxis und damit der Εinzelnen
b
B: Interessenten > Einzelnen
von Beschlüssen der Genossen mindert: es kann insbesondere die Chance einer zunehmenden Differenzierung der ökonomischen und sozialen Machtlage durch die Gestaltung des Prozesses zu einem friedlichen Interessenkampf noch gesteigert werden.
a
A: Sie gibt ferner sowohl der Theokratie wie dem Patriarchalismus Anstoß, weil sie die Abhängigkeit des Einzelnen von der freien Gnade und Macht der Autoritäten lockert. Der Demokratie kann sie die Gefahr einer Differenzierung der ökonomischen und sozialen Machtlage in sich zu tragen scheinen.
In allen diesen Fällen verletzt sie inhaltliche Gerechtigkeitsideale durch ihren unvermeidlich abstrakten Charakter. In eben diesem abstrakten Charakter aber pflegen
c
A: Formalismus werden
andererseits nicht nur die jeweils ökonomisch Mächtigen und daher an der freien Ausbeutung ihrer Macht Interessierten, sondern auch alle ideologischen Träger solcher
d
A: von
Bestrebungen, welche gerade
e
Fehlt in A.
die Brechung autoritärer Gebundenheit oder irrationaler Masseninstinkte zu Gunsten der Entfaltung der individuellen Chancen und Fähigkeiten herbeiführen
f
A: erwirken
möchten, einen entscheidenden Vorzug der formalen Justiz, in der unformalen dagegen nur
g
Fehlt in A.
die Chance absoluter Willkür und subjektivistischer Unstätheit zu
h
Fehlt in B; zu sinngemäß ergänzt.
sehen. Ihnen [A 12][B 3]werden alle diejenigen politischen und ökonomi[517]schen Interessenten
i
[517]A, B: Interessen
zufallen, welchen die Stetigkeit und Kalkulierbarkeit des Rechtsganges wichtig sein muß, also speziell
j
A: vor allem also
die Träger rationaler ökonomischer und politischer Dauerbetriebe. Vor allem den ersteren wird die formale und zugleich rationale Justiz als Garantie der „Freiheit“ gelten, eben desjenigen Gutes, welches theokratische oder patriarchal-autoritäre ebenso wie unter Umständen demokratische, jedenfalls alle
k
Fehlt in A.
ideologisch an materialer Gerechtigkeit interessierten
l
A, B: interessierte
Mächte verwerfen müssen. Diesen allen ist nicht mit formaler, sondern mit „Kadijustiz“ gedient.
m
A: gedient und diese daher ihre bevorzugte Rechtsform.
Die Volksjustiz in der unmittelbaren attischen Demokratie z. B.
16
[517] Zur „Kadijustiz“ der attischen Demokratie vgl. oben, S. 495 mit Anm. 42.
war eine solche in hohem Maße. Zwar
n
A: war in hohem Maße Kadijustiz und
nicht dem formalen Recht, wohl aber der Wirkung nach ist es nicht selten noch die moderne Geschworenenjustiz. Denn auch bei dieser immerhin stark formal eingeengten Form einer begrenzten Mitwirkung von
o
A: der
Volksjustiz besteht die Neigung, sich an formale Rechtsregeln nur soweit zu binden, als der Rechtsgang
p
A: sie
dazu technisch direkt nötigt. Im übrigen urteilt jede Volksjustiz, je mehr sie dies ist, nach dem
r
B: den
konkreten[,] ethisch oder – besonders in Athen, aber auch heutzutage – politisch [WuG1 470]oder sozialpolitisch bedingten „Gefühl“. Darin begegnen sich die Tendenzen einer souveränen Demokratie mit den autoritären Mächten der Theokratie und des patriarchalen Fürstentums. Denn es ist das Gleiche, wenn, dem
q
A: genötigt wird, und im übrigen nach den kon kreten ethisch oder – besonders in Athen – politisch motivierten Gefühl zu entscheiden. Darin begegnen sich die souveräne Demokratie mit den Souveränen Mächten der Theokratie und des Patrimonialfürstentums so etwa: wenn, dem klaren
formalen Recht zuwider, französische Geschworene den Ehemann, der den ertappten Ehebrecher tötet, regelmäßig
17
Freilich ging art. 324 des code pénal so weit, einen Entschuldigungsgrund anzunehmen für „le meurtre commis par l’époux sur l’épouse ainsi que son complice en flagrant dans la maison commune.“ Die französischen jurys d’assises sind hierüber, in antiformaler Weise, hinausgegangen, indem auch außerhalb des gemeinsamen Hauses, auf bloßen Verdacht und ohne in flagranti ertappt zu sein, das Tötungsdelikt entschuldigt wurde.
freisprechen oder
s
A: freisprechen. Oder
wenn Friedrich II. „Kabinettsjustiz“ zu Gunsten des Müllers Arnold übte.
t
A: übt.
18
Gemeint ist der höchst verwickelte, sich von 1773–1786 (dem Jahr der letzten in dieser Sache ergangenen Kabinettsorder Friedrich Wilhelms I.) hinziehende sog. Müller Arnold-Prozeß, in dem es materiell um eine Klage des Gutsherrn vor sich selbst als [518]Inhaber der Patrimonialgerichtsbarkeit gegen den Wassermühlenbesitzer Arnold auf Leistung des Pachtzinses ging. „Berühmt“ wurde der Prozeß durch das persönliche Eingreifen Friedrichs des Großen mittels Kabinettsbefehlen (einschließlich der Arretierung des Gerichts), die die (für den Müller ungünstigen) erst- und zweitinstanzlichen Urteile der ordentlichen Gerichtsbarkeit kassierten und an ihre Stelle eine der könglichen, auf Gleichheit vor dem Gesetz bedachten Rechtsauffassung entsprechende Entscheidung nach „natürlicher“ Billigkeit setzten. So heißt es in dem vom König selbst verfaßten Protokoll vom 11. Dez. 1779: „Denn ein Justizkollegium, das Ungerechtigkeit ausübt, ist gefährlicher und schlimmer wie eine Diebesbande […]“ (zit. nach Rosenfeld, [Ernst Heinrich], Die Geschichte des Müller Arnold-Prozesses, in: Neumann, [Johann Ernst], Aus der Festungszeit preußischer Kammergerichts- und Regierungsräte auf Spandau 1780. – Berlin: Kühne 1910, S. 199–231, hier S. 212).
[518]Das ganze Wesen der theokratischen Justiz vollends besteht
a
[518]A: besteht vollends
in dem Vorwalten konkreter ethischer Billigkeitsgesichtspunkte, deren unformale und antiformale Tendenz bei ihr nur
b
Fehlt in A.
in dem ausdrücklich festgelegten heiligen Recht ihre Schranke findet. Wo dessen Normen eingreifen, gebiert sie dagegen
c
A: daher
umgekehrt eine ungemein formalistische Kasuistik zwecks Anpassung an die Bedürfnisse der Rechtsinteressenten. Die weltliche patrimonial-autoritäre
e
B: weltliche (patrimonialfürstliche) > weltliche patrimonialautoritäre
Justiz ist, auch wo sie sich ihrerseits an die Tradition binden muß, bei deren immerhin größerer Elastizität“
d
A: Die patrimoniale Justiz, obwohl ihrerseits an die Heiligkeit der Tradition gebunden, ist bei deren immerhin größerer Elastizität darin
wesentlich freier gestellt. Die typische Honoratiorenjustiz endlich zeigt zuweilen ein doppeltes Gesicht, je nachdem es sich um die typischen Rechtsinteressen
g
B: Interessen d > typischen Rechtsinteressen
der Honoratiorenschicht selbst oder der von ihr beherrschten Schichten handelt. Die englische Justiz z. B. war in allen vor die Reichsgerichte gelangenden Angelegenheiten streng formale
h
In B folgt: ⟨empirisch⟩
Justiz. Aber die Friedensrichterjustiz gegenüber den Alltagshändeln und Delikten der Massen war in einem Grade unformal und
i
B: formlos und > unformal und
direkt „Kadijustiz“,
19
Man findet diese Einschätzung wörtlich bei Lord Brougham, einem englischen Lordkanzler, der in den 1890er Jahren über den Friedensrichter schreibt, dieser „übe eine Justiz nach der Weise des türkischen Kadi“ (zit. nach Wertheim, Wörterbuch (wie oben, S. 331, Anm. 56), S. 317). Die Eigenart der englischen Friedensrichterverwaltung hat Weber darüber hinaus eingehend erörtert in der älteren „Herrschaftssoziologie“; vgl. Patrimonialismus, MWG I/22-4, S. 352–361. – An anderer Stelle (vgl. ebd., S. 662) schreibt er den zur Kennzeichnung dieser Art von Justiz „zutreffenden“ Terminus Richard Schmidt zu. Dieser verwendet den Ausdruck „,Kadi‘- oder Paschajustiz“ zur Charakterisierung einer rechtspolitischen Tendenz gegen den Rechtsformalismus der herrschenden Jurisprudenz (vgl. ders., Lehrbuch des deutschen Civilprozeßrechts. – Leipzig: Duncker & Humblot 1898, S. 8).
wie es für uns auf dem Continent völlig unbekannt [519]ist. Und die Kostspieligkeit der Anwaltsjustiz bedeutete andrerseits für die Unbemittelten im Effekt hier ebenso wie aus andren Gründen die republikanische römische Justiz eine faktische Rechtsverweigerung, welche den Interessen der besitzenden, auch der kapitalistischen, Schichten weit entgegenkam. Wo ein solcher Dualismus der Rechtspraxis: formale Justiz für die Conflikte innerhalb der eignen Schicht, Willkür oder faktische Rechtsverweigerung gegenüber den ökonomisch Schwachen, nicht zu erreichen ist, da pflegen kapitalistische Interessenten natürlich bei universeller Durchführung streng formaler, auf der Verhandlungsmaxime ruhender Justiz am besten zu fahren. Und da die Honoratiorenjustiz mit ihrer unvermeidlich wesentlich empirischen Rechtspraxis, ihrem complizierten Prozeßmittelsystem und ihrer Kostspieligkeit auch ihren Interessen starke Hemmnisse bereiten kann: – nicht durch, sondern zum Teil auch trotz der Struktur seines Rechts gewann England den kapitalistischen Primat –[,] so pflegen die bürgerlichen Schichten im Allgemeinen am stärksten an rationaler Rechtspraxis, und dadurch auch an einem systematisierten, eindeutigen, zweckrational geschaffenen formalen Recht interessiert zu sein,
k
B: sein ⟨an der Codifikation als solcher und an der klaren Abgrenzung der Sphären.⟩
welches Traditionsgebundenheit und Willkür gleichermaßen ausschließt und also subjektives Recht nur aus objektiven Normen hervorgehen läßt.
l
In B verläuft der ursprüngliche, gestrichene und nicht mehr lesbare Satzanschluß in die Schneidekante der Allonge.
Die englischen Puritaner haben ein solches systematisch codifiziertes Recht
20
[519] Die Kodifikationsbestrebungen reichen in England bis auf die Zeit Elisabeths und Jakobs I. (Ende des 16./Anfang des 17. Jahrhunderts) zurück. Insbesondere Francis Bacon, der Lordkanzler Jakobs l., unterstützte den Kodifikationsgedanken, drang damit allerdings nicht durch; vgl. Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 129 f. Neuerliche Bemühungen, das Common Law zu kodifizieren, wurden Mitte des 17. Jahrhunderts unter dem Protektorat Oliver Cromwells unternommen. Ein Parlamentskomitee sollte ein umfassendes Gesetzbuch ausarbeiten mit dem Ziel „das Recht leicht, klar und kurz zu gestalten und die Fälle unsicherer Präzedenzfälle los zu werden“ (zit. nach Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 150). Auch dieser Versuch verlief ergebnislos, so daß die Kodifikationsarbeit erst im 19. Jahrhundert wieder aufgenommen wurde; vgl. dazu auch oben, S. 457 f.
ebenso wie die römischen Plebejer und das deutsche Bürgertum des 19. Jahrhunderts verlangt. Bis dahin war aber ein weiter Weg.
m
In B folgt die Satzanweisung Max Webers: Absatz.
j
[519]Die Rückseite der am unteren Blattrand angebrachten Allonge enthält den fragmentarischen Text eines Briefes oder Briefentwurfs Max Webers; vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 269, und den Wortlaut im Anhang zum Editorischen Bericht, oben, S. 273.
f
Fehlt in A.
[520]Nicht nur bei der theokratisch, sondern auch bei der durch weltliche Honoratioren, im Wege der Rechtsprechung oder der privaten oder offiziell anerkannten Rechtskonsultation geleiteten Justiz
n
[520]A: Bei der theokratischen ebenso wie bei der durch private oder offiziell anerkannte Rechtskonsultation geleiteten
und ebenso bei der auf dem Imperium und der Banngewalt der die Prozesse instruierenden Magistrate, Fürsten und Beamten,
o
A, B: Beamte,
beruhenden
p
A: beeinflußten
Entwicklung des Rechts und Rechtsganges bleibt zunächst die Vorstellung unangetastet: daß das Recht grundsätzlich etwas von jeher gleichmäßig Geltendes,
q
A, B: geltendes,
nur der eindeutigen Interpretation und Anwendung auf den Einzelfall Bedürftiges
r
A, B: bedürftiges
sei.
s
In A folgt: Jedes Fortsetzung des Typoskripttextes, unten, S. 573, textkritische Anm. f.
[A 12a][B 4]Immerhin war, wie wir sahen,
21
[520] Siehe oben, S. 454–456.
selbst bei ökonomisch sehr wenig differenzierten Verhältnissen ein Vordringen rational vereinbarter Normen
a
A: der Konzeption eines gesatzten und vereinbarten Rechtes ; B: der Konzeption rational gesatzten und vereinbarten Rechts > rational vereinbarter Normen
an sich recht wohl möglich, sofern nur die Gewalt der magischen Stereotypierung gebrochen war. Die Existenz irrationaler Offenbarungsmittel als des einzigen Weges zu Neuerungen bedeutete immerhin faktisch oft eine weitgehende Beweglichkeit der Normen,
c
B: des Rechts, > der Normen,
ihr Fortfall nicht selten eine erhöhte Stereotypierung, weil nun die Macht der sacralen Tradition ganz allein als „heilig“ auf dem Plan blieb und von den Priestern zu einem System sacralen Rechts sublimiert wurde.
d
In B folgt die Satzanweisung Max Webers: Absatz.
b
A: und der Alleinherrschaft der Offenbarung als Mittel der Neuerung gebrochen war.
[WuG1 471]In sehr verschiedenem Maß ist die Herrschaft sakralen Rechts und sakraler Rechtsschöpfung in die
e
A: den
einzelnen geographischen und sachlichen Rechtsgebiete eingedrungen und aus ihnen wieder
f
A: Rechtsgebieten
zurückgedrängt worden. Wir lassen hier das durch ursprünglich rein magische Normen begründete spezifische
g
A: haben es hier nur mit dem letzteren zu tun, welche das theokratische Recht mit sehr verschiedener Intensität festzuhalten pflegt. Dabei sollen die magischen und religiösen Normen, welche das spezifische
Interesse des heiligen Rechts an allen Straf- und Sühneproblemen, ebenso sein in [521]anderem Zusammenhang
i
[521]Eheschließung und das gesamte Familienrecht einschließlich des Erbrechts In B folgt: ⟨später⟩
zu erörterndes
22
[521] Siehe den Abschnitt über das Verhältnis von „politischer“ und „hierokratischer Gewalt“: Weber, Staat und Hierokratie, MWG I/22-4, S. 579 ff.
Interesse am politischen Recht und endlich die ebenfalls ursprünglich magisch bedingten Normen über die sakralrechtlich statthaften Zeiten, Orte und Beweismittel der Prozedur ganz beiseite und wollen im Wesentlichen nur das Gebiet des „Zivilrechts“ im üblichen Sinn betrachten. Hier waren die Grundsätze über Zulässigkeit und Folgen der Eheschließung, das Familienrecht und das ihm dem Wesen nach zugehörige Erbrecht
h
A: Sühneproblemen begründen, und ebenso sein Interesse an politischen Rechtsproblemen und an den sakralrechtlich statthaften Zeiten, Orten und Beweismitteln der Prozeduren ganz beiseite gelassen und nur das Zivilrecht betrachtet werden. Hier sind die Grundsätze über Zulässigkeit und Folgen der
eine Hauptdomäne sakralen Rechts, in China und Indien ebenso wie im römischen fas, im islamischen Schariat
j
A: in der islamischen Scharia
und im kanonischen Recht des Mittelalters. Die alten magischen Inzestverbote waren
k
In A folgt: die
Vorläufer der religiösen Kontrolle der Ehe. Die Wichtigkeit gültiger Ahnenopfer und anderer sacra der Familie traten hinzu und bedingten das Eingreifen des heiligen Rechts im Familien- und Erbrecht. Im Gebiet des Christentums, wo die letztgenannten Interessen teilweise fortfielen, wirkte dann
l
A: Ehe, für welche die Wichtigkeit gültiger Ahnenopfer und anderer sacra der Familie ebenso die Wege wies, wie für das Familien- und Erbrecht überhaupt. Im mittelalterlichen Okzident, wo jene Interessen keineswegs fortfielen, wirkte
das fiskalische Interesse der Kirche an der Gültigkeit der Testamente in der Richtung der Aufrechterhaltung der Erbrechtskontrolle.
23
Die mittelalterliche Kirche hatte ihrer Klientel erfolgreich die Vorstellung vermittelt, durch testamentarische Verfügungen zu Gunsten der Kirche verdienstliche Werke im Interesse des eigenen Seelenheils zu tun. Sie profitierte davon so sehr, daß sich Könige und Fürsten zunehmend gezwungen sahen, die kirchliche Vermögensakkumulation (die in Verbindung mit feudalen Exemtionen bedeutende „staatliche“ Einnahmeverluste nach sich zog) gesetzgeberisch zu unterbinden („Tote Hand“-Gesetze).
Mit dem profanen Verkehrsrecht konnten zunächst
m
A: Darüber hinaus konnten
die religiösen Normen über die für religiöse Zwecke gewidmeten oder aus anderen Gründen heiligen oder umgekehrt magisch tabuierten Objekte und Örtlichkeiten in Konflikte gerathen.
n
A: Konflikte des heiligen Rechts mit dem normalen Verkehrsrecht herbeiführen.
In das Gebiet des Kontraktrechts griff das sakrale Recht aus formalen Gründen dann ein, wenn – was ungemein häufig, ursprünglich wohl regelmäßig, geschah –
o
A: dann ein, wenn
eine religiöse Verpfiichtungsform, z. B. Eid, gewählt worden war. Aus materialen Gründen dann, wenn
p
A: da, wo
zwingende Normen der religiösen Ethik, wie z. B. das Wucherverbot, in Frage stan[522]den. Über diesen letzten Punkt ist schon bei der Erörterung der ökonomischen Bedeutung der religiösen Ethik gesprochen worden.
24
[522] Siehe Webers Ausführungen über das sakralrechtliche (besonders kanonische) Zins- und Wucherverbot in: Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 376–384.
Aus dem dort Gesagten geht
q
[522]A: ging
auch hervor, daß sich die Beziehung des profanen zum sakralen Recht ganz allgemein höchst verschieden gestaltete,
r
A: gestaltet,
je nach dem prinzipiellen Charakter der religiösen [A 12b][B 5]Ethik. Soweit diese im Stadium magischen und ritualistischen Formalismus verharrte, konnte
s
A: verharrt, kann
sie unter Umständen durch raffinierte Rationalisierung der magischen Kasuistik mit Hülfe ihrer eigenen Mittel bis zur vollkommenen Wirkungslosigkeit paralysiert werden. Das römische fas ist im Lauf der republikanischen Zeif gänzlich diesem Schicksale verfallen. Es gab durchaus keine heilige Norm, für deren Ausschaltung nicht ein geeignetes sakraltechnisches Mittel oder eine Umgehungsform erfunden worden wäre.
a
A: war.
Die religiöse Cassationsgewalt des Augurencollegiums gegen Volksschlüsse – denn darauf lief der Einspruch wegen religiöser Formfehler und böser omina im Ergebnis hinaus – ist in Rom niemals, wie das ebenfalls sacral
d
In B folgt: ⟨religiös⟩
mitbedingte Cassationsrecht
c
B: die Macht > das ebenfalls sacral mitbedingte Cassationsrecht
des Arriopags in Athen durch Ephialtes und Perikles, formell abgeschafft worden.
25
Ephialtes setzte 462 v. Chr. die Entmachtung des Areopags durch Übertragung seiner Verwaltungskontrollrechte und Jurisdiktionsbefugnisse auf die politischen Institutionen des Demos (Rat der 500, Volksversammlung und Volksgericht) ins Werk. Perikles, der dem Ephialtes nach dessen Ermordung 461 v. Chr. nachfolgte, stand bei diesen Maßnahmen noch im Hintergrund.
Aber es diente bei der absoluten Herrschaft des weltlichen Amtsadels über die Priesterschaft wesentlich nur politischen Zwecken, und seine Casuistik wurde auch in dieser Funktion[,] ganz ebenso wie die des materialen fas[,] durch sacraltechnische Mittel so gut wie unschädlich gemacht.
b
Fehlt in A.
Das durchaus säkularisierte „ius“ war daher ebenso wie das hellenische Recht der Spätzeit
e
Fehlt in A.
vor Eingriffen von dieser Seite trotz des ungeheuren Raumes, welchen im römischen Leben die Rücksicht auf die rituellen Pflichten
f
A: numina
einnahm, durchaus gesichert. Die Unterwerfung der priesterlichen unter die profane Gewalt auf dem Boden der [523]antiken Polis entschied, nächst gewissen früher erwähnten
26
[523] Siehe oben, S. 497–500; auch Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 134–137.
Eigentümlichkeiten der römischen Götterwelt und ihrer Behandlung, diese Entwicklung.
g
Fehlt in A.
Ganz anders, wo eine
h
[523] In A folgt: sozial
herrschende Priesterschaft das gesamte Leben ritualistisch zu reglementieren vermochte und das gesammte
i
Fehlt in A.
Recht weitgehend unter ihrer Kontrolle behielt, wie namentlich in Indien. Dort ist der Theorie nach das gesammte Recht in den Dharmasastras enthalten
k
B: heiliges Recht > in den Dharmasastras enthalten
.
j
Fehlt in A.
Die rein profane Rechtsbildung blieb daher
l
A: dann
auf die Entwicklung von Partikularrechten für die einzelnen Berufs[WuG1 472]stände: Kaufleute, Handwerker usw[.], beschränkt. Dies Recht der Berufsverbände und Kasten, sich ihr Recht selbst zu setzen, also der Satz: Willkür bricht Landrecht, war von Niemandem bezweifelt, und fast alles praktisch geltende profane Recht entstammt diesen Quellen.
27
Zur Rechtsautonomie der Kasten und Gilden vgl. Weber, Hinduismus und Buddhismus, MWG I/20, S. 54, 109, 113, 191. – Weber stützt sich hier und im folgenden, wie aus dem dichteren Textbezug der religionssoziologischen Parallelstudie ersichtlich, primär auf Jolly, Recht (wie oben, S. 325 f., Anm. 41), S. 132–136 (Gerichtsordnung und Instanzenzug), S. 140–146 (Beweis- und Vollstreckungsrecht), und S. 119–123 (Verhältnis von sakralem, profanem und Verbandsrecht).
Da aber dies praktisch für die meisten profanen Lebensverhältnisse allein in Betracht kommende Recht nicht Gegenstand der Priesterlehre und der philosophischen Schullehre und also überhaupt gar keiner berufsmäßigen Pflege war, entbehrt es jeglicher Rationalisierung und, trotz praktisch oft weitgehender Unbekümmertheit um die sakralen[,] der Theorie nach auch hier absolut zwingenden Normen, doch in Abweichungsfällen der sicheren
m
A: beschränkt und entbehrte, da das praktisch geltende Recht nicht Gegenstand der Priesterlehre war, der Rationalisierung und, trotz praktisch oft weitgehender Unbekümmertheit um die sakralen Normen, doch der
Geltungsgarantie.
n
n(S. 525) Fehlt in A.
Die indische Rechtsfindung verleugnet die eigentümliche Mischung aus magischen und rationalen Elementen nicht, welche dem Charakter der Religiosität einerseits, der theokratisch-patriarchalen Lebensreglementierung andrerseits entspricht. Der Formalismus des Rechtsganges ist im Ganzen gering; dinggenossenschaftlichen Charakter
o
In B folgt: ⟨⟨haben⟩ entsprechen selbst die Dorfgerichte nicht.⟩
besitzen die Gerichte nicht; die Bindung des Königs an das Urteil des Oberrichters und die Vorschrift der Zuziehung von Laienbei[524]sitzern (Kaufleute und Schreiber in den älteren, Zunftmeister und Schreiber in den jüngeren Quellen) entstammt rationaler Ordnung
p
[524]B: Provenienz > Ordnung
. Der autonomen Rechtssetzung der Verbände entspricht die große Bedeutung der privaten Schiedsgerichte. Andrerseits ist aber von den organisierten Gerichten der Verbände prinzipiell die Berufung an die öffentlichen Gerichte zulässig. Die Beweismittel sind heute primär rational: Urkunden und Zeugen. Die Ordale waren für die Fälle der mangelnden Eindeutigkeit
q
B: Sicherheit > Eindeutigkeit
des rationalen Beweises reserviert; hier aber waren sie, speziell der Eid (Wartefrist auf die Folgen der Selbstverfluchung)[,] in ihrer ungebrochenen magischen Bedeutung erhalten. Ebenso standen die magischen Zwangsvollstreckungsmittel
r
In B folgt: ⟨(Selbstmord,⟩
(Verhungern des Gläubigers vor der Tür des Schuldners)
28
[524] Vgl. oben, S. 325 mit Anm. 41 (S. 325 f.).
neben der amtlichen
s
B: rationalen > amtlichen
Exekution und neben legalisierter Selbsthülfe. Ein ziemlich vollständiger Parallelismus sacralen und profanen Rechts bestand im Criminalverfahren; aber auch die Tendenz zur Verschmelzung beider fand sich entwickelt, und im ganzen waren sakrales und profanes Recht praktisch eine ungeschiedene Einheit geworden, welche die Reste des alten arischen Rechts überdeckten, ihrerseits aber wieder durch die autonome Justiz der Verbände, vor Allem aber durch die Kastenjustiz, die über das wirksamste aller Zwangsmittel: die Ausstoßung aus der Kaste, verfügte
t
In B folgt: ⟨und verfügt,⟩
, durchbrochen wurde. Keineswegs gering war auch der legislatorische Einfluß buddhistischer Ethik innerhalb des Geltungsbereichs des Buddhismus als Staatsreligion (Ceylon, Hinterindien, namentlich Kambodscha und Birma).
29
Zur Verbreitung der buddhistischen Lehre in den ceylonesischen und hinterindischen Gebieten durch eine vom Mauryakönig Açoka Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. gestützte Mission vgl. Weber, Hinduismus und Buddhismus, MWG I/20, S. 382 f. – Für die folgende Beschreibung des legislatorischen Einflusses der buddhistischen Ethik ist besonders auch Kohler, Recht der orientalischen Völker (wie oben, S. 325 f., Anm. 41), S. 123–129, zu vergleichen.
Die Gleichstellung von Mann und Weib (kognatisches Erbrecht, Gütergemeinschaft), die Elternpietät im Interesse des jenseitigen Elternschicksals (daher Schuldenhaftung der Erben), die gesinnungsethische Sublimierung des Rechts, der Sklavenschutz, die Milde des Strafrechts (mit Ausnahme des[,] im Kontrast dazu, oft höchst grausamen politischen [525]Strafrechts), die Wohlverhaltens-Bürgschaft kommen auf seine Rechnung. Im Übrigen aber war selbst die relativierte Welt-Ethik des Buddhismus so durchaus auf die Gesinnung einerseits, rituellen Formalismus andrerseits abgestellt, daß ein eigentliches heiliges „Recht“ als Objekt einer besonderen Doktrin auf diesem Boden schwer entstehen konnte. Immerhin hat sich doch eine Rechtsbuch-Litteratur hinduistischen Gepräges entwickelt und es ermöglicht, in Birma 1875 das „buddhistische Recht“ (d. h. rein buddhistisch modifizierte Recht indischer Provenienz) zum offiziellen Recht zu proklamieren.
n
[525](S. 523)
30
[525] Weber stützt sich hier vermutlich auf Jolly, Recht (wie oben, S. 325 f., Anm. 41), S. 42.
In China hat umgekehrt die alleinherrschende Bürokratie die magischen und animistischen Pflichten auf das rein rituelle Gebiet beschränkt, von wo aus sie freilich, wie wir schon sahen und noch sehen werden,
31
Siehe Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG, I/22-2, S. 128; ders., Gemeinschaften, MWG I/22-1, S. 148 f., sowie ders., Bürokratismus, MWG I/22-4, S. 174 f., über die ökonomische und politische Wirkung der chinesischen, magisch-animistischen Trauervorschriften.
ziemlich tiefgreifende Einflüsse auch auf die Wirtschaft ausgeübt haben.
u
Die Zeilen sind links mit zwei Senkrechtstrichen markiert. Am Rand steht die Notiz Max Webers: Buchreligion!
Die
a
In B folgt: ⟨Im Übrigen gilt dort der Satz „Willkür bricht Landrecht“ ⟨in voller Conseq;⟩ auch praktisch: die „Gesetze“ der Kaiser sind Verwaltungsreglements.⟩
Irrationalitäten der Justiz aber sind dort patrimonial, nicht theokratisch bedingt. Wie die Prophetie überhaupt, so ist auch die Rechtsprophetie in historischer Zeit in China unbekannt. Es findet sich auch keine Schicht respondierender Juristen und überhaupt, scheint es, keine spezifische Rechtsschulung, dem patriarchalen Charakter des politischen Verbandes [WuG1 473]entsprechend, welcher der Entwicklung eines formalen Rechts widerstrebte.
32
Zum Fehlen der Prophetie in China und zum chinesischen Recht sind Webers Ausführungen in der Konfuzianismusstudie zu vergleichen: Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 333, 362, 410, 420, 433, 460 f. (Fehlen der Prophetie) und S. 279–284, 341 f. (Recht).
Consulenten über magische Riten sind die
c
In B folgt: ⟨Tao-Priester⟩
„Wu“ und „Hih“
d
B: „Wei“ Zur Emendation vgl. Anm. 33.
(„taoistische“ Zauberpriester)
33
Die „Wu“ und „Hih“ kennzeichnet Weber in der Konfuzianismusstudie als „alte[n] Medizinmänner und Regenmacher“ (Konfuzianismus, MWG I/19, S. 382) bzw. „uralte meteorologische Magier und Regenzauberer“ (ebd., S. 404), die sich bis in die Gegenwart fänden. Über deren taoistische Herkunft und mantische Funktionen vgl. z. B. Groot, Johann Jakob Maria de, Die Religionen der Chinesen, in: Lehmann, Edv[ard] [526]u. a., Die Orientalischen Religionen (Die Kultur der Gegenwart, hg. von Paul Hinneberg, Teil I, Abt. III, 1). – Berlin, Leipzig: B. G. Teubner 1906, S. 162–193, hier S. 176 f., 180.
, [526]als Berather in ceremoniellen und rechtlichen Angelegenheiten fungieren für Familien, Sippe, Dorf die examinierten[,] also literarisch gebildeten Mitglieder aus ihrer Mitte.
b
Der
e
[526]In B geht die Satzanweisung Max Webers voraus: Absatz!
Islam kennt der Theorie nach sogut wie kein Gebiet des Rechtslebens, auf welchem nicht Ansprüche heiliger Normen der Entwicklung profanen Rechts den Weg versperrten. Der Thatsache nach haben umfassende Rezeptionen hellenischen und römischen Rechts stattgefunden.
34
Dies betonen namentlich Goldziher, Ignaz, Vorlesungen über den Islam (Religionswissenschaftliche Bibliothek, hg. von Wilhelm Streitberg und Richard Wünsch, Band 1). – Heidelberg: Carl Winter 1910, S. 3, 48 (hinfort: Goldziher, Vorlesungen); ders., Die Religion des Islams, in: Lehmann, Edv[ard] u. a., Die Orientalischen Religionen (Die Kultur der Gegenwart, hg. von Paul Hinneberg, Teil I, Abt. III, 1). – Berlin, Leipzig: B. G. Teubner 1906, S. 87–135, hier S. 102 (hinfort: Goldziher, Religion des Islams), und Kohler, Recht der orientalischen Völker (wie oben, S. 325 f., Anm. 41), S. 96 f., 111.
Offiziell aber
f
A: Im Grunde genommen
wird das gesamte bürgerliche Recht als Interpretation oder gewohnheitsrechtliche Fortbildung des Koran
g
In A folgt: und der Sunna
in Anspruch genommen. Dies geschah namentlich, nachdem der Sturz der Ommajaden und die Begründung der Abbasidenherrschaft unter dem Schlagwort der Rückkehr zur heiligen Tradition die cäsaropapistischen Prinzipien der zarathustrischen Sassaniden auf den Islam übertrug.
35
Der letzte Kalif aus der arabischen Ommajadendynastie (661–750 n. Chr.), Merwan II. (744–750), wurde 750 in der Schlacht am Zab (Nebenfluß des Tigris) von den persischen Abbasiden vernichtend geschlagen. In den islamischen Kerngebieten fiel nun das Kalifat an die Abbasiden, die es bis zur mongolischen Eroberung (1258) hielten. – Im neupersischen Reich der Sassaniden (227–642 n. Chr.) war in betonter Abkehr vom Philhellenismus der parthischen Vorgänger die von Zarathustra um 600 v. Chr. gestiftete ethisch-dualistische Religion erneuert und schließlich zur Staatsreligion erhoben worden. Nicht zuletzt dies hatte den inneren Zusammenhalt des sassanidischen zentralisierten Feudalstaates gestärkt – bis zur islamischen Eroberung 642; vgl. dazu Goldziher, Muhammedanische Studien (wie oben, S. 487, Anm. 24), S. 52–66.
Die Stellung
h
h–h (bis S. 530: Juristenrecht.) Fehlt in A.
des heiligen Rechts im Islam ist ein geeignetes Paradigma für die Wirkung heiliger Rechte in eigentlichen prophetisch geschaffenen „Buchreligionen“.
i
B: „Buchreligionen, in denen die prophetischen Normen offiziell festgelegt sind. > „Buchreligionen“, denen zu der [??] [??] > eigentlichen prophetisch geschaffenen „Buchreligionen“.
Der Koran enthält eine ganze Reihe rein positiver rechtlicher Vorschriften (etwa die Aufhebung des Eheverbots mit der Adoptiv-Schwiegertochter – Muhammed gab sich [527]selbst diese Freiheit).
36
[527] Muhammed wollte die Frau seines Adoptivsohns unter seine Ehefrauen aufnehmen, konnte das aber nicht, solange sie seine Schwiegertochter war (vgl. Sure 4, 23). Sure 33, 4 erklärt nun die Annahme an Sohnes statt für rechtsunverbindlich („[…] noch hat Er [Allah, Hg.] eure angenommenen Söhne zu euren Söhnen gemacht“), wodurch das Ehehindernis entfiel.
Aber der Schwerpunkt der juristischen Vorschriften hat einen anderen Ursprung. Formell kleiden sie sich in aller Regel in die Gestalt des „hadith“, exemplarischer Handlungen und Aussprüche des Propheten, deren Authentizität durch Sukzession der Garanten bis zu Zeitgenossen, ursprünglich bis zu besonders qualifizierten Lebensgefährten Muhammeds von Mund zu Mund sich zurückverfolgen läßt. Sie sind oder gelten um dieser unentbehrlichen Ununterbrochenheit der persönlichen Garantenreihe
j
[527]B: Qualifikation > Ununterbrochenheit der persönlichen Garantenreihe
willen als ausschließlich mündlich überliefert und bilden die „Sunnah“.
37
Den Vorgang der Traditionsbildung im Islam beschreibt in ähnlichen Formulierungen Goldziher, Vorlesungen (wie oben, S. 526, Anm. 34), S. 40 f.
Diese ist nicht etwa Koran-„Interpretation“, sondern Tradition neben dem Koran; ihr ältester Bestand stammt zum sehr wesentlichen Teil aus der vorislamischen Zeit, speziell aus der Coutume von Medina, deren Redaktion als Sunnah auf Malik ibn Anas zurückgeführt wird.
38
Das dem Malik ibn Anas (zwischen 708/715–795 n. Chr.) zugeschriebene älteste Rechtsbuch der islamischen Geschichte, die sog. al-Muwatta’, faßt nach allgemeinen juristischen Prinzipien Tradition und Gewohnheitsrecht der Stadt Medina als Hauptort der frühislamischen Gemeinde zusammen. Darauf und auf dem Konsensus der Rechtsgelehrten (idschma) beruht die von Medina ausgehende malikitische Rechtslehre.
Aber weder Koran noch Sunnah sind als solche die unmittelbaren Rechtsquellen, welche der Richter benutzt. Sondern diese werden durch den „fiqh“ gebildet, die Produkte der spekulativen Arbeit der Juristenschulen, Sammlungen von hadiths entweder nach Autoren geordnet (musnad)
39
„Musnad“ bedeutet soviel wie „gestützt“, „angelehnt“ und zwar an den jeweils erstüberliefernden Gewährsmann; vgl. hierzu Goldziher, Materialien (wie oben, S. 487, Anm. 24), S. 469, und ders., Muhammedanische Studien (ebd.), S. 226–231.
oder systematisch nach Gegenständen (mussunaf, von denen 6 den Traditions-Kanon bilden).
40
Es handelt sich dabei um die im 9. Jahrhundert entstandenen Sammlungen der islamischen Theologen Bochari, Muslim, al-Tirmidhi, Abu Da’ud, el-Nasai und Abu Madjah. Die der beiden ersteren heißen „Sahîh“: Sammlungen der „gesunden“ Traditionsberichte; die vier übrigen werden unter dem Namen „Sunan“ zusammengefaßt und beschäftigen sich vorzugsweise mit gesetzlichen Traditionen unter Weglassung rein [528]historischer oder ethischer Erzählungen und Aussprüche; vgl. dazu Goldziher, Muhammedanische Studien (wie oben, S. 487, Anm. 24), S. 234–265; ders., Religion des Islams (wie oben, S. 526, Anm. 34), S. 101.
Der fiqh umfaßt sittliche wie rechtliche Gebote und ent[528]hält, seit der Immobilisierung des Rechts, immer zahlreichere Partien völlig obsoleten Charakters. Die Immobilisierung aber vollzog sich offiziell dadurch, daß die charismatische, rechtsprophetische Kraft (itschtihad) der Rechtsauslegung für seit dem 7[.]/8[.] Jahrhundert der Hedschra, dem 13[.]/14[.] der christlichen Ära, erloschen galt, – ähnlich der uns bekannten
41
Siehe oben, S. 488, sowie in Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 207.
Auffassung der christlichen Kirche und des Judentums über den Abschluß des prophetischen Zeitalters. Die Rechtspropheten: Mutschtehiden[,] des charismatischen Zeitalters galten noch als Träger der Rechtsoffenbarung, in vollem Umfang allerdings nur noch die Gründer der vier als orthodox anerkannten Rechtsschulen
k
[528]B: Schulen > Rechtsschulen
(madhab). Nach dem Erlöschen der Itschtihad dagegen giebt es nur noch muqallidin, Commentatoren[,]
42
Hartmann übersetzt „muqallid“ in diesem Sinn mit „Autoritätsgläubiger“ (Hartmann, Martin, Der Islam. Geschichte, Glaube, Recht. Ein Handbuch. – Leipzig: Rudolf Haupt 1909, S. 69); vgl. dazu auch Becker, Islam (wie oben, S. 487, Anm. 24), Sp. 724.
und ist die Stabilität des Rechts absolut. Der Kampf der vier Rechtsschulen war zunächst
l
B: ist seitdem > ist offiziell von Anfang an > war zunächst
ein Kampf um die Qualitäten der orthodoxen Sunnah, wurde aber im Zusammenhang damit zum Kampf um die Auslegungsmethode, und auch ihr Gegensatz wurde seit der Immobilisierung des Rechts zunehmend stereotypiert. Während die kleine hanbalitische Schule alle „bida“, alles neue Recht, alle neuen hadiths, alle rationalen Mittel der Rechtsauslegung ablehnt und sich auch durch den Grundsatz „coge intrare“
43
Weber spielt auf ein im christlichen Kontext zuerst von Augustinus gegen die (nordafrikanischen) Donatisten geltend gemachtes Prinzip an. Deren urchristlichen, pneumatisch-personalcharismatischen Vorstellungen begegnete Augustinus mit der amtscharismatischen Auffassung der Kirche als „Fideikommiß“ der spirituellen Heilsgüter, woraus er die Rechtmäßigkeit der Zwangsbekehrung von Ketzern und Ungläubigen („coge intrare“) ableitete. In diesem Fall durch eine entsprechende Instrumentalisierung der Ketzergesetze des Kaisers Honorius (412, 415/416 n. Chr.).
von den anderen, prinzipiell gegeneinander toleranten Schulen scheidet, trennt diese wesentlich die Rolle, welche der juristischen Kunst für die Rechtsschöpfung zugewiesen wird. Die lange Peri[529]oden hindurch in Afrika und Arabien herrschende malekitische Schule
m
[529] In B folgt: ⟨(Schule von Medina)⟩
war, ihrem Ursprung am ältesten politischen Sitz des Islam (Medina) entsprechend, besonders unbefangen in der [WuG1 474]Übernahme vorislamischen Rechts, gilt aber gegenüber der hanafitischen, aus dem Iraq stammenden, daher stark byzantinisch beeinflußten, am Hof des Khalifen maßgebenden und heute in der Türkei offiziell rezipierten und heute auch in Ägypten offiziell herrschenden Schule stärker traditionsgebunden. Die stärker höfisch adaptierte Jurisprudenz der Hanafiten scheint vornehmlich die empirische Technik der islamischen Juristen, die Verwertung der Analogie (qijas), entwickelt und daneben speziell auch das „raj“, die wissenschaftliche Lehrmeinung als eine selbst den rezipierten Koran-Interpretationen gegenüber selbständige Quelle zu vertreten. Die schafiitische Schule endlich, von Bagdad ausgegangen, in Südarabien, Ägypten, Indonesien verbreitet, gilt als die wissenschaftliche Technik und die fremdrechtlichen Anleihen der Hanafliten ebenso wie die freie Stellung der Malekiten zur Tradition ablehnend[,] also traditionalistisch[,] scheint aber den gleichen Effekt durch massenhafte Rezeption
n
B: Canonisierung > Rezeption
von zweifelwürdigen hadiths in die Tradition zu erreichen.
44
[529] Dies scheint jedoch eher die prinzipielle Verteidigungslinie der Traditionalisten („ashâb al-hadith“) gegenüber den Vertretern des Ra’j, d. h. einer vor allem auf die Analogie gestützten Rechtsfortbildung („ashâb al-fikh“), gewesen zu sein; vgl. dazu bes. Goldziher, Muhammedanische Studien (wie oben, S. 487, Anm. 24), S. 74–78. Dagegen wird auf al-Shâficî eine – wenn auch letztlich vergleichbar motivierte – harmonisierende Auslegungstechnik für einander widersprechende Hadithe zurückgeführt; vgl. ebd., S. 84 f.
Der Kampf zwischen den Aschab-al-hadith, den konservativen Traditionalisten[,] und den Aschab-al Fiqh, den rationalistischen Juristen, durchzog die ganze islamische Rechtsgeschichte[.]
Das islamische heilige Recht ist durchweg spezifisches „Juristenrecht“. Seine Geltung beruht auf dem „idschma“
o
In B folgt: ⟨(consensus ecclesiae)⟩
(idschmah-alammah = tacitus consensus omnium), der praktisch als Übereinstimmung der Rechtspropheten, der großen Juristen (fuqaha) also, definiert ist. Offiziell gilt neben der Infallibilität des Propheten selbst nur die Infallibilität des Idschma.
45
Weber bezieht sich hier auf zahlreiche Hadithe, vor allem den Prophetenspruch: „Meine Gemeinde hat keine Übereinstimmung, die ein Irrtum wäre“, worauf die Unfehl[530]barkeit des idschma zurückgeführt wird; zit. nach Becker, Islam (wie oben, S. 487, Anm. 24), Sp. 722; vgl. auch Goldziher, Vorlesungen (wie oben, S. 526, Anm. 34), S. 54–56.
Koran und Sunnah sind [530]nur die historischen Quellen des letzteren. Nicht sie, sondern die Compilation des Idschma schlägt der Richter auf; die selbständige Interpretation der heiligen Schriften und Tradition ist ihm untersagt.
46
Nach Becker, Islam (wie oben, S. 487, Anm. 24), Sp. 724, darf sich kein Rechtsgelehrter anmaßen, Koran und Sunna unmittelbar als Quelle seiner Rechtsfindung zu verwenden.
Die Stellung der Juristen als solcher war an sich derjenigen der römischen ähnlich, an die ja auch die Schulorganisation
p
[530]B: Schulspaltung > Schulorganisation
erinnert: ein Nebeneinander von Consultationspraxis und Unterricht von Schülern, also Beziehung sowohl zu den praktischen Bedürfnissen der Rechtsinteressenten wie zu den[,] systematische Gliederung erheischenden[,] praktisch-pädagogischen Bedürfnissen. Allein die rechtliche Gebundenheit an die festgelegte Interpretations-Methode des Schulhauptes und an die gegebenen Commentare schloß, seit dem Abschluß der itschtihad-Periode, jede freie Bewegung aus, und in den offiziellen Universitäten, wie etwa der Akhbar in Kairo – die
q
B: Kairo, – der
Vertreter jeder der vier orthodoxen Schulen als Lehrer umfaßt –[,] verwandelte sich die Lehre in ein äußerst mechanisches Vor- und Nachsprechen feststehender Sentiments. – Wesentlich die Organisation des Islam: das Fehlen sowohl von Conzilien wie eines unfehlbaren Lehramts[,] bedingte diese Entwicklung des heiligen Rechts zu einem stereotypierten Juristenrecht.
h
h(ab S. 526: Die Stellung)h Fehlt in A.
Im praktischen Effekt blieb die unmittelbare Geltung des heiligen Rechts
r
A: Der Sache nach aber blieb die unmittelbare praktische Geltung der Scharia dennoch
auf bestimmte fundamentale Institutionen[,] und zwar im ganzen auf einen nicht sehr wesentlich größeren Umkreis sachlicher Rechtsgebiete beschränkt, wie z. B.
s
Fehlt in A.
das mittelalterliche canonische
t
A: heilige
Recht. Nur hat der prinzipielle Universalismus der Herrschaft der hei[A 12c][B 6]ligen Tradition die Konsequenz gehabt, daß unabweisliche
a
Fehlt in A.
Neuerungen regelmäßig sich auf ein für den Einzelfall eingeholtes oder erschlichenes Fetwa oder auf die strittige Kasuistik der verschiedenen konkurrierenden orthodoxen Rechtsschulen stützen konnten. Daraus ergab sich
b
A: stützten. Die Folgen dieses Zustandes waren
neben der früher [531]erwähnten
47
[531] Siehe oben, S. 486 ff.
mangelnden formalen Rationalität des Rechtsdenkens vor allem auch die Unmöglichkeit einer
c
[531] In A folgt: rationalen
systematischen Rechtsschöpfung zum Zweck der inneren und äußeren Vereinheitlichung des Rechts. Das heilige Recht konnte weder beseitigt noch, trotz aller Adaptierungen,
d
A: noch
wirklich in der Praxis durchgeführt werden. Die gegebenenfalls vom Kadi oder von
f
Fehlt in B; von sinngemäß ergänzt.
den Interessenten, ganz nach römischer Analogie, einzuholenden maßgebenden Responsen der amtlich zugelassenen Juristen: Mufti’s mit dem Sheikh-ül-Islam an der Spitze, sind ungemein stark opportunistisch bedingt, schwankend von Person zu Person, ergehen nach Art der Orakel ohne Angabe rationaler Gründe und haben nicht das Geringste zu einer Rationalisierung des Rechts beigetragen, vielmehr die Irrationalität des heiligen Rechts praktisch noch gesteigert.
e
Fehlt in A.
Und [WuG1 475]dabei gilt das heilige Recht nur als Standesrecht
g
A: galt es nur
für die Rechtsgenossen des Islam, nicht für die unterworfenen Andersgläubigen. Die Folge war der Fortbestand der Rechtspartikularität in allen ihren Formen: sowohl als ständische für die verschiedenen geduldeten und teils positiv[,]
h
A: positiv oder
teils negativ privilegierten Konfessionen, wie als Orts- oder Berufsgebrauch nach dem Satz: Willkür bricht Landrecht, so
i
A: Landrecht. So
zweifelhaft hier wie anderwärts dessen Tragweite gegenüber den ihrem Anspruch nach unbedingt geltenden, dabei aber schwankend interpretierten, heiligen Normen sein mußte.Das islamische Geschäftsrecht speziell hat in Fortbildung der spätantiken Rechtstechnik für den Handel Institutionen entwickelt, welche der Occident teilweise direkt übernahm.
