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MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[1]Einleitung

I. Zum wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund S. 4. – II. Die Unterscheidung von juristischer und soziologischer Betrachtungsweise S. 30. – III. Begriff und Wirklichkeit des Rechts im Gefüge normativer Systeme: „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ S. 42. – IV. Die Entwicklung des Rechts: Die sog. „Rechtssoziologie“ Max Webers S. 54. – V. „Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands“ von „Wirtschaft und Recht“ S. 57. – VI. Die Entwicklungsbedingungen des rationalen Rechts S. 61. – VII. Die Macht der „innerjuristischen Verhältnisse“ S. 70. – VIII. Träger der rechtlichen Rationalisierung S. 79. – IX. Die religiösen Mächte, ihre Ordnungen und die Bezüge zur Analyse religiöser Gemeinschaften S. 89. – X. Die politischen Mächte und die Rationalisierung des Rechts S. 113. – XI. Die materialen Qualitäten des formalen Rechts und die Gefährdungen moderner Rechtskultur S. 125. – XII. Biographischer Epilog S. 131.
Die Rechtstexte Max Webers haben große Irritationen hinterlassen. Insbesondere die der rechtshistorischen Vielfalt nahe stehenden Autoren haben ihr Befremden über die Mischung von Generalisierungen und historischen Konkretismen formuliert. Französische Meisterjuristen, wie Jean Carbonnier, bemerken ironisch, daß in Frankreich die Rezeption der „Rechtssoziologie“ Max Webers unter dem doppelten Handicap stand, den Soziologen nicht genügend marxistisch zu sein und für den Juristen das Übel zu verkörpern, das niemandem verziehen wird: nicht über ausreichende „clarté“ zu verfügen.
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[1] Carbonnier, Jean, Sociologie juridique. – Paris: Presses Universitaires de France 1978, S. 134 (hinfort: Carbonnier, Sociologie juridique): „En France, son oeuvre a souffert d’un double handicap: pour beaucoup de sociologues, elle manquait de marxisme, pour beaucoup de juristes, elle manquait de clarté.“
Überboten wird das noch durch den Vorwurf eines „confusionnisme“, das der überbordenden Materialfülle geschuldet sei.
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Bimo, Albert, Les grands courants de la philosophie du droit et de l’Etat, 3iѐme éd. – Paris: Pedone 1978, S. 394: „[…] on peut regretter peut-être chez Max Weber un certain confusionnisme dans son exposé qui tient à la richesse surabondante de la documentation“.
Und Anthony Kronman urteilt scharf: „Although it contains many individual passages whose significance can be appreciated even on a first reading, the overall impression one receives of it is a vast hodge-podge of ideas and observations ranging in generality from very specific historical analyses to the most abstract conceptual schemata, all thrown together in a random fashion so that the reader moves from one topic and level of generality to another without ever quite seeing the connection between them. UnIike some of Weber’s other writings [2]– his essay on the protestant ethic and the spirit of capitalism, for example – the Rechtssoziologie lacks polish and organizational unity; it is a great, roughhewn mass of thoughts which, although often suggestive, do not together form a recognizable whole – which do not in other words, constitute a work.“
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[2] Kronman, Anthony, Max Weber. Jurists: Profiles in Legal Theory. – Stanford: University Press 1983, S. 2.
In pointierter Formulierung gibt Kronman damit einen verbreiteten Lektüreeindruck wieder, der die Rezeption der Weberschen „Rechtssoziologie“ massiv behindert hat. Und handelt es sich überhaupt um eine „Soziologie des Rechts“, wenn seinerzeit bekannte Autoren, etwa Eugen Ehrlich, als „Rechtssoziologen“
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Unten, S. 432.
tituliert und dabei in distanzierende Anführungszeichen gesetzt sind, denen Weber sich also gerade nicht zurechnen will? Oder handelt es sich vielmehr um eine Art Universalgeschichte des Rechts, die uns Weber als Prozeß rechtlicher Rationalisierung zu lesen vorschlägt?
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Wolfgang Schluchter hat in der „Rechtssoziologie“ ein besonders elaboriertes Beispiel für das Paradigma des okzidentalen Rationalismus gesehen (vgl. ders., Die Entstehung des modernen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Entwicklungsgeschichte des Okzidents. – Frankfurt a.Μ.: Suhrkamp 1998 (zuerst Tübingen 1979), S. 190 ff. (hinfort: Schluchter, Entstehung des okzidentalen Rationalismus)).