48
Weber folgt hier der Auffassung Kohlers, der die Entwicklung wichtiger handelsrechtlicher Institute des Okzidents (z. B. den Wechsel) auf Rezeptionen aus dem arabisch-islamischen Rechtskreis zurückführt (vgl. z. B. Kohler, Josef, Zum Islamrecht, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 17, 1905, S. 194–216, hier S. 210). Den Import spätrömischer Rechtsinstitute durch das arabisch-islamische Verkehrsrecht betont dagegen Goldschmidt, Universalgeschichte, S. 99, 410 mit Anm. 76, und ders., „Handelsrecht. Geschichtliche Entwickelung“, in: HdStW3, Band 5, 1910, S. 316–327, hier S. 319.
Aber ihre Geltung war innerhalb des Islam zum erheblichen Teil nur durch die Verkehrsloyalität und den ökonomischen Einfluß der Kaufleute auf die Rechtsprechung garantiert, nicht durch Satzun[532]gen oder sichere
k
[532] In B folgt: ⟨⟨Recht⟩Garantien⟩
Prinzipien eines rationalen Rechts; die heilige Tradition hätte den meisten dieser Institutionen eher bedrohlich werden können[,] als daß sie sie gefördert hätte. Sie bestanden praeter legem.
l
In B folgt die Satzanweisung Max Webers: Absatz
j
Fehlt in A.
Die
m
A: Diese
Hemmung der inneren und äußeren Rechtseinheit ist naturgemäß diejenige Erscheinung, welche überall eingetreten ist,
n
A: dasjenige, was überall da eintreten mußte,
wo mit der Geltung eines heiligen Rechts oder einer unabänderlichen Tradition überhaupt dauernd
o
Fehlt in A.
Ernst gemacht wurde, in China und Indien ebenso wie in den islamischen Rechtsgebieten.
p
In A folgt: Ebenso wie überall die Folge war, daß eine logische Systematisierung des Rechts in rein formalen juristischen Begriffen ausblieb, weil sie dem Wesen der materialen heiligen Normen widersprochen hätte.
49
[532] Über den politischen, ökonomischen und geistigen Traditionalismus in China sowie den daraus folgenden Rechtspartikularismus vgl. Webers Ausführungen in: Konfuzianismus, MWG I/19, bes. S. 223–225, 279 f., 341–343. Über den in der hinduistischen Kastenordnung begründeten indischen Rechtspartikularismus vgl. Webers Bemerkungen in: Hinduismus und Buddhismus, MWG I/20, S. 109, 191, 231–233.
Selbst innerhalb
q
q–q (bis S. 535: entgegensetzen muß.) Fehlt in A.
des Islam
r
In B folgt: selbst
gilt die Rechtspersonalität für die vier orthodoxen Schulen wie im Karolingerreich für die Volksrechte. Die Schaffung einer „lex terrae“, wie es
s
B: sie
das englische common law von der Zeit der Eroberung an und ganz offiziell seit Heinrich II[.] war,
50
Verschiedene gesetzliche Maßnahmen Heinrichs II. (1154–1189) zentralisierten die Rechtspflege beim Königsgericht, um so die Feudalgerichtsbarkeit zu beschränken und zu reglementieren. Das Feudalrecht entwickelte sich deshalb nicht – wie auf dem Kontinent – zu einem Sonderrecht, sondern wurde zusammen mit anderen Spezialrechtsbeständen zu einem wesentlichen Bestandteil des Common Law, der „lex terrae“; so die Deutung des Vorgangs z. B. bei Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte, S. 16–18, 185 f., sowie oben, S. 363 f. Der Ausdruck „Common Law“ wurde erst seit dem Ende des 13. Jahrhunderts geläufig und aus dem römisch-kanonischen Recht rezipiert; vgl. Pollock/Maitland, English Law I, S. 176 f.
wäre ganz unmöglich gewesen. Praktisch besteht heute in den großen islamischen Reichen überall der Dualismus weltlicher und geistlicher Rechtspflege: neben dem Kadi steht der weltliche Beamte, neben dem Schariat das weltliche Amtsrecht: Qanun, welches, wie die Kapitularien der Karolinger, stets von Anfang an, schon seit der Ommajaden-Herrschaft, neben dem geistlichen Juristenrecht erwuchs und steigende Bedeutung gewann, je mehr das letztere sich stereotypierte. Es ist für den weltlichen Richter bindend, der in allen Angelegenheiten[,] außer über Tutel, Ehe, [533]Erbrecht, Scheidung, unter Umständen Stiftungsgut und dadurch Grundbesitz überhaupt, entscheidet. Er fragt nach den Verboten des geistlichen Rechts überhaupt nicht, sondern entscheidet – da die Ingerenz des geistlichen Rechts jede systematische Geschlossenheit
t
[533]B: Systematisierung > systematische Geschlossenheit
auch der weltlichen Gesetze ausschließt (der offizielle[,] von 1869 an pubhzierte türkische Codex
51
[533] Gemeint ist der im osmanischen Reich 1877 promulgierte Zivilrechtskodex (die „Hecelle“), dessen erster, 100 Paragraphen umfassender Abschnitt – vergleichbar dem Allgemeinen Teil des BGB – noch heute in den Ländern seines ehemaligen Herrschaftsgebietes subsidiär herangezogen wird.
ist keine „Codifikation“, sondern eine Sammlung der hanafitischen Rechtsregeln) – in der Mehrzahl aller Fälle nach Ortsgebrauch. Eine logische Systematisierung des Rechts in formalen juristischen Begriffen ist durch diese Zustände ausgeschlossen. Die ökonomische Tragweite dieses Zustandes ist, wie wir sehen werden,
52
Siehe unten, S. 534 f. und 543 f., sowie die Bemerkungen zu den mittelalterlichen islamischen Klosterstiftungen, Weber, Feudalismus, MWG I/22-4, S. 428–431.
nicht gering.
Im Schiitentum
53
Neben die herrschende (sunnitische) islamische Richtung trat als wirkmächtigste religiös-schismatische Bewegung bereits in frühislamischer Zeit das Schiitentum. Hauptstreitpunkt war die Frage der legitimen Nachfolge des Propheten im Kalifenamt. Wichtige religiös-rechtliche Konsequenzen der schiitischen Auffassung, nach der das Erbcharisma direkter Nachkommenschaft den Ausschlag gibt, sind eine starke Entwertung des idschma der Rechtsgelehrten, dem nur noch in Verbindung mit einem Spruch des unfehlbaren (schiitischen) Imam als religiösem Führer der Gemeinde normative Kraft zuwächst, sowie die Beschränkung der Sunna als „heiliger Brauch“ auf Übung und Beipiel der Familie des Propheten. So kennzeichnet Goldziher, Vorlesungen (wie oben, S. 526, Anm. 34), S. 226, den Unterschied zwischen sunnitischem und schiitischem Islam als den zwischen einer „Idschma“- und einer „Autoritätskirche“.
, welches in Persien die offizielle Confession ist, steigert sich die Irrationalität des heiligen Rechts noch weiter. Es fehlen die immerhin relativ festen Anhaltspunkte, welche die Sunnah giebt; der Glaube an den unsichtbaren, theoretisch mit Unfehlbarkeit ausgestatteten Imam ist dafür gewiß kein Ersatz. Die Zulassung
a
B: Anstellung > Zulassung
der Richter erfolgt seitens des Schah[,] der Sache nach unter sehr starker – für ihn als rehgiös illegitimen Herrscher auch unbedingt gebotener – Rücksichtnahme auf die Ansichten der örtlichen Honoratioren. Sie ist auch der Sache nach
b
B: auch der Sache nach ist
keine amtliche „Anstellung“, sondern
c
B: sondern, sondern
nur eine Plazetierung der von den zünftigen Theologenschulen diplomierten Anwärter, und sie kennt zwar [534]Sprengel, aber, wie es scheint, keine eindeutig feststehende Competenz des Einzelrichters. Vielmehr stehen oft mehrere von diesen konkurrierend neben einander zur Auswahl der Partei. Der charismatische Charakter dieser Rechtspropheten tritt auch darin deutlich hervor. Die streng sektiererische, durch zarathustrische Einflüsse
54
[534] Zarathustrische Einflüsse, schon unter dem Propheten selbst durch persische Magier auf der arabischen Halbinsel vermittelt, wurden mit den zentralasiatischen Eroberungen der Abbasidendynastie, wiederum vermittelt über persische Religionsgelehrte, manifest. Goldziher, Religion des Islams (wie oben, S. 526, Anm. 34), S. 108 f.; ders., Vorlesungen (ebd.), S. 245, führt insbesondere die strengen rituellen Reinheitsgebote, allgemein aber auch den religiösen Eifer und „unversöhnlichen Konfessionalismus“ des schiitischen Islam auf diese Einflüsse zurück.
in diesem Charakter noch gesteigerte Eigenart der Schia würde jeden ökonomischen Güterverkehr
d
[534]B: Verkehr > ökonomischen Verkehr > ökonomischen Güterverkehr
mit Ungläubigen als verunreinigend direkt rituell ausschließen, wenn nicht zahlreiche Fiktionen schließlich die praktisch vollständige Aufgabe dieser Ansprüche des [WuG1 476]heiligen Rechts und damit dessen fast gänzliches Zurückziehen aus der Sphäre des ökonomisch und – seit der Constitutionalismus durch Fetwa’s auf Grund von Koranstellen „begründet“ wurde
55
Weber bezieht sich auf die revolutionären Auseinandersetzungen in Persien zu Beginn des Jahrhunderts (1905–1909), die zur Errichtung einer parlamentarischen Verfassung führten. Die Schia war darin zur Staatsreligion erklärt und die Verfassung selbst sollte bis zur Wiederkehr des erwarteten „Heilands“ (Mahdi) gelten. Sie war durch Fetwas begründet, von denen Goldziher, Vorlesungen (wie oben, S. 526, Anm. 34), S. 270, Anm. 10, diejenige der Ulema von Nedschef in Übersetzung mitteilt: „Man muß allen Eifer anwenden, um die Konstitution durch einen heiligen Krieg zu befestigen, indem man sich dabei an den Steigbügeln des Imams des Zeitalters [das ist der verborgene Mahdi, Hg.] hält – möge unser Leben sein Lösegeld sein. Das geringste Zuwiderhandeln und die geringste Nachlässigkeit (in der Erfüllung dieser Pflicht) käme dem Verlassen und der Bekämpfung dieser Majestät gleich“; vgl. dazu weiterhin ebd., S. 233, 284 f.
– auch des politisch Relevanten herbeigeführt hätten. Allein selbst bis heute ist die Theokratie
e
B: dieses Zurückweichen des heiligen Rechts > die Theokratie
dennoch weit entfernt davon, ökonomisch eine quantité négligeable zu sein. Für die Wirtschaft war und ist – neben der später zu erörternden
56
Siehe Weber, Patrimonialismus, MWG I/22-4, bes. S. 259–326.
Eigenart des orientalischen Patrimonialismus als Herrschaftsform – der theokratische
f
B: sacrale > theokratische
Einschlag in der Justiz trotz aller zunehmenden Begrenztheit ihrer Sphäre von recht erheblicher Bedeutung.
g
In B folgt: ⟨Denn ihrem Charakter nach erstrebt sie, soweit die positiven formellen Normen des heiligen Rechts ⟨ihr Raum la⟩ dafür Raum gew⟩
[535]Weit weniger – hier ebenso wie anderwärts – kraft der positiven Normen des heiligen Rechts als wegen der prinzipiellen „Gesinnung“ der Rechtspflege. Diese erstrebt „materiale“ Gerechtigkeit, nicht formale Regelung eines Interessenkampfes. Sie urteilt daher, auch z. B. in Grundbesitzprozessen, soweit diese unter ihre Zuständigkeit fallen, sehr weitgehend nach konkreten Billigkeitsgesichtspunkten, umso leichter, wo ein kodifiziertes Recht fehlt, und entzieht sich daher in ihren Chancen der Berechenbarkeit („Kadi-Justiz“). Die Folge war z. B. für Tunis, solange und soweit die „Chara“ (geistliches Gericht)
h
[535]B: (geistliche
ha
B: geistliche > geistliches
⟨Instanz⟩) Gericht,
für Grundbesitzprozesse zuständig blieb, die Unmöglichkeit kapitalistischer Ausbeutung des Bodens.
57
[535] Vgl. hierzu die herrschaftssoziologische Parallelstelle Weber, Bürokratismus, MWG I/22-4, S. 194 mit Anm. 75.
Kapitalistischen Interessen gelang es, die Beseitigung dieser Zuständigkeit durchzusetzen. Der Vorgang ist typisch für die Wirkung, welche theokratische Rechtspflege der rationalen Wirtschaft überall, nur in verschieden fühlbarem Maß, entgegensetzt und kraft ihres immanenten Charakters entgegensetzen muß.
q
q(ab S. 532: Selbst innerhalb)q Fehlt in A.
Das jüdische heilige Recht befand sich in einer dem islamischen formal ähnlichen, wenn schon gerade entgegengesetzt bedingten Lage. Auch hier galt die Thora und die interpretierende und ergänzende heilige Tradition als universelle, dem Anspruch nach den gesamten Umkreis des Rechtslebens beherrschende Norm. Auch hier galt wie im Islam das heilige Recht nur für die Glaubensgenossen: dagegen war nicht, wie im Islam, ein herrschender Stand,
i
A: Glaubensgenossen. Freilich war nicht ein herrschender Stand, wie im Islam,
sondern ein Pariavolk
58
Als „Pariavolk“ definiert Weber in: Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 255 f., „eine durch (ursprünglich) magische, tabuistische und rituelle Schranken der Tisch- und Konnubialvergemeinschaftung nach außen einerseits, durch politische und sozial negative Privilegierung, verbunden mit weitgehender ökonomischer Sondergebarung andererseits, zu einer erblichen Sondergemeinschaft zusammengeschlossene Gruppe ohne autonomen politischen Verband.“
der Träger. Der Verkehr nach außen war infolgedessen rechtlich Fremdverkehr. Für ihn galten, sahen wir,
59
Siehe die religionssoziologischen Ausführungen in Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 420–424. Dies betrifft insbesondere das nur im Geschäftsverkehr zwischen Juden geltende Zinsverbot und insgesamt eine Trennung von Binnen- und Außenmoral, die hier auf die äußere Lage des Pariavolkes und die innerliche ethische Situation zurückgeführt wird.
teilweise
j
Fehlt in A.
andere ethische Normen. Für das Recht aber
k
A: Normen und für das Geschäftsrecht
paßte sich [536]dabei der Jude dem in seiner Umwelt geltenden Recht soweit an, als ihm dies einerseits
l
[536] Fehlt in A.
von jener Umwelt ermöglicht
m
A: gestattet
wurde und als nicht andrerseits
n
Fehlt in A.
auf seiner Seite rituelle Bedenken entgegen standen.
o
In A folgt: Massenhaft waren im jüdischen Recht selbst die Rezeptionen aus der vorderasiatischen, zunächst babylonisch, dann Fortsetzung des Typoskripttextes, unten, S. 541.
[B 7]Das
p
p–p (bis S. 541: vorwiegend babylonisch,) Fehlt in A.
alte Landorakel (Urim und Tummim)
60
[536] Diese magische Technik der Erforschung des göttlichen Willens mit Hilfe von zwei Stäben oder Steinen, die für „ja“ und „nein“ als göttliche Antwortmöglichkeiten auf die vorgelegten Fragen standen, hielt sich nach Weber, Judentum, MWG I/21, S. 474–476, bis in die späte Königszeit (1004–587 v. Chr.) – allerdings mit abnehmender Bedeutung. Ihre Verdrängung motiviert Weber mit der steigenden Komplexität der Fragen und deren vor allem politisch bedingt zunehmender Ausrichtung auf mögliche Verletzungen der „berith“, des Bundes zwischen Israel und seinem Gott Jahwe.
war schon in der Königszeit durch die lebendige Rechtsprophetie ersetzt, welche hier wirksamer als im germanischen Recht dem König die Zuständigkeit zum Erlaß von Rechtsgeboten bestritten hatte. Nachdem die „Nabi’s“
61
Die Singularform „nabi“ (pl. nebijim) bedeutet im Hebräischen soviel wie „Mittelsmann“, „Sprecher“, auch: „Prophet“; vgl. Merx, Adalbert, Die Bücher Moses und Josua. Eine Einführung für Laien (Religionsgeschichtliche Volksbücher für die deutsche christliche Gegenwart, hg. von Friedrich Michael Schiele, Reihe 2, Heft 3, I–II). – Tübingen: J.C.B. Mohr 1907, S. 22, 45 f., 50, 53–56 (hinfort: Merx, Bücher). Die Nebijim waren ursprünglich „Kriegsekstatiker“, religiöse Glaubenskämpfer und Führer der Bauernaufgebote in den frühisraelitischen Befreiungskriegen gegen Ägypter, Kanaanäer und Philistäer. Erst die Entwaffnung der Bauern durch die Professionalisierung des Heeres unter dem Königtum (Salomo) enthob sie dieser Funktion und machte die „ekstatische Weissagung“ zu ihrem Hauptaufgabengebiet – auf dem ihnen alsbald die Unheilsprophetie entgegentrat; vgl. dazu Weber, Judentum, MWG I/21, S. 377–395.
– Wahrsager und sicherlich auch Rechtspropheten –
q
B: Rechtspropheten –,
der
r
In B folgt: ⟨israelitischen⟩
Königszeit nach dem Exil durch das „Schriftgelehrtentum“
62
Die Exilszeit (586–536 v. Chr.) umfaßt das halbe Jahrhundert zwischen der Unterwerfung des Südreiches (Reich Juda) und der Verschleppung eines Großteils der jüdischen Bevölkerung durch das neubabylonische Reich bis zu dessen Eroberung durch das persische Reich. Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. ermöglichte die persische Religionspolitik den Aufbau eines theokratischen jüdischen Staates unter einem Priestergesetz (Esra), durch welches das Judentum als Gesetzesreligion konstituiert wurde. Die Kenntnis, Auslegung und Erklärung des Gesetzes durch Schriftgelehrte wurde in der Folgezeit für den Lebensalltag unverzichtbar.
– anfänglich[,] wie wir sahen,
63
Siehe Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 275–277.
durchaus eine vornehme Literatenschicht hellenistischen Gepräges, später daneben auch ein Nebenberuf von Kleinbürgern
s
B: Kleinbürgern,
[–] abgelöst worden waren, entwickelte sich spätestens im letzten vorchristlichen Jahrhundert die schulmäßige Behandlung ritueller und rechtlicher Fragen und [537]damit die juristische Technik der Thora-Ausleger und consultierenden Juristen an den beiden orientalischen Centren des Judentums: Jerusalem und Babylon.
64
[537] Babylon war Sitz der jüdischen Exilsgemeinde, die sich eine ausgeprägt theokratische Verfassung gab und die für das Judentum charakteristische religiös-rituelle Absonderung von der Umwelt in wichtigen Unterscheidungssymbolen, besonders Sabbat und Beschneidung, durchführte. Es waren die babylonischen Priester, die jenes Sakralgesetz redigierten, das als „Tora“ die religiös-konstitutionelle Grundlage der nachmaligen Tempelprovinz Juda-Jerusalem und der jüdischen Diaspora bildete. Das Judentum Babyloniens behielt bis ins 10. Jahrhundert n. Chr. eine herausragende Stellung und war neben, zeitweise vor dem palästinischen das Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit.
Sie waren, ganz ähnlich den islamischen und indischen Juristen, Träger einer die Thora teils interpretierenden[,] teils aber auch von ihr selbständigen Tradition – Gott hatte sie Moses während seines 40tägigen Verkehrs mit ihm auf dem Sinai mitgeteilt
65
Dadurch, daß nicht nur das im Bundesbuch Festgehaltene, sondern auch die mündliche Tradition als auf dem Berge Sinai mitgeteilt gilt (vgl. Ex 34, 28), wird dieser Teil des jüdischen Rechts gleichfalls auf eine religiöse Offenbarung zurückgeführt. – Mit dieser Legende sollte die Auslegungstätigkeit der jüdischen Schriftgelehrten, die nötig war, um die Tora für den Gemeindealltag zu einer praktikablen religiös-rituellen Grundlage zu gestalten, an die göttliche Offenbarung angeschlossen und so legitimiert werden. Den Hergang der Überlieferung schildern z. B. Kohler, Recht der orientalischen Völker (wie oben, S. 325 f., Anm. 41), S. 72, und Merx, Bücher (wie oben, S. 536, Anm. 61), S. 154, Anm. 6, und S. 130.
[,] durch deren Inhalt die offiziellen Institute, etwa die Leviratsehe, ganz ähnlich stark umgewandelt wurden, wie im Islam und in Indien. Ebenso wie dort war sie zunächst strenge mündliche Tradition.
t
[537]B: mündliche Tradition
ta
B: orale Tradition > Oral-Tradition > mündliche Tradition
. ⟨und vielleicht teilweise esoterische Lehre.⟩
Die schriftliche Fixierung durch die „Tannaim“ begann mit zunehmender Zersplitterung der Diaspora und Entwicklung der
a
Fehlt in B; der sinngemäß ergänzt
Schulmäßigkeit seit dem Beginn der christlichen Zeitrechnung (Schulen Hillel’s und Schammai’s)[,] zweifellos zur Sicherung der Einheitlichkeit, nachdem die Bindung der Richter an die Responsen der consultierenden Rechtsgelehrten und damit an die Präjudizien durchgeführt
b
In B geht voraus: ⟨formell streng⟩
war. Wie in Rom und England pflegten die Gewährsmänner der einzelnen Rechtssprüche zitiert zu werden, und Lehre, Prüfung [WuG1 477]und Conzessionierung traten nun endgültig an die Stelle der formell freien Rechtsprophetie. Die Mischna ist noch Produkt der Thätigkeit der Respondenten selbst, gesammelt von dem Patriarchen Jehuda[.]
c
Unsichere Lesung.
Die offiziellen Com[538]mentare
d
[538]B: Commentare > offiziellen Commentare-
dazu (gemara) waren dagegen das Produkt der Thätigkeit lehrender
e
B: gelehrter > interpretierender und lehrender > lehrender
Juristen[,] der amoraim, hervorgegangen aus den Interpreten, welche die hebräisch vom Vorleser dargebotene Stelle den Hörern ins Aramäische übersetzten und interpretierten. Sie führten in Palästina den Titel „Rabbi“, in Babylon einen entsprechenden („mar“).
66
[538] In Babylonien entspricht dem palästinischen „Rabbi“ (hebr.-aram.: „Mein Herr“) der aus dem gleichen Wortstamm gebildete Titel des „Rab“. – Weber meint hier offenbar den bei den frühen babylonischen Amoräern begegnenden Ehrentitel „mar“; vgl. das Verzeichnis der Schriftgelehrten bei Strack, Hermann L., Einleitung in den Talmud (Schriften des Institutum Judaicum, Nr. 2), 4., neubearb. Aufl. – Leipzig: J. C. Hinrichs 1908, S. 100 f.
Eine „dialektische“ Behandlung nach Art der occidentalen Theologie
f
B: Universitäts-Theologie > Theologie
fand sich wesentlich an der Pumbedita-„Akademie“ in Babylon;
67
Seit der Redaktion der Mischna – zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert n. Chr. – arbeiteten parallel in Palästina und Babylonien die sog. Amoräer („Erklärer“) durch interpretierende und ergänzende Mischna-Kommentare an der Erhaltung und Fortbildung der jüdischen Rechtstradition. Sie taten das in schulmäßig organisierten Lehrbetrieben („Akademien“), von denen Jamnia und Tiberias die bedeutendsten palästinischen, Sura, Nehardea und später Pumpadita die wichtigsten babylonischen waren. Zwischen dem 4. und dem 10. Jahrhundert lag der Schwerpunkt der jüdischen Religions- und Rechtsentwicklung beim babylonischen Judentum; vgl. als zeitgenössischen Überblick etwa Fiebig, [Paul], „Judentum“, in: RGG, Band 3, 1912, Sp. 805–835, hier Sp. 817–820 (hinfort: Fiebig, Judentum).
aber diese Methode ist in der späteren Zeit der Orthodoxie grundsätzlich verdächtig geworden und heute verpönt: eine spekulative theologische Behandlung der Thora ist seitdem unmöglich. Deutlicher als in Indien und im Islam waren dogmatisch-erbauliche und juristische Bestandteile der Tradition – halacha und hagada – arbeitsteilig und auch litterarisch geschieden. Äußerlich rückte das Zentrum der Gelehrtenorganisation zunehmend nach Babylon. Seit der hadrianischen Zeit nachweislich und bis in das 11. Jahrhundert residierte dort der Resch Galuta (Exiliarch). Sein in der davidischen Familie erbliches Amt
68
Zur erbcharismatischen Bindung des politischen Führungsamtes an die Davididen-Sippe vgl. Weber, Judentum, MWG I/21, S. 708–710.
war von den parthischen und persischen, dann den islamischen Fürsten
69
227 n. Chr. ging die Herrschaft der Parther über das Zweistromland durch die militärische Niederlage gegen die persischen Sassaniden zu Ende. Das religiös und politisch bewußt an die achämenidische Tradition anknüpfende Sassanidenreich erlag [539]dann im 7. Jahrhundert (636 Einnahme Ktesiphons) dem Ansturm der arabisch-islamischen Eroberer.
staatlich anerkannt, mit einem pontifikalen Hofhalt ausge[539]stattet und mit Jurisdiktion, lange Zeit auch crimineller, zuletzt[,] unter den Arabern, mit geistlicher Excommunikationsgewalt ausgestattet. Die Träger der Rechtsentwicklung
g
[539]B: Rechtsgelehrsamkeit > Rechtsentwicklung
waren die beiden concurrierenden Akademien der Sura und der schon erwähnten Pumbedita – die erste die
h
In B folgt: ⟨ältere und⟩
vornehmere –[,] deren Vorsitzende, die Gaonen, richterliche Thätigkeit als Sanhedrin-Mitglieder mit consultierender Praxis für die gesamte Diaspora und mit akademischer Rechtslehre verbanden. Der Gaon wurde teils von den zugelassenen Lehrern
i
B: Collegen > zugelassenen Lehrern
gewählt, teils vom Exiliarchen ernannt. Die äußere akademische Organisation glich den mittelalterlichen und orientalischen Schulen: ständige
j
B: Schulen ständigen
Studenten lebten im Internat; zu ihnen traten im Kallah-Monat massenhaft reifere Hörer, Reflektanten auf Rabbinenstellen, von auswärts, um den seminaristischen Talmud-Diskussionen beizuwohnen. Seine Responsen gab der Gaon teils direkt von sich aus, teils nach vorangegangener Diskussion im Kallah oder mit den Studenten. Rein äußerlich trat die litterarische Arbeit der Gaonen (etwa seit dem 6[.] Jahrhundert)[,] als reiner Commentatoren, wesentlich bescheidener auf als die ihrer Vorgänger, der Amoraim[,] und selbst noch der Nachfolger der letzteren, der Saboraim[,] von denen die ersteren die Mischna schöpferisch ausgelegt, die letzteren noch relativ frei commentiert hatten, und vollends der Tannaim.
k
B: Tannaim, ⟨deren Werk ⟨ihre Sa⟩ diese Compilation gewesen war. Die offizielle Glosse (Gemara) stereotypierte die Methodik des Commentierens schnell.⟩
Aber praktisch setzten sie vermöge der festen Organisation ihres Betriebs die Überlegenheit der Geltung des babylonischen gegenüber dem jerusalemitischen Talmud durch.
70
Der „jerusalemitische“ oder „palästin(ens)ische“ Talmud gilt als letzte große Leistung der Akademie von Tiberias in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts n. Chr. Mit dem Ende des dem babylonischen Exilarchenamt nachgebildeten Patriarchats schließt 425 auch die Akademie ihre Pforten. Die Endredaktion des babylonischen Talmud fällt in die erste Hälfte des 6. Jahrhunderts. Die führende Rolle der babylonischen Judengemeinde und ihres Lehrbetriebs hängt wesentlich mit der seit dem 4. Jahrhundert zunehmend judenfeindlichen Politik und Gesetzgebung des christianisierten Römerreichs zusammen.
Zwar galt diese Suprematie vornehmlich in den islamischen Ländern, aber bis ins 10[.] Jahrhundert fügte sich auch der [540]Okzident. Erst seitdem und seit dem Erlöschen des Exiliarchenamts (durch Verfolgung) emanzipierte sich der Westen von dem östlichen Einfluß.
l
[540] Es folgt zur Markierung der Textfortsetzung, die auf einer am Blattende angeklebten Allonge steht: Die
Die fränkischen Rabbinen setzten in der Karolingerzeit z. B. den Übergang zur Monogamie durch
71
[540] Ein ausdrückliches Verbot der Mehrehe erfolgte nach Kohler, Recht der orientalischen Völker (wie oben, S. 325 f., Anm. 41), S. 74, „erst in der Rabbinischen Zeit im 11. Jahrhundert durch die Wormser Synode unter Rabbi Gerson […]“. Das Verbot habe sich „auch in Gegenden, denen die Gersonsche Satzung an sich fremd blieb“, durchgesetzt.
und nach den von der Orthodoxie freilich als rationalistisch abgelehnten wissenschaftlichen Arbeiten des Maimonides und des Ascher
72
Moses ben Maimon, der bedeutendste Philosoph des Judentums, wirkte im späten 13. Jahrhundert, der einflußreiche Talmudist Jakob ben Ascher in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Die „rationalistische“ Kodifizierungs- und Kommentierungsarbeit des Ascher stand allerdings in der Tradition einer wieder verstärkten Hinwendung zum Talmudismus, die ihrerseits dem Kampf der vor allem französischen und spanischen Orthodoxie gegen die „jüdische Scholastik“ in der Philosophie des Maimonides entsprang.
gelang es schließlich dem spanischen Juden Josef Karo, im „Schulchan Arûch“ ein im Vergleich mit den
m
In B folgt: 〈offiziellen〉
islamischen canonischen Systemen sehr handliches und kurzes Kompendium zu schaffen, welches der Sache nach die Autorität der talmudischen Responsen ersetzte und z. B. in Algier, aber vielfach auch im continentalen Europa wie ein Gesetzbuch die Praxis beherrschte.
73
Der „Schulchan Aruch“ („Gedeckter Tisch“) ist ein – hinsichtlich seiner Rechts- und Ritualvorschriften für die jüdische Orthodoxie noch heute maßgeblicher – Auszug aus dem Gesetzeskompendium „Bêt Josef“, das der Rabbi Josef (ben Ephraim) Karo Mitte des 16. Jahrhunderts verfaßte. Karo knüpfte dabei insbesondere an die Arbeiten der spanisch-jüdischen Autoritäten (darunter Jakob ben Ascher) an.
Formell zeigte die eigentlich talmudische Jurisprudenz jene typischen Eigenschaften heiliger Rechte, deren starkes Hervortreten hier aus der starken Schulmäßigkeit und der – grad in der Zeit der Entstehung der Mischna-Commentare
n
B: des Talmuds > der Mischna-Commentare
– relativ, im Gegensatz zu früheren sowohl wie späteren Epochen, gelockerten Beziehung zur Gerichtspraxis folgen mußte: ein starkes Überwiegen rein theoretisch konstruierter[,] praktisch unlebendiger Casuistik, welche bei den engen Schranken rein rationaler Construktion doch nicht zu einer eigentlichen [WuG1 478]Systematik sich fortbilden konnte. Die casuistische Sublimierung des Rechts war an sich keineswegs gering. Lebendes und totes [541]Recht aber wurden in einander verschlungen, juristisch bindende und ethische Normen nicht geschieden.
74
[541] Zu dieser verbreiteten Einschätzung weitgehend fehlender Systematik bei gleichzeitigem juristischen Formalismus vgl. etwa Fiebig, Judentum (wie oben, S. 538, Anm. 67), Sp. 818, der knapp bemerkt: „Die Religion geht ganz in Juristerei auf.“
Inhaltlich waren schon in vortalmudischer Zeit massenhafte Rezeptionen vollzogen worden: aus der vorderasiatischen, zunächst vorwiegend babylonisch,
p
p(ab S. 536: Das alte)p Fehlt in A.
o
[541]B: zunächst 〈anscheinend einige〉 vorwiegend babylonische, Es folgt zur Markierung des Anschlusses im Typoskript: dann … |
[A 12d][B 8]dann hellenistisch und byzantinisch beeinflußten Umwelt. Aber nicht alles, was im jüdischen Recht dem gemeinen vorderasiatischen Recht entspricht, ist rezipiert, und andrerseits erscheint die gelegentliche
p
A: Umwelt, und es erscheint die
moderne Hypothese, daß die Juden wichtige Rechtsinstitute des kapitalistischen Verkehrsrechtes auf dem Boden ihres eigenen Rechtes entwickelt und dann in den Okzident importiert hätten, etwa: das Inhaberpapier, wie behauptet worden ist,
q
A: hätten (etwa: das Inhaberpapier, wie behauptet worden ist),
75
Weber bezieht sich hier auf die von Sombart in seinem Buch „Die Juden und das Wirtschaftsleben“ vertretene Auffassung über den jüdischen Einfluß auf die kapitalistischen Wertpapiertypen und speziell über den jüdischen Ursprung des Inhaberpapiers (vgl. Sombart, Die Juden, S. 61 ff., hier bes. S. 80–91). Ebd., S. 80 f., behauptet Sombart, daß „die Ableitung des modernen Inhaberpapiers aus dem talmudisch-rabbinischen Recht auch wahrscheinlich ist.“ Diese These ist seinerzeit heftig angefochten worden (anderer Auffassung schon Goldschmidt, Universalgeschichte, S. 111 f.). Eine kritische Position gegenüber der Sombartschen These hat auch Weber wiederholt bezogen, so vor allem in: Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 417 ff., und später in der überarbeiteten Version der Protestantismusstudie von 1904, GARS I, S. 17 f., Anm. 1, sowie S. 181 f., Anm. 2. Unter dem Strich wird der von Sombart behauptete Ursprung der kapitalistischen Verkehrsrechtsinstitute aus dem Geist des Judentums von Weber zurückgewiesen.
schon an sich unwahrscheinlich. Urkunden mit Inhaberclausel sind dem babylonischen Recht der Zeit Hammurabis bekannt, und fraglich kann nur sein, ob sie rechtlich Legitimations- oder echte Inhaberpapiere waren.
76
Gemeint ist die Unterscheidung von (nicht konstitutiver) Beweisurkunde und (konstitutiver) Dispositivurkunde, hier also: echtem Wertpapier. – Die babylonischen Urkunden mit Inhaberklausel deutet Kohler als Inhaberpapier, was Weber bereits oben, S. 335, in Zweifel zieht.
Die ersteren kannte auch das hellenistische Recht. Aber die Rechtskonstruktion ist eine
s
In B folgt: 〈gänzlich〉
andere als bei den okzidentalen, durch die germanische Auffassung der Urkunde als „Trägers“
t
B: germanische 〈Urkunde magi〉 Auffassung der Urkunde als 〈(ursprünglich) 〈magischen〉 fetischartigen〉 „Trägers“
des Rechts
77
Weber knüpft an die von Goldschmidt, Universalgeschichte, S. 386–388, – na[542]mentlich gegen Brunner – vertretene sog. „Verkörperungstheorie“ an; vgl. dagegen Brunner, Heinrich, Die Werthpapiere, in: Endemann, W[ilhelm] (Hg.), Handbuch des deutschen Handels-, See- und Wechselrechts, Band 2. – Leipzig: Fues (R. Reisland) 1882, S. 140–235, hier S. 142 f., sowie oben, S. 347 mit Anm. 90.
[542] bedingten
a
[542]B: bedingte,
und dadurch im Sinn der „Commerzialisierung“
78
Weber nimmt hier offenkundig direkten Bezug auf das 6. Kapitel von Sombarts Studie über die ökonomische Bedeutung des Judentums: „Die Kommerzialisierung des Wirtschaftslebens“, in dem der jüdische Einfluß auf Entwicklung und Gebrauch des Inhaberpapiers als umlauffähiges Wertpapier im modernen Sinne postuliert wird (vgl. Sombart, Die Juden, S. 60 ff.).
ungleich wirksameren Inhaberurkunden, und auch die Provenienz der Vorfahren des okzidentalen Werthpapiers grad aus Interessen des frühmittelalterlichen Prozesses in dessen nationalen Formen ist zu evident, als daß hier ein Einfluß grade jüdischer Rechtspraxis besonders wahrscheinlich wäre. Denn die Clauseln, welche den „Werthpapier“-Charakter der Urkunde vorbereiteten, dienten ursprünglich keineswegs kommerziellen[,] sondern rein prozessualen Zwecken,
b
B: Zwecken:
vor Allem: die fehlende prozessuale Stellvertretung zu ersetzen.
r
Fehlt in A.
79
Weber stützt sich auf die von Brunner und Goldschmidt kanonisierte Auffassung, daß die Umgehung des Verbots der gerichtlichen Stellvertretung ursprünglicher Zweck des frühmittelalterlichen Inhaber- oder Orderpapiers gewesen sei; vgl. Brunner, Heinrich, Das französische Inhaberpapier des Mittelalters und sein Verhältnis zur Anwaltschaft, zur Zession und zum Orderpapier. Festschrift im Namen und Auftrage der Berliner Juristen-Facultät. – Berlin: Weidmann 1879, S. 57–71; ders., Wertpapier (wie oben, S. 336, Anm. 70), S. 598–600; Goldschmidt, Universalgeschichte, S. 135, 392. Bezeichnenderweise ist es gerade die Diskrepanz zwischen dieser Ursprungsintention des „alten“ und dem Hauptzweck des „modernen“ Inhaberpapiers: Versachlichung eines Schuldverhältnisses in einem „Wertpapier“, mit der Sombart, Die Juden, S. 80, diese Ableitungslinie zurückweist und seinen Versuch einer jüdisch-rechtlichen Herleitung begründet.
Bisher ist ein Import grade durch Juden
c
A: und bisher jedenfalls
für kein einziges Rechtsinstitut sicher nachweisbar.Nicht im Occident, sondern im Orient hat das jüdische Recht eine wirkliche Rolle als rezipiertes Recht fremder Völker gespielt. Wichtige Bestandteile des mosaischen Rechts sind mit der Christianisierung in das armenische Recht als eine der Componenten von dessen weiterer Entwicklung rezipiert worden.
80
Noch in parthische Zeit (bis 227 n. Chr.) fiel die erste Ausbreitung des Christentums in Armenien. Nach zeitweiliger gewaltsamer Unterdrückung durch die den Parthern nachfolgenden Sassaniden begann im 4. Jahrhundert die Hauptphase der armenischen Christianisierung. – Die armenische Rechtsentwicklung wird vom 5. bis 8. Jahrhundert wesentlich durch das auf Nationalsynoden erzeugte und dann durch private [543]Kanonsammlungen fortgebildete kirchlich-kanonische Recht geprägt. Auf dem jüdisch- und römisch-rechtlichen Grundstock dieses kanonischen Rechts vollzieht sich die eigentliche Rezeption mosaischen Rechts; vgl. Karst, Josef, Grundriß der Geschichte des armenischen Rechtes, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 19, 1906, S. 313–411 (Teil I); Band 20, 1907, S. 14–112 (Teil II), bes. Teil I, S. 324, 329, 331 f.; Teil II, S. 107; Kohler, Josef, Altsyrisches und armenisches Recht, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 19, 1906, S. 103–130, hier S. 115, 128 f.; ders., Das Recht der Armenier, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 7, 1887, S. 385–436, bes. 396 f., 403 f.
Im Chazarenreiche war das Juden[543]tum die offizielle Religion und dadurch gewann das jüdische Recht dort in aller Form Geltung. Und endlich scheint die Rechtsgeschichte der Russen
e
[543]B: Slawen > Russen
wahrscheinlich zu machen, daß auf diesem Wege gewisse
f
B: wichtige > gewisse
Bestandteile auch des ältesten russischen Rechts
g
In B folgt: 〈sehr stark〉
unter dem Einfluß jüdisch-talmudischer Rechtssätze entstanden sind
h
B: jüdischer Rechtsnormen gestanden haben > jüdisch-talmudischer Rechtssätze entstanden sind
.
81
Weber stützt sich hier wohl auf die Hinweise bei Eisenstadt, Samuel, Über allrussische Rechtsdenkmäler, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 26, 1911, S. 157–160, hier S. 159.
Dagegen der Occident kennt Ähnliches nicht.
d
Fehlt in A.
Soweit sich dort ein Import von Geschäftsformen unter
j
In B folgt: ihrer
Vermittlung
i
A: etwa ein Import von Recht unter Vermittlung grade
der Juden vollzogen haben sollte – was gewiß nicht als unmöglich gelten kann –[,] wären dies wohl schwerlich nationaljüdische, sondern syrisch-byzantinische
k
A: allenfalls byzantinische
und möglicherweise auf dem Umweg über diese hellenistische und schließlich vielleicht gemeinorientalische, im Ursprung auf babylonisches Recht zurückgehende Institutionen gewesen. Es ist zu berücksichtigen, daß beim Import der orientalischen Handelstechnik in den Occident[,] wenigstens in der Spätantike[,] mit den Juden vor Allem die Syrer konkurrierten[.]
82
Vgl. hierzu auch oben, S. 336 f. mit Anm. 73 (S. 337).
Das genuin jüdische Recht als solches[,] grade auch das Obligationenrecht,
83
Dies richtet sich vermutlich direkt gegen Sombart, Die Juden, S. 89–91, der eine den modernen kapitalistischen Verkehrsrechtsformen durchaus günstige Disposition des jüdischen Obligationenrechts annimmt.
ist schon seinem formalen Charakter nach[,] trotz einer freien Entwicklung der rechtsgeschäftlichen Typen, doch
l
A: gemeinorientalische Institutionen gewesen. Allein das jüdische Recht als solches ist schon seinem formalen Charakter nach
keineswegs ein besonders geeigneter Nährboden für solche Institute gewesen, wie sie der moderne Kapitalismus braucht. Umso mäch[544]tiger ist natürlich der Einfluß des jüdischen heiligen Rechts
n
B: Rechts > heiligen Rechts
im internen Leben der Familie und Synagoge gewesen. Auch hier insbesondere soweit es „Ritus“ war. Denn die ökonomischen Normen
o
B: heiligen Spezialnormen > Contraktnormen > ökonomischen Normen
waren teils (wie das Sabbathjahr) auf das heilige Land beschränkt (auch hier ist es jetzt durch Dispens der Rabbinen beseitigt),
84
[544] Mit Blick auf die zeitgenössischen zionistischen Siedlungsversuche in Palästina weist Weber in: Judentum, S. 107, Anm. 52, auf den von ostjüdischen Rabbinen – im Gegensatz zu den Rabbinen von Jerusalem – ausgesprochenen Dispens vom Sabbatgebot hin. Motiviert werde die Dispensierung mit der Gottwohlgefälligkeit der Besiedelung des Landes; vgl. dazu Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 223 f. mit Anm. 22.
teils wurden sie durch die Veränderung der Wirtschaftsverfassung obsolet oder konnten, wie überall, durch konstruktive Handlungen praktisch umgangen werden
p
B: unwirksam gemacht werden > umgangen werden
. Es war schon vor der Judenemanzipation
85
In zahlreichen westlichen Ländern ging mit der Aufklärung und der Französischen Revolution eine relative rechtliche und soziale Gleichstellung der Juden einher.
von Ort zu Ort sehr verschieden, in welchem Umfang und Sinn das heilige Recht noch gültig war. Formal bot es keine Besonderheiten gegenüber andren seinesgleichen. Als Partikularrecht und als immerhin nur unvollkommen rational
m
A: Das Obligationenrecht zeigt keinerlei nach dieser Richtung liegende Abweichung von dem Typus ande[544]rer orientalischer Rechte. Das jüdische Recht als Partikularrecht und als nur unvollkommen
systematisiertes und rationalisiertes, kasuistisch und doch nicht rein
q
Fehlt in A.
logisch durch[WuG1 479]gebildetes Recht zeigt das jüdische heilige Recht vielmehr
r
Fehlt in A.
die allgemeinen Eigenarten eines unter der
s
In A folgt: absoluten
Kontrolle heiliger Normen und ihrer Bearbeitung durch Priester und theologische Juristen entwickelten Produkts. Wir haben hier, so interessant das Thema an sich ist, keinen Anlaß zu einer speziellen Betrachtung.
t
A: stehenden Rechts.
Das kanonische Recht des Christentums nahm gegenüber allen anderen heiligen Rechten eine mindestens graduelle Sonderstellung ein. Es war zunächst in beträchtlichen Partien wesentlich rationaler und stärker
a
A: mehr
formal juristisch entwickelt
b
B: entwickelter
als die anderen heiligen Rechte. Und es stand ferner von Anfang an in relativ klarem Dualismus mit leidlich deutlicher Scheidung der beiderseitigen Gebiete, wie sie in dieser Art anderwärts nirgends existiert [545]hat, dem profanen Recht gegenüber. Dies letztere war zunächst
c
[545]A: klarem Dualismus dem profanen Recht mit leidlich deutlicher Scheidung der beiderseitigen Gebiete, wie sie in dieser Art anderwärts nirgends existiert hat, gegenüber. Das letztere ist
die Konsequenz des Umstandes, daß die Kirche in der Antike Jahrhunderte lang jegliche Beziehung zu Staat und Recht abgelehnt hatte. Der relativ rationale Charakter aber ergab sich als Folge verschiedener
d
A: Das erstere ergab sich als Folge verschiedener damit zusammenhängender
Umstände. Als die Kirche ein Verhältnis zu den
e
A: jenen
profanen Mächten zu suchen sich veranlaßt sah, legte sie sich, wie wir sahen,
f
A: sich
86
[545] Siehe Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 396–398.
diese Beziehung mit Zuhilfenahme der
g
In A folgt: rationalen
stoischen Konzeptionen des „Naturrechtes“ zurecht, eines rationalen Gedankengebildes also.
h
A: zurecht.
87
Zur Bedeutung der Rezeption der stoischen Naturrechtslehre für das Verhältnis der frühen Kirche zum Staat vgl. die Einleitung, oben, S. 108. Weber stützt sich hierbei nicht zuletzt auf Troeltschs Untersuchungen zu dieser Problematik; vgl. Troeltsch, Soziallehren (wie oben, S. 108, Anm. 83), bes. S. 52–54, 148–178, sowie ders., Naturrecht (ebd.), S. 175–181.
In ihrer eigenen Verwaltung ferner lebten die rationalen Traditionen des römischen Rechtes weiter. Bei
i
A: Und endlich bei
Beginn des Mittelalters suchte alsdann die occidentale
j
A: die
Kirche bei der ersten eigentlich systematischen Rechtsbildung, welche sie [A 12e][B 9]schuf:
k
A: sie im | Okzident vollzog:
den Bußordnungen, Anlehnung gerade an die am meisten formalen Bestandteile des germanischen Rechtes. Im Mittelalter sonderte dann
l
A: Es kam hinzu, daß
die abendländische Universitätsbildung den Lehrbetrieb der Theologie auf der einen Seite und den des weltlichen Rechts
m
A: Universalrechts
auf der anderen Seite von der kanonischen Rechtslehre
o
B: Rechtslehre,
und hemmte so die Entstehung theokratischer Mischbildungen, wie sie überall sonst eingetreten sind. Die
n
A: Rechtslehre sonderte, und daß die
streng logische und fachjuristische Methodik, welche an der antiken Philosophie einerseits, an der antiken Jurisprudenz anderseits geschult war, mußte
p
Fehlt in A.
auch auf die Behandlung des kanonischen Rechts sehr stark einwirken.
q
A: einwirken mußte.
Die Sammlerthätigkeit der kirchlichen Rechtskundigen hatte sich daher hier nicht auf Responsen und Präjudizien – wie fast überall sonst –[,] sondern auf Conzilsschlüsse, amtliche Reskripte und Dekretalen zu richten und, was nur auf dem Boden dieses Kirchentums geschehen ist, solche eventuell zweckbewußt durch Fälschung zu schaffen (Pseudo-Isidor)
s
Schließende Klammer fehlt in B.
. Und schließlich und [546]vor Allem wirkte auf den Charakter der kirchlichen Rechtssatzung der – nach Ablauf der charismatischen Epoche der alten Kirche
88
[546] Die „charismatische Epoche der alten Kirche“ ist, nach altchristlichem Verständnis, das „apostolische Zeitalter“, worunter man im allgemeinen den Zeitraum von der Konsolidierung der urchristlichen Gemeinde in Jerusalem und der paulinischen Mission bis zum Tode der Apostel Petrus und Paulus (64 n. Chr.) versteht. Paulus, so Sohm, Kirchenrecht (wie oben, S. 397, Anm. 18), S. 42, Anm. 10, „ist der letztberufene der Apostel“, d. h. der „von Gott (Christo) selber zum Missionswerk ausgesandten und ausgerüsteten Prediger des Evangeliums“ (ebd., S. 42).
– für die kirchliche Organisation charakteristische rationale bürokratische Amtscharakter ihrer Funktionäre, der, nach der feudalen Unterbrechung im frühen Mittelalter, seit der gregorianischen Zeit wieder auflebte und alleinherrschend wurde.