Ist es nicht präziser, im Hinblick auf die dominante Ausrichtung und Affinität Webers zum Zivilrecht von einer – wie auch immer unvollkommenen – „Privatrechtsgeschichte des Okzidents“ zu sprechen, insbesondere wenn man die langen Passagen über die Genese der Privatautonomie im § 2 vor Augen hat? Oder hat gar Kronman Recht, daß es sich überhaupt nicht um ein irgendwie beschreibbares Ganzes handelt, allenfalls, wenn man das Manuskript vor Augen hat, in dem geklebt, gerissen und geschnitten ist, allongiert und collagiert wird, um ein bloßes „Collagenwerk“? Dieses Bild schneidet sich mit der Bewertung der „Rechtssoziologie“ als eines Musterbeispiels für Analysen des von Weber entdeckten Themas der okzidentalen Rationalisierung, so daß die „Rechtssoziologie“ wie ein Kulminationspunkt seines Schaffens überhaupt erscheint. Dabei bleibt die Kontroverse verdeckt, weil letztlich der Text als schwer „verdaulich“ eingeschätzt wird und er auch der zündenden idealtypischen Schemata entbehrt, mit der man die Herrschaftslehre Webers sich anzueignen glaubt, wenn man nur die Herrschaftstypen benennt,
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Eine so naive Wahrnehmung ist nach der Editionsarbeit von Edith Hanke nicht mehr möglich (vgl. MWG I/22-4).
ohne die historische Vielfalt der Herrschaftsformen zu rezipieren.
Aus diesem Dilemma, entweder Weber weiter zu abstrahieren, um den Theoriegehalt zu retten, oder aber im Meer der Rechtsgeschichten zu versinken: von Mesopotamien bis in die afrikanische Jurisprudenz, vom Judentum bis zum Islam und Christentum, vom römischen Recht bis zum Code Civil [3]unter Berücksichtigung der germanischen Rechte und der angelsächsischen Rechtskulturen, aus diesem Dilemma hilft nur eins: Man muß den theoretischen Argumentationsweg durch die Darlegung der Textgenese und ihrer jeweils klaren Kompositionsideen freilegen, ihre Verwerfungen zeigen und in der Ausbreitung des rechtsvergleichend und universalhistorisch mobilisierten Rechtswissens seiner Zeit die Kontexte so erhellen, daß einzelne Sachverhalte nachvollziehbar werden. Da niemand zugleich in allen Bereichen Spezialist sein kann, sind auch die Versuchungen aufzuzeigen, denen Weber sich selbst durch die Technik der sich ausweitenden rechtshistorischen und vergleichenden Exkurse zwangsläufig ausgesetzt hat. Ist das der Unfähigkeit geschuldet, die Fülle des weltgeschichtlichen Stoffs der rechtlichen Sphäre besser zu beherrschen, oder schafft nicht die Frage nach den Entwicklungsbedingungen des rationalen Rechts überhaupt erst ein, wenn nicht das Selektionskriterium, unter dem der unendliche Strom des rechtshistorischen Geschehens lokaler und globaler Rechtskulturen gebändigt werden kann?
In Webers Schriften zum Recht spiegeln sich die zeitgenössischen Strömungen eines Kampfes um das richtige Recht der Moderne. Die Schriften weisen zugleich über ihren zeitgebundenen Horizont hinaus. Sie ermöglichen es, die brennenden und beunruhigenden Fragen konkurrierender und vielfach antagonistischer Rechtskulturen adäquater zu begreifen. Dabei sind lästige Hindernisse des Verstehens auszuräumen, die z. T. in der von Weber beschriebenen Eigenart des formal rationalen Rechts selbst liegen, einer Diskrepanz zwischen Experten- und Laienwissen. Diese Schriften stehen Webers Ausgangsdisziplin, der Jurisprudenz, am nächsten. Ihr Sinngehalt formuliert das für den juristisch und rechtshistorisch Geschulten seiner Zeit mitunter Selbstverständliche, das dem heutigen Leser fremd geworden ist. Dabei fügen diese Schriften – in außerordentlicher Kühnheit bis zur Unverständlichkeit – Epochen, Rechtskulturen, Rechtssysteme in ihren jeweiligen Bezügen zu Wirtschaft, Politik und Religion zu einem polyphonen Klang der Sphären der Moderne zusammen, aus denen sich die Eigenart des okzidentalen Rationalismus und dessen Entwicklungsmuster in paradigmatischer Weise herausschält. Dieser große Entwurf zur Deutung der Moderne steht am Ende einer gedanklichen Bewegung, die mit der sehr bescheidenen Pflichtaufgabe einsetzt, das Schönbergsche Handbuch, den späteren GdS, als Wissenschaftsorganisator auf den Weg zu bringen und selbst als Lückenbüßer, Komplementär und Leitfigur das Mammutvorhaben auch dann noch voranzutreiben, wenn vielfach bedingte Schreibhindernisse der raschen Fertigstellung im Wege standen. Insofern durchdringen sich biographische Linien, die bis in Webers Studienzeit zurückreichen, mit der Entwicklung des zu erfassenden Gegenstandes selbst in einem komplexen wissenschaftsgeschichtlichen Handlungsfeld, das sich in einer eigenen Textdynamik niederschlägt, welche in diesem Bande für den Leser textkritisch anhand der vielstufigen Originalma[4]nuskripte zu „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ sowie „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“ aufbereitet wird.