89
Im Zuge der Feudalisierung bemächtigten sich die Grundherren und Fürsten seit dem 7. Jahrhundert zunehmend der geistlichen Stellen bzw. des dafür maßgeblichen Besetzungsrechts sowie der über die Deckung des Kultbedarfs hinausgehenden kirchlichen Einkünfte (Eigenkirchenwesen). Dies unterbrach die Entwicklung der Kirche zur Anstaltsorganisation und schwächte die päpstliche Disziplinargewalt über das hierokratische Personal. Nicht zuletzt dagegen wendete sich der von Papst Gregor VII. angestoßene Investiturstreit des 11./12. Jahrhunderts zwischen Papsttum und Königtum.
Auch er war Folge der Anknüpfung an die Antike. In ungleich stärkerem Maße als irgend eine andre religiöse Gemeinschaft hat daher die occidentale Kirche den Weg der Rechtsschöpfung durch rationale Satzung beschritten. Und die streng rationale hierarchische Organisation der Kirche erleichterte ihr auch, im Wege von allgemeinen Verfügungen ökonomisch undurchführbare und daher lästige Satzungen als dauernd oder zeitweilig (temporum ratione habita)
90
„Unter den obwaltenden Gegebenheiten“ – stehende Wendung bei der amtlichen Dispensation von kanonisch-rechtlichen Vorschriften vor allem wegen sozialer und ökonomischer Umstände.
obsolet zu behandeln, wie wir dies für das Wucherverbot sahen.
r
[546] Fehlt in A.
91
Siehe Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 376–384, hier S. 381–383; vgl. auch Weber, Staat und Hierokratie, MWG I/22-4, S. 640–644. – Alttestamentliches Fundament des Zinsverbots ist im übrigen Ex 22, 24; vgl. außerdem Dtn 23, 20 f.; Lev 25, 36 f.
So wenig trotzdem
t
Fehlt in A.
das kanonische Recht in zahlreichen Einzelfällen die spezifische Eigenart theokratischer Rechtsbildung: Vermischung von materialen legislatorischen Motiven und materialen sittlichen Zwecken mit den formal juristisch relevanten Bestandteilen der Satzungen
a
A: der Formulierung der juristisch relevanten Bestandteile der Rechtssatzung
und die daraus folgende Einbuße an Präzision ver[547]leugnete, so war
b
[547]A: verleugnet, so ist
es doch von allen heiligen Rechten am meisten an streng formaler juristischer Technik orientiert. Es fehlte hier die Fortbildung durch respondierende Juristen, wie sie dem islamischen und jüdischen Recht eigen war, und das Neue Testament enthielt nur ein solches Minimum formal bindender Normen
d
B: Rechtsnormen > Normen
rituellen oder rechtlichen Charakters – eine Folge der eschatologischen Weltabgewandtheit –, daß eben dadurch die Bahn völlig frei war für rein rationale Satzung
e
B: Rechtssatzung > Satzung
. Eine Analogie zu den Mufti’s, Rabbinen und Gaonen stellten erst die gegen[WuG1 480]reformatorischen Beichtväter und directeurs de l’âme und, in den altprotestantischen Kirchen, die Pastoren dar, deren seelsorgerische Casuistik denn auch, wenigstens auf katholischem Boden, gewisse entfernte Ähnlichkeiten mit den talmudischen Produkten aufweist. Aber alles unterstand hier der Kontrolle der zentralen Behörden der Kurie, und nur durch deren, höchst elastische, Anordnungen erfolgte die Fortbildung der bindenden ethisch-sozialen Normen. Dadurch ist hier das zwischen sacralem und profanem Recht sonst nirgends bestehende Verhältnis entstanden: daß das kanonische Recht für das profane Recht gradezu einer der Führer auf dem Wege zur Rationalität wurde. Und zwar infolge des rationalen „Anstalts“-Charakters der katholischen Kirche, der sonst sich nirgends wiederfindet. Auf dem Gebiet des materiellen Rechts war [–] neben Einzelheiten, wie der Spolienklage und
f
In B folgt: 〈der Besitzesschutz〉
dem Summariissimum[,] der Anerkennung des formlosen Vertrages, vor Allem aber der Unterstützung der Testierfreiheit im Interesse letztwilliger frommer Stiftungen [–] prinzipiell von größter Bedeutung der kanonistische Corporationsbegriff: die Kirchen waren die ersten „Anstalten“ im Rechtssinn, und mit von da aus begann die juristische Construktion der öffentlichen Verbände als Corporationen. Davon wurde schon gesprochen.
c
Fehlt in A.
92
[547] Siehe oben, S. 397–399.
Die direkte praktische Tragweite des canonischen Rechts im Umkreise des uns hier vorwiegend interessierenden materiellen Zivilrechts, vor Allem des Geschäftsrechts, war im Übrigen schwankend, im ganzen aber, selbst im Mittelalter, gegen[548]über dem weltlichen Rechte relativ gering. In der Antike, selbst bis zu Justinian, hatte es nicht einmal die wirkliche rechtliche Beseitigung der freien Ehescheidung durchzusetzen vermocht und war die geistliche Gerichtsbarkeit rein freiwillig geblieben.
g
[548]A: Sein praktisches Geltungsgebiet im Umkreise des uns hier interessierenden Zivilrechts war schwankend, im ganzen aber gegenüber dem weltlichen Rechte gering.
Die prinzipielle Schrankenlosigkeit des Anspruchs auf materiale
h
Fehlt in A.
Beherrschung der gesamten Lebensführung, welche es mit allen theokratischen Rechten teilte, blieb im Occident für die juristische Technik um deswillen relativ unschädlich, weil in Gestalt des römischen Rechts
i
A: teilt, blieb hier um deswillen unschädlich, weil
ein formal zu ungewöhnlicher Vollendung gediehenes und durch die historische Kontinuität zum universalen Weltrecht gestempeltes profanes Recht ihm Konkurrenz machte:
j
A: machte.
die alte
k
k–k (bis S. 550: Leben blieb[.]) Fehlt in A.
Kirche selbst hatte das römische Imperium und sein Recht als
l
In B folgt: 〈„ewig“〉
für die Dauer der diesseitigen Welt endgültig bestehend behandelt.
93
[548] Verschiedene neutestamentliche Zeugnisse lassen die positive Stellungnahme der alten Kirche zum Römerreich erkennen – im Gegensatz zur Johannesapokalyse, die den Weltstaat als Teufelsstaat perhorresziert. So etwa eine Stelle im 2. Thessalonicherbrief (2 Thess 2, 4–7), wonach das römische Reich das Erscheinen des Antichrist (und damit den Untergang der Welt) aufhalte, in Verbindung mit dem Römerbrief (Röm 13, 1–7), der zum Gehorsam gegenüber der staatlichen Ordnung aufruft; vgl. dazu Harnack, Adolf, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 2 Bände (in 1), 2., neu durchgearb. Aufl. – Leipzig: J. C. Hinrichs 1906, Band 1, S. 220–225; ders., Kirche und Staat bis zur Gründung der Staatskirche, in: Wellhausen, J[ulius] u.a., Die christliche Religion mit Einschluß der israelitisch-jüdischen Religion (Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hg. von Paul Hinneberg, Teil I, Abt. IV). – Berlin, Leipzig: B. G. Teubner 1906, S. 129–160, hier S. 145–147.
Gegen die Ansprüche des kanonischen Rechts aber reagierten einerseits die ökonomischen Interessen des Bürgertums, auch der mit dem Pabst verbündeten italienischen Städte, sehr energisch und im Resultat erfolgreich. Wir finden in den städtischen und Gildestatuten, in den ersteren auch in Deutschland, in beiden in Italien, scharfe Strafbestimmungen gegen Bürger, welche das geistliche Gericht anrufen, und daneben fast zynisch wirkende Reglements über die Pauschalablösung der wegen „Wucher“ verwirkten geistlichen Strafen von Zunft wegen.
94
Weber, Protestantische Ethik I, S. 33, Anm. 1, erwähnt beispielhaft das Zunftstatut der florentinischen Arte di Calimala (Zunft des „schlechten Weges“; Zunft der Tuchgroßhändler) mit seinen ausdrücklichen Bestimmungen zur Ablaßbeschaffung, Boykottandrohung und zins- bzw. profitverschleiernden Buchungstiteln; vgl. auch Weber, [549]Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 383, und ders., Staat und Hierokratie, MWG I/22-4, S. 642 f.
Und daneben erhoben sich in [549]den rationalen Advokatenzünften und Ständeversammlungen gegen das kirchliche Recht die gleichen materiellen und ideellen Klasseninteressen der Rechtsinteressenten und vor Allem auch der Rechtspraktiker, wie, teilweise, auch gegen das römische. Sein Einfluß auf die profane Justiz lag[,] von Einzelinstitutionen abgesehen, hauptsächlich auf dem Gebiet des Prozeßverfahrens. Hier hat das Streben aller theokratischen Justiz nach materialer und absoluter, nicht nur formaler, Wahrheit, im Gegensatz zu dem formalistischen und auf der Verhandlungsmaxime ruhenden Beweisrecht des profanen Prozesses[,] besonders frühzeitig eine rationale
m
[549] In B folgt: 〈〈Me〉 Beweismethode〉
, aber freilich spezifisch materiale
n
B: unformale > materiale
Methodik des Offizialverfahrens
o
B: Beweisverfahrens > Offizialverfahrens
entwickelt. Eine theokratische
p
B: Die kirchliche > Eine theokratische
Justiz kann die Wahrheitsermittlung nicht der Parteiwillkür überlassen, ebensowenig wie die Sühne geschehenen Unrechts. Sie verfährt „von Amts wegen“ (Offizialmaxime) und schafft sich ein Beweisverfahren, welches ihr die Gewähr optimaler Feststellung des wirklich Geschehenen zu bieten scheint: im Occident den „Inquisitionsprozeß“, den dann die weltliche Strafjustiz übernahm. Der Kampf um das materiale canonische Recht wurde im Occident späterhin eine wesentlich politische Angelegenheit und seine heute noch bestehenden Ansprüche liegen in ihrer praktischen Bedeutung nicht mehr auf Gebieten, welche ökonomisch relevant sind. –
q
In B folgt die Satzanweisung Max Webers: Absatz
[WuG1 481]In den orientalischen Kirchen wurde die Lage, infolge des Fehlens eines unfehlbaren Lehramts und conziliarer Gesetzgebung seit dem Ausgang der frühbyzantinischen Zeit,
95
Herkömmlich mit der Entstehung des mittelbyzantinischen Reichs unter dem Basileus (= Kaiser) Herakleios (610–641 n. Chr.) datiert.
ähnlich derjenigen im Islam. Nur daß wenigstens der byzantinische Monarch wesentlich stärkere cäsaropapistische Prätensionen erhob, als die Sultane
r
B: Khalifen > Sultane
des Ostens sie nach der Loslösung des Sultanats vom abbasidischen Khalifat erheben konnten
96
Seit der Mitte des 10. Jahrhunderts ging das islamische Großreich in mehreren politisch autonomen Teilreichen mit eigenen Herrscherdynastien auf, während der persisch-abbasidische Kalifat bis zum Untergang der Dynastie im Mongolensturm des 13. Jahrhunderts zu einer rein geistlichen Herrscherwürde herabsank.
und als auch die Türkensultane sie. [550]selbst nach der Übertragung des Khalifats von Mutawakkil auf Sultan Selim, geltend
s
[550]B: gelten
gemacht haben,
97
[550] Selim I., Sultan des osmanischen Reiches, beendete 1517 durch die Eroberung Kairos die Mamluken-Herrschaft in Ägypten und ließ den dort residierenden abbasidischen Schattenkalifen al-Mutawakkil III. nach Istanbul verbringen. Dieser soll bald darauf die Kalifenwürde auf den Osmanenherrscher übertragen haben.
von der prekären Legitimität der persischen Schahs gegenüber ihren schiitischen Unterthanen ganz zu schweigen. Immerhin hat weder der spätbyzantinische noch haben die russischen und sonstigen cäsaropapistischen Herrscher den Anspruch erhoben, neues heiliges Recht setzen zu können. Es fehlte daher dafür jedes Organ, auch fehlten
t
Fehlt in B; fehlten sinngemäß ergänzt.
Rechtsschulen nach Art der islamischen gänzlich, und die Folge war, daß das canonische Recht hier, auf seine ursprüngliche Sphäre beschränkt, gänzlich stabil
u
B: steril > stabil
, aber auch gänzlich einflußlos auf das ökonomische Leben blieb[.]
k
k(ab S. 548: die alte)k Fehlt in A.
Deponat Max Weber, BSB München, Ana 446, OM 10, Bl. 12 f./1 Ediert unten, S. 552-555

[552][B Db WuG1 481, Forts.]§ 6. Amtsrecht und patrimonialfürstliche Satzung. Die Codifikationen[.]
a1
[552] Fehlt in A.

Das Imperium. S. 552 – „Ständische“ oder „patriarchale“ Struktur des patrimonialfürstlichen Rechts[.] S. 561 – Die treibenden Mächte der Codifikationen[.] S. 569 [–] Die Rezeption des römischen Rechts und die Entwicklung
c
In B folgt: 〈des gemeinrechtlichen〉
der modernen Rechtslogik. S. 581 [–] Typus der patrimonialen Codifikationen[.] S. 585 [–] Der code civil[.] S. 592 [–] Das Naturrecht und seine Typen[.] S. 595
d
Die beiden Abschnittsüberschriften betreffen Max Webers Ausführungen zu § 7, unten, S. 592 ff.
b
Die Inhaltsübersicht ist links mit eckiger Klammer und Satzanweisung von fremder Hand: Petit versehen.
a2
Fehlt in A.
[A 12f][B 1] Die
e
In B geht am oberen Blattrand voraus: § [Spatium] Imperium und patrimonialfürstliche Gewalten in ihrem Einfluß auf die formalen Qualitäten des Rechts. Die Codifikationen. In das Spatium ist von fremder Hand die Ziffer 6 eingefügt. Weiterhin geht in B vor Textbeginn die Satzanweisung Max Webers voraus: Absatz
zweite autoritäre Macht, welche in den
f
A, B: dem
Formalismus und Irrationalismus der alten dinggenossenschaftlichen Justiz
1
[552] Zur „dinggenossenschaftlichen Justiz“ vgl. oben, S. 467–474 und S. 422–424.
eingreift, ist das Imperium (Banngewalt, Amtsgewalt) der Fürsten, Magistrate und Beamten. Es bleibt die Erörterung desjenigen Sonderrechts, welches der Fürst für seine persönliche Gefolgschaft, für seine beamteten Untergebenen und vor allem:
g
Doppelpunkt fehlt in A.
für sein Heer schafft, und welches in recht wirksamen Resten auch bis heute
h
In A folgt: unter dem Schlagwort: daß die Disziplin seine Existenz erfordere,
weiter besteht, hier ganz bei Seite. Es haben diese Rechtsschöpfungen in der Vergangenheit zu höchst wichtigen Partikularrechtsbildungen:
i
A: Sonderrechtsbildungen:
Clientelrecht, Dienstrecht, Lehenrecht, geführt, welche alle, in der Antike wie im Mittelalter, dem gemeinen Recht und der normalen Judikatur sich entzogen und in sehr verschiedener und komplizierter Art dagegen abgrenzten. Denn ungeachtet
j
A: Ungeachtet
der politischen Wichtigkeit dieser Erscheinungen tragen sie keine eigne formale Struktur an sich. Je
k
A: wurde die formale Struktur des ökonomisch relevanten Zivilrechts, die uns hier interessiert, davon nur peripherisch berührt. Denn je
nach dem allgemeinen Charakter des Rechts unterstanden diese Partikularitäten entweder, wie die Klientel im Altertum, einer Mischung von sacralen Normen einerseits und
l
A: einerseits,
konventionellen Regeln andererseits, oder trugen sie, wie das Dienst- und Lehenrecht im Mittelalter, ständischen Charakter, [553]oder sind
m
[553]A: wurden
sie endlich, wie das heutige Beamten- und Militärrecht, teils Spezialnormen des Verwaltungs- und Staatsrechts, teils einfach materiellen und prozessualen Sonderinstanzen
o
B: Sonderrechten > Sonderinstanzen
n
A: dem Verwaltungs- und Staatsrecht, teils gesonderten materiellen und prozessualen Rechtsordnungen
unterstellt. Für uns handelt es sich vielmehr um die Einwirkung des Imperium auf das gemeine Recht selbst, auf dessen Abänderung
p
A: entweder auf Abänderung des gemeinen Rechts selbst
oder auf die Entstehung eines neben, statt oder gegen das gemeine Recht
q
A: trotz des gemeinen Rechts
ebenfalls allgemein geltenden Rechtes und vor allem:
r
Doppelpunkt fehlt in A.
um die Einwirkung dieses Zustands auf die formale Struktur des Rechts überhaupt. Nur das Eine ist allgemein festzustellen: das Maß der Entwicklung von Sonderrechten dieser Art ist allerdings eine Art von Maßstab für das gegenseitige Kräfteverhältnis des Imperium zu den Schichten, mit denen es als Trägern seiner Macht zu rechnen hat. Das englische Königtum hat durchgesetzt, daß ein Lehenrecht als Sonderrecht
t
B: Sondergebilde > Sonderrecht
in der Art, wie in Deutschland, dort nicht entstand, sondern in der einheitlichen „lex terrae“, dem Common Law, aufging. Dafür ist freilich das gesammte Bodenbesitz-, Familien- und Erbrecht stark feudal geprägt.
2
[553] Mit der These von der Einschmelzung des Feudalrechts in das Common Law und umgekehrt der feudalen Prägung besonders des englischen Boden-, Familien- und Erbrechts folgt Weber in erster Linie wohl Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte, S. 179–190, sowie Heymann, Überblick, S. 309 ff., bes. 311, 313, 320 f., 339 ff., 342 ff.; vgl. auch oben, S. 532 mit Anm. 50, und allgemein zur Transformation von ständischem Sonderrecht zu sachlichem Spezialrecht oben, S. 370–372.
Das römische Statutarrecht hat von der Clientel
3
Gemeint ist das römische „Satzungsrecht“, speziell die Zwölftafelgesetzgebung; zu den sakralrechtlichen Schutzbestimmungen für die Klientel vgl. unten, S. 571.
in einigen Einzelbestimmungen, wesentlich
a
B: sacralen > wesentlich
Verfluchungsformeln, Notiz genommen, im Übrigen aber dies für die soziale Stellung des römischen Adels wichtige Institut in das Gebiet der Regelung durch das bürgerliche Recht absichtlich [WuG1 482]nicht einbezogen. Die italienischen Statuten des Mittelalters haben, ähnlich dem englischen Recht, eine einheitliche lex terrae geschaffen.
4
Das in zahlreichen oberitalischen Städten geltende lombardische Recht wurde im 13. und 14. Jahrhundert unter dem Einfluß der sog. Kommentatorenschule mit römischem und kanonischem Recht verbunden und zu einem interlokal anwendbaren Pan[554]dektenrecht ausgebildet. Diese Entwicklung der italienischen Statuten seit dem 12. Jahrhundert zu einem gemeinen Recht hat Weber hier im Auge.
Auf [554]dem mitteleuropäischen Continent hat derartiges erst der absolute Fürstenstaat unternommen, und zwar meist unter Schonung des materiellen Bestandes dieser Sonderrechte, welche erst durch die moderne Staatsanstalt ganz aufgesogen wurden. –
s
Fehlt in A.
Woher der Fürst oder Magistrat oder Beamte die Legitimation und faktische Macht zur Schaffung oder Beeinflussung des gemeinen Rechts nahm und wieweit diese Macht in den einzelnen geographischen und sachlichen Rechtsgebieten reichte, bleibt ebenso wie die Besprechung der Motive seines Eingreifens der Erörterung der Herrschaftsformen vorbehalten.
5
Siehe in der „Herrschaftslehre“, Patrimonialismus, MWG I/22-4, S. 259 ff.
Tatsächlich war jene Macht höchst verschieden geartet und hat dementsprechend auch verschiedene Resultate hervorgebracht. Ganz allgemein
b
b–b (bis S. 555: des imperium.) Fehlt in A.
pflegt eine der ersten Schöpfungen der fürstlichen Banngewalt ein rationales Strafrecht zu sein. Militärische ebenso wie allgemeine „Ordnungs“-Interessen drängten zur Regelung gerade dieses Gebiets. Nach der religiösen Lynchjustiz ist die fürstliche Amtsgewalt die zweite Hauptquelle eines gesonderten
c
B: des geordneten > eines gesonderten
„Strafprozesses“.
6
Vgl. zu diesen beiden Hauptquellen der Strafjustiz bereits oben, S. 293–296.
Sehr oft sind direkt priesterliche Einflüsse bei dieser Entwicklung beteiligt gewesen. So im Bereich des Christentums das Interesse an der Ausrottung der Blutrache und des Zweikampfs.
7
„Blutrache“ ist die ursprüngliche Form einer obligatorischen Selbstjustiz. Der Zweikampf war vor allem bei den germanischen Volksstämmen die verbreitete Form des Gottesurteils, mit dem die Wahrheit oder Unwahrheit vorgebrachter Behauptungen erwiesen werden sollte. Seltener wohl ist er eine außerhalb des gerichtlichen Verfahrens stattfindende, gesetzlich geregelte Form der Selbsthilfe gewesen; vgl. dazu etwa Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte II, S. 402–406, 414–418.
Der russische Knjäs
d
B: Fürst > Knjäs
, der in der älteren Zeit bloße Schiedsrichterfunktionen beansprucht, schafft unter dem Einfluß der Bischöfe sofort nach der Christianisierung ein kasuistisches Strafrecht: der Begriff „Strafe“ (prodascha) taucht auch terminologisch erst jetzt auf.
8
Vgl. oben, S. 469, Anm. 95; zum späten Auftauchen des „Straf“-Begriffs etwa Goetz, Das russische Recht I (ebd.), S. 314 f.
Ähnlich im Occident; und auch im Islam und zweifellos in Indien sind die rationalen Tendenzen der Priesterschaft mitbeteiligt. Und es scheint plausibel, [555]daß auch die detaillierten Wergeld- und Buß-Tarifierungen aller alten Rechtssatzungen stets entscheidend durch fürstliche Einflüsse bestimmt wurden. Das Ursprüngliche
e
[555]B: ursprüngliche
scheint[,] nachdem sich überhaupt typische Sühnebedingungen entwickelt hatten[,] überall – wie Binding für das deutsche Recht gezeigt hat
9
[555] So etwa Binding, Entstehung der öffentlichen Strafe, S. 33: „Ursprünglich kannten die germanischen Stämme je nur zwei Bußsummen: das hohe Wergeld [das ebd., S. 26, als „die Totschlagsbuße, das Mann- oder Wergeld“ bestimmt wird], das sich übrigens nach den Ständen der Freien im Volke differenzierte, regelmäßig eine Summe nach dem Dezimal-Maß […] und eine kleine Bußzahl […], als Generalbuße für alle sonstigen bußfähigen Delikte.“
– das Nebeneinander eines Hauptbußsatzes für den Totschlag und äquivalente, Blutrache heischende Verletzungen und eines weit kleineren Bußsatzes für unterschiedslos alle andren Frevel zu sein. Wohl unter fürstlichem Einfluß entstanden nun jene fast grotesken Taxen für alle nur erdenklichen Frevel, die jedermann gestatteten, sich sowohl vor Begehung der That wie vor Beschreitung des Rechtswegs zu überlegen, ob es sich „lohne“[.] Das starke Vorwalten rein ökonomischer Betrachtung der Strafthaten und der Strafe ist allen bäuerlichen Schichten aller Zeiten gemeinsam. Der Formalismus der festen Abmessung der Bußen aber entspringt der Ablehnung
f
In B folgt: 〈„freien Ermessens“〉
der Willkür des Herrn. Dieser strenge Formalismus macht daher überall erst bei patriarchaler Entwicklung der Justiz einer elastischeren, schließlich zuweilen völlig arbiträren Strafzumessung Platz.
Auf dem Gebiet des „bürgerlichen“ Rechts, dessen Sphäre der
g
In B folgt (ohne eindeutige Zuordnung): 〈ordnenden〉
Banngewalt der Fürsten nirgends so zugänglich sein konnte, als die als Sache formaler Ordnungs- und Sicherheitsgarantie betrachtete Strafrechtspflege, zeigt sich
h
Fehlt in B; sich sinngemäß ergänzt.
überall ein viel späteres und in der Form sowohl wie im Ergebnis sehr verschiedenes Eingreifen des imperium.
b
b(ab S. 554: Ganz allgemein)b Fehlt in A.
Teilweise entstand
i
Fehlt in A.
ein fürstliches oder magistratisches Recht, welches dem gemeinen Recht gegenüber ganz ausdrücklich auf die besondere Quelle, der es entstamm[A 12g][B 2]te, Bezug nahm. So das römische „ius honorarium“ des prätorischen Edikts,
10
Die römische Republik kennt drei formal selbständig nebeneinander stehende, materiell vielfach sich überschneidende, ergänzende oder ersetzende Rechtsschichten: das prinzipiell nur für die römischen Bürger geltende ius civile, das den Verkehr mit Nichtbürgern bestimmende ius gentium und schließlich das ediktale Recht der Gerichtsmagistrate (Prätoren und Ädilen), das ius honorarium.
das „writ“-[556]Recht des englischen Königs[,]
j
A: Edikts und
11
[556] Zum Writprozeß vgl. oben, S. 300, Anm. 73.
die „equity“ des englischen Lordkanzlers.
12
Im 12. Jahrhundert entwickelte sich eine selbständige Kanzlergerichtsbarkeit, die ein gegenüber den königlichen Common-Law-Gerichten schnelleres und kostengünstigeres Verfahren, das sog. Equity-Verfahren, ausbildete. Aus der Equity ging im Laufe der Zeit ein festes System von Rechtssätzen hervor, das wie das Common Law auf Rechtsgrundsätzen (legal principles) und Präjudizien (precedents) aufbaute, daneben aber viele diesem unbekannte oder direkt entgegenstehende Rechtssätze enthielt; vgl. dazu Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 142–149; ders., Englische Verfassungsgeschichte, S. 281 f.; Heymann, Überblick, S. 291 f.
Der Gerichtsbann der mit der Justizverwaltung betrauten Beamten schuf sie,
k
[556]A: hier,
gestützt auf die an den Bedürfnissen der Rechtsinteressenten orientierten Tendenzen der Rechtspraktiker, vor allem der Konsulenten (Rom) und Advokaten (England)[,] also: der Rechtshonoratiorenschichten.
13
Vgl. dazu oben, S. 459–465, 474, 476–478.
Kraft
l
A: also der Rechtshonoratiorenschichten, kraft
ihrer Macht, entweder den entscheidenden Richter bindend zu instruieren (Prätor) oder den Parteien bindend Befehle (injunctions)
14
Im 15. Jahrhundert neu aufkommendes Equity-Instrument. Mittels „injunction“ verbot die Chancery den Parteien die Einleitung eines nach Common Law zulässigen Streitverfahrens, gelegentlich sogar solche Exekutionsschritte, zu denen man durch Urteil der Common Law-Gerichte berechtigt war. Den von ihr selbst gefällten Spruch konnte sie durch eigene Beamte vollstrecken; vgl. dazu Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 145; ders., Englische Verfassungsgeschichte, S. 281 f.
zu erteilen – was in England im Streit mit den ordentlichen Gerichten durch Jac[ob I.] dem Lord-Kanzler (Fr[ancis] Bacon) generell zugestanden wurde
15
Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 146, schreibt über diese Auseinandersetzung: „Die Common Law-Juristen, an ihrer Spitze der Lord Chief Justice Coke, der Gegner Francis Bacons [zunächst Attorney General, dann Lordkanzler unter Jakob I., Hg.], erblickten in diesem ,angemaßten‘ Eingreifen des Kanzlers [durch „injunction“, Hg.] die Unterdrückung der Volksfreiheit, während Bacon, vom absoluten König Jakob l. unterstützt, den Kanzler als ,conscientia‘, das ,Gewissen des Königs‘ bezeichnete und ihm hiebei das weiteste Ermessen der Rechtssetzung zuschrieb […]. Jakob I. entschied zu Gunsten des Kanzlers und zu Gunsten der kanonischen ,Injunction‘.“
– oder die Prozesse freiwillig oder zwangsweise
m
A: (der Prätor) oder die Prozesse
an sich selbst oder an ein besonderes Gericht zu ziehen (in England an die Königsgerichte und später an den Chancery Court)[,] [WuG1 483]schufen sie
n
A: (den Chancery Court)
neue Rechtsmittel, welche im Effekt das geltende gemeine Recht (ius civile, common law) weitgehend außer Geltung setzten.
o
A: setzen.
16
Für das römische Recht ist zu berücksichtigen, daß die strikte Unterscheidung von [557]ius civile und ius honorarium praktisch nur solange zutraf, als das alte formstrenge Zivilrecht noch wirksam war und der Ergänzung durch ein formfreieres Honorarrecht bedurfte. Im Laufe der Zeit schoben sich aber die beiden Rechtsmassen immer mehr ineinander, und es entstand ein erweitertes ius civile, das im justinianischen Kodex Zivilrecht und Honorarrecht endgültig miteinander verschmolz. Hingegen entwickelte die englische Equity ein gegenüber dem Common Law dauerhaft selbständiges und konkurrierendes Amtsrecht, während das königsgerichtliche Writ-Verfahren in das Common Law rezipiert wurde.
Gemeinsam ist dabei diesen späteren amtsrechtlichen [557]Neuschöpfungen von materiellem Recht, daß sie an das Bedürfnis nach rationaler Gestaltung des Prozesses anknüpften, welches vornehmlich von rational wirtschaftenden, d. h. von bürgerlichen, Schichten ausging. Der sehr alte Interdiktionsprozeß und die actiones in factum machen es sicher, daß der römische Prätor nicht erst seit der lex Aebutia seine beherrschende Stellung im Prozeß: die Instruktionsgewalt gegenüber den Geschworenen, innehatte.
17
Die auf 169–149 v. Chr. datierte Lex Aebutia gilt – zusammen mit der späteren lex Iulia iudiciorum privatorum des Augustus (17 v. Chr.) – als gesetzliche Grundlage des vorher schon im römischen Fremdenrecht angewendeten Formularprozesses. – Webers These nimmt Bezug auf die seinerzeitige Kontroverse um Alter und Ursprung des ius praetorium und unterstützt gegen die herrschende Lehre die Auffassung von Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 38 ff. Gegenüber der Meinung, der Prätor habe in alter Zeit Rechtsschutz nur im Rahmen und in den Formen des Legisaktionensystems gewähren können, bemerkt Mitteis: „Vor dieser Behauptung sollte doch schon der unbestritten uralte Bestand des Interdiktenschutzes warnen, der ja in Wahrheit nichts ist als ein vom Magistrat auf dem gesetzesfreien Gebiet von sich aus gewährter Rechtsschutz“ (ebd., S. 49). Für einzelne voräbutische Klagformeln nimmt er an, „daß hier durch lange Zeit zwar nicht ziviler aber prätorischer Rechtsschutz – wahrscheinlich durch Actio in factum – bestanden hatte“, der dann noch vor der förmlichen Abscheidung eines ius honorarium ins Zivilrecht aufgenommen worden sei (ebd., S. 50; vgl. noch ebd., S. 57 f.). Vgl. auch Bruns/Lenel, Geschichte (wie oben, S. 319, Anm. 31), S. 340.
Aber wie ein Blick auf den materiell-rechtlichen Gehalt des Edikts zeigt: die Verkehrsbedürfnisse des Bürgertums mit zunehmender Verkehrsintensität schufen das Formularverfahren in seiner ediktmäßigen Geregeltheit. Und damit verbunden das Bedürfnis nach Beseitigung gewisser ursprünglich magisch bedingter Formalismen.
q
[557] In B folgt: 〈Im französischen und normannischen ebenso wie im 〈Ro〉 römischen Prozeß war die Gebundenheit an die Wortformel, 〈die〉 im englischen und französischen Prozeß vor Allem die Irrationalität der Beweismittel das für das Bürgertum Unerträgliche. 〈Auch〉〉
In England und Frankreich war es (wie in Rom) die Entbindung vom Wortformalismus und (in England) von
r
Fehlt in B; von sinngemäß ergänzt.
den Ladungsformalitäten (Ladung sub poena durch den König), die Zulassung der Vernehmung der Parteien unter Eid (sehr verbreitet im Occi[558]dent), in England die jury und ferner, hier wie anderwärts[,] die Beweiskraft der Protokolle
s
[558]B: Protokolle,
und der Ausschluß der für das Bürgertum unerträglichen irrationalen Beweismittel, speziell des Zweikampfs, was die Hauptanziehungskraft der Königsgerichte bildete.
18
[558] Gerichtsladungen sub poena durch den König (writs of subpoena), welche die Ladungsformalitäten des älteren volksrechtlichen Verfahrens beseitigen, sowie die Parteienvernehmung unter Eid kennzeichnen seit der Zeit Eduards I. vor allem die Equity des englischen Lordkanzlers. Unter maßgeblicher Mitwirkung der Kirche trat im königsgerichtlichen Verfahren des 12./13. Jahrhunderts der „Inquisitionsbeweis“ an die Stelle der irrationalen Beweismittel des volksrechtlichen Prozesses (Zweikampf, Gottesurteil, Reinigungseid). Es handelte sich hierbei um eine Rezeption fränkischer Einrichtungen. Die organisatorische Ausgestaltung der fränkischen inquisitio führte schließlich zuerst in der Normandie, dann in England zur Beweisjury. Weiterhin wurde es im 12. Jahrhundert zunächst an den Königsgerichten üblich, Gerichtsverhandlungen und Entscheidungen zu protokollieren; vgl. dazu z. B. Brunner, Überblick (wie oben, S. 300, Anm. 73), S. 306 f., 317 f., 324 f., 334–337; ders., Inquisitionsbeweis (wie oben, S. 447, Anm. 34), S. 91–94, 146 ff.; Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte, S. 182–186, 278–289.
Materiellrechtliche Neuschöpfungen kamen auf dem Boden der Equity in England erst seit dem 17[.] Jahrhundert in größerem Umfang vor. Ludwig IX[.] ebenso wie Heinrich II[.] und seine Nachfolger (namentlich Edward III[.]) schufen daher vor Allem ein (relativ) rationales Beweisverfahren und beseitigten überhaupt die Reste des dinggenossenschaftlichen und magischen Formalismus. Die „Equity“ des englischen Lordkanzlers endlich beseitigte für ihren Bereich prozessual die große Errungenschaft des königsgerichtlichen Prozesses: die jury, für den Umkreis der neuen Rechtsmittel wieder, so daß der heutige formale Unterschied des auch in Amerika noch bestehenden Rechtsdualismus zwischen „Common Law“ und „Equity“ – zwischen deren Rechtsbehelfen der Kläger in vielen Fällen die Wahl hat
19
Verfassungsgeschichtlicher Hintergrund von Webers Darstellung ist die mit der Judicature Act von 1873 (36 & 37 Vict. c. 66) in England eingeleitete Fusionierung von Common Law und Equity. Die Equity-Prinzipien sollen fortan in prinzipiell allen, also auch in den Common Law-Gerichten, anwendbar sein und im Kollisionsfall Vorrang genießen. Zwar gelingt es auf dieser Grundlage, die duale Gerichtsorganisation zu überwinden. Doch es bleiben materiell- und prozeßrechtliche Differenzen, die die von Weber angesprochenen Wahlmöglichkeiten eröffnen; vgl. hierzu bes. Gerland, Die englische Gerichtsverfassung (wie oben, S. 480, Anm. 13), Halbband 1, S. 301–304; Heymann, Überblick, S. 293 f.
[–], in dem Fehlen der Jury hier, ihrer Mitwirkung dort, liegt.
p
Fehlt in A.
Da die technischen Mittel des Amtsrechts im Ganzen aber ebenfalls
t
A: hierfür
rein empirischen und durchaus formali[559]stischen Charakter hatten
b
B: hatten,
(besonders oft, schon in fränkischen Kapitularien, Gebrauch von Fiktionen)[,]
a
[559]A: hatten,
20
[559] Im Falle der sog. Capitula legibus addenda hing diese Praxis – wie Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 379 f., am Beispiel eines Edikts Karls des Kahlen von 864 n. Chr. zeigt – eng zusammen mit den Voraussetzungen und Schwierigkeiten, auf die jede wirksame Revision des Volksrechtes stieß. Das genannte Edikt etwa suchte dem Mißstand, daß ein bestimmter Personenkreis auf Grund geltender Ladungsvorschriften vor wirksamer Strafverfolgung de facto geschützt war, abzuhelfen, indem es die Rechtsgemäßheit der Ladung durch symbolische Handlung des Beamten einfach fingierte. – Zum Gebrauch von Fiktionen im englischen Recht ist zu vergleichen Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 105–107.
ganz entsprechend dem Charakter jedes aus der Rechtspraxis direkt herausgewachsenen Rechtes, so blieb auch
c
Fehlt in A.
der technische Charakter des Rechtes dabei unverändert. Ja es
d
A: unverändert und
erfuhr dessen Formalismus zuweilen noch eine Steigerung, obwohl – wie schon der Name „equity“ zeigt – auch materiale ideologische Postulate an das Recht den Anstoß zum Eingreifen geben konnten. Es handelte sich hier eben
e
Fehlt in A.
um einen Fall, wo das imperium mit einer Rechtspflege in Konkurrenz trat, deren Legitimität ihm selbst unantastbar blieb und deren allgemeine Grundlagen es daher akzeptieren mußte, soweit nicht – wie beim Wortformalismus und der Beweisirrationalität – ihm sehr starke Tendenzen der Rechtsinteressenten entgegenkamen.
f
A: mußte.
Eine Steigerung der Macht des imperium bedeuten demgegenüber jene Fälle, wo direkt eine Umgestaltung des geltenden Rechts
g
A: Ergänzung des geltenden Rechts oder dessen Umgestaltung
durch neue, im gleichen Sinne als „gemeines“ Recht geltende Anordnungen des Fürsten in Anspruch genommen wird, wie in einem Teil der fränkischen Kapitularien (den capitula legibus addenda),
21
Die Capitula legibus addenda waren ursprünglich keine amtsrechtlichen Satzungen allgemein verbindlichen Inhalts. Sie galten vielmehr als einzelne oder alle Volksrechte im fränkischen Reich ergänzende königliche Anordnungen. Verbindliches Recht schufen sie demgemäß nur für die Stammesrechte, die sie ergänzen sollten; sie schufen also i.d.R. nur Partikularrecht, allenfalls „allgemeines Recht in der Form übereinstimmender Partikularrechte“ (Schröder, Lehrbuch, S. 252). Die von Weber angesprochene Rechtswirkung hatten dagegen die Capitula per se scribenda. Sie erzeugten, „wenn sie nicht ausdrücklich auf ein engeres Gebiet beschränkt wurden, gemeines Recht für das gesamte Reich. Ihr Inhalt war nicht persönliches, sondern Landes-, d. h. territoriales Recht, sie bewegten sich nicht auf dem Boden des Volksrechts, sondern auf dem des Königs- oder Amtsrechts“ (ebd.).
in den Ordonnanzen und Verfügungen der Signoren der italienischen Städte
h
A: addenda)
und in den späteren, vice legis geltenden
i
Fehlt in A.
[560]Verfügungen des römischen Principats (die erste Kaiserzeit kannte nur
k
In B folgt: 〈Reglements 〈fü〉 und〉
Verfügungen, welche die Beamten banden).
j
[560]A: Principats.
Freilich handelt es sich dabei meist um Bestimmungen, welche mit Zustimmung der Honoratioren (Senat, Reichsbeamtenversammlung), teilweise sogar mit Zustimmung der Vertreter der Dinggenossenschaften erlassen waren. Auch blieb, wenigstens beim fränkischen Stamm,
22
[560] Weber stützt sich hier wohl namentlich auf Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte I, S. 378 f., 286.
dies Bewußtsein, daß diese Verfügungen nicht wirkliches „Recht“ schaffen konnten, lange lebendig und eine sehr fühlbare Erschwerung der fürstlichen Rechtsschöpfung.
l
A: Reichsversammlung) erlassen waren.
Von da aus führen zahlreiche Übergänge bis zu dem [WuG1 484] faktisch ganz
m
A: sehr
souveränen Schalten militärischer Diktatoren des Okzidents oder patrimonialer Fürsten des Orients über das geltende Recht.
Auch die patrimonialfürstliche
n
In A folgt: – d. h. wie später zu erörtern) die von einem Herrscher, welcher sein Imperium nach Art der persönlichen Herrschaft ausübte, ausgehende –
Rechtsschöpfung freilich pflegt die Tradition normalerweise weitgehend zu respektieren. Aber je mehr es ihr gelungen ist, die dinggenossenschaftliche Rechtspflege ganz zu beseitigen – und die Tendenz dazu hat sie meist – desto freier [A 12h][B 3]bewegt
o
Blatt A 12h/ B 3 ist rückseitig in der Mitte mit der Notiz Max Webers beschriftet: Chines[isches] Recht – Orientalisches Recht. // Alle Verwaltung Recht // Alles
oa
Mit Unterführungszeichen.
Recht Verwaltung.
sie sich und desto mehr kann sie dann
p
Fehlt in A.
die ihr spezifischen formalen Qualitäten dem Recht aufprägen. Diese aber können zweierlei sehr verschiedenen Charakter haben –
q
B: haben, –
wie wir später sehen werden
23
Siehe unten, S. 561–566.
[–], entsprechend den verschiedenen politischen Existenzbedingungen der patrimonialen Fürstenmacht.
r
In B folgt die Satzanweisung Max Webers: Absatz
Entweder nämlich vollzieht sich die Rechtsschöpfung mehr in der Art, daß der Fürst, dessen eigene politische Macht als ein von ihm
s
A: ihm selbst als ein
legitim erworbenes subjektives Recht gilt in gleicher Art, wie irgendwelche gewöhnlichen Vermögensrechte, von dieser Machtfülle etwas abveräußert, indem er Anderen:
t
A: Vermögensrechte, Anderen
– Beamten, Untertanen, fremden Händlern oder wer sie seien, Einzelnen oder Verbänden – unter seiner Garantie ebenfalls subjektive Rechte (Privilegien) verleiht, deren Existenz dann von der fürstlichen
a
A: von seiner
Rechtspflege [561]respektiert wird. So weit dies der Fall ist, fallen dann „objektives“ und „subjektives“ Recht, „Norm“ und „Anspruch“ in der Art in eins, daß die Rechtsordnung –
b
[561]A: Rechtsordnung, ; B: Rechtsordnung, –
denkt man sich den Zustand in seine letzten Konsequenzen aus –
c
A: aus, ; B: aus, –
den Charakter eines Bündels von lauter Privilegien annehmen müßte. Oder gerade umgekehrt: Der Fürst
d
A: Er
verleiht niemandem Ansprüche, welche für ihn selbst und seine Justiz bindend wären. Sondern entweder
e
A: Entweder
gibt er nur Befehle von Fall zu Fall und nach seinem ganz freien Ermessen. Soweit dies der Fall ist, fehlt selbst der Begriff sowohl eines „objektiven“ wie eines „subjektiven“ Rechts. Oder er erläßt
f
In A folgt: lediglich
Reglements, welche generelle Anweisungen an seine Beamten enthalten. Der Inhalt geht, begrifflich gefaßt, dahin: die Angelegenheiten der Beherrschten und ihre Streitigkeiten in der generell bestimmten Art zu ordnen und zu schlichten, bis auf etwaige anderweite Verfügung.
g
A: geht dahin: bis auf anderweite Verfügung die Angelegenheiten der Beherrschten und ihre Streitigkeiten in der generell bestimmten Art zu ordnen und zu schlichten.
Dann ist die Chance des einzelnen Rechtsinteressenten, eine bestimmte Art von Entscheidung zu Gunsten seiner Wünsche und Interessen zu empfangen, nicht dessen „subjektives Recht“, sondern nur der faktische[,] rechtlich ihm unverbürgte „Reflex“ jener Bestimmungen der Reglements.
24
[561] Zur Unterscheidung von „Reglement“, „Rechtsreflex“ und „subjektivem Recht“ vgl. oben, S. 200 f., 209 f., 275–280 und S. 306 f.
Im
h
A: faktische Reflex jener objektiven Normen der Reglements, im
gleichen Sinne, wie die Erfüllung der Wünsche eines Kindes durch seinen Vater, der sich an formale juristische Prinzipien und vollends an feste Formen einer Prozedur ebenfalls nicht bindet. Und in der Tat bedeuten die extremen Konsequenzen einer „landesväterlichen“ Rechtspflege nur eine Übertragung des intrafamilialen Austrags von Streitigkeiten
i
A: Rechtsstreitigkeiten
auf den politischen Verband.
j
In A folgt: Es kann sich aus dieser Wurzel heraus höchstens eine empirische Verwaltungspraxis entwickeln.
Die gesamte Rechtspflege würde sich, wenn man diesen Zustand in seine Konsequenzen ge[A 12i][B 4]trieben denkt, in „Verwaltung“ auflösen.
Wir wollen die erste der beiden Formen als die „ständische“, die zweite als die „patriarchale“ Art der patrimonialfürstlichen
k
A: patrimonialen fürstlichen > patrimonialfürstlichen
Rechtspflege bezeichnen. Bei der ständischen Rechtspflege und Rechtsschöpfung ist die Rechtsordnung zwar streng formal, aber durchaus [562]konkret und in diesem Sinne irrational. Es kann sich nur eine „empirische“ Rechtsinterpretation entwickeln. Alle „Verwaltung“ ist auf Schritt und Tritt[:] Verhandlung, Feilschen, Paktieren über
m
In B folgt: 〈„Rechte“ und〉
„Privilegien“, deren Bestand sie feststellen muß, und sie verläuft daher in der Art
n
B: Form > Art
eines Gerichtsverfahrens, scheidet sich von der Rechtspflege formell nicht. So, wie schon früher erwähnt[,]
25
[562] Siehe oben, S. 284, 457.
das Verwaltungsverfahren des englischen Parlaments und ebenso der großen alten königlichen Behörden, die ursprünglich alle Verwaltungs- und Gerichtsbehörden zugleich waren. Denn das wichtigste und einzige voll entwickelte Beispiel des „ständischen“ Patrimonialismus ist der occidentale politische Verband des Mittelalters.
l
[562] Fehlt in A.
Bei der rein „patriarchalen“ Rechtsverwaltung ist, gerade umgekehrt, soweit von einem „Recht“ hier, wo das „Reglement“ herrscht,
o
A: ist, soweit von einem Recht hier
überhaupt die Rede sein kann, dieses durchaus unformal. Die Rechtsverwaltung erstrebt materiale Wahrheitsermittlung und sprengt daher das formal gebundene Beweisrecht. Sie
q
B: Er
geräth da[WuG1 485]durch oft in Conflikt mit den alten magischen Prozeduren und das Verhältnis des profanen zum sacralen Prozeß gestaltet sich verschieden. So kann in Afrika der Kläger nicht selten vor dem Urteil des Fürsten an das Gottesurteil oder an die ekstatischen Urteilsvisionen der Fetischpriester oder Orghanghas, der Träger des alten sacralen Prozesses, appellieren.
26
Die Schreibung „Orghanghas“ läßt nicht sicher ausmachen, woher Weber seine Kenntnisse bezieht. Immerhin lehrt die Hinduismusstudie, daß Weber durchaus auch einmal eine ihm geläufige Umschrift – hier die des Maurya-Königs „Açoka“ – statt der seiner Referenzliteratur benutzt (vgl. Weber, Hinduismus und Buddhismus, MWG I/20, S. 136 mit Anm. 75, und S. 375 mit Anm. 17). – In der Sache weist besonders Kohler auf die sowohl ergänzende wie konkurrierende Beweismittelrolle des Gottesurteils, selbst bei entwickeltem Häuptlingsrecht, hin (vgl. z. B. Kohler, Josef, Das Togorecht, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 27, 1912, S. 135–141, hier S. 136, 140; ders., Bemerkungen (wie oben, S. 464, Anm. 84), S. 137 f.). In philologischer Hinsicht vgl. auch die Analyse des Zaubereiprozesses bei Post, Afrikanische Jurisprudenz II (wie oben, S. 454, Anm. 52), S. 146: „Diese Priester (Ganga, Oganga) bedienen sich, um den Schuldigen herauszubringen, zauberischer Zeremonien.“ Und weiter: „Bisweilen genügt die bloße Erklärung des Ganga, um den Beschuldigten einem grausamen Tode zu überliefern. Gewöhnlich muß der Angeklagte sich durch ein Ordal reinigen, dessen Ausgang wieder vom Willen des Fetischpriesters abhängt“ (ebd., S. 149). Andererseits: „Bisweilen geht dem Gottesurteil ein gerichtliches Verfahren voraus“ (ebd., S. 154).
Auf der andren Seite [563]vernichtet aber die streng patriarchale fürstliche Justiz auch
r
[563] In B folgt: vernichtet
die formalen Garantien der subjektiven Rechte und die strenge „Verhandlungsmaxime“ zu Gunsten des Strebens, ein objektiv
s
B: inhaltlich > objektiv
„richtiges“, „Billigkeitsansprüchen“ genügendes Resultat der Schlichtung von Interessenconflikten zu erreichen.
p
Fehlt in A.