Aus dem wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund ergibt sich die Besonderheit des Weberschen Rechtsbegriffs, der sich von anderen normativen Ordnungen vor dem Hintergrund einer scharfen Scheidung von normativer und empirischer Betrachtungsweise absetzt, Recht als einen Kulturtatbestand faßt und damit den Entwicklungsraum des Rechts bestimmt, aus dem sich die besonderen Gefährdungen des okzidentalen, formal rationalen Rechts nach Weber herleiten.

I. Zum wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund

Max Weber schöpft aus dem Reichtum eines rechtshistorischen und juristisch-fachlichen Wissens, in dem sich germanistische und romanistische Traditionen vereinen.
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[4] Zu deren Spannungsverhältnis äußert sich Weber bereits 1895 in dem populären Zeitschriftenartikel über „,Römisches‘ und ,deutsches‘ Recht“, in: MWG I/4, S. 524–534. Vgl. auch die eingehende Darstellung von Dilcher, Gerhard, Einleitung: in: MWG I/1, S. 1–97, bes. S. 14–21 (hinfort: Dilcher, Einleitung).
Darüber hinaus repräsentieren die nachfolgend edierten Texte eine die Rechtskulturen der Welt vergleichende Analyse des Rechts, die vor allem ihre religiösen Bedingungskontexte erfaßt.
Vordergründig stehen lebensgeschichtlich benennbare Auseinandersetzungen im Mittelpunkt: über die frühere Kritik an Rudolf Stammler hinaus
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Weber, Überwindung.
endlich das Eigene zu entwickeln, in dem die Wechselwirkungen von Recht und Wirtschaft in einer materialismuskritischen Sicht so durchdrungen sind, daß sowohl die prinzipiellen Fragen dieses umstrittenen Beziehungsverhältnisses geklärt, aber auch entwicklungsgeschichtliche Linien der Beziehung von Wirtschaft und Recht als „Epochen“ oder aber „Entwicklungsbedingungen“ entfaltet werden. Für das Gewicht des Weberschen Werkes aber ist der Bezug zur alles überragenden Rationalismusthese derart zentral, daß neben die religiösen Mächte nunmehr die juridischen Ordnungen treten, aus denen die Eigenart der okzidentalen, rationalen Rechtskultur hervorgeht. Erst in den Gegenspiegelungen von Hinduismus und Buddhismus, islamischer Welt, Konfuzianismus und Judentum wird sichtbar, worin die okzidentale Rationalisierung der rechtlichen Sphäre begründet ist.
Wie aber ist Weber dazu gekommen, an für ihn weit zurückliegende Wissensbestände aus Dissertation und Habilitation zu Gegenständen wieder anzuknüpfen, die unter juridischem Blickwinkel zwischenzeitlich nur beiläufig thematisiert wurden, um nunmehr eine in sich geschlossene Kultursoziologie des Rechts in zahlreichen Überarbeitungsstufen zu produzieren? Zum For[5]schungsterrain des Rechts sind nämlich die Spuren im Briefwerk, im Unterschied zu anderen Projekten, die sehr viel genauer belegt sind, außerordentlich dünn. Handelt es sich um einen Gegenstand, der Weber derart selbstverständlich ist, daß er hierüber nicht kommunizieren muß, oder sind ihm die juristisch kompetenten Gesprächspartner, über Georg Jellinek oder Hermann Kantorowicz hinaus, einfach nicht verfügbar? Umso einzigartiger ist Webers Entwurf, der noch immer auf eine Rezeption wartet, aus einer Vielzahl verzweigtester Rechtsgeschichten eine große, alles bündelnde Metaerzählung über den juridischen Rationalismus im Okzident zu verfassen, die sich nur in universalhistorischer Perspektive und mit Blick auf die Weltkulturen des Rechts erzählen läßt. Dieser Entwurf steht im Bannkreis einer juristisch-praktischen Ausbildung und Gelehrsamkeit, die niemals in eine juristische Tätigkeit gemündet ist. So ist auch die Berufung an die juristische Fakultät der Universität Bonn, die Weber im Jahre 1919 beinahe zu seinen Anfängen in der Juristerei zurückgeführt hätte, nicht erfolgt.
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[5] Vgl. die Einleitung, unten S. 131.