Rational im Sinne der Innehaltung fester Grundsätze kann dabei die patriarchale Rechtspflege thatsächlich sehr wohl sein. Aber
t
A: dagegen die patriarchale Rechtspflege sehr wohl sein, aber
wenn sie es ist, dann nicht im Sinn einer logischen Rationalität ihrer juristischen Denkmittel, sondern vielmehr
a
Fehlt in A.
im Sinne der Verfolgung materialer Prinzipien der sozialen Ordnung, seien diese nun politischen oder wohlfahrtsutilitarischen oder ethischen Inhalts. Rechtspflege und Verwaltung gehen auch hier in Eins, aber nicht in dem Sinn, daß alle Verwaltung die Form der Rechtspflege, sondern in dem umgekehrten: daß alle Rechtspflege die Eigenart der Verwaltung annimmt. Fürstliche Verwaltungsbeamte sind zugleich die Richter, der Fürst selbst greift im Wege der „Cabinettsjustiz“ nach Belieben in die Rechtspflege ein, entscheidet nach freiem Ermessen, nach Billigkeits-, Zweckmäßigkeits-
c
Bindestrich fehlt in B.
und politischen Gesichtspunkten, behandelt die Rechtsgewährung als eine weitgehend freie Gnade, ein Privileg im Einzelfall[,] bestimmt ihre Bedingungen und Formen und beseitigt die irrationalen Formen und Beweismittel des Rechtsganges zu Gunsten freier amtlicher Wahrheitsermittlung (Offizialmaxime). Das Idealbild dieser rationalen Rechtspflege
d
B: Fürstenjustiz > rationalen Rechtspflege
ist die „Kadijustiz“ der „salomonischen“ Urteile, wie sie der Held dieser Legende und – Sancho Pansa als Statthalter fällen. Alle patrimonialfürstliche Justiz hat an sich die Tendenz, diese Bahnen einzuschlagen. Die „writs“ der englischen Könige wurden formell durch Anrufung ihrer freien Gnade erwirkt.
e
In B folgt: 〈Die „Equity“ tritt als Justiz des Lordkanzlers auf.〉
27
[563] Faktisch war diese Gnade „käuflich“ und die gebührenpflichtigen Writs waren eine nicht unwesentliche staatliche Einnahmequelle; vgl. z. B. Brunner, Überblick (wie oben, S. 300, Anm. 73), S. 336 f.
Die „actiones in factum“ lassen aber ahnen, wie weit selbst der römische Magistrat in der freien Klagegebung und Klageverweigerung (denegatio actionis) ursprünglich gegangen sein mag. Als „Equity“ tritt auch die englische Amts[564]justiz der Neuzeit auf. Die Reform Ludwigs IX. in Frankreich tritt durchaus in patriarchalen Formen auf. Die orientalische Rechtspflege ist, soweit sie nicht theokratischen Charakter hat, wesentlich patriarchal.
28
[564] Vgl. hierzu die allgemeinen Bemerkungen in: Weber, Agrarverhältnisse3, MWG I/6, S. 357, 372 f.
Ebenso die indische.
29
Zur patrimonialen Rechtspflege in Indien vgl. Weber, Hinduismus und Buddhismus, MWG I/20, S. 129, 230–235, 468 und S. 376 ff. (theokratischer Patrimonialismus unter Açoka).
Endlich die chinesische Rechtspflege ist ein Typus patriarchaler Verwischung der Grenzen zwischen Justiz
f
[564]B: Recht > Justiz
und Verwaltung.
30
Zur chinesischen patrimonialen Rechtspflege vgl. Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 279–283; auch Weber, Hinduismus und Buddhismus, MWG I/20, S. 229 f.
Erlasse der Kaiser, halb belehrenden[,] halb befehlenden Inhalts, greifen generell oder im Einzelfall ein. Die Urteilsfindung ist, soweit sie nicht magisch bedingt ist, an materialen, nicht an formalen Maßstäben orientiert und daher, an den letzteren
g
B: ersteren
oder an ökonomischen „Erwartungen“ gemessen, stark irrationale und konkrete „Billigkeits“-Justiz. Diese Art von Eingreifen des imperium in die Rechtspflege und Rechtsbildung findet sich auf den verschiedensten „Kulturstufen“,
31
Den idealtypischen Sinn dieses Begriffs hatte Weber bereits in: Altgermanische Sozialverfassung, MWG I/6, S. 250–252, gegen alle Theorien betont, „die Kulturentwicklung nach Art biologischer Prozesse als ein gesetzliches Nacheinander verschiedener, überall sich wiederholender ,Kulturstufen‘ zu begreifen“ (ebd., S. 247).
es ist nicht ökonomisch, sondern primär politisch bedingt. So ist in Afrika
32
Hierzu und zum folgenden scheint Weber in erster Linie die rechtsvergleichenden Studien Kohlers über afrikanische Stammesrechte in der „Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft“, daneben aber auch Posts Werk über „Afrikanische Jurisprudenz“ verwendet zu haben. Für letzteres spricht indirekt auch die Auswahl der nachfolgend genannten Stammesrechte, die alle – mehr oder minder eingehend – von Post erörtert werden.
überall da, wo die Häuptlingsmacht entweder durch Vereinigung mit dem Zauberpriestertum oder durch die Bedeutung des Krieges oder endlich durch Handelsmonopolisierung stark entwickelt ist, der alte formalistische und magische Prozeß und die ausschließliche Herrschaft der Tradition oft fast völlig verschwunden und einerseits ein
h
In B folgt: 〈stark rationales〉
Gerichtsverfahren mit öffentlicher Ladung namens des Fürsten (oft durch „Anschwörung“ des Geladenen)
33
Vgl. Kohler, Negerrecht (wie oben, S. 464, Anm. 84), S. 414: „Hier mag beigefügt werden, daß an der Goldküste bei den Aschantis die Ladung vor den Häuptling durch einen Boten erfolgt, der die Embleme des Häuptlings trägt. Will der Geladene nicht [565]mitkommen, so gebraucht man das Mittel, daß man ihn oder das Dorfoberhaupt bei dem Kopfe des Häuptlings beschwört, in welchem Fall er kommen muß, weil er sonst den Tod des Häuptlings auf sich lüde.“
[565]und Exekution und rationalen Beweismitteln durch Zeugen an Stelle der Ordalien,
34
Vgl. oben, S. 464 mit Anm. 84.
andererseits eine Rechtssetzung durch den Fürsten allein (Aschanti) oder durch ihn mit Akklamation der Gemeinde (Süd-Guinea) entstanden.
35
Weber stützt sich hier vermutlich auf Post, Afrikanische Jurisprudenz I (wie oben, S. 454, Anm. 52), S. 1: „So giebt es in Aschanti Gesetze, welche vom Könige erlassen und förmlich publizirt werden […].“ Und weiter ebd., S. 2: „Auch in Südguinea scheint die Rechtsbildung fast bis zum Gesetzesrecht vorgeschritten zu sein. Soll irgend ein neues Gesetz eingeführt werden, so geschieht dies in offener Versammlung, bei welcher jedes männliche Mitglied der Gemeinde seine Ansicht aussprechen darf. Der König führt in dieser Versammlung den Vorsitz, und nachdem er aus dem, was gesprochen ist, die Ansicht der Versammlung erkannt hat, gebietet er Schweigen und faßt die Wünsche des Volks in ein Gesetz zusammen. Die Versammlung genehmigt, was der König gethan, und der Beschluß wird zum Landesgesetz erhoben.“
Der Fürst oder Häuptling oder sein Richter aber entscheidet oft gänzlich nach freier Willkür und Billigkeit, ohne alle und jede formale Bindung an Regeln (so bei den Basuto, den Barolong, in Dahomey, im Reiche des Muata Cazembe, in Marokko – Gebieten von unter einander sehr verschiedener Culturentwicklung).
36
Nach Sachverhalt und exemplarisch angeführten Volksstämmen stützt sich Weber vermutlich auf Post, Afrikanische Jurisprudenz I (wie oben, S. 454, Anm. 52), bes. S. 5 f., 250 f.; über die absolute Herrenstellung des Muata Cazembe und des Königs in Dahomé vgl. ebd., S. 115; über königliche Beamte als Richter im Reiche des Muata Cazembe und in Marokko vgl. ebd., S. 252, 254.
Nur die Gefahr, bei allzu flagranter Beugung des Rechts, zumal der als heilig geltenden Traditionsnormen, auf denen letztlich die [WuG1 486]eigene „Legitimität“ beruht, den Thron zu verlieren, schafft hier Schranken.
b
Fehlt in A.
Dieser antiformale, materiale Charakter der patriarchalen Verwaltung pflegt seinen Höhepunkt da zu erreichen, wo der (weltliche oder priesterliche)
i
[565] Klammern fehlen in A.
Fürst sich in den Dienst positiv religiöser Interessen stellt, und zwar speziell[,] wo nicht eine ritualistische, sondern eine Gesinnungsreligiosität von ihm in ihren Postulaten propagiert wird. Alle antiformalen Tendenzen der Theokratie verbinden sich dann, und zwar in diesem Fall auch von den sonst geltenden Schranken ritualistischer und deshalb formaler heiliger Normen losgelöst, mit den [566]Formlosigkeiten einer nur
j
A: Eigenarten der Theokratie und ihrer antiformalen Tendenzen verbinden sich dann mit den Formlosigkeiten der in diesem Fall auch von den sonst geltenden Schranken ritualistischer und deshalb formaler heiliger Normen losgelösten nur
auf die Anerziehung des rechten inneren Habitus abzielenden patriarchalen Wohlfahrtspflege, deren Verwaltung dabei
k
[566] Fehlt in A.
dem Charakter der „Seelsorge“ sich annähert. Alle Schranken zwischen Recht und Sittlichkeit, Rechtszwang und väterlicher Vermahnung, legislatorischen Motiven und
l
A: Motiven,
Zwecken und rechtstechnischen Mitteln sind
m
In A folgt: dann
niedergerissen. Die Edikte des buddhistischen Königs Açoka nähern sich diesem „patriarchalen“
n
Fehlt in A.
Typus am meisten.
o
A: meisten, während gewisse Sphären der okzidentalen mittelalterlichen Rechtszustände dem ständischen Typus am weitesten zuneigen.
37
[566] Der Großkönig aus der Maurya-Dynastie (272–231 v. Chr.) ließ buddhistische Sittlichkeits- und Moralvorstellungen auf seine Herrschaftspraxis einwirken. Vgl. die eingehende Erörterung des „halbtheokratisch-patriarchalen“ Regierungsstils Açokas in Weber, Hinduismus und Buddhismus, MWG I/20, S. 375–381; für die fraglichen Edikte vgl. die Edition von Smith, Vincent Arthur, Asoka, the Buddhist Emperor of India (Rulers of India Series 29). – Oxford: Clarendon Press 1901, S. 117–157.
In aller Regel herrscht aber in der patrimonialfürstlichen Rechtspflege eine Kombination ständischer und patriarchaler Bestandteile mit einander und mit dem formalen Rechtsgang der Dinggenossenschaften. Wie weit das Eine oder das Andre überwiegt, ist – wie später im Zusammenhang der Analyse der „Herrschaft“ zu erörtern ist
38
Siehe hierzu Webers Erörterung der Formen des „patriarchalen“ bzw. „ständischen Patrimonialismus“ sowie des Feudalismus als Grenzfall des ständischen Patrimonialismus in: Patrimonialismus, MWG I/22-4, S. 285 ff., Feudalismus, MWG I/22-4, S. 404–418.
– ganz wesentlich durch politische Umstände und Machtverhältnisse bedingt. Im Occident war neben diesen auch die (ebenfalls ursprünglich politisch bedingte) Tradition
q
B: Stellung > Tradition
der dinggenossenschaftlichen Rechtspflege, welche dem König die Stellung als Urteiler prinzipiell absprach, von Bedeutung für das Vorwalten
r
B: den Sieg > das Vorwalten
der „ständischen“ Form der Rechtspflege.
p
Fehlt in A.
Das Vordringen formalistisch-rationaler
s
A: rationaler
Elemente auf Kosten dieser typischen Zustände des patrimonialen Rechts[,] wie wir es im Occident in der Neuzeit beobachten, konnte
t
A: Rechts kann
dem eigenen internen Bedürfnis der patrimonialfürstlichen Verwaltung entspringen.
Dies ist namentlich der Fall, soweit es sich um die Beseitigung der Vorherrschaft stän[A 12k][B 5]discher Privilegien und des ständischen Charakters der Rechtspflege und Verwaltung überhaupt handelt. [567]Diesen gegenüber gingen ja die Interessen an steigender
a
A: handelt. Diesen gegenüber gehen steigende
Rationalität[,] und das heißt in diesem Fall: steigender Herrschaft formaler Rechtsgleichheit und objektiver formaler
b
[567]A: steigende Herrschaft der Rechtsgleichheit und objektiven
Normen[,] mit den Machtinteressen der Fürsten gegenüber den Privilegierten Hand in Hand. Das „Reglement“ an Stelle des „Privilegs“ dient beiden.
c
Fehlt in A.
Anders soweit umgekehrt die Einschränkung der ganz freien patriarchalen Willkür zu Gunsten 1) fester Regeln und 2) vollends der Schaffung
d
A: fester Regeln der Verwaltung und vor allem
fester Ansprüche der Beherrschten an die Justiz: Garantie „subjektiver Rechte“ also, in Frage stand.
e
A: steht. ; B: standen.
Beides ist, wie wir wissen,
39
[567] Siehe allgemein zum „Reglement“ und zu den Arten der „Gewaltenbegrenzung“ oben, S. 279–282 und S. 295–298.
an sich nicht identisch: eine
f
A: identisch. Eine
nach festen Verwaltungsreglements
g
A: Verwaltungsregeln
verfahrende Streitschlichtung bedeutet noch nicht das Bestehen garantierter „subjektiver Rechte“. Aber das letztere, die Existenz nicht nur objektiver fester Normen, sondern objektiven „Rechts“ im strengen Sinn also, ist mindestens im privatrechtlichen Gebiet die einzig sichere
h
A: objektiven Rechts also, ist die wichtigste
Form der Garantie jener Gebundenheit an objektive Normen überhaupt. Auf eine solche Garantie aber wirken ökonomische Interessengruppen hin, welche der Fürst unter Umständen
i
Fehlt in A.
zu begünstigen und an sich zu fesseln wünscht, weil dies seinen fiskalischen und politischen Machtinteressen dient. Vor allem natürlich: bürgerliche
j
A: kapitalistische
Interessenten, welche ein eindeutiges, klares, irrationaler Verwaltungswillkür
k
A: Willkür
ebenso wie den irrationalen Störungen durch konkrete Privilegien entzogenes, vor Allem
l
Fehlt in A.
die Rechtsverbindlichkeit von Kontrakten sicher garantierendes und
m
A: garantierendes,
infolge aller dieser Eigenschaften berechenbar funktionierendes Recht verlangen müssen. Ein Bündnis von fürstlichen und von Interessen bürgerlicher Schichten gehörte
n
A: Interessen und solchen von bürgerlichen Schichten gehört
daher zu den wichtigsten treibenden Kräften formaler
p
B: der > formaler
Rechtsrationalisierung.
o
A: systematischer Kodifikation.
Nicht in dem Sinn, daß eine direkte „Kooperation“ dieser Mächte immer erforderlich wäre.
q
A: erforderlich würde.
Denn dem privatwirtschaftlichen Rationalismus der bürgerlichen Schichten kommt als selbständiger Faktor der
r
In A folgt: materiale
utilitarische Rationalismus jeder Beamtenverwaltung schon [568]von sich aus weit entgegen. Und das fiskalische Interesse des Fürsten
s
A: von sich aus entgegen und
sucht, weit über das Gebiet der aktuellen Bedeutung schon [WuG1 487]bestehender kapitalistischer Interessen hinaus, diesen
t
[568]A: ihnen
das Bett zu bereiten, schon ehe sie da sind. Aber eine Garantie von Rechten, die von Fürsten- und Beamtenwillkür unabhängig sind, liegt allerdings keineswegs in den genuinen eignen Entwicklungstendenzen der Bürokratie. Übrigens liegt sie auch nicht ohne Vorbehalt in der Richtung der kapitalistischen Interessen. Ganz im Gegenteil, soweit es sich um die älteren, wesentlich politisch orientierten Formen des Kapitalismus handelt, von denen im Gegensatz zum spezifisch modernen, „bürgerlichen“ Kapitalismus wir noch oft zu reden haben werden[.]
40
[568] Zu den Formen des politischen Kapitalismus siehe bes. Weber, Gemeinschaften, MWG I/22-1, S. 233–240, ders., Feudalismus, MWG I/22-4, S. 426–435, sowie ders., Die Stadt, MWG I/22-5, S. 263 f., 268.
Und selbst die Anfänge des bürgerlichen Kapitalismus zeigen jene typische Interessiertheit an garantierten subjektiven Rechten noch nicht oder nur in begrenztem Maße, oft genug aber das Gegenteil. Denn nicht nur die großen Colonial- und Handels-Monopolisten, sondern auch die monopolistischen Großunternehmer der merkantilistischen Manufakturperiode
41
Das sog. Merkantilsystem bestimmte – nach Ansätzen bereits im 14. Jahrhundert – seit der Mitte des 15. Jahrhunderts eine wichtige Epoche europäischer Wirtschaftsgeschichte und beruhte auf einer kontinuierliche Handelsbilanzüberschüsse anstrebenden staatlichen Monopolpolitik.
stützen sich in aller Regel auf fürstliches Privileg, welches oft genug das geltende gemeine Recht, namentlich das Zunftrecht,
42
Die seit dem 11. Jahrhundert in Deutschland, Frankreich und England zu politischem Einfluß in den Städten gelangenden Zünfte schufen für ihre gewerbe- und ordnungspolitischen Ziele sog. Zunftordnungen (Zunftstatuten, Schragen). Diese wurden vom Stadtherrn bzw. vom Rat der Stadt meist lediglich formell bestätigt oder erlassen. Das Zunftrecht fand dadurch Eingang in das jeweilige Stadtrecht, dessen handels- und gewerberechtliche Teile es hauptsächlich bildete. – Zur Durchbrechung der zunftorientierten Stadtwirtschaftspolitik durch den fürstlichen Merkantilismus vgl. auch Weber, Die Stadt, MWG I/22-5, S. 242 f.
durchbricht, den zornigen Widerstand des bürgerlichen Mittelstands herausfordert
b
B: herausfordern
und also den Kapitalisten darauf hinweist,
c
B: hinweisen,
seine privilegierten Erwerbschancen durch eine dem Fürsten gegenüber prekäre Rechtsstellung
d
B: eine 〈rechtlich〉 dem Fürsten gegenüber prekäre 〈oder nur durch Privileg garantierte〉 Rechtsstellung
zu erkaufen. Der politisch und monopolistisch orientierte und selbst noch der frühmerkantilistische Kapita[569]lismus kann so zum Interessenten an der Schaffung und Erhaltung der patriarchalen Fürstenmacht gegenüber Ständen und auch gegenüber dem bürgerlichen Gewerbestand werden, wie er es in der Zeit der Stuarts
43
[569] Die Herrschaft der Stuarts über England umfaßt den Zeitraum von der Regierung Jakobs I. (1603–1625) bis zur Flucht Jakobs II. (1685–1688); zum „patrimonialstaatlichen Kapitalismus“ der Stuarts und seiner Interessenten vgl. Levy, Hermann, Die Grundlagen des ökonomischen Liberalismus in der Geschichte der englischen Volkswirtschaft. – Jena: Gustav Fischer 1912, S. 19–27 (hinfort: Levy, Grundlagen).
war und wie er es heute auf breiten Gebieten wieder zunehmend geworden ist und noch weiter werden wird. Trotz alledem ist dem Eingreifen des imperium, speziell des fürstlichen imperium, in das Rechtsleben, je stärker und dauernder seine Gewalt sich gestaltete, desto mehr[,] überall ein Zug zur Vereinheitlichung und Systematisierung des Rechts eigen gewesen: zur „Codifikation“. Der Fürst will „Ordnung“.
e
[569] In B folgt: 〈Die〉 Die
Und er will „Einheit“ und Geschlossenheit seines Reichs. Und zwar auch aus einem Grund, der sowohl technischen Bedürfnissen der Verwaltung wie persönlichen Interessen seiner Beamten entspringt: die unterschiedslose Verwertbarkeit seiner Beamten im ganzen Gebiet seiner Herrschaft wird durch Rechtseinheit ermöglicht und ergiebt erweiterte Carrierechancen für die Beamten, die nun nicht mehr an den Bezirk
f
B: Ort > Bezirk
ihrer Herkunft dadurch gebunden sind, daß sie dessen Recht allein kennen. Und allgemein streben die Beamten nach „Übersichtlichkeit“ des Rechts, die bürgerlichen Schichten nach „Sicherheit“ der Rechtsfindung[.]
g
In B folgt Satzanweisung Max Webers: Absatz!
a
Fehlt in A.
Wenn so Interessen des Beamtentums, bürgerliche Erwerbsinteressen und fürstliche fiskalische und verwaltungstechnische Interessen in der That
h
A: Und wenn bürgerliche Schichten und fürstlicher Fiskalismus
normale Träger von Codifikationen gewesen
i
Fehlt in A.
sind, so sind sie deshalb nicht die einzig möglichen. Auch andere politisch beherrschte Schichten als nur
j
Fehlt in A.
ein Bürgertum können ein Interesse an der eindeutigen Fixierung des Rechts haben und auch die herrschenden Gewalten, an welche sich ihr Verlangen danach richtet und die ihnen, gezwungen oder freiwillig, nachgeben, müssen nicht notwendig Fürsten sein.
Systematische Rechtskodifikationen können auch
k
Fehlt in A.
das Produkt einer [A 12l][B 6]universellen bewußten Neuorientierung des Rechtslebens [570]sein, wie sie infolge äußerer politischer Neuschöpfungen oder von Stände- oder Klassenkompromissen, welche die innere soziale
m
B: inneren sozialen
Einigung eines politischen Verbandes bezwecken, unter Umständen auch beider zugleich[,] notwendig wird.
n
B: werden.
Entweder handelt es sich um planvolle
o
B: rationale > planvolle
Neuschöpfung von Verbänden auf Neuland: so bei den leges datae der antiken Kolonien. Oder um die Neugründung
p
B: die 〈akute〉 〈Neuentstehung〉 Neugründung
l
A: einer äuße[A 12l]ren politischen oder einer durch Stände- oder Klassenkompromisse erfolgenden [570]inneren Einigung eines politischen Verbandes sein, unter Umständen auch beider zugleich. Entweder handelt es sich dabei um formale und inhaltliche Neuschöpfung von Verbänden auf Neuland. So bei den leges datae der Kolonien. Oder um die Neuschöpung
eines politischen Verbandes, wie etwa der israelitischen Eidgenossenschaft, welcher sich dabei in bestimmten Hinsichten einem einheitlichen Recht unterstellt. Oder um den Abschluß von Revolutionen durch ein Kompromiß von Ständen oder Klassen. So – angeblich – bei den XII Tafeln. Oder es wird wenigstens
q
A: Oder es wird altes Recht
im Interesse der Rechtssicherheit nach sozialen Konflikten die systematische Rechtsaufzeichnung vorgenommen. Dabei
r
A: systematisch aufgezeichnet. Dann
pflegen die Interessenten der Aufzeichnung naturgemäß
s
Fehlt in A.
diejenigen Schichten zu sein, welche bisher unter dem Mangel [WuG1 488]eindeutig feststehender und allgemein zugänglicher, also zur Kontrolle der Rechtspflege geeigneter, Normen am meisten
t
A: geeigneter Normen
gelitten haben. Insbesondere also
a
Fehlt in A.
bäuerliche und bürgerliche Schichten gegenüber der adeligen oder von Adeligen beherrschten Honoratiorenjustiz oder der priesterlichen Rechtspflege: der in der Antike typische Zustand.
b
A: priesterlichen Rechtspflege, wie in Rom in der Zwölftafelzeit.
Die systematische Rechtsaufzeichnung pflegt in
c
In A folgt: all
diesen Fällen weitgehende Neusatzungen von Recht zu enthalten und wird daher sehr regelmäßig durch Propheten oder prophetenartige Vertrauensmänner (Aisymneten) als lex data kraft Offenbarung oder eingeholten Orakels oktroyiert. Die Interessen, um deren Sicherung es sich handelt, pflegen dabei einerseits
d
Fehlt in A.
den verschiedenen beteiligten Interessenten ziemlich eindeutig vorzuschweben, und auch die möglichen Arten der rechtlichen Schlichtung pflegen durch Erörterung und Agitation
e
In A folgt: oder durch soziale Konflikte
weitgehend geklärt und für den prophetischen oder aisymnetischen Machtspruch reif geworden zu sein. Den Interessenten liegt andrerseits
f
Fehlt in A.
mehr an einem formalen und [571]klaren, die gerade streitigen Punkte eindeutig schlichtenden, als an einem systematischen Recht. Die rechtliche Normierung pflegt daher einerseits
g
[571] Fehlt in A.
in der gleichen charakteristischen epigrammatischen, und insoweit rechtssprichwortartigen
h
A: epigrammatischen
Kürze zu erfolgen, wie sie Orakeln und Weistümern oder den Responsen von Rechtskonsulenten eignet. Wir finden sie denn auch sehr ähnlich in den Zwölf Tafeln – deren Provenienz aus einer uno actu erfolgten Gesetzgebung man deshalb sehr mit Unrecht bezweifelt
44
[571] Max Weber nimmt hier Bezug auf die umstrittenen Thesen des italienischen Historikers Ettore Pais und des französischen Romanisten und Rechtssoziologen Edouard Lambert; Pais, Storia, S. 572 ff.; Lambert, Histoire; ders., Problème; ders., Question. Pais und Lambert verwerfen nach eingehender Quellenkritik die Tradition über Dezemvirat und Zwölftafelgesetzgebung. Pais hält sie für die Schlußredaktion einer mehrere Vorredaktionen umfassenden Gesetzgebung, die er in das späte 4. Jahrhundert v. Chr. datiert, während Lambert die Zwölftafeln als private Sammlung tradierter Rechtsregeln und Rechtssprichwörter aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. interpretiert. – Weber vertritt dagegen die bis heute herrschende Meinung; vgl. dafür statt aller Bruns/Lenel, Geschichte (wie oben, S. 319, Anm. 31), S. 325; Lenel, [Otto], Besprechung von: „É. Lambert, La question de l’authenticité des XII tables et les annales maximi“ u. a., in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Rom. Abt., Band 26, 1905, S. 498–524 (hinfort: Lenel, Besprechung).
– wie im Dekalog und im jüdischen Bundesbuch. Die charakteristische Form dieser beiden Complexe von Geboten und Verboten spricht allein schon für ihre echt rechtsprophetische und zugleich aisymnetische Provenienz.
i
A: wie im Dekalog und im jüdischen Bundesbuch, dessen charakteristische Form allein schon für seine echt prophetische und zugleich aisymnetische Provenienz spricht.
Beide teilen auch die Eigenschaft mit einander, zugleich religiöse und bürgerliche Gebote zu enthalten: die XII Tafeln schleudern das Anathema („sacer esto“) gegen den Sohn, der den Vater schlägt[,] und gegen den Patron, der dem Clienten die Treue nicht hält.
45
12 Taf. 8,21: „Patronus si clienti fraudem fecerit, sacer esto.“ (Der Patron, der seinen Klienten betrügt, sei verflucht.) Zit. nach Bruns, Fontes, S. 32. – Ein Zwölftafelfluch „gegen den Sohn, der den Vater schlägt“, ist nicht überliefert. Zum Schutz der Klientel vgl. auch den sozialgeschichtlichen Exkurs Webers in: Agrarverhältnisse3, MWG I/6, S. 616–631, bes. 617 f., 643 f.
Bürgerliche Rechtsfolgen waren in beiden Fällen ausgeschlossen. Nötig wurden die Gebote offenbar, weil die Hausdisziplin und Hauspietät in Verfall gerathen war. Nur ist der religiöse Inhalt der jüdischen Codifikation
k
B: des jüdischen Bundesbuches > der jüdischen Codifikation
im Dekalog systematisiert, der des römischen Gesetzes besteht aus einzelnen Bestimmungen; das religiöse Recht als Ganzes stand fest und eine neue religiöse Offen[572]barung lag nicht vor. Eine ganz andre und nebensächliche Frage ist: ob die „12“
l
[572]B: XII > „12“
Tafeln, auf welchen das römische, durch Rechtspropheten gesatzte, Stadtrecht aufgezeichnet gewesen sein soll
m
Fehlt in B; soll sinngemäß ergänzt.
und die im gallischen Brand zu Grunde gegangen sein sollen,
46
[572] Nach ersten Zusammenstößen zwischen Kelten und Römern Anfang des 4. Jahrhunderts v. Chr. erlitten die Römer 387 eine vernichtende Niederlage in der Schlacht an der Allia sowie die Einnahme und Niederbrennung Roms.
sehr viel historischer sind als die beiden Tafeln des mosaischen Gesetzes.
47
Nach Ex 31,18; 34,1.
Aber weder sprachliche – grade bei nur mündlicher Überlieferung der Satzung
n
B: des Recht > der Satzung
gar nicht relevante – noch sachliche Gründe nötigen zur Verwerfung der Tradition über das Alter und die Einheitlichkeit der Gesetzgebung. Die Meinung, es könne sich um Collektionen von Rechtssprichwörtern oder von Produkten der Spruchpraxis der Rechtshonoratioren handeln, hat die innere Wahrscheinlichkeit gegen sich.
48
Weber bezieht sich auf die namentlich von Lambert, Histoire, S. 18 ff.; ders., Problème, S. 53, 56; ders., Question, bes. S. 170–176, vertretene – damals wie heute mehrheitlich bestrittene – Auffassung. Vgl. oben, S. 571, Anm. 44.
Es handelt sich um generelle Normen ziemlich abstrakten Charakters,
o
In B folgt: 〈und vielfach – hierin im Gegensatz gegen die typischen „Rechtssprichwörter“ 〈geringerer〉 relativ nicht sehr großer Plastizität〉
welche ferner zum einen Teil greifbar einen überaus tendenziösen, ihres Zwecks bewußten Charakter, zum andern den eines Compromisses zwischen ständischen Interessen an sich tragen.
49
Dies entspricht der überwiegenden Meinung; vgl. z. B. Lenel, Besprechung (wie oben, S. 571, Anm. 44), S. 515: „Auf der andern Seite hatte im 5. Jahrhundert, so skeptisch man auch im einzelnen der römischen Überlieferung gegenüberstehen mag, unzweifelhaft der Kampf der Stände bereits begonnen. Ich meine, aus dieser Konstellation seien die Zwölftafelgesetze leicht zu verstehen.“ Und weiter: „Hier überall ist wohl zu beachten, daß, soweit unsere Kenntnis reicht, es ganz und gar nicht antiquarische Interessen sind, denen zuliebe das Recht den Schein uralter Gesetzgebung annimmt. […] Μ.a. W., es steht überall eine Macht hinter der vermeintlichen Gesetzgebung, die ihre Anerkennung durchsetzt“ (ebd., S. 520). Ähnlich auch Erman, Heinrich, Sind die XII Tafeln echt?, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Rom. Abt., Band 23, 1902, S. 450–457, hier S. 456 (hinfort: Erman, XII Tafeln).
Es ist zum mindesten unwahrscheinlich, daß derartiges einer Spruchpraxis entstamme, noch mehr, daß das litterarische Produkt eines Sammlers von Rechtssprüchen: etwa des Sex[tus] Aelius Paetus Catus, in einer von rationalen Interessenkämpfen durchzogenen Zeit auf dem Raum einer Stadt eine solche Autorität habe gewinnen können.
50
Sextus Aelius figuriert in Lamberts Lesart als Urheber jener privaten Sammlung [573]von Rechtsregeln und Rechtssprichwörtern, für die er die 12 Tafeln hält. – Den Einwand formuliert ähnlich bereits Lenel, Besprechung, S. 521: „In einer Zeit, wo Rom bereits im hellen Licht der Geschichte steht, wo es bereits die Welt des Mittelmeers beherrschte […], hätte ein einflußreicher juristischer Schriftsteller, sei es auch unter Benutzung älterer Sammlungen, die zwölf Tafeln zusammengestellt, d. h. erfunden! […]. Diesen Rechtssätzen soll nach Lambert das bloße Ansehen des Sex. Aelius, nicht unterstützt von der Macht einflußreicher Interessen, plötzlich eine ganz neue Basis gegeben haben, derart, daß sehr bald nicht etwa bloß die Juristen, sondern das ganze Volk an sein erfundenes Grundgesetz glaubte, – ich zweifle […], ob es in der ganzen Weltgeschichte dafür eine Parallele gibt.“ Vgl. auch Erman, XII Tafeln (wie oben, S. 572, Anm. 49), S. 456 f.; Bruns/Lenel, Geschichte (wie oben, S. 319, Anm. 31), S. 325 f.
Auch die Analogie anderer ai[573]symnetischer Leistungen ist eine zu augenfällige. –
j
Fehlt in A.
Eine „systematische“ Kodifikation freilich ergeben
q
B: ergibt
die für aisymnetische Rechtssatzung typische Situation und die von ihr zu befriedigenden Bedürfnisse natürlich nur in rein formalem Sinn
r
B: begrenztem Sinn > rein formalem Sinn
.
p
[573]A: ergibt dies natürlich nicht.
Eine solche war ebensowenig der Dekalog für die Ethik wie die Zwölf Tafeln und die rechtlichen Anordnungen des Bundesbuchs für das Geschäftsleben. System und juristische „ratio“ bringt erst – in begrenztem Umfang – die Arbeit der Rechtspraktiker hinein. Vor Allem die Bedürfnisse des Rechtsunterrichts. In vollem Maße erst die Arbeit fürstlicher Beamter. Sie sind die eigentlichen Codifikationssystematiker, denn sie
s
A: die Arbeit der Rechtspraktiker hinein. Oder aber diejenige fürstlicher Beamter. Denn diese
sind natur[WuG1 489]gemäß die Interessenten einer für sie „übersichtlichen“ Systematik als solcher und daher pflegen fürstliche Codifikationen einen in systematischer Hinsicht wesentlich rationaleren Charakter zu tragen als selbst die umfassendsten aisymnetischen oder prophetischen Satzungen
b
B: Gebote > Satzungen
.
a
A: solcher.
[A 13][B 7]Auf
d
In B geht am linken Rand die Satzanweisung Max Webers voraus: Absatz
andrem Wege als durch fürstliche Codifikationen pflegt „Systematik“ in das Recht nur durch didaktisch-litterarische Produkte
e
B: Bedürfnisse > Produkte
, namentlich durch „Rechtsbücher“ hineingebracht zu werden, die dann nicht selten zu einem canonischen, die Rechtspflege ebenso wie ein Gesetz beherrschenden Ansehen gelangen.
c
Fehlt in A.
51
Zu den Rechtsbüchern, ihrer formalen Charakteristik und ihren Produzenten vgl. oben, S. 489–491 und S. 493 f.
Eine
g
B: Einer
systematische Rechtsaufzeichnung pflegt aber in beiden Fällen [574]zunächst nur als Zusammenstellung bereits
f
A: erste Stadium einer systematischen Rechtsaufzeichnung pflegt daher auch hier als Zusammenstellung schon Satzanschluß an den Typoskripttext, oben, S. 520, textkritische Anm. s.
geltenden Rechts zur Beseitigung entstandener Zweifel und Konflikte aufzutreten.
h
[574]In A folgt: So etwa die germanischen Volksrechte. Der Patriarchalismus kann unter Umständen Anlaß haben, die Bahn der bewußten Neusatzung von Recht zu betreten. Aus technischen Gründen, weil er selbst für seine Beamten der Reglementierung seiner Verwaltung bedarf. Aus Gründen der Rücksicht auf Rechtsinteressenten, deren Interessen ein berechenbares Recht als Garantie ihrer ökonomischen Chancen fordern, dann, wenn er auf diese Rücksicht zu nehmen Anlaß hat. Das erstgenannte Motiv führt regelmäßig nicht zu einer systematischen Neusatzung von Recht, sondern nur zu kompilatorischen Kodifikationen der schon bestehenden Reglements, etwa nach Art der chinesischen Gesetzsammlungen. Andererseits führt auch nicht jede Neusetzung von Recht besonders leicht zu einer systematischen Kodifikation. Zunächst sogar eher im Gegenteil. Denn wir werden später sehen, daß und warum die fürstliche Neusatzung zunächst ebensowenig wie das Weistum subjektives und objektives Recht scheidet, daß sie vielmehr zunächst in der Form von Privilegien des Herrn zugunsten Einzelner oder bestimmter Gruppen von Einzelnen zu führen pflegt. Daß man die einmal für eine Gemeinschaft geltenden traditionellen Normen beliebig ändern könne, ist ein auch hier noch fern liegender Gedanke. Aber indem alles, was Recht ist, uminterpretiert wird in persönliche Rechte, beginnt damit auch das Recht zunehmend der Willkür und Gnade des Fürsten zugänglich zu werden, immer soweit, als er nicht durch schon erteilte Privilegien, deren Interessenten er zu verletzen nicht wagen darf, sich gebunden findet. Von da führt die steigende Macht des Herrn und die Verschiebungen der tatsächlichen Voraussetzungen des alten Rechts weiter zu immer rationaleren Reglements innerhalb der Machtsphäre des Fürsten. Eine Kombination von Interessen des Fürsten und Interessen der an einem rationalen Recht interessierten bürgerlichen Schichten pflegt die rationalen systematischen fürstlichen Kodifikationen herbeizuführen. Welches Interesse dabei überwiegt, kann sehr verschieden gestaltet sein.
Zahlreiche äußerlich als „Kodifikationen“ auftretende, im Auftrag von Patrimonialfürsten geschaffene Sammlungen von obrigkeitlich gesatztem Recht und Reglements haben –
j
B: haben,–
wie etwa die offizielle chinesische Gesetzsammlung
52
[574] Gemeint ist das Ta Tsing Liu Li, eine Sammlung von kaiserlichem Statutarrecht, deren Bestimmungen sich nach Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 280, „wenigstens auf dem eigentlichen Rechtsgebiet durch relativ knappe geschäftliche Form“ auszeichneten, während andererseits „privatrechtliche Bestimmungen gerade über die für den Verkehr in unserem Sinn wichtigsten Gegenstände“ ebenso wie „garantierte ,Freiheitsrechte‘ des einzelnen“ fast völlig fehlten.
und was ihr ähnelt – trotz einer gewissen „Systematik“ der Einteilung mit codifikatorischer Rechtssatzung gar nichts zu schaffen, weil sie nichts als mechanische Leistungen sind. Andre Codifikationen wollen nur das schon geltende Recht in eine geordnete und systematische Form bringen. So im Wesentlichen die lex Salica und die meisten ihr gleichartigen „Volksrechte“ die Rechtspraxis der dinggenossenschaftlichen Justiz, die Assisen von Jerusalem mit ihrem weitreichenden Einfluß [575]die in Präjudizien festgelegten Handelsgebräuche, die Siete Partidas und ähnliche Codifikationen bis zurück zu den „leges Romanae“ die praktisch lebendig gebliebenen Teile des römischen Rechts. Dennoch bedeutet schon dies unvermeidlich in irgend einem Grade eine Systematisierung und in diesem Sinn[:] Rationalisierung des Rechtsstoffs, und die Interessenten daran sind also die gleichen wie an einer eigentlichen Codifikation
k
[575]B: Neucodifikation > Codifikation
im Sinne der systematischen inhaltlichen Revision bestehenden Rechts. Beides ist nicht scharf zu scheiden. An der durch Codifikation geschaffenen „Rechtssicherheit“ pflegt schon als solcher ein starkes politisches Interesse zu bestehen. Bei allen politischen Neuschöpfungen pflegen daher Codifikationen besonders nahezuliegen. Die Schaffung des Mongolenreichs durch Dschingiz Khan sah solche Ansätze (Sammlung der Yasa) ebenso wie viele ähnliche Vorgänge bis herab zur Reichsgründung Napoleons.
53
[575] Das von Napoleon Bonaparte initiierte Kodifikationsprojekt führte am 20. März 1804 zur Verkündigung des französischen Zivilgesetzbuchs, des Code civil (ab 3. Sept. 1807 „Code Napoléon“; seit 1814 wieder „Code civil“, 1852–70 – unter Napoleon III. – nochmals Umbenennung in „Code Napoléon“).
Für den Occident liegt daher eine Codifikationsepoche scheinbar gegen die historische Ordnung ganz am Beginn seiner Geschichte, in den leges der neugeschaffenen Germanenreiche auf römischem Boden. Die
l
In B folgt: 〈äußerliche Rechtssicherheit und〉
Befriedung der ethnisch gemischten politischen Gebilde erheischte hier unbedingt die Feststellung des wirklich geltenden Rechts, und der militärische Umsturz aller Verhältnisse erleichterte den formellen Radikalismus der Durchführung. Die Herstellung innerlicher Rechtssicherheit im Interesse eines präzisen Funktionierens des amtlichen Apparats, daneben (speziell bei Justinian) das
m
Fehlt in B; das sinngemäß ergänzt.
Prestigebedürfnis des Monarchen hat die spätrömischen Gesetzsammlungen
54
Gemeint sind die noch in der Regierungszeit Diokletians (284–305) entstandenen privaten Sammlungen von Kaiserkonstitutionen: der Codex Gregorianus und der Codex Hermogenianus. Der Codex Gregorianus enthielt Konstitutionen (Reskripte) von Hadrian bis Diokletian (bis zum Jahre 291), der Codex Hermogenianus solche von Diokletian aus den Jahren 293 und 294. Dazu kommt die von Kaiser Theodosius II. (um 401–450) in Auftrag gegebene, zwischen 429 und 438 fertiggestellte Gesetzessammlung, der sog. Codex Theodosianus, der die erste amtliche Sammlung römischer Kaiser-Konstitutionen darstellt.
und schließlich die justinianische Rechtscodifikation
55
Das Gesetzgebungswerk des byzantinischen Kaisers Justinian (527–565 n. Chr.) [576]besteht aus einem einführenden Teil mit Lehrbuchcharakter („institutiones“), Auszügen aus den klassischen römischen Juristenschriften („digesta“) sowie einer neuen Zusammenstellung des Kaiserrechts („constitutiones“); darüber hinaus werden ihm spätere Privatsammlungen der kaiserlichen Gesetze seit 529 („novellae“) zugeordnet.
motiviert
n
B: beherrscht > motiviert
und [576]ebenso die fürstlichen rein römischrechtlichen Codifikationen des Mittelalters nach Art etwa der spanischen
o
[576]B: castilianischen > spanischen
Siete Partidas. In all diesen Fällen sind ökonomische Interessen Privater schwerlich direkt im Spiel gewesen.
i
Fehlt in A.
Dagegen läßt grade die älteste einigermaßen vollständig überlieferte und in dieser Art einzigartige aller erhaltenen Kodifikationen: das Gesetzbuch Hammurabis, mit einiger Wahrscheinlichkeit
p
A: Die älteste und in dieser Art in ihrer Zeit einzigartige aller erhaltenen mindestens relativ rationalen Kodifikationen; das Gesetzbuch Hammurabis, läßt
darauf schließen, daß eine relativ starke Schicht von
q
A: städtischer
Güterverkehrsinteressenten vorhanden war und daß der König in seinem eigenen
r
Fehlt in A.
politischen und fiskalischen Interesse [A 14][B 8]die Rechtssicherheit des Güterverkehrs zu stützen wünschte.
s
In A folgt: Obwohl es als eine Kodifikation göttlichen Willens auftritt, vielleicht auch weil es als eine solche auftritt, könnte es daher in manchen Punkten auch neues Recht absichtsvoll geschaffen haben. Die Kodifikation Justinians ist wohl vorwiegend durch das Bedürfnis nach Vereinfachung der Arbeit der Justiz gegenüber der durch das Citiergesetz nur mangelhaft geschlichteten und durch zahlreiche Einzelsatzungen sehr erschwerten Verworrenheit in der Arbeit der Justiz, zugleich aber auch durch den Wunsch nach machtvoller Manifestation der Stellung des Kaisers bedingt gewesen, also wesentlich intern politisch. Während des Mittelalters und im Beginn der Neuzeit war die Rezeption des römischen Rechts oder ein systematisierender Auszug daraus für die Fürsten das Mittel, eine rationale Rechtspflege zu schaffen. Allgemein gesprochen, waren ökonomische Interessen, speziell solche bürgerlicher Schichten, dabei nur indirekt im Spiel. Ein rationales Prozeßverfahren, die formale Steigerung der Einheitlichkeit des Rechts, die Begünstigung der fürstlichen und gelegentlich auch der adeligen Machtstellung waren die vorwiegenden Gründe sowohl der Verwendung romanistisch gebildeter Richter, als auch der romanistischen Kodifikationen, welche jene Zeit aufweist. In A folgt Absatz, dann: Wieder anders bei den Kodifikationen der Neuzeit.
Wir
b
In B folgt zunächst: 〈Neben ersterem und 〈vielleicht auch darüber stand allerdings〉 wohl über solchen ökonomischen Klasseninteressen stand 〈bei der〉 die Codifikation Hammurabi’s zweifellos auch für das politische Interesse des Herrschers an der Thatsache der Rechtseinheit des Reiches rein als solcher. Der gleiche 〈Gesichtspunkt〉 Zweck 〈liegt〉 kehrt in allen späteren Codifikationen 〈zu Grunde.〉 wieder. Sie alle gehen〉
befinden
a
a–a (bis S. 585: bewußt hinweggekommen.) Fehlt in A.
befinden uns eben hier auf dem Boden eines Städte-Königtums.
56
Zu den ökonomischen Entwicklungstendenzen des „Stadtkönigtums“ vgl. bes. Weber, Agrarverhältnisse3, MWG I/6, 362–372, hier S. 365–367; zur verkehrswirtschaftlichen Entwicklung Babyloniens ebd., S. 394–399.
Die erhaltenen Reste früherer Rechtssatzungen lassen durchaus vermuten, daß die für die antike Stadt typi[577]schen ständischen und klassenmäßigen Gegensätze auch dort am Werk gewesen waren, nur infolge der abweichenden politischen Struktur mit andren Ergebnissen. Von der Hammurabischen Codifikation ist, soweit es sich an der Hand älterer Urkunden nachprüfen läßt, festgestellt, daß sie kein eigentlich neues Recht setzte, sondern [WuG1 490]bestehendes Recht kodifizierte und auch nicht die erste ihrer Art war.
57
[577] In ihrer Ausgabe von Hammurabis Gesetz schreiben etwa Kohler und Peiser: „Hammurabis Gesetz deutet auf eine mehrhundertjährige juristische Beobachtung und Entwickelung hin, die sich auf einen Rechtsstand gründete, so dürftig wie der der 12 Tafeln, und die auf einen solchen Rechtsstand hin weiter baute“ (Kohler, Josef und Peiser, F[elix] E., Hammurabi’s Gesetz, Band 1: Übersetzung. Juristische Wiedergabe. Erläuterung. – Leipzig: Eduard Pfeiffer 1904, S. 138). Und Eduard Meyer, Geschichte des Altertums, Band 1, 2: Die ältesten geschichtlichen Völker und Kulturen bis zum sechzehnten Jahrhundert, 3. Aufl. – Stuttgart, Berlin: J. G. Cotta Nachfolger 1913, S. 573, bemerkt dazu: „[…] es kann nicht zweifelhaft sein, daß dem abschließenden Gesetzbuch Chammurapis vielfache Aufzeichnungen von Rechtssätzen vorangegangen sind, bis in die Zeiten der alten sumerischen Fürsten hinauf […].“ Weiter ebd., S. 640: „Chammurapi hat offenbar […] die älteren Ordnungen, an die er natürlich anknüpft, vielfach modifiziert, unerträglich gewordene Härten beseitigt u.ä. […].“
Über den ökonomischen und den religiösen, in der eindringlichen Regelung der [–] hier wie überall dem Patriarchalismus
c
[577]B: Patrimonialismus > Patriarchalismus
sehr am Herzen liegenden [–] Familien- und namentlich Kindespietätspflichten zu Tage tretenden Interessen steht sicherlich bei dieser, wie bei den meisten anderen fürstlichen Codifikationen das politische Interesse an der Einheit des Rechts rein als solcher innerhalb des Reichs. Auch die meisten andren fürstlichen Codifikationen gehen aus den uns bekannten Motiven
58
Siehe oben, S. 566 ff.
auf Beseitigung des Satzes „Willkür bricht Landrecht“ aus[.]
d
In B folgt: 〈〈In formaler Hinsicht sind sie stets als〉 Ihr formaler Charakter aber 〈ist bestimmt〉 wird dadurch bestimmt, daß sie Erzeugnisse des patriarchalen Patrimonialismus 〈sind.〉 Dies gilt 〈für〉 in noch wesentlich höherem Grade als für die Codifikation Hammurabi’s 〈[??] weitergehend〉 für diejenige Justinians und für〉
Diese Motive wirkten verstärkt bei den mit dem Entstehen des Beamtenstaats sich häufenden fürstlichen Kodifikationen der Neuzeit. Sie sind nur zum sehr geringen Teil wirkliche Neuschöpfungen[.]
e
B: Neukodifikationen > Neuschöpfungen
Vielmehr war, wenigstens in Central- und Westeuropa, die Geltung des römischen und canonischen Rechts als Universalrechte ihre Voraussetzung. Das canonische Recht beanspruchte für seine Vorschriften zwingende universelle Geltung, das römische Recht galt „subsidiär“, ließ also dem Satz: Willkür bricht Landrecht, den Vortritt. In Wahr[578]heit stand es mit zahlreichen
f
[578]B: den meisten > zahlreichen
Leistungen des canonischen Rechts nicht anders. An Bedeutung für die Umwälzung des Rechtsdenkens und auch des geltenden materiellen Rechts konnte sich keine von ihnen mit der Rezeption des römischen Rechts messen. Deren Geschichte zu verfolgen wäre hier nicht der Ort, es muß vielmehr bei wenigen Bemerkungen darüber sein Bewenden haben. Die Rezeption des römischen Rechts war, soweit dabei die Kaiser (Friedrich Ι[.])
59
[578] Vgl. oben, S. 458 mit Anm. 64.
und später die Fürsten als mitwirkend in Betracht kamen, wesentlich durch die in der Codifikation Justinians hervortretende souveräne Stellung des Monarchen
60
Weber bezieht sich vor allem auf den vielzitierten Satz Ulp. D. 1,3,31: „Princeps legibus solutus est.“ (Der Princeps ist von den Gesetzen befreit.) Freilich findet sich im Corpus iuris auch der – zumindest von den Kaisern der Spätzeit – weithin beachtete Grundsatz, daß der Kaiser zwar den Gesetzen nicht unterworfen sei, sie aber dennoch zu beachten habe, da erst durch sie seine Herrschaft legitimiert werde; vgl. Paul. D. 32,23 zusammen mit einem Gesetz Valentinians III. aus dem Jahre 429 n. Chr. (C. 1,14,4).
veranlaßt. Im Übrigen herrscht ungeschlichteter und vielleicht gar nicht einheitlich zu schlichtender Streit darüber: ob und welche ökonomischen Interessen hinter der Rezeption standen und durch sie gefördert wurden[,] und ebenso: wessen Initiative das Vordringen des gelehrten, d. h. des universitätsgebildeten, Richtertums, des Trägers sowohl des Romanismus wie der patrimonialfürstlichen Prozeduren, zu danken ist.
61
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stritten Juristen und Historiker über die Ursachen der Rezeption des römischen Rechts. Als hauptsächliche Gründe für die Rezeption wurden dabei politische (Durchsetzung des fürstlichen Machtanspruchs, Rechtssicherheit und Rechtsvollzug durch fürstliche Gerichtsgewalt), wirtschaftliche (verkehrstechnische Unzulänglichkeit des Partikularrechts mit Blick auf bürgerliche Erwerbs- und fürstliche Fiskalinteressen) und wissenschaftliche (das römische Recht als Betätigungsfeld des Humanismus) Motive diskutiert. Entsprechend unterschiedlich wurde die Rolle der Fürsten, der ständischen, besonders bürgerlichen Schichten, schließlich der Doctores iuris und ihres wachsenden Einflusses auf Verwaltung und Rechtspflege beurteilt; vgl. hierzu mit einem ausführlichen Literaturbericht zu Forschungsstand und Kontroverse Below, Ursachen (wie oben, S. 411, Anm. 57), S. 1–33.
Vor Allem: ob es wesentlich die Rechtsinteressenten waren, welche durch Schiedsvertrag die juristisch geschulten
g
B: rechtsgebildeten > juristisch geschulten
Verwaltungsbeamten der Fürsten statt der Gerichte anriefen und so die Entscheidung „von Amts wegen“ an Stelle der Entscheidung „von Rechts wegen“ einbürgerten und die alten Gerichte verdrängten (Stölzel)
62
Weber bezieht sich auf die Darstellung der spätmittelalterlichen Justizgeschichte [579]bei Stölzel, Gelehrtes Richtertum; ders., Gelehrte Rechtsprechung. So führt Stölzel, Gelehrte Rechtsprechung, Band 2, S. 413, aus: „Nichts natürlicher, als daß die Landesinsassen, wie sie sich vielfach zur Beilegung von Streitigkeiten an den Landesherrn statt an das Gericht wenden, ebenso den Vertreter des Landesherrn in ihrem Bezirk angehen, anstatt des Gerichts. Dieser Weg mußte vorgezogen werden, je mehr sich infolge der Verbreitung gelehrten Rechtes dem Volke seine nichtgelehrten Gerichte als unzulänglich erwiesen und je mehr der Pfleger oder Amtmann sich des Rufes zu erfreuen begann, ,in Rechten gelehrt zu sein‘.“ Ähnlich Stölzel, Gelehrtes Richtertum, Band 1, S. 607, passim.
oder ob (wie namentlich Rosenthal eingehend nach[579]zuweisen gesucht hat)
63
Weber bezieht sich auf die Darstellung der bayerischen Gerichts- und Verwaltungsorganisation seit dem Mittelalter bei Rosenthal, Gerichtswesen. Die Differenz zu Stölzel betont Rosenthal, ebd., Band 1, S. 139 f.; Band 2, S. 298 f. Vgl. auch Rosenthal, Besprechung (wie oben, S. 117, Anm. 15), S. 546, wo es heißt: „Ich bestreite nur die Bedeutung der Entscheidungen von Amts und von Rechts wegen für die Rezeption, da diese verschiedenen Arten von Entscheidungen eben nicht erst der Rezeptionsperiode angehören.“ Es sei vielmehr so, „daß im 17. Jahrhundert nicht anders wie im 14. und 15. Jahrhundert dieselben Personen (Richter, Pfleger, Räte) prozessual, unter Beobachtung der Formen des Prozesses, wie außerprozessual Rechtsstreitigkeiten geschlichtet haben“ (ebd., S. 548). Im letzteren Fall aber seien es „nicht sowohl die Parteien, welche aus Zweckmäßigkeitserwägungen nicht mehr das Gericht, sondern den Landesherrn und seine Diener anrufen; es ist vielmehr das Gericht selbst, welches die Parteien überredet, ihren Rechtshandel nicht gerichtlich, d. h. nicht prozessual, sondern außergerichtlich, d. h. durch Güte entscheiden zu lassen, und zwar nicht etwa von einer andern Behörde, sondern von denselben landesherrlichen Dienern, die sich sonst als Gericht konstituieren würden“ (ebd., S. 553). Schließlich: „Die Gelehrten, d. h. die Doctores juris, wurden nicht von außen zur Rechtsprechung herbeigezogen, sondern faßten Fuß innerhalb der Gerichte“ (ebd., S. 559).
die Gerichte selbst infolge der Initiative der Fürsten zunehmend Juristen statt der Honoratioren als Beisitzer in sich aufnahmen. Wie dem nun sei, soviel steht fest: da nach den Quellen auch diejenigen ständischen Schichten, welche dem Äußeren des römischen Rechts mit Mißtrauen gegenüberstanden, selbst im Allgemeinen die Teilnahme einiger „Doktoren“ als Beisitzer nicht anzufechten pflegten und nur deren Übergewicht und vor Allem die Zuziehung von Ausländern bekämpften,
64
Was die Reserve der adligen Kreise gegenüber den Doctores iuris und speziell ihren Kampf gegen die „Ausländer“ angeht, so wird sie zumeist mit befürchteten Kostensteigerungen und mangelnder Vertrautheit der Ausländer mit den Lokalrechten motiviert, erklärt sich aber vor allem auch aus Pfründeninteressen der bisher allein amtsfähigen Stände; vgl. Below, Ursachen (wie oben, S. 411, Anm. 57), S. 50, 72 f., 77–80.
so ist es offenbar, daß jedenfalls sachliche Notwendigkeiten des Rechtsbetriebs: vor Allem die durch Fachschulung erworbene Fähigkeit, comphzierte Thatbestände zu juristisch eindeutiger
h
[579]B: richtiger > juristisch eindeutiger
Fragestellung zu bearbeiten und, ganz allgemein gesprochen, die Notwendigkeit [580]einer Rationalisierung des Prozeßverfahrens, das Vordringen der Fachjuristen bedingte[.] In soweit
i
[580] B: In diesem Punkt > In soweit In B folgt: Punkt
begegneten sich die Betriebsinteressen der Rechtspraktiker mit den Interessen der privaten Rechtsinteressenten, vor Allem der bürgerlichen, aber auch der adlichen. An der Rezeption der materiellen Bestimmungen des römischen Rechts waren dagegen grade die „modernsten“, also die bürgerlichen Rechtsinteressenten gar nicht interessiert; die Institute des mittelalterlichen Handels- und des städtischen Grundbesitzrechts entsprachen ihren Bedürfnissen weitaus besser.
65
[580] Dies betrifft einen von Weber stets festgehaltenen Grundgedanken. Ähnlich urteilt Below, Ursachen (wie oben, S. 411, Anm. 57), S. 151: „Als im 12. und 13. Jahrhundert die Städte sich zu selbständigen und bedeutenden Faktoren im deutschen Wirtschaftsleben entwickelten, wurde das Deutsche Recht dem aufblühenden Handel und Gewerbe angepaßt. In der folgenden Zeit setzte sich dieser Prozeß fort. Aber es war eben das Deutsche Recht, das einer solchen Umbildung unterworfen wurde. Die deutschen Städte haben des Römischen nicht bedurft, um dem Verkehr freiere Formen zu geben.“ Vgl. ebd., S. 157.
Nur die allgemeinen formalen Qualitäten des römischen Rechts waren es, welche ihnen mit unvermeidlich zunehmender Fachmäßigkeit des Rechtsbetriebs überall da zum Siege verhalfen, wo nicht, wie in England, eine eigne nationale Rechtsschulung bestand und durch starke Interessenten gehütet wurde.
66
Zu den englischen Juristenzünften vgl. oben, S. 478–483.
Diese formalen Qualitäten bedingten es auch, daß die patrimonialfürstliche Justiz des Occidents nicht in die Bahnen genuin
j
B: rein > genuin
patriarchaler Wohlfahrts- und materialer [WuG1 491]Gerechtigkeitspflege ausmündete, wie anderwärts.
k
B: ausmündete; 〈wie im Orient〉 wie anderwärts.
67
Gemeint sind hier die theokratischen Patrimonialstaaten des Vorderen Orients und Asiens, vgl. dazu Weber, Agrarverhältnisse3, MWG I/6, S. 357, 372 f.; ders., Konfuzianismus, MWG I/19, S. 281 f.; ders., Hinduismus und Buddhismus, MWG I/20, S. 376 ff.
Sehr wesentlich auch die Thatsache der formalistischen Schulung der Juristen, auf die sie als Beamte angewiesen war, stand ihr dabei im Wege und erhielt damals der Rechtspflege des Occidents das Maß juristisch formalen Charakters, welches ihr im Gegensatz zu den meisten anderen patrimonialen Rechtsverwaltungen spezifisch ist. Der Respekt vor dem römischen Recht und der romanistischen Schulung
l
B: Romanismus > Respekt vor dem römischen Recht und der romanistischen Schulung
beherrschte daher auch Alles, was die beginnende Neuzeit an fürstlichen Codifikationen – durchweg Schöpfungen des universitätsgebildeten Juristenrationalismus – erlebte.
m
In B folgt: 〈Erst die Epoche des voll ent[581]wickelten „aufgeklärten Despotismus“ im 18 Jahrhundert 〈schritt〉 suchte über den spezifisch juristisch formalen Charakter des römischen Rechts hinwegzuschreiten. Dabei〉
[581] Die
n
In B geht die Satzanweisung Max Webers voran: Absatz!
Rezeption des römischen Rechts schuf – darin beruhte soziologisch seine Machtstellung – eine neuartige Schicht von Rechtshonoratioren: die auf Grund litterarischer Rechtsbildung mit dem Doktordiplom der Universitäten versehenen Rechtsgelehrten. Die Tragweite für die formalen Qualitäten des Rechts war eine sehr bedeutende. Schon in der römischen Kaiserzeit hatte das römische Recht begonnen, ein Gegenstand rein litterarischen Betriebs zu werden. Das bedeutete hier natürlich etwas Andres, als etwa die Schaffung von
o
B: Einbeziehung von > Schaffung von
„Rechtsbüchern“ durch die mittelalterlichen Rechtshonoratioren Deutschlands und Frankreichs oder von Grundrissen des geltenden Rechts von Seiten englischer Juristen – so bedeutend übrigens auch deren Einfluß war. Denn unter dem Einfluß der[,] sei es auch oberflächlichen[,] philosophischen Bildung der antiken Juristen nahm die Bedeutung des rein logischen Elements im Rechtsdenken bedeutend zu. Und zwar hier, wo keine Gebundenheit an ein heiliges Recht und keine theologischen oder material ethischen Interessen dies Denken banden und dadurch in die Bahn der rein spekulativen Casuistik drängten, mit wesentlich stärkeren Consequenzen für die Gestaltung der Rechtspraxis. Ansätze zu dem Grundsatz, daß, was der Jurist nicht „denken“ und „konstruieren“ könne, auch rechtswirksam nicht existieren könne,
68
[581] Vgl. oben, S. 347 f. mit Anm. 91 (S. 348), und S. 305.
finden sich in der That bereits bei den römischen Juristen. Rein logische Sätze wie „quod universitati debetur, singulis non debetur
p
B: universi consentire non possunt > quod universitati debetur, singulis non debetur
69
D. 3,4,7,1. (Was einer Gesamtheit (Körperschaft) geschuldet wird, wird nicht den Einzelnen (Mitgliedern) geschuldet.)
oder ,,quod ab initio vitiosum est, non potest tractu temporis convalescere“
70
Paul. D. 50,17,29. (Was von Anfang an fehlerhaft ist, kann nicht durch Zeitablauf heilen.)
und ähnliche in großer Zahl
71
Ein zusammenfassender Titel solcher Rechtsregeln findet sich in den Digesten: De diversis reguiis iuris antiqui (D. 50,17,1–211); sie sind teilweise bis auf die Tätigkeit der sog. Regularjurisprudenz des 2. Jahrhunderts v. Chr. zurückzuführen.
gehören dahin. Nur handelte es sich dabei um unsystematische Gelegenheitsproduktionen abstrakter Rechtslogik, welche zur Begründung der im [582]Einzelfall gegebenen, konkret motivierten Entscheidung beigefügt wurden, die eben in andren Fällen, zuweilen selbst vom gleichen Juristen, wieder achtlos bei Seite geworfen wurden. Der wesenhaft induktive, empirische Charakter des Rechtsdenkens wurde dadurch nicht oder wenig alteriert. Ganz anders aber wurde die Situation bei der Rezeption des römischen Rechts. Zunächst setzte sich der Prozeß des Abstraktwerdens
q
[582]B: der Abstraktion > des Abstraktwerdens
der Rechtsinstitute selbst, welcher mit der Entwicklung des römischen Civilrechts zum Reichsrecht eingesetzt hatte, nun naturgemäß in gesteigertem Maße fort. Um überhaupt rezipiert werden zu können, mußten – wie namentlich Ehrlich mit Recht betont
72
[582] Weber bezieht sich vor allem auf Ehrlich, Grundlegung, S. 244; vgl. auch ebd., S. 248, zum Rezeptionskontext vgl. die Einleitung, oben, S. 117–119.
– die römischen Rechtsinstitute aller Reste nationaler Gebundenheit entkleidet und gänzlich in die Sphäre des logisch Abstrakten erhoben, das römische Recht zum „logisch richtigen“ Recht schlechthin verabsolutiert werden. Dies ist im Verlauf der mehr als sechshundertjährigen
r
B: fünfhundertjährigen > sechshundertjährigen
Arbeit der gemeinrechtlichen Jurisprudenz thatsächlich geschehen. Zugleich aber verschob sich die Art des Rechtsdenkens weiter nach der formal logischen Seite. Die gelegentlichen glänzenden Aperçus der römischen Juristen von der Art der vorhin zitierten Sätze wurden, aus dem Zusammenhang mit dem konkreten Fall gerissen, wie sie in den Pandekten ohnehin sich vorfanden, zu letzten Rechtsprinzipien gesteigert, aus denen nun deduktiv argumentiert wurde. Was den römischen Juristen in starkem Maß gefehlt hatte: die rein systematischen Kategorien, wurde nun geschaffen. Begriffe wie etwa der des „Rechtsgeschäfts“ oder der „Willenserklärung“
s
In B folgt: 〈oder des „Contrakts“〉
, für welche in der antiken Jurisprudenz selbst die einheitlichen Namen fehlten, wurden konstruiert.
t
B: geschaffen. > konstruiert.
Vor Allem aber gewann jetzt der Satz, daß was der Jurist nicht denken kann, auch rechtlich nicht existiert, wirklich praktische
a
B: universelle > wirklich praktische
Bedeutung. Bei den antiken Juristen hatte, bei der historisch bedingten analytischen Natur des römischen Rechtsdenkens[,] die eigentlich konstruktive Fähigkeit wenn [WuG1 492]nicht gefehlt, so doch eine geringe Bedeutung gehabt. Jetzt, bei der [583]Übertragung dieses Rechts auf ganz fremdartige, der Antike unbekannte Thatbestände trat die Aufgabe: den Thatbestand widerspruchsfrei juristisch zu „konstruieren“, fast alleinherrschend in den Vordergrund und damit wurde die heute vorherrschende Auffassung des Rechts als eines in sich logisch widerspruchslos und lückenlos geschlossenen Complexes von „Normen“, die es „anzuwenden[] gilt,
73
[583] Die deutsche Privatrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts („Pandektenwissenschaft“) betrachtete die juristische Begriffs- und Systembildung als ihre Hauptaufgabe. „Konstruktiv“ sollte das römische Recht zu einem geschlossenen, lückenlosen System von Normen ausgestaltet werden, aus dem dann mittels Subsumtion alle denkbaren Rechtsfälle entschieden werden könnten. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts galt diese Auffassung in Deutschland für alle wichtigen Rechtsgebiete als vorbildlich.
allein maßgebend für das Rechtsdenken. Bei dieser spezifischen Art von Logisierung des Rechts waren aber keineswegs, wie bei der Tendenz zum formalen Recht an sich[,] Bedürfnisse des Lebens, etwa der bürgerlichen Interessenten nach einem „berechenbaren“ Recht entscheidend beteiligt. Denn dieses Bedürfnis wird, wie alle Erfahrung zeigt, ganz ebenso gut und oft besser durch ein formales empirisches[,] an Präjudizien gebundenes Recht gewahrt. Die Consequenzen der rein logischen juristischen Construktion verhalten sich vielmehr zu den Erwartungen der Verkehrsinteressenten ungemein häufig gänzlich irrational und gradezu disparat: die vielberedte „Lebensfremdheit“ des rein logischen Rechts hat hier ihren Sitz. Sondern es waren interne Denkbedürfnisse der Rechtstheoretiker und der von ihnen geschulten Doktoren: einer typischen Aristokratie der litterarischen „Bildung“ auf dem Gebiet des Rechts, von welchen jene Entwicklung getragen wurde. Fakultätsgutachten
74
Vor allem in den Städten gewannen seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Gutachten der ursprünglich um Rechtsbelehrung angegangenen Juristen-Fakultäten de facto den Charakter von Urteilssprüchen, denen die nachsuchenden Gerichte lediglich das Rechtsgebot erteilten; vgl. z. B. Schröder, Lehrbuch, S. 773, 841.
waren auf dem Continent die letzte Autorität in zweifelhaften Rechtsfällen, die akademisch gebildeten Richter
b
[583]B: Richter,
und Notare, daneben die Advokaten die typischen Rechtshonoratioren. – Wo immer ein organisierter nationaler Juristenstand fehlte, drang das römische Recht mit ihrer Hülfe siegreich vor: mit Ausnahme Englands, Nordfrankreichs und Skandinaviens
75
In England hatten das Königsgericht und ein dort tätiger Berufsrichterkreis das Common Law ausgebildet, das trotz romanistischer Einflüsse, vor allem durch die Equi[584]ty des Lordkanzlers, seine Eigenständigkeit gegen das römische Recht dauerhaft behauptete. – In Frankreich hielt sich trotz königlicher Rechtsvereinheitlichungs- und Kodifikationsbestrebungen durch das Mittelalter hindurch der Dualismus von germanisch und römisch beeinflußter Rechtskultur. Nordfrankreich war das Geltungsgebiet germanischer Lokalrechte (droit coutumier), während im Süden ein überkommenes römisches Vulgarrecht, später purifiziertes römisches Recht galt (droit écrit). Die vom König veranlaßten Aufzeichnungen der coutumes im 15. und 16. Jahrhundert, ihre schriftstellerische Bearbeitung und Anwendung in der Gerichtspraxis haben – trotz römisch-rechtlicher Rezeptionen – die Spaltung bis zur napoleonischen Kodifikation aufrechterhalten. – In den skandinavischen Ländern bildeten die seit dem 12. Jahrhundert kursierenden Rechtsaufzeichnungen (private Rechtsbücher und Gesetzbücher) eine so feste Rechtstradition, daß die nordische Rechtsentwicklung viel schwächer und später als das deutsche Recht unter den Einfluß der römischen Rechtskultur geriet.
eroberte es Europa von Spanien bis Schottland und Rußland. [584]In Italien waren, anfänglich wenigstens[,] vorwiegend die Notare, im Norden vornehmlich die fürstlichen gelehrten Richter
c
[584]B: Beamten > gelehrten Richter
die Träger der Bewegung, hinter welcher fast überall das Fürstentum stand. Die Entwicklung keines occidentalen Rechts hat sich von diesen Einflüssen ganz frei zu halten vermocht. Auch nicht die des englischen
d
B: angelsächsischen > englischen
. Nicht nur vieles in seiner Systematik und zahlreiche einzelne Rechtsinstitute weisen die Spuren davon auf, sondern auch die Definition der Quellen des Common Law: richterliche Präjudizien und „legal principles“[,]
76
In einer Rechtssache vor dem House of Lords gab der Richter Sir James Parke (1782–1868; 1828 Berufung an die King’s Bench; 1856 Lord Wensleydale) diese Definition der Quellen des Common law: „Our common law system consists in the applying to new combinations of circumstances those rules of law which we derive from legal principles and judicial precedents; and for the sake of attaining uniformity, consistency, and certainty, we must apply those rules, where they are not plainly unreasonable and inconvenient, to all cases which arise; and we are not at liberty to reject them, and to abandon all analogy to them, in those to which they have not yet been judicially applied, because we think that the rules are not as convenient and reasonable as we ourselves could have devised“ (zit. nach Holdsworth, William, A History of English Law (in 16 vols.), Vol. XII. – London: Methuen & Co. Ltd.; Sweet and Maxwell 1938, S. 152, Anm. 4).
zeugt davon, so ungeheuer allerdings der Unterschied in der inneren Struktur blieb. Die eigentliche Heimath freilich blieb Italien, namentlich unter dem Einfluß der Genueser und anderer gelehrter Gerichtshöfe (Rotae),
77
Die Rota von Genua wurde 1528 eingerichtet und hatte großen Einfluß auf die Entwicklung des See- und Handelsrechts; Entscheidungssammlungen dieser Rota und anderer italienischer Gerichtshöfe verwendete Weber bereits in: Handelsgesellschaften, MWG I/1, S. 176, 338.
deren gesammelte elegante
78
Die sog. „elegante Jurisprudenz“ war eine romanistische Bewegung, die unter humanistischem Einfluß im späten 15. und 16. Jahrhundert aufkam. Ihre antiquarischen, philologischen, historischen und praktischen Interessen bescherten dem römischen [585]Recht eine produktive Renaissance. Bedeutende Vertreter sind in Italien Andreas AIciatus (1492–1550), in Deutschland Ulrich Zasius (1461–1535), in Frankreich Jacobus Cuiacius (1522–1590) und Hugo Donellus (1527–1591).
und konstruktive Entscheidungen im [585]16. Jahrhundert in Deutschland gedruckt wurden, und Deutschland unter dem Einfluß des Reichskammergerichts und der gelehrten Landesgerichte.
79
Das 1495 errichtete, romanistisch judizierende Reichskammergericht beeinflußte nicht nur Organisation und Verfahren der oberen Landesgerichte, sondern als Appellationsinstanz für die Anfechtung von Urteilen territorialer oder reichsstädtischer Obergerichte vor allem auch deren Spruchpraxis; darüber Smend, Rudolf, Das Reichskammergericht (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit, Band IV, Heft 3), Teil 1: Geschichte und Verfassung. – Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1911, hier bes. S. 296 ff.
Erst die Epoche des voll entwickelten „aufgeklärten Despotismus“ suchte seit dem 18[.] Jahrhundert über diesen spezifisch formal rechtslogischen, in aller Welt nur hier entwickelten Charakter des gemeinen Rechts und seiner akademischen Rechtshonoratioren bewußt hinwegzukommen.
a
[585] a(ab S. 576: Wir befinden)a Fehlt in A.
e
In B folgt zur Markierung des Textanschlusses im Typoskript: Dabei spielte …
Dabei spielte zunächst der allgemeine Rationalismus der Bürokratie in ihrer
g
B: ihre
selbstherrlichsten Entfaltung und ihrem naiven Besserwissen
h
B: ihres naiven Besserwissens
die entscheidende Rolle. Die im Kern patriarchale
i
B: patrimoniale > patriarchale
politische Herrschaft hat den später zu erörternden Typus des Wohlfahrtsstaats
80
Vom Wohlfahrtsstaat als „Legende des Patrimonialismus“ spricht Weber mit Blick auf die Programmatik des aufgeklärten Absolutismus in: Feudalismus, MWG I/22-4, S. 450–453.
angenommen
f
A: Hier spielte zunächst: – so in Preußen – der allgemeine Rationalismus der Bürokratie in der Epoche ihrer selbstherrlichen Entfaltung und ihres naiven Besserwissens die entscheidende Rolle. Die politische Herrschaft trägt noch den später zu erörternden Typus des Wohlfahrtsstaats oder des sog. aufgeklärten Despotismus an sich
und schreitet unbekümmert über das konkrete Wollen der Rechtsinteressenten ebenso wie über den Formalismus des geschulten juristischen Denkens hinweg. Dies fachmäßige Denken möchte sie
j
A: hinweg, welches er
am liebsten gänzlich unterdrücken[.] Denn das
k
A: unterdrücken möchte. Das
Recht soll seiner fachjuristischen Qualität entkleidet und so gestaltet werden, daß es nicht nur die Beamten, sondern vor Allem auch die Untertanen über ihre Rechtslage ohne fremde Beihilfe erschöpfend belehrt.
l
A: Beamte und Untertanen vor allem auch über ihre Rechtslage belehrt.
81
Diese Tendenz zur Publikumsbelehrung tritt deutlich zutage z. B. in dem vom Hauptverfasser des preußischen Allgemeinen Landrechts (ALR), Carl Gottlieb Svarez, zur Popularisierung des Gesetzes verfaßten „Unterricht über die Gesetze für die Einwohner der Preußischen Staaten“ aus dem Jahre 1793.
[586]Dies Verlangen nach einer von juristischen Spitzfindigkeiten und Formalismen gesäuberten, materiale Gerechtigkeit erstrebenden Rechtspflege ist an sich, sahen wir,
82
[586] Siehe oben, S. 511 f. und 562–566.
jedem fürstlichen Patriarchalismus eigen. Aber er kann dieser Neigung nicht immer rückhaltlos nachgeben. Die justinianische Codifikation hatte für das sublimierte Juristenrecht, das sie codifizierend systematisierte, nicht an „Laien“ als Lernende und Verstehende denken können. Zu einer Ausrottung der juristischen Fachlehre war sie den Leistungen [WuG1 493]der klassischen Juristen und ihrer durch das Zitiergesetz
83
Dazu oben, S. 509 mit Anm. 70.
offiziell anerkannten
n
B: eingelebten > offiziell anerkannten
Autorität gegenüber nicht in der Lage. Sie konnte sich selbst daher nur als die fortan allein maßgebende Citatensammlung geben, welche dem Unterrichtsbedürfnis der Studenten diente und deshalb als Einführung ein in die Form eines Gesetzes gekleidetes Lehrbuch („Institutionen“)
84
Gemeint ist das im Auftrag Justinians für Zwecke des Rechtsunterrichts und unter maßgeblicher Verwendung der „Institutionen“ des Gaius geschaffene amtliche Einführungslehrbuch. Es wurde 533 n. Chr. noch vor den Digesten publiziert und erlangte zusammen mit diesen Gesetzeskraft; vgl. oben, S. 501 mit Anm. 56.
darzubieten hatte. Unumschränkter dagegen schaltete der Patriarchalismus in dem klassischen Denkmal des modernen „Wohlfahrtsstaats“, dem „Allgemeinen Landrecht“ Preußens.
m
[586] Fehlt in A.
Grade umgekehrt wie im ständischen Kosmos []subjektiver Rechte“ ist das „objektive Recht[] hier vorwiegend ein Kosmos von Rechtspflichten: die Universalität der „verdammten Pflicht und Schuldigkeit“ ist die beherrschende Qualität der Rechtsordnung, deren hervorstechendes Merkmal
o
A: Nicht mehr ein Kosmos subjektiver Rechte statt der objektiven Normen – wie in der Frühzeit des fürstlichen Patrimonialismus – sondern ein Kosmos von Rechtspflichten ist das, was das Gesetzbuch einschärfen will: die Universalität der verdammten Pflicht und Schuldigkeit ist die aus diesem Grenzfall patrimonialer Herrschaftsstruktur sich ergebende Absicht, mithin
ein systematischer Rationalismus nicht sowohl formaler, als vielmehr, wie in solchen Fällen immer, materialer Art bildet.
p
A: sol| Satzanschluß im Typoskript nicht nachgewiesen.
[A 15][B 9]Wo das material
r
B: rational > material
„Vernünftige“ gelten will, hat das bloß faktisch für Recht Gehaltene zu weichen. Daher vor Allem das „Gewohnheitsrecht“.
85
Der Gesetzgeber des ALR hat sich an verschiedenen Stellen gegen die Geltung von Gewohnheitsrecht ausgesprochen; Gewohnheitsrecht soll prinzipiell nur nach Maßgabe des Gesetzes (Einleitung, § 1), soweit förmlich statuiert oder bis zu einer [587]entsprechenden gesetzlichen Regelung gelten (Einleitung, §§ 3, 4); es soll weder neues Recht schaffen noch bestehendes aufheben können (Einleitung, § 60).
[587]Alle modernen Codifikationen bis herab zum ersten Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs
86
§ 2, Entwurf BGB, lautet: „Gewohnheitsrechtliche Rechtsnormen gelten nur insoweit, als das Gesetz auf Gewohnheitsrecht verweist.“ In: Motive BGB I, S. 3–10, bes. 5 ff., wird die Ablehnung des Gewohnheitsrechts v.a. mit der Möglichkeit der Rechtsanpassung durch Gesetzgeber und Jurisprudenz, sowie mit der Gefährdung von Rechtseinheit und Rechtssicherheit für den Fall der Zulassung desselben begründet.
haben ihm den Krieg erklärt.
q
Fehlt in A.
Die
s
[587]A: die
nicht auf ausdrücklicher Bestimmung des Gesetzgebers beruhenden Gepflogenheiten der Rechtspraxis und jede traditionelle Art der Rechtsinterpretation waren diesen[,]
t
A: sind diesem
wie jedem rationalistischen Gesetzgeber[,] durchaus minderwertige Quellen für die Rechtsanwendung und höchstens so lange zu dulden, als das Gesetz noch nicht gesprochen hat.
87
Vgl. Einleitung, § 4 ALR.
Die Kodifikation selbst
u
Fehlt in A.
sollte „erschöpfend“ sein und glaubte es sein zu können. Für Zweifelsfälle war der preußische Richter, um jede Neubildung von Recht durch die verhaßte Jurisprudenz hintanzuhalten, auf Rückfrage bei einer eigens dafür gebildeten Commission hingewiesen.
a
Fehlt in A.
88
Gemäß Einleitung, § 47 ALR. Durch Kabinettsordre vom 14. April 1780 wurde die „Gesetzcomißion“ errichtet, die auch nach Abschluß der Kodifikationsarbeiten fortbestehen und zu allen auftauchenden Fragen und Zweifeln mit gesetzlich bindender Kraft Stellung nehmen sollte. Sie war allerdings schon bald außerstande, den auftretenden Arbeitsanfall zu bewältigen, so daß im Jahre 1806 das Recht der authentischen Gesetzesinterpretation auf den Justizminister überging.
Die Folgen dieser allgemeinen Tendenzen zeigen sich in den formalen Qualitäten des geschaffenen Rechts. Der Versuch der
b
A: Die Tendenz zur
Emanzipation von der Fachjurisprudenz durch direkte
c
Fehlt in A.
Belehrung des Publikums von Seiten des Gesetzgebers selbst mußte im preußischen Landrecht,
d
A: mußte,
gegenüber den an den römischen Rechtsbegriffen orientierten festen Denkgewohnheiten der Praxis, mit welchen zu rechnen war, eine höchst minutiöse Kasuistik zur Folge haben, welche aber dennoch,
e
Fehlt in A.
infolge des Strebens nach materialer Gerechtigkeit statt nach formaler Schärfe, sehr oft nur zu mangelnder
g
B: mangelnde
Präzision führte.
f
A: sehr oft nur mangelnde Präzision herbeiführte.
Dabei blieb die Gebundenheit an den Begriffsvorrat und die Methodik des römischen Rechts trotz noch so vieler Einzelabweichungen und trotz der hier zum ersten Mal in einem [588]deutschen Gesetz unternommenen energischen Verdeutschung der Terminologie dennoch unentrinnbar. Die zahlreichen lehrhaften oder nur sittlich vermahnenden Sätze ließen oft Zweifel entstehen, in wieweit im Einzelfall
h
[588] Fehlt in A.
eine erzwingbare Rechtsnorm wirklich gewollt sei. Da endlich
i
Fehlt in A.
die Systematik teilweise nicht von formal juristischen Begriffen, sondern von praktischen Beziehungen der Interessenten zum Recht ausging, zerriß sie vielfach die Erörterung der Rechtsinstitute und schuf dadurch trotz ihres Bestrebens nach Deutlichkeit Unklarheiten. Das Ziel der Ausschaltung der fachjuristischen Bearbeitung des Rechtes erreichte der Gesetzgeber in der Tat weitgehend.
j
A: Tat.
Freilich teilweise in anderem Sinn[,] als er es gemeint hatte. Wirkliche
k
A: Eine
Rechtskenntnis des Publikums konnte durch ein bändereiches Werk mit Zehntausenden
l
A: vielen Tausenden
von Paragraphen am allerwenigsten
m
A, B: allerwenigstens
erreicht werden, und wenn darunter die Emanzipation von Anwälten und anderen fachjuristischen Praktikern verstanden wurde, so war dies Ziel auch der Natur der Sache nach unter den Bedingungen des modernen Rechtslebens an sich unerreichbar. Die Präjudizienautorität hat sich, nachdem das Obertribunal eine offiziöse Sammlung seiner Entscheidungen erscheinen zu lassen begann,
89
[588] Entscheidungen des Königlichen Ober-Tribunals; gesammelt sind in insgesamt 83 Bänden die Entscheidungen der Jahre 1837–1879.
in Preußen so stark entwickelt wie irgendwo außerhalb Englands.
n
Fehlt in A.
Dagegen die wissenschaftliche Behandlung eines Rechts, welches weder ganz präzise formale Normen noch plastische Rechtsinstitute schuf – und beides lag nicht auf dem Wege dieses utilitarischen
o
A: entsprach nicht den Zwecken des
Gesetzgebers –[,] konnte in der Tat niemanden reizen. Der patrimoniale materiale Rationalismus hat überhaupt
p
Fehlt in A.
naturgemäß nirgends formal juristisches [A 16][B 10]Denken anregen können. Die
q
A: Das Gesetz, die
Kodifikation trug daher an ihrem Teile dazu bei, daß die eigentlich wissenschaftliche Arbeit der Juristen [WuG1 494]sich teils erst recht dem römischen Recht, teils, unter dem Einfluß der nationalen Idee, den aus der Vergangenheit überkommenen plastischen Rechtsinstituten des alten deutschen Rechts zuwendete
r
A, B: zuwendete,
und nunmehr beide mit den Mitteln historischer Methodik in ihrem ursprünglichen, „reinen“ Gehalt herauszupräparieren such[589]te.
90
[589] Zu dieser Verzweigung der rechtsgeschichtlichen Forschung vgl. oben, S. 434, Anm. 13.
Für das römische Recht mußte dies zur Folge haben, daß es unter den Händen der fachmäßig historisch
s
[589] Fehlt in A.
gebildeten Juristen diejenigen Umwandlungen wieder abstreifte, durch welche es bei seiner Rezeption den Bedürfnissen der Rechtsinteressenten angepaßt worden war: der „Usus modernus Pandectarum“, das Produkt der gemeinrechtlichen Bearbeitung des justinianischen Rechts,
t
A: Usus modernus Pandectarum
geriet in Vergessenheit und wurde von dem wissenschaftlichen
a
Fehlt in A.
historischen Purismus ebenso verdammt, wie die Latinität des Mittelalters dereinst von Seiten der wissenschaftlichen Arbeit der humanistischen Philologen. Und wie
b
A: historischen Philologen. Wie
hier als Folge der Untergang der lateinischen Gelehrtensprache eintrat, so dort der Verlust der Angepaßtheit des römischen Rechts an moderne Verkehrsinteressen. Nun erst
c
c–c (bis: seine Überwindung.) Fehlt in A.
erst wurde die Bahn für die abstrakte Rechtslogik ganz frei.
Es war also nur eine Verschiebung der Wirkung des wissenschaftlichen Rationalismus
d
B: Rationalismus > juristischen Rationalismus > wissenschaftlichen Rationalismus
auf ein andres Gebiet eingetreten, nicht aber – wie die Historiker oft glauben
91
Die historische Rechtsschule bekämpfte den von Naturrecht und Aufklärung beeinflußten gesetzgeberischen Rationalismus mit einer historistischen Programmatik, die das römische Recht, von den Zufällig- und Zweckmäßigkeiten der gemeinrechtlichen Bearbeitung (Usus modernus) befreit, in seiner ursprünglichen Gestalt wiederherzustellen forderte. Indem sie aber Recht und Rechtswissenschaft bewußt unempfindlich für die Forderungen der Verhältnisse machte, konnte sie schon bald, nun konstruktiv-systematisch vorgehend, das römische Recht als überzeitlich geltendes Recht präsentieren, dessen Verbindung zur Gegenwart nicht durch praktische Anpassung immer wieder mühsam hergestellt werden mußte, sondern mittels formaler Logik dauerhaft garantiert war. Die daraus hervorgehende Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts hat dem naturrechtlichen Systemdenken auf romanistischem Gebiet zu einem späten Triumph verholfen, die historische Schule so den bekämpften Rationalismus auf dem Gebiet des von ihr hauptsächlich bearbeiteten römischen Rechts überhaupt erst entfesselt.
seine Überwindung.
c
c (ab: Nun erst)c Fehlt in A.
Eine rein logische Neusystematisierung des alten Rechts freilich gelang den historischen Juristen begreiflicherweise nicht in überzeugender Weise.
e
A: logische Neusystematisierung aber gelang den historischen Juristen begreiflicherweise nicht.
Bekanntlich und nicht zufällig sind bis auf das Windscheid’sche Kompendium
92
Weber bezieht sich auf Windscheid, Lehrbuch.
hinab fast
f
Fehlt in A.
alle Lehrbücher [590]der Pandekten unvollendet geblieben. Eine streng formale
g
[590] Fehlt in A.
juristische Sublimierung der nicht aus dem römischen Recht stammenden Institute gelang andrerseits
h
Fehlt in A.
der germanistischen Partei der historischen Rechtsschule ebensowenig. Denn was an ihnen den Historiker wissenschaftlich reizte, war grade das irrationale, der ständischen Rechtsordnung entstammende, also antiformale Element in ihnen.
i
Fehlt in A.
Nur die von den bürgerlichen Verkehrsinteressenten autonom
j
Fehlt in A.
an ihre Bedürfnisse angepaßten und durch die Praxis der Spezialgerichte
k
Fehlt in A.
empirisch rationalisierten Rechtspartikularitäten, vor allem also: das Wechsel- und Handelsrecht, gelang es wissenschaftlich und schließlich kodifikatorisch
93
[590] Rechtsvereinheitlichend wirkte auf dem Gebiet des Wechselrechts die Einführung der Allgemeinen Deutschen Wechselordnung von 1848, die, von allen Mitgliedern des Deutschen Bundes angenommen, 1861 durch die Nürnberger Novellen ergänzt wurde und in dieser Gestalt später reichsgesetzliche Geltungskraft erlangte. Auf dem Gebiet des Handelsrechts beseitigte das von den meisten deutschen Staaten auf Empfehlung der Bundesversammlung eingeführte Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch von 1861 die Rechtszersplitterung. Die im Zusammenhang mit dem Erscheinen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) notwendige Umarbeitung erfolgte im Handelsgesetzbuch (HGB) von 1897, das gleichzeitig mit dem BGB am 1. Jan. 1900 in Kraft trat.
ohne Verlust an praktischer Angepaßtheit
l
A: kodifikatorisch
zu systematisieren, weil hier zwingende und eindeutige ökonomische Bedürfnisse im Spiel waren. Aber als nach sieben
m
A: Im übrigen aber trat, als nach 7
Jahrzehnten der Herrschaft der Historiker und einer in keinem andren Lande auch nur annähernd erreichten
n
A: anerkanntermaßen ungewöhnlich glänzenden
Entwicklung der rechtsgeschichtlichen Wissenschaft, infolge der Schöpfung des Deutschen Reichs
o
A: Wissenschaft nach der Schöpfung des Reichs
eine Vereinheitlichung des bürgerlichen Rechts pathetisch als eine nationale Aufgabe hingestellt wurde, trat
p
Fehlt in A.
der deutsche Juristenstand, in sich gespalten und teilweise widerwillig, an dies Werk in einer höchst wenig dafür vorbereiteten Verfassung heran.
Dem
q
A, B: Den
gleichen Typus dieser
r
In A folgt: nicht der Zeit, aber dem Geiste nach vorrevolutionären
patrimonialfürstlichen Kodifikationen gehörten auch noch andere, insbesondere das österreichische und russische Gesetzbuch [A 17][B 11]an,
94
Durch Patent vom 1. Juni 1811 wurde das ABGB mit Gesetzeskraft vom 1. Jan. 1812 für die gesamten deutschen Erblande des österreichischen Kaisers publiziert. – Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Rußland entstehende Bewegung zur Erneuerung und Modernisierung des russischen Rechts nach französischem Vorbild brachte nach dem Bruch mit Napoleon lediglich eine neue Zusammenfassung des geltenden [591]Rechts (Gesetzessammlung), keine eigentliche Kodifikation, zustande. Die unter dem Namen Svod Zakonow bekannte russische Gesetzessammlung von 1832 zeigte in Auswahl, Methode und Geist größere Ähnlichkeit mit dem ALR als mit dem Code Napoléon.
das letztere freilich bedeutete im [591]wesentlichen nur ein ständisches Recht der an Zahl geringen
s
[591] Fehlt in A.
privilegierten Schichten und ließ die Rechtspartikularitäten der einzelnen Stände, insbesondere der Bauern, also der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Unterthanen, ganz unberührt, beließ ihnen sogar ihre eigne Jurisdiktion in einem immerhin praktisch bedeutsamen Umfang.
t
A: ganz unberührt.
Ihren gegenüber dem preußischen Recht kompendiöseren Umfang erkauften beide Codifikationen
a
Fehlt in A.
durch eine oft wesentlich geringere Präzision der Bestimmungen, das österreichische Gesetzbuch auch durch weit geringere Originalität gegenüber dem römischen Recht. Wissenschaftliches Denken hat sich auch seiner erst nach Jahrzehnten (in Unger’s Werk)
95
Gemeint ist Unger, System.
bemächtigt, und dann fast ganz mit romanistischen Kategorien.
b
A: Bestimmungen. In A folgt Absatz. Dann: Einen ungewöhnlichen äußeren Erfolg hatte dagegen die große Kodifikation des revolutionären Frankreich: der Code civil.

[592][A 17][B 11, Forts.][WuG1 495]§ 7. Die formalen Qualitäten
b
B: formale Struktur > formalen Qualitäten
des revolutionär geschaffenen Rechts. Das Naturrecht.
a
[592] Fehlt in A. Paragraphentitel in B von Max Weber in eine Leerzeile im Typoskript eingefügt. Für die endgültige Paragraphennumerierung hat Weber ein Spatium gelassen. Am linken Rand steht von fremder Hand eingefügt: § 7 Zum Inhalt des Paragraphen vgl. die beiden letzten Überschriften in der Inhaltsübersicht zu § 6, „Der code civil“ und „Das Naturrecht und seine Typen“, oben, S. 552.

Vergleichen
c
In B geht die Satzanweisung Max Webers voraus: Absatz
wir mit diesen Produkten der vorrevolutionären Zeit das Kind der Revolution, den Code civil und die Nachahmungen, die er in ganz West- und Südeuropa gefunden hat,
1
[592] Im Zuge der Napoleonischen Kriege ist der Code Civil in zahlreichen Ländern übernommen worden – so in Belgien, dem Großherzogtum Luxemburg, in Teilen der Schweiz, Deutschlands (der Rheinlande), Polens und im Königreich Neapel. Einige – wie Belgien und Luxemburg – haben ihn im Kern bis heute beibehalten. In vielen süd- und südosteuropäischen Staaten (Italien, Spanien, Portugal, Rumänien) wurde er im Laufe des 19. Jahrhunderts rezipiert und hat darüber vermittelt weitere Zivilgesetzbücher beeinflußt.
so ist der formale Unterschied bedeutend. Es fehlt jede Hineinmengung nichtjuristischer Bestandteile, jede belehrende und nur sittlich vermahnende Note und alle Casuistik.
d
Fehlt in A.
Zahlreiche Sätze des Code wirken epigrammatisch und plastisch in gleichem Sinn, wie Sätze der 12
e
A: 12 ; B: XII > 12
Tafeln[,] und viele von ihnen sind ebenso volkstümlicher Besitz geworden wie etwa alte Rechtssprichwörter,
2
Dies trifft namentlich auf zahlreiche Bestimmungen zu, die auf das im germanischen Recht wurzelnde sog. droit coutumier (Gewohnheitsrecht) Nordfrankreichs, insbesondere die Coutume de Paris, zurückgehen (etwa solche des Erb- und Ehegüterrechts). Daneben haben einzelne Rechtssprichwörter römischer oder mittelalterlicher Prägung (adages, brocards) auch direkt Eingang in den Code gefunden oder beherrschen – ohne formelle Gesetzeskraft zu gewinnen – als Rechtsmaximen bis heute die Gerichtspraxis; vgl. dazu Barazetti, Caesar, Einführung in das Französische Civilrecht (Code Napoléon) und das Badische Landrecht (sowie in das Rheinische Recht überhaupt), 2. Aufl. – Heidelberg: Theodor Groos 1894, S. 41–47, 51.
was gewiß weder einem Satz des Allgemeinen Landrechts noch anderer deutscher Kodifikationen
f
In A folgt: je
geschehen ist. Wenn neben dem angelsächsischen Recht, dem Produkt der juristischen Praxis
h
B: Rechtspraxis > juristischen Praxis
, und dem gemeinen römischen Recht, dem Produkt der theoretisch-litterarischen juristischen Bildung (auf welchem die große Mehrzahl der ost- und mitteleuropäischen Codifikationen ruht) das Recht des Code, als das Produkt der rationalen Gesetzgebung, das dritte große Welt
Deponat Max Weber, BSB München, Ana 446, OM 10, 17/11 Ediert S. 590-594
[593]recht geworden ist, so bildeten den Grund dafür eben diese
i
[593]B: dieser
formellen Qualitäten, welche eine außerordentliche Durchsichtigkeit und präzise Verständlichkeit der Bestimmungen teils wirklich enthalten[,] teils vortäuschen.
g
Fehlt in A.
3
[593] Auf die teils nur vermeintliche Präzision und Verständlichkeit des Code machen bereits Windscheid, Lehre (wie oben, S. 120, Anm. 31), S. V, sowie – ihm folgend – Crome, Carl, Allgemeiner Theil der modernen französischen Privatrechtswissenschaft. – Mannheim: J. Bensheimer 1892, S. 19 (hinfort: Crome, Französische Privatrechtswissenschaft) aufmerksam.
Diese Plastik vieler seiner Sätze verdankt der Code der Orientierung zahlreicher Rechtsinstitutionen an dem Recht der coutumes.
4
Vgl. oben, S. 592, Anm. 2, sowie S. 583 f., Anm. 75.
Ihr ist
j
A: Dieser Plastik ist
an formal juristischen Qualitäten und auch an Gründlichkeit der materialen Erwägung manches geopfert. Das Rechtsdenken aber wird durch die abstrakte Gesammtstruktur der Rechtssystematik
5
Dies bezieht sich zunächst auf die Legalordnung, das „System“ des Code Civil, der sich in drei Bücher gliedert: Des personnes (Art. 7–515), Des biens et des différentes modifications de la propriété (Art. 516–710), schließlich: Des différentes manières dont on acquiert la propriété (Art. 711–2281; heute: 2283); vgl. Crome, Französische Privatrechtswissenschaft (wie oben, Anm. 3), S. 11 f., Anm. 3, und S. 18. Die Einteilung orientiert sich an der schon für die Jurisprudenz des Ancien Régime vielfach maßgeblichen Gliederung der Institutionen des römischen Juristen Gaius: res, personae, actiones, sprengt sie aber zugleich im Dritten Buch, das für die Rezeption des Code Civil entscheidend ist.
und durch die axiomatische Art zahlreicher andrer
l
Lies: einzelner
N
Textkritische Anmerkung in MWG irrtümlich als „n“ beziffert; Korrektur in MWG digital.
Bestimmungen im ganzen doch nicht zu eigentlich konstruktiver
k
A: wird durch die Art der Formulierung im ganzen nicht zu eigentlich formaler
Bearbeitung von Rechtsinstitutionen in ihrem pragmatischen Zusammenhang angeregt, sondern sieht sich meist darauf hingewiesen, jene nicht seltenen Formulierungen des Code, welche nicht den Charakter von Rechtsregeln, sondern von „Rechtssätzen“ an sich tragen, eben als „Sätze“ zu nehmen und an der Hand der Probleme der Praxis zu adaptieren; und die
m
A: darauf hingewiesen, die Rechtssätze eben als Sätze zu nehmen und an der Hand der Probleme der Praxis zu sublimieren. Die
N
Textkritische Anmerkung in MWG irrtümlich als „l“ beziffert; Korrektur in MWG digital.
formalen Qualitäten der modernen französischen Jurisprudenz sind vielleicht teilweise dieser etwas widerspruchsvollen
n
Fehlt in A.
N
Textkritische Anmerkung in MWG irrtümlich als „m“ beziffert; Korrektur in MWG digital.
Eigenart des Gesetzes zuzuschreiben.
6
Weber greift hier eine seit Savigny von deutschen Beobachtern vorgetragene Kritik am Code Civil auf, soweit sie das Fehlen eines Allgemeinen Teils – vergleichbar dem des BGB – und so grundlegender Rechtsbegriffe wie die des „Rechtsgeschäfts“, der „Obligation“ u. a. bemängelt. Entstehungsgeschiche und Eigenart des Code haben nach dieser Einschätzung auch den Charakter der französischen zivilistischen Juris[594]prudenz wesentlich mitbestimmt, ihren „sklavischen Anschluss[e] an die Legalordnung“ (Crome); vgl. dazu Crome, Französische Privatrechtswissenschaft, S. VI, 25; Savigny, Beruf (wie oben, S. 434, Anm. 13), S. 66–81.
Diese selbst aber ist der Ausdruck [594]einer spezifischen Art von Rationalismus:
o
[594] Fehlt in A.
des souveränen Bewußtseins, daß
p
A, B: das
hier zum ersten Mal
q
A, B: ersten mal
rein rational ein von allen historischen „Vorurteilen“ freies Gesetz, Bentham’s Ideal entsprechend,
7
Bentham entwarf zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine einflußreiche Kodifikationslehre; so vor allem ders., General View. Seiner utilitaristischen Wertprämisse entsprechend sollte eine Rechtskodifikation, um gemeinwohlfördernd wirken zu können, die Rechtsmaterien möglichst umfassend und abschließend behandeln. Auftretende Rechtsfragen sollten aus dem Gesetz selbst oder durch Auslegung und Analogie zu entscheiden sein, so daß sich der Rückgriff auf das Naturrecht ebenso wie auf das Gewohnheitsrecht erübrigte; vgl. dazu Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 28 ff., bes. 155–157.
geschaffen werde, welches (vermeintlich) seinen Inhalt nur von
r
A: Voraussetzungen und Vorurteilen freies Gesetz geschaffen werde, welches nur
dem sublimierten gesunden Menschenverstand in Verbindung mit der spezifischen Staatsräson der dem Genie, und nicht der Legitimität, ihre Macht verdankenden großen Nation empfängt.
s
A: des dem Genie, und nicht der Legitimität, seine Macht verdankenden Verbandes seinen Inhalt verdankt.
Die Art der Stellung zur Rechtslogik aber kommt, soweit sie der plastischen Gestaltung die juristische Sublimierung opfert, in einzelnen Fällen direkt auf Rechnung des persönlichen Eingreifens Napoleons. Ihre epigrammatische Theatralik aber entspricht der gleichen
t
A: aber, welche sich in jener der plastischen Präzision die juristische opfernde Form ausspricht, kommt in einzelnen Fällen wohl direkt auf Rechnung des Eingreifens Napoleons, im wesentlichen aber wohl auf die ebenso epigrammatische
Art der Formulierung der „Menschen- und Bürgerrechte“ in den amerikanischen und französischen Verfassungen. Bestimmte Axiome über den Inhalt von Rechtssätzen werden hier nicht in die Form nüchterner Rechtsregeln, sondern in Postulat-artige Spruchformen
u
A: in epigrammatische Formen
N
In MWG I/22-3 irrtümlich: Foren; Korrektur in MWG digital.
gebracht, mit dem [A 18][B 12]Anspruch, daß ein Recht nur dann wirklich legitim sei, wenn es jenen Postulaten
a
A: ihnen
nicht zuwiderlaufe. Wir haben uns mit dieser besonderen Art der Bildung abstrakter Rechtssätze
b
A: diesem Faktor der modernen Rechtsbildung
in Kürze
8
Siehe unten, S. 595 ff.
zu befassen.
Soziologisch
c
A: Für uns
kommen die Vorstellungen über das „Recht des Rechtes“
9
So Stammlers Formulierung, für den das damit umschriebene Naturrecht als „Recht an sich“ unerkennbar ist. Dieses „Recht des Rechtes“ ist vielmehr eine reine Verstandeskategorie, eine leere Denkform, mittels derer der positive Rechtsstoff als „richtiges [595]Recht“ gedacht werden kann. Für Stammler gibt es demzufolge ein Naturrecht nur „mit wechselndem Inhalte“ (ders., Wirtschaft und Recht, S. 181); vgl. auch Stammler, Richtiges Recht (wie oben, S. 222, Anm. 75), bes. S. 99–110.
innerhalb einer rationalen und positiven Rechtsordnung [595]nur soweit in Betracht, als aus der Art der
d
[595] Fehlt in A.
Lösung dieses Problems praktische Konsequenzen für das Verhalten der [WuG1 496]Rechtsschöpfer, Rechtspraktiker und Rechtsinteressenten entstehen, wenn also
e
A: entstehen. Dies geschieht, wenn
die Überzeugung von der spezifischen „Legitimität“ bestimmter Rechtsmaximen, von der
f
A: also an die
durch keinerlei Oktroyierung von positivem Recht zu zerstörenden, unmittelbar verpflichtenden Kraft bestimmter Rechtsprinzipien, das praktische Rechtsleben wirklich fühlbar
g
A: zerstörende, unmittelbar verpflichtende Kraft bestimmter rationaler Rechtsprinzipien, das praktische Rechtsleben
beeinflußt. Dies ist tatsächlich historisch wiederholt, speziell aber im Beginn der Neuzeit und in der Revolutionsepoche der Fall gewesen und ist es teilweise (in Amerika) noch.
h
A: wiederholt der Fall gewesen.
Die Inhalte solcher Maximen aber pflegt man als „Naturrecht“ zu bezeichnen.
Wir lernten die „lex naturae“ früher
10
Siehe Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 396–398, bes. 397, sowie oben, S. 545.
als eine wesentlich
i
Fehlt in A.
stoische Schöpfung kennen, die das Christentum übernahm, um zwischen seiner eigenen Ethik und den Normen der Welt eine Brücke zu finden. Es war das innerhalb der gegebenen Welt der Sünde und Gewaltsamkeit nach Gottes Willen legitime „Recht für Alle“, im Gegensatz zu Gottes direkt für seine Bekenner offenbartem
k
B: offenbartem,
und nur dem religiös Auserwählten einleuchtendem
j
A: offenbartem
Gebot.
11
Weber bezieht sich auf die Rezeption der stoischen Lehre eines „relativen Naturrechts“, mittels derer die spätantike Kirche versuchte, das indifferente Weltverhältnis des Urchristentums zu korrigieren; vgl. Troeltsch, Soziallehren (wie oben, S. 108, Anm. 83), S. 164 f. Nach dem Ende des „goldenen Zeitalters“ und des darin herrschenden „absoluten Naturrechts“ konnte dieser Lehre zufolge unter den Bedingungen einer von Krieg, Gewalt, Herrschaft und Ungleichheit geprägten Welt das Naturrecht nur noch in der veränderten Form positiver Rechts- und Zwangsordnungen wirksam sein. Deshalb meint Troeltsch, „die Bedeutung der Lehre von dem Verhältnis der Lex naturae zur Lex Christi als eines Fundamentaldogmas“ sei „das völlige Korrelat zu der allgemeinen Unterscheidung von Vernunft und Offenbarung und wendet diese Unterscheidung nur nach der Seite des Aufbaues eines praktischen Kulturganzen“ (ebd., S. 173, Anm. 77).
Jetzt sehen wir die lex naturae
l
A: sie
von der anderen Seite her. „Naturrecht“ ist der Inbegriff der unabhängig von allem positiven Recht und ihm [596]gegenüber präeminent geltenden
m
[596]A: präeminenten
Normen, welche ihre Dignität nicht von willkürlicher Satzung zu Lehen tragen, sondern umgekehrt deren Verpflichtungsgewalt erst legitimieren. Normen also, welche nicht kraft ihres Ursprungs von einem legitimen Gesetzgeber, sondern kraft rein immanenter Qualitäten legitim sind: die spezifische und einzig consequente
n
A: ihrer immanenten Qualitäten legitim sind, die spezifische
Form der Legitimität eines Rechts, welche übrig bleiben kann,
o
A: übrig bleibt,
wenn religiöse Offenbarungen und autoritäre Heiligkeit der Tradition und ihrer Träger fortfallen.
12
[596] Weber schließt hiermit an seine früheren Ausführungen über Charisma und Tradition als Legitimationsgründe des geltenden Rechts an; vgl. oben, S. 446 f. und S. 453– 456.
Das Naturrecht ist daher
p
A: Mit einem Wort:
die spezifische Legitimitätsform der revolutionär geschaffenen Ordnungen. Berufung auf „Naturrecht“ ist immer wieder die Form
q
A: Naturrecht ist daher immer wieder die Art
gewesen, in welcher Klassen, die sich gegen die bestehende Ordnung auflehnten, ihrem Verlangen nach Rechtsschöpfung Legitimität verliehen, sofern sie sich nicht auf positive
r
A: dieselbe nicht auf
religiöse Normen und Offenbarungen stützten.
s
A: stützen.
13
Zu den „Klassenbeziehungen“ der Naturrechtspostulate bäuerlicher, proletarischer und bürgerlicher Revolutionäre und den je spezifischen Ausprägungen „materialen“ bzw. „formalen Naturrechts“ vgl. unten, S. 604–610.
Zwar ist nicht jedes Naturrecht seinem gemeinten Sinn nach „revolutionär“, derart, daß es bestimmten Normen die Berechtigung zuspräche, einer bestehenden Ordnung gegenüber durch gewaltsames [A 19][B 13]Handeln oder durch passive Renitenz durchgesetzt zu werden. Nicht nur haben auch die verschiedensten Arten von autoritären Gewalten ihre „naturrechtliche“ Legitimation erfahren.
14
Zur stoisch-christlichen Lehre vom „relativen Naturrecht“ als Legitimitätsquelle autoritärer (weltlicher und geistlicher) Gewalt vgl. oben, S. 545 mit Anm. 87.
Sondern
t
A: Im Gegenteil:
es gab auch ein einflußreiches „Naturrecht des historisch Gewordenen“ als solches
b
B: solchen
gegenüber dem
a
A: rein als solchen gegenüber allem
auf abstrakte Regeln gegründeten oder solche produzierenden
c
In A folgt: juristischen
Denken. Ein naturrechtliches Axiom dieser Provenienz lag z. B.
d
Fehlt in A.
der Theorie der historischen Schule
15
Zur historischen Juristenschule – es gab Parallelbewegungen in der Geschichtswissenschaft und Nationalökonomie – vgl. oben, S. 434 mit Anm. 13, und S. 588–590.
von der Präeminenz des „Gewohnheits[597]rechts“ – ein
e
[597]A: einem
erst von ihr klar ausgebauter
f
A: ausgebauten
Begriff – zugrunde.
g
A, B: zu grunde.
16
[597] Die Gewohnheitsrechtslehre der historischen Rechtsschule formulierte maßgeblich Puchta, Gewohnheitsrecht I und II (wie oben, S. 211, Anm. 52). Die „Präeminenz des Gewohnheitsrechts“ wurde aus der Annahme gefolgert, daß es das unmittelbare, natürliche Produkt der durch den tätigen Volksgeist geschaffenen gemeinsamen Volks-(= Rechts-)Überzeugung ist; diese gilt als Quelle aller Rechtsbildung, also insbesondere auch des lediglich vermittelten Juristen- und Gesetzesrechts; vgl. etwa Puchta, Gewohnheitsrecht I, S. 181, sowie oben, S. 434 mit Anm. 14.
Ganz ausdrücklich dann, wenn
h
A: wenn, was mehrfach geschah,
behauptet wurde: ein Gesetzgeber „könne“ durch Satzung den Geltungsbereich des Gewohnheitsrechts gar nicht rechtswirksam einschränken, vor allem dessen derogatorische Kraft gegenüber den Gesetzen nicht ausschließen. Denn man „könne“ dem geschichtlichen Werden nicht verbieten, daß es sich vollziehe.
17
Als Zitat nicht nachgewiesen. – Sinnentsprechend ist aber z. B. die Feststellung Beselers, „daß Gewohnheitsrecht und Gesetz die gleiche Kraft haben, und das letzteres durch Entwöhnung (desuetudo) außer Wirksamkeit gebracht werden kann.“ Es werde damit „auch nur die Macht der Verhältnisse und der Geschichte anerkannt, der kein irdischer Wille, auch der des Gesetzgebers nicht, auf die Dauer Widerstand zu leisten vermag. […] Vielmehr ist die Sache so zu fassen, daß sich über die vom Gesetzgeber normierten Rechtsverhältnisse ein abweichendes Rechtsbewußtsein im Volke bildet und erhält, welches eine solche Kraft und Stärke in sich trägt und in der Anwendung mit solcher Entschiedenheit auftritt, daß dadurch die gesetzliche Vorschrift um ihre Geltung gebracht wird“ (Beseler, Georg, System des gemeinen deutschen Privatrechts, Band 1. – Leipzig: Weidmann 1847, S. 121).
Aber auch alle nicht bis zu dieser Consequenz gehenden,
i
A: Alle jene
halb historischen, halb naturalistischen Theorien vom „Volksgeist“ als der einzig natürlichen und daher legitimen
j
Fehlt in A.
Quelle, aus welchem Recht und Kultur emaniere, und speziell von dem „organischen“ Wachstum alles echten, auf unmittelbarem „Rechtsgefühl“ beruhenden und nicht „künstlichen“, d. h. zweckrational
l
B: zweckrational,
gesatzten
k
A: echten und nicht künstlichen
Rechtes, oder wie sonst sich diese der Romantik eigentümlichen Gedankenreihen geben mochten, enthielten jene das gesatzte Recht zu etwas „nur“ Positivem
m
Fehlt in A.
deklassierende Voraussetzung.
18
So erörtern etwa Kantorowicz und Brie die Verbindung der historischen Rechtsschule zur Schellingschen Kunst- und Geschichtsphilosophie; vgl. Kantorowicz, Volksgeist (wie oben, S. 22, Anm. 17); Brie, Siegfried, Der Volksgeist bei Hegel und in der historischen Rechtsschule, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Band 2, 1908/09, S. 1–10, 179–202. – Den Versuch einer Neubegründung der Rechtswissenschaft auf dem Fundament des „Rechtsgefühls“ findet man bei Schlossmann, Siegmund, Der Vertrag. – Leipzig: Breitkopf und Härtel 1876, hier bes. S. 193–206. [598]Diese Konzeption resultiert aus einer umfassenden Kritik des Vertragsbegriffs und der traditionellen Rechtsquellenlehre.
[598]Dem Irrationalismus dieser Axiome stehen nun
n
[598] Fehlt in A.
die naturrechtlichen Axiome des Rechtsrationalismus kontradiktorisch gegenüber, und nur sie konnten Normen formaler Art
p
B: angebbare Rechtsnormen > formale Normen > Normen formaler Art
überhaupt schaffen, so daß man unter Naturrecht a potiori mit Recht nur sie zu verstehen pflegt. Ihre Ausbildung in der Neuzeit
o
A: revolutionären
war, neben den religiösen Grundlagen, welche sie bei den rationalistischen Sekten fanden,
19
Gemeint sind die puritanischen Sekten des 17. Jahrhunderts, die in den nordamerikanischen Kolonien Glaubens- und Gewissensfreiheit als unveräußerliche Individualrechte erstmals verfassungsrechtlich verankerten.
teils das Werk des Naturbegriffs der Renaissance, welche überall den Canon des von der „Natur“ Gewollten zu erfassen strebte,
q
Fehlt in A.
teils entstanden sie in Anlehnung an den [WuG1 497]vor Allem
r
Fehlt in A.
in England heimischen Gedanken bestimmter angeborener nationaler Rechte jedes Volksgenossen. Dieser spezifisch englische Begriff des „birthright“ entstand sehr wesentlich
s
A: Engländers. Dieser Begriff des birthright entstammt in England
unter dem Einfluß der populären Auffassung gewisser
t
A: der
in der Magna Carta ursprünglich lediglich den Baronen verbrieften
a
B: verbrieften, 〈dann aber von den freien〉
ständischen Freiheiten als nationaler Freiheitsrechte der englischen Untertanen
c
B: Untertanen,
als solcher,
b
A: Untertanen,
an denen sich weder der König noch irgend eine andere politische Gewalt vergreifen dürfe.
20
Verschiedene Verfassungsgesetze, einsetzend mit der Magna Carta des Jahres 1215, garantierten zunächst nur den Feudalbaronen, schließlich allen Engländern eine Reihe überwiegend negativer Freiheitsrechte; vor allem die Petition of Right von 1628, die Habeas Corpus Act von 1679, die Bill of Rights von 1689, schließlich die Act of Settlement von 1700. Sie verboten u. a. die Errichtung von Ausnahmegerichten, die Verhängung grausamer Strafen, die ungesetzliche Steuerbewilligung, statuierten dagegen nur wenige individuelle Rechte wie das Petitionsrecht (an den König) und das Recht des Waffentragens. Erst die Act of Settlement (12 & 13 Will. III. c. 2) gebrauchte für diese alten Rechte den Ausdruck „birthright“: „And whereas the Laws of England are the birthright of the people thereof, and all the Kings and Queens, who shall ascend the Throne of this realm, ought to administer the Government of the same according to the said laws […]“ (Text in: Stubbs, William (ed.), Select Charters and Other Illustrations of English Constitutional History from the Earliest Times to the Reign of Edward the First, 8. ed. – Oxford: Clarendon Press 1905, S. 528–531, hier S. 531).
Der Übergang zu der Vorstellung von Rechten jedes Menschen als solchen dagegen ist, unter zeitweise sehr
d
A: ist, unter
starker Mitwirkung religiöser, namentlich täuferischer Ein[599]flüße, im Wesentlichen erst durch die rationalistische
e
[599]A: durch die
Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts vollzogen worden.
21
[599] Weber schließt hier vor allem an Jellinek, Menschen- und Bürgerrechte2 (wie oben, S. 110, Anm. 91), S. 35 ff., 46 ff., und Troeltsch, Soziallehren (wie oben, S. 108, Anm. 83), bes. S. 702, 820 f., an. Hatte Jellinek den puritanischen Einfluß in der Idee unveräußerlicher Menschenrechte und – vermittelt über die Naturrechtslehren des 17. und 18. Jahrhunderts – deren Rezeption in die europäischen Verfassungen nachgezeichnet, so hob Troeltsch den Einfluß des Täufertums bei der „Säkularisierung“ des Naturrechts und Propagierung radikal-demokratischer Ideale in der englischen Revolution und in Amerika hervor.
Die Naturrechtsaxiome können unter sich verschiedenen Typen angehören, von denen wir hier nur diejenigen betrachten wollen, welche besonders nahe
f
A: behandeln wollen, welche
zur Wirtschaftsordnung in Beziehung stehen. Die naturrechtliche Legitimität positiven Rechtes kann entweder mehr an formale Bedingungen geknüpft [A 20][B 14]sein oder mehr an materiale. Der Unterschied ist graduell, denn ein ganz rein formales Naturrecht kann es nicht geben: es würde ja mit den ganz inhaltleeren
h
In B folgt: 〈methodischen〉
allgemeinen juristischen Begriffen zusammenfallen müssen. Aber immerhin ist der Gegensatz praktisch sehr bedeutend.
g
Fehlt in A.
Der reinste Typus der ersten Gattung ist das Naturrecht, welches
i
A: wie es
im 17. und 18. Jahrhundert zuerst unter den erwähnten Einflüßen entstand: vor Allem in Gestalt der
j
A: die
„Vertragstheorie“ und zwar speziell in deren individualistischer
k
A: ihrer individualistischen
Form. Alles legitime Recht beruht auf Satzung und Satzung ihrerseits letztlich immer auf rationaler
l
A: beruht immer auf
Vereinbarung. Entweder real,
m
In A folgt: also
auf einem wirklichen Urvertrag freier Individuen, welcher auch die Art der Entstehung neuen gesatzten Rechts für die Zukunft regelt. Oder in dem ideellen Sinn: daß nur ein solches Recht legitim ist, dessen Inhalt dem Begriff einer vernunftgemäßen[,] durch freie Vereinbarung gesatzten Ordnung nicht widerstreitet. Die „Freiheitsrechte“ sind der wesentliche Bestandteil eines solchen Naturrechts, und vor allem:
n
Doppelpunkt fehlt in A.
die Vertragsfreiheit.
22
Zur Rechtsgeschichte der Vertragsfreiheit vgl. oben, S. 310 ff.
Der freiwillige rationale Contrakt entweder als wirklicher historischer Grund aller Vergesellschaftungen einschließlich des Staats oder doch als regulativer Maßstab der Bewertung wurde eines der universellen Formalprinzipien naturrechtlicher Construktion
p
B: Deduktion > Construktion
.
o
Fehlt in A.
Dies
q
A: Ein solches
wie jedes formale Naturrecht steht also [600]prinzipiell auf dem Boden des Systems der legitim durch Zweckcontrakt
r
[600] Fehlt in A.
erworbenen Rechte und also, soweit es sich um ökonomische Güter handelt, auf dem Boden der durch Vollentwicklung des Eigentums geschaffenen
s
A: geschlossenen
ökonomischen Einverständnisgemeinschaft.
23
[600] Zu den Begriffen „Einverständnis“ und speziell „Einverständnisgemeinschaft“ vgl. Weber, Kategorien, S. 279–286, hier bes. S. 279 und S. 285 f.
Das legitim durch freien Vertrag mit Allen (Urvertrag) oder mit Einzelnen Andern
t
Fehlt in A.
erworbene Eigentum und die Freiheit der Verfügung darüber, also prinzipiell
a
Fehlt in A.
freie Konkurrenz, gehört zu seinen selbstverständlichen Bestandteilen. Formale Schranken hat daher
b
A: Schranken hat
die Vertragsfreiheit nur insofern, als Verträge und Gemeinschaftshandeln überhaupt nicht gegen das sie legitimierende
c
A: nicht gegen das hier zugrunde liegende
Naturrecht selbst verstoßen, also nicht die ewigen
e
In B folgt: 〈Normen〉 die
unverjährbaren Freiheitsrechte antasten dürfen,
d
A: die unverjährbaren Freiheitsrechte antasten können,
möge es sich nun um die privaten Abmachungen der einzelnen
g
B: einzelnen,
oder um das anstaltsbezogene
h
B: um 〈Fügsamkeit gegenüber dem〉 das anstaltsbezogenen
Handeln der Verbandsorgane
24
Gemeint ist ein Handeln der „Anstaltsorgane“ oder der „Anstaltsgenossen“, das auf die Satzung, Änderung und Durchführung der „Anstaltsordnungen“ (im Staat z. B. des öffentlichen Rechts) ausgerichtet ist; zur Terminologie vgl. Weber, Kategorien, S. 270 f., 289.
und die Fügsamkeit der Mitglieder ihm gegenüber
f
A: private Sphäre des einzelnen, oder um das anstaltsbezogene Handeln der Verbandsorgane
handeln. Man kann sich gültig weder in die politische noch in die privatrechtliche Sklaverei begeben. Aber im Übrigen kann keine Satzung gültig die freie Verfügung des Einzelnen über seinen Besitz und seine Arbeitskraft beschränken.
i
Fehlt in A.
Zum Beispiel ist deshalb
j
Fehlt in A.
jeder gesetzliche „Arbeiterschutz“, also jedes
k
A: Arbeiterschutz durch
Verbot bestimmter Inhalte des „freien“ Arbeitsvertrages,
l
Komma fehlt in A.
ein Eingriff in die Vertragsfreiheit, und die Judikatur des höchsten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten hat daher bis in die jüngste Zeit daran festgehalten: daß solche Bestimmungen schon rein formal,
m
Fehlt in A.
auf Grund der naturrechtlichen Präambeln der Verfassungen nichtig seien.
25
Weber hat sich darüber vermutlich in den einschlägigen Arbeiten Walter Loewys, eines Schülers von Georg Jellinek, orientiert; vgl. Loewy, Walter, Die bestrittene Verfassungsmäßigkeit der Arbeitergesetze in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. – Heidelberg: C. Winter 1905 (hinfort: Loewy, Verfassungsmäßigkeit); ders., Zur Frage [601]der Beschränkung der legislativen Gewalt und im besonderen der Arbeitergesetzgebung durch das richterliche Prüfungsrecht in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 22, 1906, S. 721–726.
Materialer Maßstab aber für das, was natur[601]rechtlich legitim ist, sind „Natur“ und „Vernunft“. Beide und die
n
[601]A: werden in den
aus ihnen ableitbaren Regeln: allgemeine
o
A, B: allgemeinen
Regeln des Geschehens und allgemein geltende
q
B: geltenden
Normen also, werden als zusammenfallend angesehen; die Erkenntnisse
p
A: geltenden Normen, als identisch angesehen. Die Erkenntnis
der menschlichen „Vernunft“ gelten als identisch mit der „Natur der [WuG1 498]Sache“:
26
In der Rechtsquellenlehre und Zivilrechtsdogmatik geläufiger Topos; vgl. die Literatur bei Gierke, Deutsches Privatrecht I, S. 182, Anm. 19. In mehr oder minder deutlich ausgesprochener Distanz zum ewig-unveränderlichen Naturrecht bietet er mit seiner scheinbar relativierenden Anpassung an die wechselnden Lebens- und Sachverhältnisse gleichwohl ein Einfallstor für jenes „Naturrecht des historisch Gewordenen“ und „Werdenden“, durch welches gerade die naturrechtsfeindliche historische Rechtsschule mit diesem verbunden blieb.
der „Logik der Dinge“, wie man das heute ausdrücken würde; das Geltensollende gilt
r
A: würde, das Geltensollende
als identisch mit dem faktisch im Durchschnitt überall Seienden;
s
A: Seienden,
die durch logische Bearbeitung von Begriffen: juristischen oder ethischen, gewonnenen
t
A: zu gewinnenden
„Normen“ gehören im gleichen Sinn
a
A: ebenso
wie die „Naturgesetze“ zu denjenigen [A 21][B 15]allgemein verbindlichen Regeln, welche „Gott selbst nicht ändern kann“
27
Die Formulierung stammt von Hugo Grotius: „Est autem jus naturale adeo immutabile, ut ne a Deo quidem mutari queat“ (Grotius, Hugo, De iure belli ac pacis libri tres. In quibus jus naturae & gentium, item juris publici præcipua explicantur, editio novissima cum annotatis auctoris, ex prostrema ejus ante obitum cura. – Amsterdam: Jansson, Waesberg 1680, lib. 1, c. 1,10,5).
und gegen welche eine Rechtsordnung sich nicht aufzulehnen versuchen darf. Der Natur der Sache und dem Grundsatz der Legitimität erworbener Rechte entspricht zum Beispiel nur die Existenz des auf dem Wege des freien Güteraustauschs zur Geldfunktion gelangten, also des metallischen Geldes.
28
Die Vorstellung, nach der allein dem Metallgeld durch intrinsische Wertzuschreibung der Tauschpartner die Geldfunktion zuwächst, entspricht der geldtheoretischen Auffassung des sog. Metallismus. Sie wird kontrastiert von einer Lehre, die – wie Knapps „staatliche Theorie des Geldes“ – das Geld als eine durch staatliche Rechtssatzung geschaffene rein nominale Werteinheit betrachtet, ganz unabhängig von seiner materiellen Form und Stofflichkeit („Nominalismus“).
Eine Rechtsordnung hat daher z. B.
b
Fehlt in A.
die naturrechtliche Pflicht, den Staat – wie gelegentlich noch im 19. Jahrhundert von Fanatikern behauptet worden ist
29
Der Bezug war nicht aufzuklären.
c
Fehlt in A.
lieber [602]zugrunde gehen zu lassen, als den
d
[602]A: seinen
legitimen Bestand des Rechts
e
Fehlt in A.
durch die Illegitimität der
f
In A folgt: eigenmächtigen
„künstlichen“ Schaffung von Papiergeld zu beflecken. Denn eine Verletzung legitimen Rechts
h
B: Rechtsverletzung > Verletzung legitimen Rechts
hebt den „Begriff“ des Staates auf.
g
Fehlt in A.
Erweichungen dieses Formalismus entstanden
i
A: entstehen
im Naturrecht auf verschiedenem Wege. Zunächst mußte es, um mit der bestehenden Ordnung überhaupt Beziehungen zu gewinnen,
j
A: es
legitime Erwerbsgründe von Rechten akzeptieren, welche aus der Vertragsfreiheit nicht ableitbar waren.
k
A: sind.
Vor allem den Erwerb kraft Erbrechts. Da die mannigfachen Versuche, das Erbrecht naturrechtlich zu begründen, durchweg nicht formalrechtlichen, sondern rechtsphilosophischen Charakters sind, lassen wir sie hier ganz beiseite. Fast immer ragen letztlich materiale Motive hinein, noch öfter aber höchst künstliche Construktionen.
l
Fehlt in A.
30
[602] Zu denken ist hier etwa an die Verbundenheit der einzelnen Familienmitglieder über die verschiedenen Generationen, Haupt- und Seitenlinien hinweg, wie sie etwa noch dem Erbrecht des BGB zugrunde liegt; vgl. Radbruch, Grundzüge, S. 131 f. Oder auch – soweit das Erbrecht römischen Rechtsbegriffen und -institutionen entspricht – an die verbreitete Vorstellung vom römischen Recht als absolutem, als Natur-Recht; vgl. dazu Bergbohm, Karl, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie. – Leipzig: Duncker & Humblot 1892, S. 345 (hinfort: Bergbohm, Rechtsphilosophie).
Zahlreiche andere Institutionen des geltenden Rechts ferner
m
A: aber
waren lediglich praktisch utilitarisch,
n
In A folgt: also material,
nicht aber formal, zu legitimieren. Durch deren „Rechtfertigung“ glitt die naturrechtliche „Vernunft“ leicht
o
A: Dadurch glitt die naturrechtliche Vernunft aber
überhaupt auf die Bahn utilitarischer Betrachtungsweise, und dies äußerte sich in der Verschiebung des Begriffs des „Vernünftigen“. Beim rein formalen Naturrecht ist das Vernünftige das aus ewigen Ordnungen der Natur und der Logik – beides wird gern ineinandergeschoben –
p
Fehlt in A.
Ableitbare. Aber namentlich der englische Begriff des „reasonable“ barg von Anfang an
q
Fehlt in A.
auch die Bedeutung: „rationell“ im Sinn von „praktisch zuträglich“ in sich
r
Fehlt in A.
. Darauf ließ sich der Schluß aufbauen: das praktisch zu absurden Konsequenzen Führende könne nicht das durch Natur und Vernunft gewollte Recht
s
A: Gewollte
sein,
31
Vgl. hierzu oben, S. 459 mit Anm. 68.
und dies bedeutete das ausdrückliche
t
Fehlt in A.
Hineintragen [603]materialer Voraussetzungen in den Begriff der Vernunft, die ja freilich der Sache nach latent von jeher in ihm lebendig gewesen
a
[603] Fehlt in A.
waren. Tatsächlich hat mit Hülfe dieser Verschiebung jenes Begriffes z. B. der Supreme Court
b
A: der höchste Gerichtshof
der Vereinigten Staaten sich in der neuesten Zeit sehr weitgehend der Gebundenheit an das formale
c
Fehlt in A.
Naturrecht zu entziehen gewußt und sich die Möglichkeit verschafft, z. B. die Gültigkeit gewisser Teile der sozialen Gesetzgebung anzuerkennen.
32
[603] Mit zunehmendem Umfang der Arbeits- und Sozialgesetzgebung entwickelte sich in den Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende auch eine entsprechende höchstrichterliche Judikatur sowohl einzelstaatlicher Gerichte wie des Supreme Court. Im Mittelpunkt stand das wechselseitige Schrankenverhältnis zwischen dem im XIV. Verfassungszusatz garantierten Schutz von „liberty“ (vor allem der Vertragsfreiheit) und „property“ einerseits und legislativen Maßnahmen zum Schutz einzelner bzw. der Allgemeinheit andererseits. Der Supreme Court verschaffte schließlich – wie andere Gerichte – dem „Prinzip der reasonableness“ als Maßstab für den verfassungsgemäßen gesetzgeberischen Eingriff in das Freiheits- und Eigentumsrecht Anerkennung; vgl. dazu Loewy, Verfassungsmäßigkeit (wie oben, S. 600, Anm. 25), bes. S. 54 ff., 63, 79; Freund, Öffentliches Recht (wie oben, S. 203, Anm. 31), S. 281 ff.
Prinzipiell aber wandelte sich das formale Naturrecht in ein materiales, sobald die Legitimität eines erworbenen Rechts nicht mehr an formal juristischen, sondern an material ökonomischen Merkmalen der Erwerbsart haftete. In Lassalles
d
A, B: Lasalles
System der erworbenen Rechte
33
Gemeint ist Lassalle, System.
wird noch [A 22][B 16]versucht,
e
Blatt A 22/ B 16 ist nur zur Hälfte beschrieben.
ein bestimmtes Problem naturrechtlich mit formalen Mitteln, aber mit denen der Hegel’schen Entwicklungslehre,
f
A: Mitteln
zu entscheiden. Die Unantastbarkeit der auf Grund einer positiven Satzung formal
g
A: Gesetzgebung
legitim erworbenen Rechte wird vorausgesetzt; aber an dem
h
A: vorausgesetzt, und nur an dem wichtigen
Problem der sogenannten rückwirkenden Kraft der Gesetze und der damit zusammenhängenden Frage der Entschädigungspflicht des Staates im Falle der Aufhebung von Privilegien tritt die naturrechtliche
i
Fehlt in A.
Schranke dieses Rechtspositivismus hervor.
34
So sieht Lassalle, System, Theil 1, S. 48 ff., 184 ff., Rechtsphilosophie und Rechtswissenschaft vor das Dilemma gestellt, daß einerseits durch individuelle Handlungen [604]Rechte naturrechtlich legitim erworben und durch Rechtssätze positiviert werden, in die folglich durch spätere Satzung nicht rückwirkend eingegriffen werden darf, während andererseits das rechtsändernde jüngere Gesetz Resultat der ebenfalls naturrechtlich begründeten Rechtsfortbildung ist, die den früheren Rechtsstatus aufhebt und den entschädigungslosen Eingriff gestattet.
Der hier nicht interessierende [604]Lösungsversuch ist durchaus formalen und naturrechtlichen Charakters.
j
A: Sie ist formalen Charakters. Erworbene Rechte, deren Inhalt oder deren Entstehungsgrund eine neue Rechtsordnung überhaupt nicht mehr als legitim anerkennt, erlöschen ohne Entschädigungspflicht, andere nicht. In der Tat ist die Nationalversammlung von 1789 und sind auch die Bauernbefreiungs- und Ablösegesetze in gewissem Umfang nach ähnlichen Prinzipien verfahren.
35
Lassalles Lösungsversuch knüpft an Savignys formale Unterscheidung von Gesetzesklassen an, deren rückwirkende bzw. nicht-rückwirkende Kraft sich prinzipiell nach der „inneren Natur“ der betroffenen Rechte entscheidet (vgl. Lassalle, System, Theil 1, bes. S. 11–20). So sollen nach Savigny Rechtsregeln, die sich auf den Erwerb von Rechten beziehen, dem Grundsatz der Nichtrückwirkung unterliegen, während solchen, die sich auf den materiellen Bestand von Rechten (ihr „Dasein“) beziehen, regelmäßig rückwirkende Kraft beigelegt wird (vgl. Savigny, Friedrich Carl von, System des heutigen römischen Rechts, Band 8. – Berlin: Veit und Co. 1849, S. 373–406, 514–522, 532–540).
Der entscheidende Umschlag zum materialen Naturrecht knüpft vornehmlich an sozialistische Theorien
k
[604]A: an den sozialistischen Glauben
von der ausschließlichen Legitimität des Erwerbs durch eigene Arbeit an. Denn damit ist nicht nur dem entgeltlosen Erwerb durch Erbrecht oder garantierte Monopole, sondern dem formalen Prinzip der Vertragsfreiheit und der grundsätzlichen Legitimität aller durch Vertrag erworbenen Rechte über[WuG1 499]haupt abgesagt, weil
l
A: abgesagt. Denn
alle Appropriation von Sachgütern nun material daraufhin geprüft werden muß,
m
A: mußte nun materiell daraufhin geprüft werden,
wieweit sie auf Arbeit als Erwerbsgrund ruhe.
n
A: ruht.
[A [2]4][B 8]Natürlich
p
Am linken oberen Rand steht von fremder Hand die Notiz: Das gehört wohl an den Schluß von § 6
haben ebenso das formale rationalistische Naturrecht der Vertragsfreiheit wie dies materiale Naturrecht der ausschließlichen Legitimität des Arbeitsertrags sehr starke Klassenbeziehungen. Die Vertragsfreiheit und alle Sätze über das legitime Eigentum, welche daraus abgeleitet wurden, waren
q
B: war
selbstverständlich das Naturrecht der Marktinteressenten, als der an endgültiger Appropriation der Produktionsmittel Interessierten.
o
A: eindeutigen, so doch ziemlich intimen Beziehung. Daß dies für das fundamentale rationalistische Naturrechtsdogma von der im Prinzip unbeschränkten Vertragsfreiheit galt und für alle einzelnen Sätze über Eigentum und andere Freiheiten der Einzelnen, welche daraus abgeleitet wurden, liegt auf der Hand: Es war in erster Linie Marktinteressenten, Interessenten der Erwerbswirtschaft und also der endgültigen Appropriation der Produktionsmittel, welche sich um diese Fahne scharten. Der Blatt A [2]4/ B 8 unmittelbar vorausgehende Satzanschluß im Typoskript ist nicht nachgewiesen.
Daß [605]umgekehrt das Dogma von der spezifischen
r
[605] Fehlt in A.
Unappropriierbarkeit des Grund und Bodens, weil ihn
s
A, B: ihm
niemand durch seine Arbeit produziert habe,
36
[605] Die klassische Formulierung dieses Satzes in Verbindung mit der Zustimmung zum unbedingten Eigentum an den Produkten menschlicher Tätigkeit findet sich bei Mill, John Stuart, Grundsätze der politischen Ökonomie (John Stuart Mill’s Gesammelte Werke, autorisierte Übersetzung unter Redaction von Theodor Gomperz, Band 5), Band 1. – Leipzig: Fues 1881, S. 242: „Indem das wesentliche Princip des Eigenthums darin besteht, daß allen Personen dasjenige gesichert werde, was sie durch ihre Arbeit hervorgebracht und durch ihre Enthaltsamkeit angesammelt haben, kann dies Princip keine Anwendung auf dasjenige finden, was nicht der Ertrag der Arbeit ist, nämlich das rohe Material der Erde.“ Bodenverbesserungen jedweder Art müssen dann aber konsequenterweise Eigentumsrechte schaffen können (vgl. ebd., S. 242 ff.).
also:
t
Doppelpunkt fehlt in A.
der Protest gegen die Schließung der Bodengemeinschaft, der Klassenlage ländlicher proletarisierter Bauern entspricht, deren verengerter Nahrungsspielraum sie unter das Joch der Bodenmonopolisten zwingt, ist klar, und ebenso, daß diese Parole speziell da pathetische Macht gewinnen muß, wo für den Ertrag der landwirtschaftlichen Gütererzeugung wirklich
u
A: die landwirtschaftliche Gütererzeugung
noch vorwiegend die natürliche Beschaffenheit des Bodens ausschlaggebend
a
In A folgt: ist
und zugleich die Bodenappropriation wenigstens nach innen noch nicht geschlossen ist, wo ferner ein rationaler „Großbetrieb“ als Arbeitsorganisation in der Landwirtschaft fehlt, die Rente der Grundherren vielmehr entweder reine Pachtrente ist oder doch mit Bauerninventar und Bauerntechnik herausgewirtschaftet wird, wie sehr vielfach auf dem Gebiet der „schwarzen Erde“.
37
Gemeint sind schwere rententragende Böden.
Positiv gewendet ist aber dieses kleinbäuerliche Naturrecht vieldeutig, denn es kann
b
A: und beendet ist, wie im russischen Mir. Positiv gewendet kann dieses Naturrechtsdogma
sowohl 1. ein Recht auf Bodenanteil im Ausmaß
c
A: Maße
der vollen Ausnutzung der eigenen Arbeitskraft (russisch: „trudowaja norma“),
d
A: Arbeitskraft,
wie 2. ein Recht auf Bodenbesitz im Ausmaß der traditionell unentbehrlichen Bedarfsdeckung (russisch: „potrebitelnaja norma“) – also in der üblichen Terminologie
e
A: vollen traditionellen Bedarfsdeckung – also
entweder ein „Recht auf Arbeit“ oder ein „Recht auf das Existenzminimum“ – und, mit beiden verbunden, 3. das
f
A: verbunden, unter Umständen 3. das bei allen Proletariern entwickelte
Recht auf den vollen Arbeitsertrag in sich schließen.
38
Die hier und im folgenden erörterten sozialistischen ökonomischen Grundrechte: [606]das Recht auf den vollen Arbeitsertrag, auf Existenz und auf Arbeit, hat begriffs- und dogmengeschichtlich namentlich Menger, Anton, Das Recht auf den vollen Arbeitsertrag in geschichtlicher Darstellung, 4. Aufl. – Stuttgart, Berlin: J. G. Cotta Nachfolger 1910, bes. S. 6–25, 151–164, untersucht.
Die nach heute absehbarer Wahrschein[606]lichkeit letzte
h
In B folgt: 〈große〉
naturrechtliche Agrarrevolution, welche die Welt gesehen haben wird: die russische des letzten Jahrzehnts, hat sich an den unaustragbaren Gegensätzen jener beiden möglichen Naturrechtsnormen unter einander und gegenüber den historisch oder realpolitisch oder praktisch-ökonomisch oder endlich – in hoffnungsloser Confusion, weil im Widerspruch mit den eignen Grunddogmen – marxistisch-evolutionistisch motivierten
i
B: bedingten > motivierten
Bauernprogrammen in sich selbst auch rein ideell verblutet.
j
In B folgt: 〈Von solchen Naturrechten der Individuen〉
39
Weber bezieht sich auf die letztlich gescheiterten revolutionären Bauernaufstände in Rußland 1905/06. Über die inneren Gegensätze jener Naturrechtsnormen bemerkt er in seiner Studie „Rußlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus“ (1906), MWG I/10, S. 517: „Die ,trudowaja norma‘ geht vom ,Recht auf Arbeit‘, die ,potrebitelnaja norma‘ vom ,Recht auf Existenz‘ aus. Die erstere setzt, wie das ,Recht auf Arbeit‘ selbst, den Gedanken voraus, daß Zweck der Wirtschaft der Erwerb sei, sie ist ein revolutionäres Kind des Kapitalismus; die letztere behandelt als Zweck der Wirtschaft die Gewinnung des ,Bedarfs‘, ihre gedankliche Grundlage ist der ,Nahrungs‘standpunkt.“ – Die teilweise widersprüchlichen Vorstellungen zur Sozialisierung des gesamten Grund und Bodens und zur Schaffung bäuerlichen Grundbesitzes analysiert Max Weber anhand der agrarpolitischen Parteipositionen und Bauernprogramme (vgl. ebd., S. 188–252, bes. 237 ff., S. 237, Webers Fn. 73, S. 240 f., Webers Fn. 76a, S. 505 ff., bes. 516 ff., S. 538 f., Webers Fn. 223).
Jene drei „sozialistischen“ Individualrechte haben bekanntlich auch in der Ideenwelt des gewerblichen Proletariats ihre Rolle gespielt. Von ihnen sind das erste und zweite sowohl unter handwerksmäßigen
k
B: kleinbürgerlichen > handwerksmäßigen
wie unter kapitalistischen Existenzbedingungen der Arbeiterschaft theoretisch sinnvoll möglich, das dritte dagegen nur unter handwerksmäßigen, unter kapitalistischen gar nicht oder doch nur, wenn man sich eine streng traditionelle Innehaltung bestimmter Kostpreise beim Tausch universell durchgeführt (und durchführbar) denkt. Auf dem Boden der Landwirtschaft aber ebenso nur bei kapitalloser Produktion
l
B: kleinbäuerlicher Eigenproduktion > kapitalloser Produktion
. Denn kapitalistische
g
A: gewähren. Es ist also vieldeutig, und soweit das letztgenannte Recht in Betracht kommt, ist der Anspruch streng ge[606]nommen nur unter den Bedingungen reiner Eigenwirtschaft, jedenfalls aber nur bei streng traditioneller Innehaltung der Kostpreise beim Tausch gedanklich eindeutig vollziehbar: die wachsende
Produktionsteilung verschiebt sofort die Zurechnung des Ertrags des landwirtschaftlichen
m
A: des
Bodens von der direkten landwirtschaftlichen Produkti[607]onsstätte hinweg in die Werkstätten landwirtschaftlicher Werkzeuge, künstlicher Düngemittel usw. und auf dem Gebiet des Gewerbes gilt das gleiche. Wo aber überhaupt Verwertung der Produkte auf einem Markt mit freier Conkurrenz den Ertrag bestimmt, verliert der Inhalt jenes Rechts des Einzelnen unvermeidlich den Sinn eines – gar nicht mehr existierenden – individuellen „Arbeitsertrags“ und kann nur als
n
[607]A: Vollends vieldeutig wird sein Inhalt, wo Verwendung auf dem Markt den Ertrag bestimmt, denn dadurch wird das Individualrecht des Einzelnen unvermeidlich zu einem
Kollektivanspruch der in gemeinsamer Klassenlage Befindlichen
p
B: befindlichen
Sinn behalten. Praktisch wird es dann zu einem Anspruch auf den „living wage“, also zu einer Spielart des „Rechts auf das durch die üblichen Bedürfnisse bestimmte
q
B: bestimmten
Existenzminimum“,
40
[607] Als zentrales Konzept taucht die Idee des „Existenzminimums“ im Kontext der katholischen Soziallehre auf – mit Blick auf Webers weitere Argumentation ein nicht unwahrscheinlicher Bezug – so in Papst Leos XIII. Enzyklika „Rerum Novarum“. Hieran anschließend verfaßt John A. Ryan, A Living Wage. Its Ethical and Economie Aspects. – New York: Macmillan 1906.
ähnlich dem von der kirchlichen Ethik geforderten „justum pretium“
41
Die kanonistische Lehre vom „gerechten Preis“ (iustum pretium) wurde von der Spätscholastik, maßgeblich durch Thomas von Aquino (1225–1274), seit dem 13. Jahrhundert ausgebildet. Im Anschluß an den aristotelischen Gedanken der Tauschgerechtigkeit galten zunächst der „Gebrauchswert“ der Produkte und das „standesgemäße Auskommen“ der Händler oder Produzenten als Maßstab für den „gerechten Preis“.
des Mittelalters, welches im Fall des Zweifels durch Prüfung (und eventuell: Probe): ob bei dem betreffenden Preise der betreffende Handwerker seinen standesgemäßen Lebensunterhalt finden könne, bestimmt wurde.
o
A: befindlichen umgestempelt. Allen diesen Naturrechtsansprüchen ist gemeinsam, daß eigene Arbeit als einzig legitime Quelle von Ertrag und Güterbesitz irgendwelcher Art gilt. Der charakte| Die Fortsetzung des Satzes im Typoskript ist nicht nachgewiesen.
[A 25][B 9][WuG1 500]Das „justum pretium“ selbst, der wichtigste naturrechtliche Einschlag der kanonistischen Wirtschaftslehre, ist ganz allgemein dem gleichen Schicksal verfallen.
r
Fehlt in A.
Man kann mit Fortschreiten der Marktvergemeinschaftung
s
Fehlt in A.
in der kanonistischen Literatur bei der Erörterung der Bestimmungsgründe des „justum pretium“
t
B: justum „pretium“
die allmähliche Zurückdrängung dieses dem „Nahrungsprinzip“
b
B: „Nahrungsstandpunkt“ > „Nahrungsprinzip“
entsprechenden Arbeitswertpreises
a
A: Arbeitswertprinzipes
durch den Konkurrenzpreis als [608]„natürlichen“ Preis verfolgen.
42
[608] Grundlegend für Webers Argumentation ist hier die Darstellung der kanonistischen Preis- und Wucherlehre sowie ihrer Anpassung an die Wirtschaftsentwicklung bei Endemann, Wilhelm, Studien in der romanisch-kanonistischen Wirtschafts- und Rechtslehre bis gegen Ende des siebenzehnten Jahrhunderts, 2 Bände. – Berlin: J. Guttentag (D. Collin) 1874/83, bes. Band 1, S. 30–40 und Band 2, S. 29–58 (hinfort: Endemann, Wirtschafts- und Rechtslehre I und II); vgl. etwa noch Kaulla, Rudolf, Die Lehre vom gerechten Preis in der Scholastik, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Band 60, 1904, S. 579–602, hier S. 595 ff.
Schon bei Antonin von Florenz hat dieser das entschiedene Übergewicht.
43
Weber bezieht sich hier wohl auf die verstreuten Adaptionen des kanonistischen Wucherverbots an die städtischen Marktverhältnisse in Antonins Werk über die Wucherlehre, wovon Endemann, Wirtschafts- und Rechtslehre II (wie oben, Anm. 42), S. 61, Beispiele gibt. – Vgl. auch Webers kurze Bemerkungen in: Protestantische Ethik I, S. 32.
Bei
c
[608]A: Übergewicht und bei
den Puritanern dominiert er natürlich
d
Fehlt in A.
vollends.
44
Beispielhaft für das puritanische Wirtschaftsethos steht der von Weber, Protestantische Ethik II, S. 86, zitierte Ausspruch des Calvinisten Richard Baxter: „Wenn Gott euch einen Weg zeigt, auf dem Ihr ohne Schaden für Eure Seele oder für andere in gesetzmäßiger Weise mehr gewinnen könnt, als auf einem anderen Wege und Ihr dies zurückweist und den minder gewinnbringenden Weg verfolgt, dann kreuzt Ihr einen der Zwecke Eurer Berufung (calling), Ihr weigert Euch, Gottes Verwalter (stewar[d]) zu sein und seine Gaben anzunehmen, um sie für ihn gebrauchen zu können, wenn er es verlangen sollte. Nicht freilich für Zwecke der Fleischeslust und Sünde, wohl aber für Gott dürft Ihr arbeiten, um reich zu sein.“
Der als „unnatürlich“ verwerfliche Preis war nunmehr ein solcher,
e
A: verwerfbare Preis ist jeder solche,
welcher nicht auf freier, d. h. durch Monopole oder andere willkürliche menschliche Eingriffe ungestörter, Marktkonkurrenz beruht.
45
Zum Kampf des Puritanismus, schon Cromwells und des langen Parlaments, gegen die mit der Krone verbündeten Monopolisten vgl. Levy, Grundlagen (wie oben, S. 569, Anm. 43), S. 32–39, und bereits Weber, Protestantische Ethik I, S. 44 mit Webers Fn. 2.
Dieser Satz hat in der ganzen puritanisch beeinflußten angelsächsischen Welt bis in die Gegenwart hinein seine Wirkungen geübt. Er hat sich, kraft seiner naturrechtlichen Dignität, als eine immerhin viel tragfähigere Stütze
g
In B folgt: 〈der Ideologien [??] von der „freien〉
des Ideals der „freien Concurrenz“ erwiesen, als die rein utilitarischen ökonomischen Theorien Bastiat’schen Gepräges
46
Vgl. den Eintrag „Bastiat“ im Personenverzeichnis.
auf dem Continent. –
f
Fehlt in A.
Alle Naturrechtsdogmen haben die Rechtsschöpfung ebenso wie die Rechtsfindung mehr oder minder erheblich beeinflußt. Sie haben die ökonomischen Bedingungen ihrer Entstehung teilweise [609]beträchtlich überdauert und bildeten
h
[609]A: bilden
eine selbständige Komponente der Rechtsentwicklung. Formal steigerten sie zunächst die Neigung zum logisch abstrakten Recht, überhaupt die Macht der Logik im Rechtsdenken. Material war ihr Einfluß überaus verschieden stark, überall aber bedeutend.
i
Fehlt in A.
Es ist hier nicht der Ort, dies und die Wandlungen und Kompromisse der verschiedenen naturrechtlichen Axiome im einzelnen zu verfolgen. Nicht nur die revolutionären, sondern auch schon
j
Fehlt in A.
die Kodifikationen des vorrevolutionären rationalistischen modernen Staats und Beamtentums waren von Naturrechtsdogmen beeinflußt und leiteten die spezifische Legitimität des von ihnen geschaffenen Rechts letztlich weitgehend aus seiner „Vernünftigkeit“ ab. Wir sahen schon,
47
[609] Siehe oben, S. 602 f.
wie leicht an der Hand eben dieses Begriffs der Umschlag aus dem ethisch und juristisch Formalen
k
A, B: formalen
in das utilitarisch und technisch Materiale
l
A, B: materiale
sich vollziehen konnte und vollzog. Dieser Umschlag lag freilich,
m
Fehlt in A.
aus Gründen, die wir kennen lernten,
48
Siehe oben, S. 511 ff., 563–566 und S. 585–588.
den vorrevolutionären patriarchalen Mächten besonders nahe, während umgekehrt die unter dem Einfluß der bürgerlichen Klassen sich vollziehenden Kodifikationen der Revolution
n
In A folgt: wieder
die formalen naturrechtlichen Garantien des Individuums und seiner Rechtssphäre gegenüber der politischen Herrschaftsgewalt betonten und steigerten. Das Emporwachsen des Sozialismus bedeutete dann zwar zunächst
o
Fehlt in A.
die steigende Herrschaft materialer Naturrechtsdogmen in den Köpfen der Massen und mehr noch in den Köpfen ihrer der Intellektuellenschicht angehörigen Theoretiker. Einen direkten Einfluß auf die Rechtsprechung haben aber
p
Fehlt in A.
diese materialen Naturrechtsdogmen nicht erlangen können, schon weil sie, ehe sie überhaupt dazu befähigt gewesen wären, schon wieder durch die zunehmend
q
Fehlt in A.
rasch arbeitende positivistische und relativistisch-evolutionistische Skepsis eben dieser Intellektuellenschichten
r
A: Skepsis
zersetzt wurden.
s
In B folgt: 〈Auf der einen Seite des Comte’schen Positivismus, und des 〈historischen〉 „organischen“ Historismus auf der andren〉
Unter dem Einfluß dieses antimetaphysischen Radikalismus suchte die eschatologische Erwartung der Massen [610]Anhalt an Prophetien statt an Postulaten. Auf dem Boden der revolutionären Rechtstheorien wurde infolgedessen die Naturrechtslehre zerstört durch die evolutionistische Dogmatik des Marxismus. Auf der Seite der offiziellen Wissenschaft wurde sie teils durch Comte’sche Entwicklungsschemata, teils durch die „organischen“ Entwicklungs-Theoreme des Historismus vernichtet. Die gleiche Wirkung hatte auch der Einschlag von „Realpolitik“, welchen
a
[610] In B folgt: 〈– in Deutschland unter Laband’s Einfluß – vor〉
unter dem Eindruck
b
B: Einfluß > Eindruck
der modernen Machtpolitik vor Allem die Behandlung
c
B: Theorie > Behandlung
des öffentlichen Rechts annahm.
t
Fehlt in A.
49
[610] Weber spielt hier auf den ideologischen Niederschlag der Bismarckschen Politik in der Staatsrechtslehre an, den Hugo Preuss rückblickend so skizzierte: „[…] die Ära seiner [Bismarck, Hg.] materiellen und geistigen Herrschaft bezeichnet zugleich das große Interregnum in der allgemeinen Staatslehre; der Herrschaft seiner ,Realpolitik‘ entspricht die Herrschaft des staatsrechtlichen Positivismus“ (Preuss, Hugo, Ein Zukunftsstaatsrecht, in: Archiv des öffentlichen Rechts, Band 18, 1903, S. 373–422, Zitat S. 375). Diesen aber repräsentierte – worauf der gestrichene handschriftliche Zusatz Webers: „in Deutschland unter Laband’s Einfluß“, hinweist – an führender Stelle Paul Laband, dessen „Reichsstaatsrecht“ (vgl. oben, S. 275, Anm. 4) bis weit in die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts das dominierende Staatsrechtssystem blieb.
Die Methodik der publizistischen
d
A: juristische Methodik der
Theoretiker
50
Gemeint sind die „Theoretiker“ des öffentlichen Rechts bzw. Staatsrechts.
verfuhr von jeher und verfährt vollends heute in weitgehendem Maße so:
e
A: so,
daß sie als Konsequenz einer bekämpften juristischen Konstruktion praktisch-politisch absurd scheinende
f
A: praktisch absurde
Folgerun[A 26][B 10]gen aus derselben aufzeigt und sie damit als erledigt betrachtet.
51
Zu dieser Art von „Brückenprinzip“ vgl. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 17, mit dem Grundsatz, „daß das politisch Unmögliche nicht Gegenstand ernsthafter juristischer Untersuchung sein kann. […] Alles Recht soll gelten, d. h. die Möglichkeit besitzen, in den Erscheinungen verwirklicht zu werden“. – Über das damit zusammenhängende Problem der sog. Verfassungslücken vgl. oben, S. 234–238.
Diese Methode ist derjenigen des formalen Naturrechts direkt entgegengesetzt. Sie [WuG1 501]enthält andererseits auch nichts von materialem Naturrecht in sich. Im Übrigen arbeitete die kontinentale Jurisprudenz mit dem bis in die jüngste Vergangenheit im Wesentlichen unangefochtenen Axiom von der logischen „Geschlossenheit“ des positiven Rechts
h
B: Rechtssystems > positiven Rechts
. Ausdrücklich verkündet ist es wohl zuerst von Bentham,
52
Bentham, General View, S. 205, fordert die Geschlossenheit der kodifizierten Rechtsordnung („integrality of the code of laws“): „It is not sufficient that a code of laws has been well digested with regard to its extent; it ought also to be complete. […] A complete digest: such is the first rule. Whatever is not in the code of laws, ought not to [611]be law.“ – Vorläufer der Benthamschen Lehre finden sich freilich schon unter streng legalistisch denkenden Juristen des 17. und 18. Jahrhunderts und den von ihnen inspirierten vorrevolutionären naturrechtlichen Kodifikationen (besonders in Preußen und Österreich), wie die vorsichtige Formulierung Webers („ausdrücklich“) andeutet; vgl. darüber Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 155–157, sowie die Kontroverse mit Lukas: Hatschek, Julius, Bentham und die Geschlossenheit des Rechtssystems, in: Archiv des öffentlichen Rechts, Band 24, 1909, S. 442–459; Lukas, Josef, Benthams Einfluß auf die Geschlossenheit der Kodifikation, in: Archiv des öffentlichen Rechts, Band 26, 1910, S. 67–115; Hatschek, Julius, Bentham und die Geschlossenheit des Rechtssystems. Ein Schlußwort, in: Archiv des öffentlichen Rechts, Band 26, 1910, S. 458–469.
im Pro[611]test gegen die Präjudizienwirtschaft und Irrationalität des Common Law. Gestützt wurde es indirekt durch alle jene Richtungen, welche alles überpositive Recht, insbesondre das Naturrecht, ablehnten, insofern also auch durch die historische Schule.
g
Fehlt in A.
Gänzlich auszurotten ist freilich der latente
i
[611] Fehlt in A.
Einfluß naturrechtlicher, uneingestandener, Axiome auf die Rechtspraxis schwerlich.
53
Dies betrifft generell eine als „equity“ bzw. „rechtsschöpferische Billigkeit“ auftretende Residualform des Naturrechts, aber etwa auch naturrechtliche Rückstände in Rechtsbegriffen wie der „Natur der Sache“; vgl. u. a. Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 158 f., und weiterhin oben, S. 601 mit Anm. 26.
Aber nicht nur infolge der unausgleichbaren Kampfstellung formaler und materialer Naturrechtsaxiome gegeneinander und nicht nur infolge der Arbeit der verschiedenen Formen der Entwicklungslehre,
j
A: historischen Schule,
sondern auch infolge der fortschreitenden Zersetzung und Relativierung aller metajuristischen Axiome überhaupt,
k
A: überjuristischen Axiome,
teils durch den juristischen Rationalismus selbst,
l
A: Rationalismus
teils durch die Skepsis des modernen Intellektualismus überhaupt,
m
A: Intellektualismus,
ist die naturrechtliche Axiomatik heute
n
Fehlt in A.
in tiefen Mißkredit geraten und hat sie jedenfalls die Tragfähigkeit als Fundament eines
o
A: des
Rechtes verloren. Verglichen mit dem handfesten Glauben an die positive religiöse Offenbartheit einer Rechtsnorm oder an die unverbrüchliche
p
A, B: Unverbrüchliche
Heiligkeit einer uralten Tradition sind auch die überzeugendsten[,] durch Abstraktion gewonnenen Normen für diese Leistung zu subtil geartet.
q
A: ein zu subtiler Unterbau.
Der Rechtspositivismus ist infolgedessen in vorläufig unaufhaltsamem Vordringen. Das Schwinden der alten Naturrechtsvorstellungen hat
r
A: aber hat zwar
die Möglichkeit, das Recht als solches kraft seiner immanenten Qualitäten mit einer überempirischen Würde auszustatten, prinzipiell vernichtet: es ist heute
s
Fehlt in A.
allzu greif[612]bar in der großen Mehrzahl und grade in vielen prinzipiell besonders wichtigen
t
[612]A: den prinzipiell wichtigsten
seiner Bestimmungen als Produkt und technisches Mittel eines Interessenkompromisses enthüllt. Aber eben dieses Absterben seiner metajuristischen
a
A: überjuristischen
Verankerung gehörte zu denjenigen ideologischen Entwicklungen, welche zwar die Skepsis gegenüber der Würde der einzelnen Sätze der konkreten Rechtsordnung steigerten, eben dadurch aber
b
A: dem konkreten Rechtssatz förderten,
die faktische Fügsamkeit in die nunmehr nur noch utilitarisch gewerthete
c
Fehlt in A.
Gewalt der jeweils sich als legitim gebarenden
d
A, B: gebährenden
Mächte im Ganzen außerordentlich förderten.
e
A: dagegen außerordentlich gefördert hat.
Vor allem innerhalb der Rechtspraktiker selbst. Die Berufspflicht der Wahrung bestehenden Rechts scheint die Rechtspraktiker generell in den Kreis der „conservativen“ Mächte einzureihen. Das trifft vielfach auch zu, aber in dem doppelten Sinn, daß der Rechtspraktiker sowohl dem Ansturm materialer Postulate von „unten“, im Namen „sozialer“ Ideale, wie von „oben“, im Namen patriarchaler Macht und Wohlfahrts-Interessen der politischen Gewalt, kühl gegenüberstehen wird. Indessen gilt dies nicht unbedingt[.] Den Anwälten speziell liegt, kraft ihrer direkten Beziehung zu den Interessenten und ihrer Qualität als erwerbender, sozial schwankend bewertheter Privatleute, die Rolle der Vertretung der Nichtprivilegierten und speziell der formalen Rechtsgleichheit nahe. – Schon in den Popolanen-Bewegungen der italienischen Communen,
54
[612] Gemeint sind die im 12. und 13. Jahrhundert in den italienischen Städten entstehenden politischen Sonderverbandsbildungen des „Volkes“, das – in Zunftverbänden organisiert – den Magnaten („ritterlich lebenden Adligen“) gegenüberstand; vgl. dazu Weber, Die Stadt, MWG I/22-5, S. 200.
dann in allen bürgerlichen Revolutionen der Neuzeit und weitgehend auch in den sozialistischen Parteien haben daher Advokaten und Juristen überhaupt eine hervorragende Rolle gespielt und in rein demokratischen politischen Verbänden (Frankreich, Italien, Vereinigte Staaten) sind sie, als die fachmäßig allein über die rechtlichen Möglichkeiten sachkundigen Techniker, als Honoratioren und als Vertrauensmänner ihrer Clientel die gegebenen Anwärter auf politische Carriere. Aber auch die Richter haben unter Umständen aus ideologischen Gründen[,] [613]aus Standessolidarität, gelegentlich auch aus materiellen Gründen, eine sehr starke Opposition gegen die patriarchalen Mächte gebildet[.] Die feste, regelhafte Bestimmtheit aller äußeren Rechte und Pflichten wird ihnen als ein um seiner selbst willen erstrebenswertes Gut erscheinen, und diese spezifisch „bürgerliche“ Grundlage ihres Denkens bedingte ihre entsprechende Stellungnahme in den politischen Kämpfen, welche um die Eindämmung der autoritären patrimonialen Willkür und Gnade geführt wurden. Aber je nach dem dabei der Nachdruck mehr auf die Thatsache der
g
[613]B: zweckmäßige > utilitarisch oder ethisch zweckmäßige > utilitarisch oder sozialethisch zweckmäßige > Thatsache der
„Ordnung“ als solcher
h
B: solche
oder mehr auf die Garantie [WuG1 502]und Sicherheit, welche sie der Sphäre des Einzelnen verleiht, die „Freiheit“[,] fiel (das Recht als „Reglement“ oder als Quelle „subjektiven Rechts“ gewerthet wurde) – um die Unterscheidung Radbruch’s zu akzeptieren
55
[613] Weber kennzeichnet hier mit Hilfe der Jellinekschen Unterscheidung von „Reglement“ und „subjektivem Recht“ die Position Radbruchs, für den Ordnung einmal „Rechtssicherheit“, zum anderen „subjektives Recht“ als Freiheit bedeutet (vgl. Radbruch, Grundzüge, S. 174 ff., 182 f.). Im Hinblick auf das Berufsbild des Richters ergab sich für den jungen Radbruch aus der Nähe zu den autoritären Gewalten die Schlußfolgerung, „daß der Richter Diener nicht der Gerechtigkeit, sondern nur der Rechtssicherheit sei, […], daß es wichtiger sein kann, daß dem Streite ein Ende gesetzt wird, als daß ihm ein gerechtes Ende gesetzt wird, daß das Dasein einer Rechtsordnung wichtiger als ihre Gerechtigkeit sein kann, daß die Gerechtigkeit die zweite große Aufgabe des Rechts ist, die nächste aber Rechtssicherheit, Ordnung, Friede“ (ebd., S. 183).
[,] konnte dann weiterhin, nachdem die „Regelhaftigkeit“ der sozialen Ordnung einmal durchgesetzt war, der Juristenstand mehr auf die Seite der autoritären oder der antiautoritären Gewalten treten. Aber nicht nur dieser Gegensatz, sondern vor Allem auch die alte Alternative zwischen formalen und materialen Rechtsidealen und das ökonomisch bedingte starke Wiedererwachen dieser letzteren, oben und unten, bedingten die Abschwächung der Oppositionsstellung der Juristen als solcher[.] Durch welche technischen Mittel es ferner den autoritären Gewalten gelingt, Widerstände innerhalb des Richtertums unschädlich zu machen, ist später zu erörtern.
56
Eine zusammenhängende Erörterung dieser Frage findet sich weder hier noch in den älteren herrschaftssoziologischen Grundrißtexten. Gelegentliche Ausführungen über die Wirkungen der Bürokratisierung des Richtertums (vgl. unten, S. 638) gehören zwar in diesen Zusammenhang, erfüllen aber kaum den Anspruch der verwiesenen Erörterung.
Unter den allgemeinen ideologischen Gründen [614]der Änderung
i
[614]B: Abschwächung > Änderung
jener Haltung der Juristen aber spielt das Schwinden des Naturrechtsglaubens eine bedeutende Rolle[.]
f
Fehlt in A.
Soweit der Juristenstand heute überhaupt typische ideologische Beziehungen zu den gesellschaftlichen Gewalten aufweist, fällt er –
j
A: er, ; B: er, –
verglichen sowohl
k
Fehlt in A.
mit den Juristen der englischen und französischen Revolutionszeit, wie überhaupt des Aufklärungszeitalters, auch
l
A: des Aufklärungszeitalters auch
innerhalb der patrimonialfürstlichen Despotien, der Parlamente und Gemeindekörperschaften, bis herab zum preußischen „Kreisrichterparlament“ der 60er Jahre
57
[614] In den zeitgenössischen Presse- und Politikeräußerungen (darunter solchen Bismarcks) – eher geringschätzige – schlagwörtliche Bezeichnung für das liberale „Oppositionsparlament“ der preußischen Verfassungskonfliktszeit (1862–66). Während der gesamten Konfliktsepoche bildeten richterliche Beamte ein starkes Kontingent des preußischen Abgeordnetenhauses, überwiegend auf Seiten der liberalen Fraktionen. Dazu zählten neben Richtern der ersten Instanz (Kreis- und Stadtgerichte) auch höhere Richter, zu den richterlichen Beamten der ersten Instanz aber neben Kreisrichtern auch Kreisgerichtsräte, Kreisgerichtsdirektoren etc.; vgl. Haunfelder, Bernd, Biographisches Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus 1849–1867. – Düsseldorf: Droste 1994, S. 23 ff., bes. 25 f.; Hess, Adalbert, Das Parlament, das Bismarck widerstrebte. – Köln, Opladen: Westdeutscher Verlag 1964, S. 51 ff., bes. S. 61–64.
m
A: Jahre, ; B: Jahre, –
viel stärker als je früher
n
Fehlt in A.
in die Wagschale der „Ordnung“, und das heißt praktisch: der jeweils gerade herrschenden „legitimen“ autoritären
o
A: herrschenden
politischen Gewalten.

[615][[C 502]]§ 8. Die formalen Qualitäten des modernen Rechts.
a1
[615] Der Paragraphenüberschrift lag vermutlich eine handschriftliche Vorlage Max Webers zugrunde; vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 271.

Die Rechtspartikularitäten im modernen Recht[.] S. 615 – Die antiformalen Tendenzen der modernen Rechtsentwicklung[.] S. 620 – Das heutige angelsächsische Recht[.] S. 631 – Laienjustiz und ständische Tendenzen des modernen Juristenstandes[.] S. 636
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Dem Inhaltsverzeichnis lag vermutlich eine handschriftliche Vorlage Max Webers zugrunde; vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 271.
.
Die grundlegenden formellen Eigenarten der auf der Basis dieser rationalen und systematischen Rechtsschöpfungen entstandenen, spezifisch modernen okzidentalen Art der Rechtspflege sind nun, gerade infolge der neuesten Entwicklung, keineswegs eindeutig.
Die alten Prinzipien, welche für das Ineinanderfließen „subjektiven“ und „objektiven“ Rechts entscheidend waren: daß das Recht eine „geltende“ Qualität der Glieder eines Personenverbandes darstellt, welche von diesen monopolisiert wird: die stammesmäßige oder ständische Personalität des Rechts und seine, durch genossenschaftliche Einung oder durch Privileg usurpierte oder legalisierte
b
C: legalisierte,
Partikularität
1
[615] Zu den „Sonder-Rechtsgemeinschaften“ und zum „Personalitätsprinzip“ vgl. oben, S. 361–366.
sind verschwunden und mit ihnen die ständischen und Sonderverbandsprozeduren und Gerichtsstände. Allein weder alles partikuläre und personale Recht noch alle Sondergerichtsbarkeit ist damit beseitigt. Im Gegenteil hat gerade die Rechtsentwicklung der neuesten Zeit eine zunehmende Partikularisierung des Rechts gezeitigt. Nur das Prinzip der Abgrenzung der Geltungssphäre ist charakteristisch abgewandelt. Typisch dafür ist einer der wichtigsten Fälle moderner Rechtspartikularität: das Handelsrecht. Diesem Spezialrecht unterliegen z. B. nach dem deutschen Handelsgesetzbuch einerseits gewisse Arten von Kontrakten, deren wichtigster: Erwerb in der Absicht gewinnbringender Weiterveräußerung, ganz im Sinn rationalisierten Rechts nicht durch Angabe formaler Qualitäten, sondern durch Bezugnahme auf den gemeinten zweckrationalen Sinn des konkreten Geschäftsakts: „Gewinn“ durch einen künftigen anderen Geschäftsakt, definiert [616]ist.
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[616] Weber bezieht sich auf § 1 Abs. 2 HGB. Die prinzipielle – nicht notwendigerweise für jedes Einzelgeschäft nachweisliche – Gewinnabsicht ist für das Bestehen eines „Handelsgewerbes“ im Sinne des HGB erforderlich; vgl. Staubs Kommentar I, S. 43, Anm. 13 und 14 zu § 1 HGB.
Andererseits unterliegen ihm bestimmte Gattungen von Personen, deren entscheidendes Merkmal darin besteht: daß jene Arten von Kontrakten von ihnen „gewerbsmäßig“ vorgenommen werden.
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Gemeint sind die als „Kaufmann“ im Sinne des § 1 HGB geltenden Personengruppen, die nach der Art ihres Handelsgewerbes (z. B. Wertpapier-, Bankiers-, Versicherungs-, Schifftransport-, Speditions-, Verlagsgeschäfte etc.) unterschieden sind (§ 1 Abs. 2 Nr. 1–3 HGB). Nach § 1 Abs. 1 HGB ist „Kaufmann im Sinne dieses Gesetzbuches […], wer ein Handelsgewerbe betreibt.“
Entscheidend ist also für die Abgrenzung der Geltungssphäre dieses Rechts nicht der Wortfassung, wohl aber der Sache nach der Begriff des „Betriebes“. Denn ein Betrieb, der sich aus jenen Geschäftsakten als konstitutiven Bestandteilen zusammensetzt, ist Kaufmannsbetrieb,
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Weber bezieht sich auf die im § 1 Abs. 2 HGB nach ihrem Gegenstand, im § 2 Abs. 1 HGB „nach Art und Umfang des Betriebs“ zusammengefaßten „Handelsgewerbe“, die die Kaufmannseigenschaft und damit die Anwendbarkeit des HGB begründen.
und alle sachlich, d. h. wieder: dem gemeinten Sinne nach, zu einem konkreten [C 503]Kaufmannsbetrieb „gehörigen“ Kontrakte, gleichviel welchen Charakters, sind – bestimmt das Gesetz weiter – „Handelsgeschäfte“.
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Gemäß § 343 Abs. 1 HGB.
Darüber hinaus unterstehen jene für den Kaufmannsbetrieb konstitutiven Geschäfte auch dann dem Spezialrecht, wenn sie als Gelegenheitsgeschäfte von Nichtkaufleuten geschlossen werden.
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Vgl. Staubs Kommentar I, S. 46, Anm. 27 zu § 1 HGB: „Der Betrieb des Handelsgewerbes braucht nicht den ausschließlichen oder auch nur den Hauptberuf zu bilden […]. Auch der Künstler, der Beamte, der Soldat, der nebenher ein Handelsgewerbe betreibt, ist Kaufmann.“
Also entscheidet für die Abgrenzung der Geltungssphäre einerseits die sachliche Qualität (vor allem: der zweckrationale „Sinn“) des Einzelgeschäftes und andererseits die sachliche (zweckrationale sinnhafte) Zugehörigkeit zum rationalen Zweckverband des Betriebs, nicht aber, wie in der Vergangenheit normalerweise, die Zugehörigkeit zu einem durch Einung oder Privileg rechtlich konstituierten Stande. Das Handelsrecht ist, soweit es personal abgegrenzt ist, Klassenrecht, nicht Standesrecht. Dieser Gegensatz gegen die Vergangenheit ist aber unzweifelhaft nur relativ. Gerade für dies Recht des Handels und der anderen rein ökonomischen „Berufe“ hat das [617]Prinzip der Abgrenzung von jeher einen in der äußeren Form oft abweichenden, in der Sache aber innerlich ähnlichen, rein sachlichen Charakter gehabt. Nur standen daneben mit quantitativ und qualitativ überragender Bedeutung die rein ständisch abgegrenzten Rechtspartikularitäten. Und auch die Abgrenzung der Geltungssphäre der Berufspartikularrechte erfolgte – soweit sie nicht an der Aufnahme in eine Einung hing – meist rein formal, durch Erwerb einer Lizenz oder eines Privilegs. In der im neuen deutschen Handelsgesetzbuch durchgeführten Kaufmannsqualität jedes ins Handelsregister Eingetragenen
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[617] Gemäß § 2 Abs. 1 HGB.
ist die personale Sphäre des Handelsrechts nach solchen rein formalen Merkmalen abgegrenzt, im übrigen aber nach dem ökonomischen Sinn der Geschäftsgebarung. Die Sonderrechte für andere Berufsklassen sind überwiegend ebenfalls nach solchen sachlichen Merkmalen und daneben nur unter Umständen formal abgegrenzt. – Den spezifisch modernen Partikularrechten entsprechen zahlreiche Partikulargerichte und partikuläre Sonderprozeduren.
Die Gründe der Entstehung dieser Partikularitäten sind wesentlich von zweierlei Art. Zunächst sind sie Folge der Berufsdifferenzierung und der steigenden Rücksichtnahme, welche die Interessenten des Güterverkehrs und der betriebsmäßigen gewerblichen Güterproduktion sich erzwungen haben. Sie erwarten von diesen Partikularitäten eine fachmäßig sachkundige Erledigung ihrer Rechtsangelegenheiten. Daneben aber spielt gerade in neuester Zeit ein anderer Grund der Partikularisierung eine zunehmende Rolle: der Wunsch, den Formalitäten der normalen Rechtsprozeduren zu entgehen im Interesse einer dem konkreten Fall angepaßteren und schleunigeren Rechtspflege. Praktisch bedeutet dies eine Abschwächung des Rechtsformalismus aus materialen Interessen heraus. Insoweit dies der Fall ist, gehört die Erscheinung in einen größeren Kreis ähnlicher moderner Vorgänge hinein.
Die allgemeine Entwicklung des Rechts und des Rechtsgangs führt, in theoretische „Entwicklungsstufen“ gegliedert,
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Zum idealtypischen Sinn von theoretisch konstruierten „Entwicklungsstufen“ vgl. Weber, Objektivität, S. 76–79. – Es folgt eine typologische Zusammenfassung der entwicklungsgeschichtlichen und rechtsvergleichenden Darstellung in den §§ 3 ff., die sachlich an das oben, S. 303–305, entwickelte Schema der Rechtsrationalisierung anknüpft.
von der [618]charismatischen Rechtsoffenbarung durch „Rechtspropheten“ zur empirischen Rechtsschöpfung und Rechtsfindung durch Rechtshonoratioren (Kautelar- und Präjudizienrechtsschöpfung) weiter zur Rechtsoktroyierung durch weltliches Imperium und theokratische Gewalten und endlich zur systematischen Rechtssatzung und zur fachmäßigen, auf Grund literarischer und formallogischer Schulung sich vollziehenden „Rechtspfege“ durch Rechtsgebildete (Fachjuristen). Die formalen Qualitäten des Rechts entwickeln sich dabei aus einer Kombination von magisch bedingtem Formalismus und offenbarungsmäßig bedingter Irrationalität im primitiven Rechtsgang, eventuell über den Umweg theokratischer oder patrimonial bedingter materialer und unformaler Zweckrationalität zu zunehmender fachmäßig juristischer, also logischer Rationalität und Systematik und damit – zunächst rein äußerlich betrachtet – zu einer zunehmend logischen Sublimierung und deduktiven Strenge des Rechts und einer zunehmend rationalen Technik des Rechtsgangs. Daß die hier theoretisch konstruierten Rationalitätsstufen in der historischen Realität weder überall gerade in der Reihenfolge des Rationalitätsgrades aufeinander gefolgt, noch auch nur überall, selbst im Okzident, alle vorhanden gewesen sind oder auch nur heute sind, daß ferner [C 504]die Gründe für die Art und den Grad der Rationalisierung des Rechts historisch – wie schon unsere kurze Skizze zeigte – wohl
c
[618]Lies: sehr
verschieden geartet waren, dies alles soll hier ad hoc ignoriert werden, wo es nur auf die Feststellung
N
MWG: Festellung ; Korrektur in MWG digital.
der allgemeinsten Entwicklungszüge ankommen kann. Es sei nur daran erinnert, daß die großen Verschiedenheiten der Entwicklung im wesentlichen bedingt waren (und sind) 1. durch die Verschiedenheit politischer Machtverhältnisse – das Imperium hat, gegenüber sippenmäßigen, dinggenossenschaftlichen und ständischen Mächten, aus politischen Gründen, die später erörtert sind,
9
[618] Über die unterschiedlichen Strukturbedingungen patrimonialer, feudaler und ständestaatlicher Herrschaft siehe die „Herrschaftslehre“, Weber, Patrimonialismus, MWG I/22-4, S. 285 ff., ders., Feudalismus, MWG I/22-4, S. 394 ff.
sehr verschieden starke Macht erlangt –, 2. durch das Machtverhältnis der theokratischen zu den profanen Gewalten,
10
Vgl. über die Beziehungen politischer und hierokratischer Herrschaft, Weber, Charismatismus, MWG I/22-4, S. 464 ff.
3. durch die in star[619]kem Maß von politischen Konstellationen mitbedingte Verschiedenheit der Struktur der für die Rechtsbildung maßgebenden Rechtshonoratioren.
11
[619] Zu den Typen der Rechtshonoratioren vgl. oben, S. 476 ff.
Nur der Okzident kannte die voll entwickelte dinggenossenschaftliche Justiz
12
Zu Begriff und Formen der „dinggenossenschaftlichen Justiz“ vgl. oben, S. 465 ff., bes. 471 f.
und die ständische Stereotypierung des Patrimonialismus, nur er auch das Aufwachsen der rationalen Wirtschaft, deren Träger sich mit der Fürstenmacht zunächst zum Sturz der ständischen Gewalten verbündeten,
d
[619]C: verbündete,
N
MWG: verbünden, ; Korrektur in MWG digital.
dann aber revolutionär gegen sie kehrten;
e
C: kehrte;
nur der Okzident kannte daher auch das „Naturrecht“; nur er kennt die völlige Beseitigung der Personalität des Rechts und des Satzes „Willkür bricht Landrecht“, nur er hat ein Gebilde von der Eigenart des römischen Rechts entstehen sehen und einen Vorgang wie dessen Rezeption erlebt. Alles dies sind zum sehr wesentlichen Teil konkret politisch verursachte Vorgänge, welche in der ganzen sonstigen Welt nur ziemlich entfernte Analogien hatten. Daher ist auch die Stufe des juristischen Fachbildungsrechts, wie wir sahen,
13
Siehe oben, S. 484 f. und 578–585.
in vollem Umfang nur im Okzident erreicht worden. Ökonomische Bedingungen haben dabei, sahen wir, überall
f
C: wir überall,
14
Siehe z. B. oben, S. 301, 367 f., 516 f., 567–569, 578 ff. und S. 604 ff.
sehr stark mitgespielt. Aber niemals allein ausschlaggebend, wie sich später noch bei Besprechung der politischen Herrschaft zeigen wird.
15
Zu den an der Bürokratisierung, d. h. „Systematisierung“ und „fachmäßigen Rationalisierung“ des Rechts, beteiligten politischen und religiösen Gewalten siehe z. B. Weber, Gemeinschaften, MWG I/22-1, S. 214 f., ders., Bürokratismus, MWG I/22-4, S. 187–193, ders., Staat und Hierokratie, MWG I/22-4, S. 647–649.
Soweit sie bei der Bildung der spezifisch modernen Züge des heutigen okzidentalen Rechts beteiligt waren, lag die Richtung, in welcher sie wirkten, im ganzen in folgendem: Für die Gütermarktinteressenten
g
C: Gütermarktsinteressen
bedeutete die Rationalisierung und Systematisierung des Rechts, allgemein und unter dem Vorbehalt späterer Einschränkung gesprochen,
h
C: gesprochen:
zunehmende Berechenbarkeit des Funktionierens der Rechtspflege: eine der wichtigsten Vorbedingungen für ökonomische Dauerbetriebe, speziell solche kapitalistischer Art, welche ja der juristischen „Verkehrssicherheit“ bedürfen. Sondergeschäftsfor[620]men und Sonderprozeduren wie der Wechsel und der Wechselprozeß
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[620] Der Wechselprozeß ist eine Abwandlung des in den §§ 592 ff. ZPO geregelten Urkundenprozesses, bei dem ein Anspruch aus einem Wechsel (einer wertpapiermäßigen Forderung) geltend gemacht wird, der nur durch Vorlage der Wechselurkunde beweisbar ist.
dienen diesem Bedürfnis nach rein formaler Eindeutigkeit der Rechtsgarantie. Auf der anderen Seite aber enthält nun die moderne (wie in gewissem Maße auch ebenso die antike römische) Rechtsentwicklung Tendenzen, welche eine Auflösung des Rechtsformalismus begünstigen. Wesentlich technischen Charakters erscheint auf den ersten Blick die Auflösung des formal gebundenen Beweisrechts zugunsten der „freien Beweiswürdigung“.
17
Das Prinzip der freien Beweiswürdigung ist geregelt in §§ 286 f. ZPO.
Wir sahen:
18
Siehe oben, S. 512 f., S. 517 f. und S. 562–566.
die Sprengung der urwüchsigen, ursprünglich magisch bedingten formalen Bindung der Beweismittel war das Werk teils theokratischen, teils patrimonialen Rationalismus, welche beide „materielle Wahrheitsermittlung“ postulierten, also ein Produkt materialer Rationalisierung. Heute aber ist Umfang und Grenze der freien Beweiswürdigung in erster Linie durch die „Verkehrsinteressen“, also ökonomische Momente bestimmt. Es ist klar, daß ein ehemals sehr erhebliches Gebiet formal juristischen Denkens diesem durch die freie Beweiswürdigung zunehmend entzogen wird. Uns interessieren aber mehr die entsprechenden Tendenzen auf dem Gebiet des materiellen Rechts. Ein Teil von ihnen liegt auf dem Gebiet der internen Entwicklung des Rechtsdenkens. Seine zunehmende logische Sublimierung bedeutet ja überall den Ersatz des Haftens an äußerlich sinnfälligen formalen Merkmalen durch zunehmende logische Sinndeutung, sowohl bei den Rechtsnormen selbst, wie vor allem auch bei der Interpretation der Rechtsgeschäfte.
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Seit Inkrafttreten des BGB entstand eine umfangreiche Literatur zur Auslegung der im deutschen Zivilrecht rechtsdogmatisch ins Zentrum gerückten „Rechtsgeschäfte“. Einen Forschungsüberblick gibt Danz, Erich, Die Auslegung der Rechtsgeschäfte, 3., verm. und erw. Aufl. – Jena: Gustav Fischer 1911, S. 3 f., Anm. 1.
Diese Sinndeutung beanspruchte in der gemeinrechtlichen Doktrin, den „wirklichen Willen“ der Parteien zur Geltung zu bringen
20
Die „gemeinrechtliche Doktrin“ formulieren die Pandektenlehrbücher. Zur Auslegung der Rechtsgeschäfte vgl. etwa Wächter, Carl Georg von, Pandekten, Band 1: Allgemeiner Theil, hg. von O[tto] v[on] Wächter. – Leipzig: Breitkopf und Härtel 1880, S. 403 f.; Dernburg, Heinrich, Pandekten, Band 1: Allgemeiner Theil und Sachenrecht, [621]3., verb. Aufl. – Berlin: H. W. Müller 1892, S. 286 f.; Brinz, Alois, Lehrbuch der Pandekten, Band 4, 2. Aufl., besorgt von Philipp Lotmar. – Erlangen, Leipzig: Andr. Deichert Nachf. 1892, S. 290 f.; Windscheid, Bernhard, Lehrbuch des Pandektenrechts, Band 1, 2. Aufl. – Düsseldorf: Julius Buddeus 1867, S. 207. Entsprechend bestimmt § 133 BGB, daß die Auslegung einer rechtsgeschäftlichen Willenserklärung den „wirklichen Willen“ des Erklärenden erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks haften solle.
und trug schon dadurch ein individualisierendes und [621](relativ) materiales Moment in den Rechtsformalismus hinein. Darüber hinaus [C 505]sucht sie nun aber durchweg – ganz parallel der uns bekannten Systematisierung der religiösen Ethik
21
In: Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 174 f., 369 f., deutet Weber die religiöse Ethik als Vereinheitlichung und Systematisierung der äußeren Lebensführung durch eine an religiösen Heilszielen verankerte „heilige Gesinnung“.
– die Beziehungen der Parteien zueinander auch auf den „inneren“ Kern des Sichverhaltens: die „Gesinnung“ (bona fides, dolus), aufzubauen und knüpft also Rechtsfolgen an unformale Tatbestände. Große Teile des Güterverkehrs sind durchweg, bei primitivem ebenso wie bei technisch differenziertem Verkehr, nur auf Grund weitgehenden persönlichen Vertrauens auf die materiale Loyalität des Verhaltens anderer möglich. Mit steigender Bedeutung des Güterverkehrs steigt daher in der Rechtspraxis das Bedürfnis nach Garantie für ein solches, der Natur der Sache nach nur unvollkommen formal zu umschreibendes Verhalten. Mithin kommt diese gesinnungsethische Rationalisierung durch die Rechtspraxis mächtigen Interessen entgegen. Aber auch über den Güterverkehr hinaus schiebt die Rationalisierung des Rechtes durchweg an die Stelle der Wertung nach dem äußeren Verlauf vielmehr die Gesinnung als das eigentlich Bedeutsame in den Vordergrund. Sie ersetzt im Kriminalrecht die Rache, für deren Bedürfnis der Erfolg im Vordergrunde steht, durch rationale, sei es ethische, sei es utilitarische „Strafzwecke“ und trägt dadurch ebenfalls zunehmend unformale Momente in die Rechtspraxis hinein. Aber noch darüber hinaus führen die Konsequenzen. Die Berücksichtigung der Gesinnung enthält, auch auf dem privatrechtlichen Gebiet, der Sache nach deren Bewertung durch den Richter. „Treu und Glaube“ und die „gute“ Sitte des Verkehrs, in letzter Instanz also ethische Kategorien, entschieden nun über dasjenige, was die Parteien wollen „durften“.
22
So verlangt die allgemeine Auslegungsregel des § 157 BGB: „Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.“
Immerhin ist die Bezugnahme auf den „guten“ Ver[622]kehrsbrauch hier, der Sache nach, die Anerkennung der Durchschnittsauffassung der Interessenten, also eines generellen und sachlich-geschäftlichen Merkmals wesentlich faktischer Art, als des von den Interessenten befugtermaßen durchschnittlich erwarteten und deshalb von der Justiz zu akzeptierenden Normalmaßstabs. Nun aber haben wir gesehen,
23
[622] Siehe oben, S. 583.
daß die rein fachjuristische Logik, die juristische „Konstruktion“ der Tatbestände des Lebens an der Hand abstrakter „Rechtssätze“ und unter der beherrschenden Maxime: daß dasjenige, was der Jurist nach Maßgabe der durch wissenschaftliche Arbeit ermittelten „Prinzipien“ nicht „denken“ könne, auch rechtlich nicht existiere,
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Vgl. oben, S. 305. 347 f. und S. 581–583.
unvermeidlich immer wieder zu Konsequenzen führen muß, welche die „Erwartung“ der privaten Rechtsinteressenten auf das gründlichste enttäuschen. Die „Erwartungen“ der Rechtsinteressenten sind an dem ökonomischen oder fast utilitarischen praktischen „Sinn“ eines Rechtssatzes orientiert; dieser aber ist, rechtslogisch angesehen, irrational. Niemals wird ein „Laie“ verstehen, daß es einen „Elektrizitätsdiebstahl“ bei der alten Definition des Diebstahlsbegriffs nicht geben konnte.
25
Die bekannte Formulierung des § 242 RStGB lautet: „Wer eine fremde bewegliche Sache einem Anderen in der Absicht wegnimmt, dieselbe sich rechtswidrig zuzueignen, wird wegen Diebstahls mit Gefängnis bestraft.“ – Die für den Laien schwer einsehbare rechtsdogmatische Schwierigkeit, den Entzug von elektrischem Strom unter die Strafvorschrift des § 242 Abs. 1 RStGB zu fassen, war der namentlich vom Reichsgericht in zwei wichtigen Entscheidungen (RGStE, Band 29, 1897, S. 111–116; Band 32, 1900, S. 165–191) verneinte „Sach“charakter der Elektrizität; vgl. Olshausen, Kommentar, S. 952, Nr. 3 zu § 242. Der Streit wurde durch das „Gesetz betreffend die Bestrafung der Entziehung elektrischer Arbeit“ vom 9. April 1900 (RGBl., S. 228) entschieden. Eine ausführliche Erörterung darüber bei Kohlrausch, Eduard, Das „Gesetz betreffend die Bestrafung der Entziehung elektrischer Arbeit“ und seine Vorgeschichte, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Band 20, 1900, S. 459–510.
Es ist also keineswegs eine spezifische Torheit der modernen Jurisprudenz, welche zu diesen Konflikten führt, sondern in weitem Umfang die ganz unvermeidliche Folge der Disparatheit logischer Eigengesetzlichkeiten jedes formalen Rechtsdenkens überhaupt gegenüber den auf ökonomischen Effekt abzweckenden und auf ökonomisch qualifizierte Erwartungen abgestellten Vereinbarungen und rechtlich relevanten Handlungen der Interessenten. Immer erneut entsteht daraus heute der Protest der Interessenten gegen das juristische Fachdenken als solches. [623]Und er findet heute Unterstützung auch bei dem Denken der Juristen selbst über ihren eigenen Betrieb. Allein ohne gänzlichen Verzicht auf jenen ihm selbst immanenten formalen Charakter ist ein Juristenrecht mit diesen Erwartungen niemals völlig zur Deckung zu bringen, noch auch je gebracht worden. Das heute in dieser Hinsicht bei uns oft glorifizierte englische
26
[623] Vgl. unten, S. 631 mit Anm. 51.
so wenig wie das altrömische Juristenrecht
i
[623]C: Juristenrecht,
wie die modernen
N
MWG: moderne ; Korrektur in MWG digital.
kontinentalen juristischen Denkgepflogenheiten. Auch Versuche (wie der von Erich Jung),
27
Jung, Natürliches Recht, bes. S. 132 ff., kennzeichnet diese Art von Streitschlichtung ebd., S. 170: „Die Notwendigkeit solcher Entscheidungen, bei denen die Frage nach dem konkreten Recht oder Unrecht ohne die Stütze der historischen Überlieferung [das „positive Recht“, Hg.], also neu aus dem einzelnen Fall heraus, beantwortet werden muß, bildet aber eine stets offene Einfallspforte für das ursprüngliche, unabgeleitete, unmittelbar aus der Verletzungsempfindung geschöpfte Recht, für das natürliche Recht, das in dieser Gemeinschaft gilt, weil bestimmte Menschen mit gewissen angeborenen und erworbenen Eigenschaften, die auf einer bestimmten wirtschaftlichen und allgemein kulturellen Stufe zusammenleben, in den und den Fällen ein gewisses Maß von gegenseitiger Rücksichtnahme von einander verlangen […]; für dasjenige Naturrecht, das freilich nicht etwa von Anbeginn in den Sternen geschrieben stand, das auch nicht durch den Finger Gottes in die Herzen der Menschen eingegraben wurde, das aber aus dem Gemeinschaftsleben und dem damit gegebenen Aufeinanderwirken der Zusammenlebenden sich entwickeln mußte.“ Auch die auf Rechtsinteressenten bezogene „Erwartungs“-Terminologie findet sich z. B. ebd., S. 107, 108 f. mit Anm. 95, 180 f., 257 f., 280, 319 f.
an Stelle des überwundenen „Naturrechts“ als „natürliches Recht“ die den (durchschnittlichen) „Erwartungen“ der Interessenten entsprechende „Streitschlichtung“ in Anspruch zu nehmen, würde daher auf gewisse immanente Grenzen stoßen. Im übrigen aber knüpft dieser Gedanke gewiß an Realitäten des Rechtslebens an. Diese Art von Geschäftssittlichkeit, welche sich an dem „durchschnittlich zu Er[C 506]wartenden“ orientiert, hat der Sache nach in der Tat schon das antike römische Recht der späteren republikanischen und namentlich der Kaiserzeit prinzipiell entwickelt.
28
In den Wirtschafts- und Handelsbeziehungen besonders zwischen römischen Bürgern und Fremden entwickelte sich ein Verkehrsrecht, dessen Rechtsinstitute in ihrer Wirksamkeit auf der „guten Treue“ beruhten (bonae fidei negotia); zur Rechtsgeschichte der römischen fides vgl. oben, S. 375–378.
Es war dadurch im ganzen nur ein enger Kreis direkt als schmutzig oder betrügerisch geltender Manipulationen betroffen. In dieser Funktion konnte das Recht in der Tat nur das „ethische Minimum“ [624]garantieren.
29
[624] Bezugspunkt ist eine von Jellinek in einer Jugendschrift geprägte, vielfach rezipierte Redewendung. Als „ethisches Minimum“ definiert dieser „[o]bjectiv […] die Erhaltungsbedingungen der Gesellschaft, soweit sie vom menschlichen Willen abhängig sind, subjectiv […] das Minimum sittlicher Lebensbethätigung und Gesinnung, welches von den Gesellschaftsgliedern gefordert wird“ (Jellinek, Georg, Die socialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe. – Wien: Hölder 1878, S. 42). – Webers Bemerkung zielt hier vermutlich direkt auf Jung, Natürliches Recht, S. 66 f., 101, 319, der Jellineks Formulierung übernimmt und darunter soziokulturell stabilisierte wechselseitige Akteurserwartungen verstehen will.
Trotz der bona fides galt auch der Satz: „caveat emptor“.
30
„Der Käufer sehe sich vor.“ Der Grundsatz besagt, daß – vorbehaltlich einer ausdrücklich verbürgten Fehlerlosigkeit der Ware – beim Kauf die Mängelhaftung des Verkäufers ausgeschlossen ist.
Nun aber entstehen mit dem Erwachen moderner Klassenprobleme materiale Anforderungen an das Recht von seiten eines Teils der Rechtsinteressenten (namentlich der Arbeiterschaft) einerseits, der Rechtsideologen andererseits, welche sich gerade gegen diese Alleingeltung solcher nur geschäftssittlicher Maßstäbe richten und ein soziales Recht auf der Grundlage pathetischer sittlicher Postulate („Gerechtigkeit“, „Menschenwürde“) verlangen. Dies aber stellt den Formalismus des Rechts grundsätzlich in Frage. Denn die Anwendung von Begriffen wie „Ausbeutung der Notlage“ (im Wuchergesetz) oder die Versuche, Verträge wegen Unverhältnismäßigkeit des Entgeltes als gegen die guten Sitten verstoßend und daher nichtig zu behandeln,
31
Nach § 138 Abs. 1 BGB ist ein Rechtsgeschäft, das „gegen die guten Sitten verstößt“, nichtig. Nichtig ist nach Abs. 2 „insbesondere ein Rechtsgeschäft, durch das jemand unter Ausbeutung der Notlage, des Leichtsinns oder der Unerfahrenheit eines anderen sich oder einem Dritten für eine Leistung Vermögensvorteile versprechen oder gewähren läßt, welche den Wert der Leistung dergestalt übersteigen, daß den Umständen nach die Vermögensvorteile in augenfälligem Mißverhältnisse zu der Leistung stehen.“
stehen grundsätzlich auf dem Boden von, rechtlich betrachtet, antiformalen Normen, die nicht juristischen oder konventionellen oder traditionellen, sondern rein ethischen Charakter haben, materiale Gerechtigkeit statt formaler Legalität beanspruchen.
Parallel mit diesen, namentlich durch soziale Forderungen der Demokratie einerseits, der monarchischen Wohlfahrtsbürokratie andererseits bedingten Einflüssen auf Recht und Rechtspraxis gehen nun auch interne Standesideologien der Rechtspraktiker. Die Situation des an die bloße Interpretation von Paragraphen und Kontrakten gebundenen Rechtsautomaten, in welchen man oben [625]den Tatbestand nebst den Kosten einwirft, auf daß er unten das Urteil nebst den Gründen ausspeie,
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[625] Bereits in dem Zeitschriftenartikel „,Römisches‘ und ,deutsches‘ Recht“ (1895) hatte Weber dem deutschen Richtertum – im Vergleich zum englischen – das Ideal des „Paragraphen- und Präjudizienautomaten“ zugeschrieben, „in den man oben den Thatbestand und die Kosten wirft, auf daß er unten das Urteil nebst Gründen ausspeie“ (MWG I/4, S. 526–534, hier S. 533 f.). Popularisiert wurde die Metapher vom Richter als „,Subsumtions‘-Automat“ von Bruno Schmidt, Das Gewohnheitsrecht als Form des Gemeinwillens. – Leipzig: Duncker & Humblot 1899, S. 15.
erscheint den modernen Rechtspraktikern subaltern und wird gerade mit Universalisierung des kodifizierten formalen Gesetzesrechts immer peinlicher empfunden. Sie beanspruchen „schöpferische“ Rechtstätigkeit für den Richter, zum mindesten da, wo die Gesetze versagen. Die „freirechtliche“ Doktrin unternimmt den Nachweis, daß dies Versagen das prinzipielle Schicksal aller Gesetze gegenüber der Irrationalität der Tatsachen, daß also in zahlreichen Fällen die Anwendung der bloßen Interpretation nur Schein sei und die Entscheidung nach konkreten Wertabwägungen, nicht nach formalen Normen, erfolge und erfolgen müsse.
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Vgl. den Glossareintrag „freirechtliche Bewegung“. – Darüber, wie der Richter bei unklarer, dem „allgemeinen Rechtsgefühl“, „Gerechtigkeits“- oder „Billigkeitsempfinden“ widersprechender oder ganz fehlender gesetzlicher Regelung judizieren soll, weichen die Meinungen der freirechtlichen Autoren im Detail oft voneinander ab. Die hinter der „Hülle der Gesetzesauslegung“ stehenden richterlichen „Wertabwägungen“ diskutiert Rumpf, Gesetz und Richter (wie oben, S. 75, Anm. 13), S. 50–81 („Werte bei der Rechtsanwendung“) und S. 81–87 („Interessenabwägung. Konstruktion“).
Der bekannte, in seiner praktischen Tragweite freilich oft überschätzte Art. 1
j
[625]C: § 1
des Schweizerischen Bürgerlichen Gesetzbuches,
34
Art. 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 10. Dez. 1907 lautet: „Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält. Kann dem Gesetze keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht und, wo ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Er folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung.“
wonach der Richter mangels eindeutiger Auskunft des Gesetzes nach der Regel entscheiden solle, welche er selbst als Gesetzgeber aufstellen würde, entspricht zwar formal bekannten kantischen Formulierungen.
35
Vgl. die kantische Formulierung des Sittengesetzes als kategorischer Imperativ: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft (Immanuel Kants Werke, hg. von Ernst Cassirer in Gemeinschaft mit Hermann Cohen u. a., Band V). – Berlin: Bruno Cassirer 1914, 1,1,1, § 7: Grundgesetz der reinen prak[626]tischen Vernunft, S. 35). – Im übrigen hob Weber die Nähe der in Frage stehenden Norm zu kantischen Formulierungen bereits in seiner Diskussionsrede auf den Soziologentagsvortrag von Hermann Kantorowicz über „Rechtswissenschaft und Soziologie“ (1910) hervor. Kantorowicz hatte sie als eine mögliche Maxime zur richterlichen Schöpfung von „freiem Recht“ für den Fall konkreter Rechtslücken genannt; vgl. Kantorowicz, Vortrag (wie oben, S. 13, Anm. 55), S. 288; Weber, Diskussionsbeitrag II (wie oben, S. 19, Anm. 1), S. 326 f.
Der Sache nach würde [626]aber eine Judikatur, welche den gedachten Idealen entspräche, angesichts der Unvermeidlichkeit von Wertkompromissen, von einer Bezugnahme auf solche abstrakten Normen oft ganz absehen und mindestens im Konfliktsfall ganz konkrete Wertungen, also nicht nur unformale, sondern auch irrationale Rechtsfindung, zulassen müssen. Tatsächlich ist denn auch neben die Doktrin von der unvermeidlichen Lückenhaftigkeit des Rechts und den Protest
k
[626]C: Prozeß
gegen die Fiktion seiner systematischen Geschlossenheit
36
Das Dogma von der logischen Geschlossenheit des Rechts war Ende des 19. Jahrhunderts die Grundüberzeugung des extremen Rechtspositivismus; vgl. vor allem Bergbohm, Rechtsphilosophie (wie oben, S. 602, Anm. 30), S. 372 f. Daß die Lückenhaftigkeit des Rechts nicht zu vermeiden sei, ist Grundüberzeugung v.a. der Freirechtler; vgl. statt aller Jung, Erich, Von der ,logischen Geschlossenheit‘ des Rechts. – Berlin: H. W. Müller 1900.
die weitergehende Behauptung getreten: daß Rechtsfindung überhaupt prinzipiell nicht „Anwendung“ genereller Normen auf einen konkreten Tatbestand sei (oder doch nicht sein sollte) –
l
C: sollte), –
so wenig der sprachliche Ausdruck „Anwendung“ grammatischer Regeln sei –, daß vielmehr der „Rechtssatz“ das Sekundäre, durch Abstraktion aus den konkreten Entscheidungen gewonnene sei
m
Fehlt in C; sei sinngemäß ergänzt.
, diese aber, die Produkte der Juristentätigkeit, der eigentliche Sitz des „geltenden“ Rechts seien.
37
Den abgeleiteten Charakter der „Rechtsregeln“ oder „Rechtssätze“ aus Entscheidungen, die ihrerseits das „geltende“ Recht den „Rechtsverwirklichungen“ der Interessenten und Rechtspraktiker entnehmen, betont schon Ehrlich; vgl. ders., Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft. – Leipzig: C. L. Hirschfeld 1903, S. 11 (hinfort: Ehrlich, Freie Rechtsfindung). – Webers Formulierung legt freilich den direkten Bezug auf Jung nahe, bei dem es heißt, „daß nicht der allgemein redende Rechtssatz, sondern der konkrete Rechtsbefehl die reelle Erscheinung des Rechtslebens ist. Der ,organisch‘, aus der bisherigen sozialen Übung entstandene Rechtssatz ist nur die Abstraktion aus den einzelnen Verwirklichungen und daher schon vorher verwirklicht und geltend“ (Jung, Natürliches Recht, S. 145; vgl. ebd., S. 101, 317 f.).
Während auf der anderen Seite auch die quantitative Geringfügigkeit der zur kontradiktorischen Entscheidung gelangenden Rechtsfälle gegenüber der gewaltigen Fülle der das faktische Verhalten bestimmenden Prinzipien
n
C: Prinzipien:
zur Deklassierung der [627]„nur“ als „Entscheidungsnormen“ in Betracht kommenden Gesetzesregeln gegenüber den im prozeßlosen Alltag faktisch „geltenden“ Regeln benutzt und daraus das Postulat der „soziologischen“ Fundamentie[C 507]rung der Jurisprudenz abgeleitet wird.
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[627] Vgl. Jung, Natürliches Recht, S. 98 f. und S. 99, Anm. 84. Daneben bezieht sich Weber wohl vor allem auf Ehrlich, der das Recht als „soziale Organisationsform“ einerseits und als „richterliche Entscheidungsnorm“ andererseits differenziert und die Entscheidungsnormen auf die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse („Organisationsformen“) zurückführt; vgl. Ehrlich, Freie Rechtsfindung (wie oben, S. 626, Anm. 37), S. 36 f.; ders., Tatsachen (wie oben, S. 73, Anm. 4), S. 7 f.; ders., Soziologie und Jurisprudenz (wie oben, S. 129, Anm. 74), S. 7. Die Jurisprudenz werde ihrer Aufgabe nur dann gerecht, „wenn sie eine Morphologie der menschlichen Gesellschaft gibt, und die Kräfte, die in der Gesellschaft wirken, auf ihr Wesen und ihr Maß untersucht. So wird die Jurisprudenz zur Rechtswissenschaft, zur Lehre vom Recht als gesellschaftlicher Erscheinung […]“ (Ehrlich, Soziologie und Jurisprudenz, S. 19). – Im übrigen haben die Freirechtler das Verhältnis von Soziologie und Jurisprudenz unterschiedlich konzipiert; durchaus eine „Soziologisierung des Rechts“ wird von Ernst Fuchs und Eugen Ehrlich postuliert.
Aus der historischen Tatsache: daß das Recht lange Epochen hindurch ein Produkt der Tätigkeit der zunehmend juristisch beratenen Rechtsinteressenten und der zunehmend juristisch gebildeten Richter gewesen ist und teilweise noch ist, daß, m.a. W., alles „Gewohnheitsrecht“ in Wahrheit Juristenrecht war und ist, im Zusammenhalt mit der ebenso unzweifelhaften Tatsache: daß noch jetzt die Gerichtspraxis, z. B. auch des deutschen Reichsgerichts, gerade nach dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs, gelegentlich teils praeter, teils sogar contra legem ganz neue Rechtsprinzipien aufstellt,
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Die Rechtsprechung, namentlich die reichsgerichtliche Judikatur, griff bei ihren rechtsfortbildenden Entscheidungen auf Generalklauseln bzw. allgemeine Rechtsgrundsätze wie „bona fides“, „Treu und Glauben“, „gute Sitten“ (§§ 157, 242, 826 BGB), schließlich auf „Billigkeit“ und „Gerechtigkeit“ zurück. Die Vertreter der Freirechtsbewegung schrieben sich in ihren Schriften immer wieder diese rechtspraktischen Erfolge ihrer Forderungen zu; vgl. etwa Fuchs, Ernst, Soziologie und Pandektologie in der neuesten Judikatur des Reichsgerichts, in: Monatsschrift für Handelsrecht und Bankwesen. Steuer- und Stempelfragen, Jg. 19, 1910, S. 229–244.
wird manchmal sowohl die Überlegenheit der Präjudizien gegenüber der rationalen Satzung objektiver Normen, wie die Überlegenheit des konkreten zweckrationalen Interessenausgleichs gegenüber der Schaffung und Anerkennung von „Normen“ überhaupt abgeleitet. Die moderne Rechtsquellenlehre hat sowohl den vom Historismus geschaffenen, halb mystischen Begriff des „Gewohnheitsrechts“ wie den ebenfalls historischen Begriff eines „Willens des Gesetzgebers“,
40
Der „Wille des Gesetzgebers“ als alleiniger Maßstab der Rechtsprechung lag ge[628]wissermaßen in der Konsequenz des Benthamschen Ideals einer vollständigen und möglichst widerspruchsfreien Gesetzgebung. Der postulierten Lückenlosigkeit und Geschlossenheit des Rechts ging dann vor allem die romanistische Richtung der historischen Rechtsschule mit Blick auf den „gesetzgeberischen Willen“ im Corpus iuris nach; vgl. darüber Lukas, Josef, Zur Lehre vom Willen des Gesetzgebers. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung, in: Staatsrechtliche Abhandlungen. Festgabe für Paul Laband zum 50. Jahrestage der Doktor-Promotion, Band 1. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1908, S. 399–427, bes. 420 ff.
der durch Studium der Entstehungsweise [628]des Gesetzes (aus Kommissionsprotokollen und ähnlichen Quellen) zu ermitteln sei, zersetzt: mit dem „Gesetz“, nicht mit dem „Gesetzgeber“ habe es der Jurist zu tun.
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Dahin faßt etwa Rumpf, Gesetz und Richter (wie oben, S. 75, Anm. 13), S. 120, die herrschende Rechtsquellenlehre zusammen. Vgl. auch Radbruch, Gustav, Rechtswissenschaft als Rechtsschöpfung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 22, 1906, S. 355–370, hier S. 359 (hinfort: Radbruch, Rechtswissenschaft).
Das dergestalt isolierte „Gesetz“ aber wird dann zur Bearbeitung und Verwendung ihm, dem Juristen – bald mehr der „Wissenschaft“ (so sehr oft auch in den Motiven moderner Gesetzbücher), bald mehr dem Praktiker – überantwortet. Dabei wird die Bedeutung der gesetzgeberischen Fixierung eines Rechtsgebots unter Umständen bis zur Rolle eines bloßen „Symptoms“ der Geltung oder auch nur der gewünschten – aber bis zur Stellungnahme der Rechtspraxis problematischen – Geltung eines Rechtssatzes herabgesetzt. Der Vorliebe für die mit dem Rechtsleben, d. h. aber: mit dem Leben des Rechtspraktikers, in Berührung gebliebenen Präjudizienrechte zuungunsten der Gesetzesrechte tritt nun aber wieder der Anspruch entgegen:
o
[628]C: entgegen;
daß auch die Präjudizien zugunsten der freien Abwägung zwischen den unvermeidlich stets konkreten Wertungsmöglichkeiten nicht über den Einzelfall hinaus bindend sein dürften.
42
In diesem Sinne meint etwa Rumpf, Gesetz und Richter (wie oben, S. 75, Anm. 13), S. 102, „daß die Ergebnisse der Rechtsanwendung, die Urteile des Richters, in schwierigen Fällen keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben können“ (vgl. ebd., S. 105 f., 110). Auch Radbruch, Rechtswissenschaft (wie oben, Anm. 41), S. 364, hält fest, „daß die Rechtsschöpfung des Richters im Gegensatz zur Rechtsschöpfung des Gesetzgebers nur für den Einzelfall Geltung verlangt.“ Vgl. weiterhin Flavius, Kampf (wie oben, S. 17, Anm. 76), S. 16 f.
Im Kontrast zu diesen Konsequenzen des Wertirrationalismus erhebt sich andererseits der Versuch einer Retablierung eines objektiven Wertmessers. Je mehr sich der Eindruck aufdrängt, daß Rechtsordnungen als solche eine bloße „Technik“ darstellen, desto stärker wird naturgemäß [629]eben diese Deklassierung von den Juristen perhorresziert. Eine rein technische Anordnung, wie die: daß beim Überschreiten einer Grenze von gewissen Gütern eine gewisse Abgabe zu entrichten sei, auf eine Stufe mit Rechtssätzen über die Ehe oder die väterliche Gewalt oder auch den Inhalt des Eigentumsrechts zu stellen, sträubt sich das Empfinden gerade des Rechtspraktikers, und es taucht jenseits des positiven, als wandelbar und weitgehend „technisch“ erkannten, Rechts der sehnsüchtige Gedanke an ein überpositives Recht auf. Zwar das alte „Naturrecht“ erscheint durch die historische und rechtspositivistische Kritik diskreditiert.
43
[629] Zur historischen und rechtspositivistischen Naturrechtskritik vgl. oben, S. 610 ff.
Als Ersatz bietet sich teils ein religiös gebundenes Naturrecht der (katholischen) Dogmatiker an,
44
Einen kritischen Überblick über die zeitgenössischen Naturrechtsströmungen, darunter das religiöse Naturrecht, gibt Bergbohm, Rechtsphilosophie (wie oben, S. 602, Anm. 30), S. 232 ff. Das katholische Naturrecht mußte mit dem kirchlichen Dogma vereinbar sein und konnte unter der unbezweifelten Autorität der Kirche naturgemäß nicht rationalistisch im Sinne einer „auf die Selbstherrschaft der Vernunft des sittlich-natürlichen Menschen“ (ebd., S. 262) begründeten Lehre argumentieren. U.a. Georg von Hertling ist diesem Kreis naturrechtlicher Schriftsteller zuzurechnen.
teils der Versuch, durch Deduktionen aus dem „Wesen“ des Rechts objektive Maßstäbe zu gewinnen. Entweder auf apriorischem, am Neukantianismus orientierten Wege: das „richtige Recht“ als Ordnung einer „Gesellschaft frei
p
[629]C: sein Zur Emendatiori vgl. Anm. 45.
wollender Menschen“,
45
Weber bezieht sich auf Stammlers „allgemeingültige“, „formale Methode“, den „objektiv richtigen“ Inhalt des Rechts festzustellen; vgl. zuerst Stammler, Richtiges Recht (wie oben, S. 222, Anm. 75); auch ders., Recht (ebd.), bes. S. 41. Da Stammler das Recht als apriorische „Form“ des auf gemeinsame Zweckverfolgung („Bedürfnisbefriedigung“) gerichteten „sozialen Lebens“ betrachtet, führt die sozialphilosophische Frage „nach einer richtigen Ausgestaltung des sozialen Lebens“ auf jene nach dem Maßstab des „richtigen Rechts“. Ein konkretes rechtliches Wollen sei inhaltlich dann richtig, „wenn es in seiner besonderen Lage der Idee einer Gemeinschaft von freiwollenden Menschen entspricht“ (Stammler, Rudolf, Die grundsätzlichen Aufgaben des Juristen in Rechtssprechung und Verwaltung, in: Verwaltungsarchiv, Band 15, 1907, S. 1–59, Zitat S. 18; hinfort: Stammler, Aufgaben).
sowohl als legislativer Maßstab für die rationale Rechtsschöpfung, wie als Quelle der Rechtsfindung in den Fällen, wo das Gesetz den Richter auf scheinbar unformale Merkmale verweist, – in beiden Richtungen vorerst wesentlich eine Verheißung ohne wirkliche Erfüllung. Oder empirisch und dane[630]ben an Comte orientiert:
46
[630] Weber bezieht sich auf Jung, Natürliches Recht, bes. S. 31 ff. (Kritik der herrschenden Rechtsquellenlehre), S. 100 ff. (Übung und daran orientierte Erwartungen als Geltungsgrund des „positiven“ Rechts) und S. 259 ff. (zur „Wissenschaft vom geltenden Recht“ und zur „Wissenschaft von seinen ,natürlichen‘ Grundlagen“).
durch Hinweis auf die Untersuchung der „Erwartungen“, welche der Rechtsinteressent begründeterweise nach der Durchschnittsauffassung der Verbindlichkeiten anderer zu hegen pflege, als letzte, auch dem Gesetz gegenüber souveräne Entscheidungsnorm, welche den als unklar empfundenen Begriff der „Billigkeit“ und ähnliche
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Gemeint sind die juristischen Generalklauseln wie „gute Sitten“, „Treu und Glauben“, „wichtiger Grund“, „sittliche Pflicht“ etc.; vgl. z. B. Stammler, Aufgaben (wie oben, S. 629, Anm. 45), S. 2, 22, 27, passim.
zu ersetzen habe. Die speziellere Erörterung und vollends eine „Kritik“ dieser, wie schon die kurze Skizze zeigt, untereinander zu höchst widerstreitenden Resultaten gelangenden Bewegungen gehört nicht hierher. Die Existenz [C 508]aller dieser Strömungen ist international, am stärksten aber machen sie sich in Deutschland und Frankreich bemerkbar. Einig sind sie im wesentlichen nur in der Ablehnung der überkommenen und bis vor kurzem herrschenden petitio principii der begrifflichen „Lückenlosigkeit“ des Rechts. Im übrigen wenden sie sich gegen sehr verschiedene Gegner, z. B. in Frankreich gegen die Schule der Codeinterpreten,
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Gemeint ist namentlich Gény, François, Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif: essai critique (Bibliothèque de jurisprudence civile contemporaine). – Paris: Chevalier-Marescq 1899 (Gény, François, Méthode d’interprétation et sources en droit privé positif: essai critique, 2. éd. – Paris: Librairie générale de droit & de jurisprudence 1919, hier Tome 2, S. 74 ff.).
in Deutschland gegen die Methodik der Pandektisten.
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Gemeint ist die Methode der gemeinrechtlichen Jurisprudenz, wie sie speziell von Puchta begründet und von der sog. Begriffsjurisprudenz des späteren 19. Jahrhunderts kanonisiert wurde. Bedeutendster Vertreter der späten Pandektistik war Bernhard Windscheid, dessen Pandektenlehrbuch als gesammeltes Wissen der Pandektenwissenschaft noch die Redaktion des BGB maßgeblich beeinflußte; vgl. auch die Glossareinträge „Pandekten“ und „gemeinrechtliche Jurisprudenz“.
Je nach der Eigenart der Träger der Bewegung kommt sie in ihrem Ergebnis mehr zu Schlüssen, welche dem Prestige der „Wissenschaft“, also der Theoretiker, oder dem der Rechtspraktiker zugute kommen. Durch die stetige Zunahme des formulierten Gesetzesrechts und namentlich der systematischen Kodifikationen fühlen sich die akademischen Juristen in ihrer Bedeutung und auch in den Chancen der Bewegungsfreiheit des wissenschaftlichen Denkens empfindlich bedroht, und die rapide Zunahme der [631]sowohl antilogischen wie antihistorischen Bewegungen in Deutschland, wo man das Los der französischen Rechtswissenschaft nach dem Code, der
q
[631]C: des
preußischen nach dem Allgemeinen Landrecht fürchtet, ist dadurch leicht erklärlich und insofern Produkt einer historischen, intern intellektualistischen Interessenkonstellation. Alle, auch und gerade die irrationalistischen, Spielarten der Abkehr von der in der gemeinrechtlichen Wissenschaft entwickelten rein logischen Rechtssystematik sind aber andererseits auch wieder Konsequenzen der sich selbst überschlagenden wissenschaftlichen Rationalisierung und voraussetzungslosen Selbstbestimmung des Rechtsdenkens. Denn soweit sie nicht selbst rationalistischen Charakter haben, sind sie doch, als Form der Flucht in das Irrationale, eine Folge der zunehmenden Rationalisierung der Rechtstechnik – eine Parallelerscheinung der Irrationalisierung des Religiösen.
50
[631] Vgl. dazu Webers Bemerkungen in: Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 156 f.
Vor allem anderen aber ist – was nicht übersehen werden darf – dies aus dem Bestreben der zunehmend in Interessenverbänden zusammengeschlossenen modernen Rechtspraktiker nach Erhöhung des Standeswürdegefühls durch Erhöhung des Machtbewußtseins bedingt, wie in Deutschland z. B. die häufige Bezugnahme auf die „vornehme“ Stellung des englischen, nicht an ein rationales Recht gebundenen, Richters zeigt.
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Vor allem die Freirechtsbewegung hat zugunsten der unvermeidlich rechtsschöpferischen Tätigkeit des Richters immer wieder auf das Beispiel des englischen „Richterkönigtums“ verwiesen; vgl. statt aller: Flavius, Kampf (wie oben, S. 17, Anm. 76), S. 7 f., 42; Ehrlich, Freie Rechtsfindung (wie oben, S. 626, Anm. 37), S. 29 ff., 31 f.; kritisch dazu Gerland, Heinrich B[althasar], Die Einwirkung des Richters auf die Rechtsentwicklung in England. – Leipzig, Berlin: Rothschild 1910, S. 19 ff., 38–40.
Dieser Unterschied des kontinentalen gegenüber dem angelsächsischen Recht hat freilich vornehmlich in Umständen seinen Grund, welche mit Verschiedenheiten der allgemeinen Herrschaftsstruktur und der daraus folgenden Art der Verteilung sozialer Ehre zusammenhängen.
Davon war teils schon die Rede, teils wird in anderem Zusammenhang noch darüber zu reden sein.
52
Siehe oben, S. 476–484, sowie in der älteren „Herrschaftslehre“, Bürokratismus, MWG I/22-4, S. 188–193.
Jedenfalls handelt es sich, auch soweit ökonomische Determinanten mitspielen, um sehr stark [632]intern, durch Verhältnisse und Existenzbedingungen des Juristenstandes, bestimmte Umstände und daneben um Gründe, die in der Verschiedenheit der politischen Entwicklung liegen.
53
[632] Vgl. Weber, Bürokratismus, MWG I/22-4, S. 191 f.: „Der überwiegende Grund des trotzdem vorhandenen Unterschiedes in der Entwicklung des materiellen Rechts in England und Deutschland lag […] nicht hier [in der zunehmend rationalisierten Wirtschaft, Hg.], sondern er entsprang einer Eigengesetzlichkeit der Entwicklung der beiderseitigen Herrschaftsstruktur: in England zentralisierte Justiz und zugleich Honoratiorenherrschaft, in Deutschland Fehlen der politischen Zentralisation und zugleich Bürokratisierung.“
Als Resultat dieser Verschiedenheit der geschichtlichen Konstellationen aber – das geht uns hier an – steht die Tatsache vor uns, daß der moderne Kapitalismus gleichmäßig gedeiht und auch ökonomisch wesensgleiche Züge aufweist nicht nur unter Rechtsordnungen, welche, juristisch angesehen, höchst ungleichartige Normen und Rechtsinstitute besitzen –
r
[632]C: besitzen: –
schon ein vermutlich so fundamentaler Begriff wie „Eigentum“ nach Art des kontinentalen Instituts dieses Namens fehlt dem angelsächsischen Recht noch heute
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Weber bezieht sich hier v.a. auf das lehnsrechtlich geprägte Immobiliarrecht. Absolutes Eigentum an Grundstücken, „dominium“ des Corpus iuris oder „ownership“, gab es seit der normannischen Eroberung nicht mehr, sondern lediglich abgestufte Herrschaftsrechte (estates), von denen bei unbestimmter Dauer (estates of freehold) lediglich der „estate in fee simple“ dem kontinentalen Eigentum vergleichbar war. Erst die Reformierung des Grundbesitzrechts durch eine Reihe von Gesetzen in den Jahren 1925/26 brachte mit dem „estate in fee simple absolute in possession“ ein dem wirtschaftlichen Volleigentum analoges Institut; vgl. z. B. Heymann, Überblick, S. 309 ff.; für die spätere Entwicklung etwa Henrich, Dieter, Einführung in das englische Privatrecht, 2. Aufl. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1993, S. 88 ff.
[,] sondern welche auch in ihren letzten formalen Strukturprinzipien soweit als möglich auseinandergehen. Das englische Rechtsdenken ist 1. noch heute, trotz aller Beeinflussung durch die immer strengeren Anforderungen an die wissenschaftliche Schulung, in weitestgehendem Maße eine „empirische“ Kunst. Das „Präjudiz“ hat seine alte Bedeutung voll beibehalten, nur gilt es für „unfair“, sich auf Präjudizien, die allzulange, etwa um mehr als ein Jahrhundert zurückliegen, zu beziehen.
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Der Bezug war nicht nachzuweisen. – Die zeitgenössische Theorie besagt allerdings, daß, während die Präjudizien im allgemeinen zwar mit zunehmendem Alter an Autorität gewinnen, sie diese infolge zwischenzeitlich abweichender Entscheidungspraxis auch wieder verlieren können und dann unter Umständen nachteilige Konsequenzen zeitigen; vgl. Salmond, John W[illiam], The Theory of Judicial Precedents, in: The Law Quarterly Review, Vol. 16, 1900, S. 376–391, hier S. 382 f.
Nicht allein, aber allerdings wie es scheint. [633]besonders stark in den Neuländern, namentlich den Vereinigten Staaten, ist dabei 2. der genuine „charismatische“ Charakter der Rechtsfindung noch fühlbar erhalten. Die Präjudizien haben in der Praxis ein höchst verschiedenes Gewicht nicht etwa nur, wie überall, nach der hierarchischen Stellung [C 509]der Instanz, sondern je nach der ganz persönlichen Autorität des einzelnen Richters. Für wichtige Neuschöpfungen von Rechtsmitteln – wie etwa diejenigen Lord Mansfields
56
[633] Vgl. oben, S. 450.
– gilt dies im ganzen angelsächsischen Rechtskreis. Aber der amerikanischen Anschauung ist das Urteil überhaupt eine persönliche Schöpfung dieses konkreten Richters, den man mit Namen zu bezeichnen pflegt, im Gegensatz zu dem unpersönlichen „Königlichen Amtsgericht“ der europäisch-kontinentalen, bürokratischen Amtssprache. Und auch der englische Richter nimmt diese Stellung in Anspruch. Damit hängt es zusammen, daß 3. auch der Grad der Rationalität des Rechts ein wesentlich geringerer und die Art derselben eine andere ist als im kontinentalen europäischen Recht. Es fehlte bis in die jüngste Vergangenheit, jedenfalls aber bis Austin, eine englische Jurisprudenz, welche den Namen „Wissenschaft“ verdient hätte, wenn man den kontinentalen Begriff zugrunde legt, fast ganz. Schon dies machte eine Kodifikation, wie sie Bentham gefordert hatte, fast unmöglich.
57
Vgl. Hatschek, Englisches Staatsrecht I, S. 103 f., 107, 152 ff., der das Scheitern aller Kodifikationsbestrebungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf die freie Stellung des englischen Richters gegenüber dem Gesetz und die mangelhafte wissenschaftliche Durchdringung des Rechtsstoffes zurückführt; vgl. auch oben, S. 482 mit Anm. 15 (S. 482 f.).
Dieser Zug nun ist gerade derjenige, welcher die „praktische“ Anpassungsfähigkeit des englischen Rechts, seinen „praktischen“ Charakter vom Standpunkt der Interessenten aus vornehmlich bedingt. Das Rechtsdenken des „Laien“ ist einerseits wortgebunden. Er pflegt vor allem ein Wortrabulist zu werden, wenn er „juristisch“ zu argumentieren glaubt. Und daneben ist ihm das Schließen vom Einzelnen auf das Einzelne natürlich: die juristische Abstraktion des „Fachmanns“ liegt ihm fern. In beiden Hinsichten aber ist ihm die Kunst der empirischen Jurisprudenz verwandt, wie wir sahen.
58
Siehe oben, S. 479–481.
Sie mag ihm unsympathisch sein – kein Land der Welt kennt so bittere Klagen und Satiren auf den Rechtsbetrieb der Anwälte wie [634]England.
59
[634] So hat etwa Charles Dickens in seinen Romanen „Posthumous Papers of the Pickwick Club“ (1836/37) und „Bleakhouse“ (1853) ein bitter-satirisches Bild der englischen Justiz gezeichnet. Mendelssohn Bartholdy, Imperium des Richters, S. 59 ff., kontrastierte Dickens’ Justizkarikatur mit der Rechtspraxis.
Und die Konstruktionsformen des Kautelarjuristen mögen ihm ganz unverständlich sein: was wiederum im höchsten Grad in England der Fall ist. Aber ihre prinzipielle Eigenart ist ihm verständlich; er kann sie „nacherleben“ und sich mit ihr abfinden, indem er sich ein für allemal – wie dies jeder englische Geschäftsmann tut – einen juristischen Beichtvater für alle Lebensverhältnisse anstellt und bezahlt. Er stellt daher keine Anforderungen und Erwartungen an das Recht, die durch rechtslogische Konstruktionen enttäuscht werden könnten. Und auch für den Rechtsformalismus gibt es Ventile. Zwar auf dem Gebiet des Privatrechts sind Common Law und heute auch Equity schon infolge der Präjudizienbindung in weitem Maße „formalistisch“ in der praktischen Handhabung. Dafür sorgt schon die Traditionsgebundenheit des Anwaltsbetriebs. Allein schon das Institut der Civiljury bedingt Grenzen der Rationalität, welche als solche durchaus nicht nur als unvermeidlich hingenommen, sondern gerade wegen der Gebundenheit der Richter an die Präjudizien geschätzt werden, in der Sorge davor, daß ein Präjudiz eine formale bindende Regel (ein „bad law“) auf Gebieten schaffen könnte, welche man der konkreten Wertabwägung zugänglich erhalten möchte.
60
Vgl. oben, S. 449 f.
Die Darstellung der Art wie diese Teilung in ein Gebiet der Präjudiziengebundenheit und ein anderes der konkreten Wertabwägung praktisch funktioniert, gehört nicht hierher. Jedenfalls bedeutet sie eine Abschwächung der Rationalität der Rechtspflege. Dazu tritt die recht summarische, noch heute stark patriarchale und höchst irrationale Art der Behandlung aller alltäglichen Bagatellsachen in der friedensrichterlichen Einzeljurisdiktion in England, welche – wie man sich aus Mendelssohns Darstellung leicht überzeugen kann
61
Mendelssohn Bartholdy, Imperium des Richters, bes. S. 169 ff., wo eine Reihe von Rechtsfällen und deren Entscheidung geschildert werden.
– in einer uns unbekannten Art den Charakter der „Kadi“-Justiz bewahrt hat. Alles in allem das Bild einer Rechtspflege, welche in der prinzipiellsten formellen Eigentümlichkeit des materiellen Rechts sowohl wie des Prozeßverfahrens, soweit als innerhalb eines weltlichen, von theokratischer Gebundenheit und patrimonialen Ge[635]walten freien Betriebes der Justiz überhaupt möglich, abweicht von der Struktur des kontinentalen Rechts. Denn jedenfalls ist die englische Rechtsfindung dem Schwerpunkt nach nicht, wie die kontinentale[,] „Anwendung“ von „Rechtssätzen“, welche mit Hilfe der Logik aus dem Inhalt gesetzlicher Vorschriften sublimiert sind. Diese Abweichungen haben, auch ökonomisch und sozial, ziemlich fühlbare Konsequenzen gehabt, – durchweg aber Einzelkonsequenzen, nicht solche, welche die Gesamtstruktur [C 510]der Wirtschaft beeinflußt hätten. Für die Entfaltung des Kapitalismus kam vielmehr daran nur ein Doppeltes begünstigend in Betracht: einmal der Umstand, daß die Rechtsbildung dem Schwerpunkt nach in der Hand der Anwälte lag, aus denen die Richter sich rekrutierten – also in der Hand einer Schicht, welche im Dienst der begüterten[,] speziell der kapitalistischen Privatinteressenten tätig wird und materiell direkt von ihnen lebt. Und ferner, in Verbindung damit, durch den Umstand, daß die Konzentration der Rechtspflege bei den Reichsgerichten in London und ihre gewaltige Kostspieligkeit der Sache nach einer Justizverweigerung für die Unbemittelten sehr nahe kam.
62
[635] Zur weitgehenden Rechtsverweigerung der englischen Friedensrichterjustiz gegenüber den ökonomisch benachteiligten Schichten vgl. oben, S. 518 f.
Jedenfalls aber hat die im Wesen gleichartige kapitalistische Entwicklung diese außerordentlich starken Gegensätze der Eigenart des Rechts nicht auszugleichen vermocht. Und es besteht auch gar keine sichtbare Tendenz dazu, die Struktur des Rechts und der Rechtspflege aus Motiven der kapitalistischen Wirtschaft heraus in der Richtung der kontinentalen Verhältnisse umzuformen. Wo, im Gegenteil, beide Arten der Rechtspflege und Rechtsbildung Gelegenheit hatten miteinander zu konkurrieren, – wie in Kanada –, zeigte sich die angelsächsische Weise überlegen und verdrängte die uns gewohnte relativ rasch.
63
Vgl. Pollock, Frederick, A First Book of Jurisprudence, for Students of the Common Law. – London: Macmillan & Co. 1896, S. 325: „Where the two systems have come into competition, as they have done in the Province of Quebec, the Cape Colony, and other British possessions originally settled under Continental systems of law, the method of ascribing exclusive authority to judicial decisions has invariably, so far as I know, been accepted“; Pollock referierend auch Ehrlich, Grundlegung, S. 237.
Es liegt also im Kapitalismus als solchem kein entscheidendes Motiv der Begünstigung derjenigen Form der Rationalisierung des Rechts, welche seit der romanistischen Universitätsbildung des Mittelalters dem kontinentalen Okzident spezifisch geblieben ist.
[636]Umgekehrt entwickelt die moderne soziale Entwicklung, außer den früher erwähnten politischen
64
[636] Siehe oben, S. 612 ff., 624.
und den
s
[636]C: der
zuletzt erörterten intern ständisch-juristischen, auch sonst allgemeine Motive, welche den formalen Rechtsrationalismus abschwächen. Direkte irrationale „Kadijustiz“ wird heute in der Strafrechtspflege in weitem Umfang von der „populären“ Rechtspflege der Geschworenen geübt. Sie kommt dem Empfinden der nicht fachjuristisch geschulten Laien, deren Gefühl der Formalismus des Rechts im konkreten Fall immer wieder beleidigen muß und überdies den Instinkten der nichtprivilegierten Klassen entgegen, welche materiale Gerechtigkeit verlangen. Allein gerade gegen die, durch diesen relativen Volksjustizcharakter bedingte Eigenart der Geschworenenjustiz erheben sich von zwei Seiten her Angriffe. Zunächst wegen der stärkeren Interessengebundenheit der Geschworenen gegenüber der Sachlichkeit, die dem inneren Habitus des Fachmanns entspricht. Wie schon in der römischen Antike die Geschworenenliste Gegenstand des Klassenkampfes war, so wird die heute vorwiegende und in gewissem Umfang schwer vermeidliche, aber natürlich auch stark politisch bedingte, Auslese der Geschworenen aus „abkömmlichen“ Honoratiorenschichten, wenn auch vorwiegend plebejischer Art, als die Klassenjustiz begünstigend, namentlich von den Arbeitern perhorresziert, und, wo diese an der Geschworenenbank beteiligt werden, umgekehrt von den besitzenden Klassen. Übrigens sind nicht nur „Klassen“ als solche Interessenten: In Deutschland, wo allerdings die Geschlechtsehre der Frau auch sonst am niedrigsten gewertet wird, sind die Männer als Geschworene fast nie zu bewegen, einen ihrer
N
MWG: ihren ; Korrektur in MWG digital.
Geschlechtsgenossen z. B. wegen Vergewaltigung schuldig zu sprechen; mindestens dann nicht, wenn das Mädchen ihnen als „bescholten“ gilt. Auf der anderen Seite reagiert gegen die Laienjustiz die juristische Fachschulung mit dem Anspruch, daß die Laien, deren formal juristisch oft höchst anfechtbarer Wahrspruch ohne Begründung und ohne Möglichkeit materialer Anfechtung, also ganz nach Art eines irrationalen Orakels, abgegeben werde, beim Judizieren der Kontrolle der Fachmänner unterstellt, daß also gemischte Kollegien gebildet wer[637]den, in denen dann die Laien nach aller Erfahrung normalerweise den Fachjuristen an Einfluß unterlegen sind, so daß ihre Anwesenheit praktisch meist nur die Bedeutung einer Art Publizitätszwang für die Erwägungen der Fachjuristen zu besitzen pflegt, wie man ihn in der Schweiz durch die Öffentlichkeit auch der Beratungen der Gerichte durchzuführen gesucht hat.
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[637] Der Grundsatz der Öffentlichkeit nicht nur der Partei- und Beweisverhandlungen, sondern insbesondere auch der Beratungen und Abstimmungen des Gerichts spielte in der zeitgenössischen schweizerischen rechtspolitischen und parlamentarischen Diskussion eine bedeutende Rolle. Das zentrale Motiv zugunsten des Postulats der Öffentlichkeit von Urteilsberatung und -abstimmung war seine Wahlverwandtschaft mit demokratischen Idealen: Kontrolle der Richter, Garantie ihrer fachlichen und persönlichen Qualifikation, Transparenz des Verfahrens sowie Verbesserung der allgemeinen Rechtskenntnis durch Partizipation der Öffentlichkeit an der Rechtspflege. Während aber der Grundsatz in einer Reihe von Kantonen, speziell für die mit Laienrichtern besetzten Untergerichte, nicht durchdrang, galt er für das Bundesgericht seit dem „Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege“ vom 22. März 1893 (Art. 36); vgl. dazu Müller, K[arl], Die öffentliche Urteilsberatung bei den obersten kantonalen Gerichten, in: Schweizerische Rundschau, Jg. 6, 1905/06, S. 17–24.
Der Fachjustiz ihrerseits wiederum winkt auf kriminellem Gebiet die Entmündigung durch die Fach-Psychiater, auf welche zunehmend die Verantwortung gerade für die Beurteilung besonders schwerer Straftaten abgewälzt wird und denen damit der Ratio[C 511]nalismus eine Aufgabe zuschiebt, welche sie mit den Mitteln echter Naturwissenschaft gar nicht lösen können. Alle diese Konflikte sind ersichtlich nur höchst indirekt durch die technische und ökonomische Entwicklung, welche den Intellektualismus begünstigt, mitbedingt, primär aber meist Konsequenzen des unaustragbaren Gegensatzes zwischen formalem und materialem Prinzip der Rechtspflege, welche auch bei ganz gleicher Klassenlage miteinander in Konflikt geraten. Übrigens ist nicht sicher, ob die heute negativ privilegierten Klassen,
t
[637] In C bindet die Anmerkung der Erstherausgeber an: 1) Diese Abschnitte sind vor dem Krieg geschrieben.
speziell die Arbeiterschaft, von einer unformalen Rechtspflege für ihre Interessen das zu erwarten haben, was die Juristen-Ideologie annimmt. Ein bürokratisierter, in den leitenden Stellen zunehmend planvoll aus der Staatsanwaltschaft rekrutierter, überdies in seinem Avancement durchaus von den politisch herrschenden Gewalten abhängiger Richterstand kann nicht mit den schweizerischen oder englischen, noch weniger mit den amerikanischen (Bundes-)Richtern gleichgesetzt werden. Wenn man ihm den Glauben an die Hei[638]ligkeit des rein sachlichen Rechtsformalismus nimmt und ihn statt dessen darauf verweist, zu „werten“, so wird das Resultat ohne Zweifel ein ganz anderes sein als in jenen Rechtsgebieten.
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[638] Zweifel an der autonomen ethischen Entscheidungskompetenz des Richterstandes in Deutschland werden schon in dem Zeitschriftenartikel „‚Römisches‘ Recht und ‚deutsches‘ Recht“ (1895) sichtbar: „[…] der deutsche Richter wirft das ethische Richtschwert weit von sich und ruft nach formalen Merkmalen. Und es ist ja wahr: riefe er nicht darnach, so würde es heute das Publikum thun. Die breite Durchschnittsmasse der heutigen Juristen bringt die Voraussetzungen zur Ausfüllung einer größeren und würdigeren Rolle wohl nicht überall mit sich“ (MWG I/4, S. 526–534, Zitat S. 534).
– Doch gehört dies nicht in unsere Betrachtung. – Nur einige historische Irrtümer sind richtig zu stellen.
Wirklich bewußt „schöpferisch“, d. h. neues Recht schaffend, haben sich nur Propheten zum geltenden Recht verhalten. Im übrigen ist es, wie nochmals nachdrücklich zu betonen ist,
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Siehe dazu bereits oben, S. 440–443.
durchaus nichts spezifisch Modernes, sondern gerade auch den, objektiv betrachtet, am meisten „schöpferischen“ Rechtspraktikern eigen gewesen, daß sie subjektiv sich nur als Mundstück schon – sei es auch eventuell latent – geltender Normen, als deren Interpreten und Anwender, nicht aber als deren „Schöpfer“, fühlten. Daß man heute diesem subjektiven Glauben gerade der anerkannt erheblichsten Juristen den objektiv anders liegenden Tatbestand entgegenhält und aus diesem nun die Norm für das subjektive Verhalten machen möchte, ist – mag man sich zu dem Verlangen stellen wie immer – jedenfalls Produkt intellektualistischer Desillusionierung. Die alte Stellung des englischen Richters dürfte mit Fortschritt der Bürokratisierung und der
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[638] In C folgt in eckigen Klammern die Einfügung der Erstherausgeber: formalen
Rechtssatzung auf die Dauer stark erschüttert werden. Ob man aber einen bürokratischen Richter in Ländern mit kodifiziertem Recht dadurch allein zu einem Rechtspropheten machen wird, daß man ihm die Krone des „Schöpfers“ aufdrückt, ist nicht sicher. Jedenfalls aber wird die juristische Präzision der Arbeit, wie sie sich in den Urteilsgründen ausspricht, ziemlich stark herabgesetzt werden, wenn soziologische und ökonomische oder ethische Räsonnements an die Stelle juristischer Begriffe treten. – Die Bewegung ist, alles in allem, einer der charakteristischen Rückschläge gegen die Herrschaft des „Fachmenschentums“ und den Rationalismus, der freilich letztlich ihr eigner [639]Vater ist. Jedenfalls also zeigt die Entwicklung der formellen Qualitäten des Rechts eigentümlich gegensätzliche Züge. Streng formalistisch und am Sinnfälligen haftend, soweit die geschäftliche Verkehrssicherheit es verlangt, ist es im Interesse der geschäftlichen Verkehrsloyalität unformal, soweit die logische Sinninterpretation des Parteiwillens oder die in der Richtung eines „ethischen Minimums“ gedeutete „gute Verkehrssitte“ es bedingen. Es wird darüber hinaus in antiformale Bahnen gedrängt
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[639]C: gedrängt,
durch alle diejenigen Gewalten, welche an die Rechtspraxis den Anspruch stellen, etwas anderes als ein Mittel befriedeten Interessenkampfs zu sein. Also durch materiale Gerechtigkeitsforderungen sozialer Klasseninteressen und Ideologien und durch die auch heute wirksame Natur bestimmter politischer, speziell autokratischer und demokratischer, Herrschaftsformen, sowie derjenigen Anschauungen über den Zweck des Rechtes, welche ihnen adäquat sind, und durch die Forderung der „Laien“ nach einer ihnen verständlichen Justiz. Endlich unter Umständen auch, wie wir sahen,
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[639] Siehe oben, S. 624–631.
durch ideologisch begründete Machtansprüche des Juristenstandes selbst. Wie immer aber sich unter diesen Einflüssen das Recht und die Rechtspraxis gestalten mögen, unter allen Umständen ist als Konsequenz der technischen und ökonomischen Ent[C 512]wicklung, allem Laienrichtertum zum Trotz, die unvermeidlich zunehmende Unkenntnis des an technischem Gehalt stetig anschwellenden Rechts durch die Laien, also Fachmäßigkeit des Rechts[,] und die zunehmende Wertung des jeweils geltenden Rechts als eines rationalen, daher jederzeit zweckrational umzuschaffenden, jeder inhaltlichen Heiligkeit entbehrenden, technischen Apparats sein unvermeidliches Schicksal. Dieses Schicksal kann durch die aus allgemeinen Gründen vielfach zunehmende Fügsamkeit in das einmal bestehende Recht zwar verschleiert, nicht aber wirklich von ihm abgewendet werden. Alle die kurz erwähnten modernen, wissenschaftlich oft höchst wertvollen Darlegungen rechtssoziologischer und rechtsphilosophischer Art
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Siehe oben, S. 621 ff.
werden nur dazu beitragen, diesen Eindruck zu verstärken, mögen sie ihrerseits Theorien über die Natur des Rechts und die Stellung des Richters vertreten, welchen Inhalts immer.