Nur Freunde des Hauses Weber vermochten von der praktisch-juristischen Begabung zu profitieren – Textspuren hiervon finden sich u. a. in einem als Schreibpapier verwendeten Briefentwurf im Text „Die Wirtschaft und die Ordnungen“
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Vgl. den Editorischen Bericht und Anhang zum Text „Die Wirtschaft und die Ordnungen“, unten, S. 182 und 190.
–, während andere Weber als Verleumder in Beleidigungsprozessen fürchten lernten.
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In welchem Ausmaß Weber einen beleidigungsfähigen Ehrenkodex für sich als verbindlich ansah, ist in den Prozeß-Korrespondenzen zu seinen Auseinandersetzungen mit Arnold Ruge, Julius Ferdinand Wolff und Otto Bandmann sowie mit Adolf Koch ausgiebig dokumentiert (vgl. die Einleitung zu: MWG II/7, S. 5–9, passim, und den Dokumenten-Anhang, ebd., S. 816–988) ebenso wie der im Kontext des GdS ausgetragene Streit mit Bernhard Harms (vgl. die Einleitung zu: MWG II/8, S. 3, passim).

1. Vom Studium der Rechte zur Soziologie des Rechts

Max Weber hat vom Studium der Rechte über die juristische Promotion, das Assessorexamen bis zur Habilitation an der juristischen Fakultät eine nahezu gradlinige Juristenkarriere durchlaufen.
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Wichtige Hinweise finden sich in der Einleitung von Jürgen Deininger zu: Weber, Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 4–13, vgl. nunmehr auch Dilcher, Einleitung (wie oben, S. 4, Anm. 7), S. 8–14 und passim; vgl. auch Marra, Realino, Dalla communità al diritto moderno. La formazione giuridica di Max Weber 1882–1889. – Turin: Giappichelli 1992.
Dabei ist sein Verhältnis zur Jurisprudenz durchaus zwiespältig. Max Weber sen. war Jurist, und so lag die Jurisprudenz wohl näher als eine noch unreife Nationalökonomie oder gar die brotlosen Künste der Philosophie, von Soziologie ganz zu schweigen, die ja [6]allenfalls dem Namen nach und nur als Schreckbild positivistisch-französischer Wissenschaften existierte.
Aus den Jugendbriefen läßt sich ersehen, zu welchen Seiten der Jurisprudenz sich Weber hingezogen fühlte.
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[6] Zum Wissensstand des Rechtsreferendars vgl. den Brief Max Webers an Ferdinand Frensdorff vom 22. Jan. 1887, abgedr. in: Weber, Jugendbriefe, S. 214–216 (MWG II/2).
Das Strafrecht ist ihm zuwider und überdies von minderem intellektuellem Wert. Um die auf Tanzlustbarkeiten verschwendete Zeit zu charakterisieren – Weber zog bekanntlich den Paukboden, wie wir noch sehen werden, dem Tanzboden vor – führt er aus: „Innerhalb dieses Zeitraumes kann man den allgemeinen Teil des Reichsstrafgesetzbuches ganz durcharbeiten und den besonderen wenigstens bis zu den gemeingefährlichen Verbrechen.“
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Brief Max Webers an die Mutter vom 24. Jan. 1888, abgedr. in: Weber, Jugendbriefe, S. 289 (MWG II/2).
Es kann daher auch nicht verwundern, in Webers „kulturwissenschaftlichen“ oder „soziologischen“ Schriften kaum etwas von Strafe und Verbrechen zu lesen. Die negative Bewertung der Strafrechtsdogmatik wandelt sich nicht. So wäre es geradezu ein Jammer, das Strafrecht „dies (nachgerade) fade Zeug“ in ein Akademieprojekt mit aufzunehmen, wie Weber an dessen Protagonisten Georg Jellinek noch im Jahre 1909 vermerkt.
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Brief Max Webers an Georg Jellinek vom 16. Juli 1909, MWG II/6, S. 189 f., hier S. 189.
Gleichwohl hat die eher oberflächliche Befassung mit dem Strafrecht weitreichende Spuren hinterlassen, u. a. in der Ausformulierung eines von der Strafrechtsdogmatik inspirierten Handlungsbegriffs, unter Bezug auf Gustav Radbruch, sowie in der Berücksichtigung hypothetischer Kausalverläufe für die Begründung des soziologisch-historischen Zurechnungsurteils.
Weber entspricht vielmehr dem Bild des Zivilrechtlers, dessen Schulung in der gemeinrechtlichen Doktrin die Konturen des später von ihm favorisierten formal rationalen Rechts liefert: „Systemglaube“, „Lückenlosigkeit“, „vollständige Subsumierbarkeit“ der Wirklichkeit unter rechtlich geformte Tatbestände etc.,
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Vgl. die Aufzählung der Merkmale des formal rationalen Rechts am Schluß des § 1 der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“, unten, S. 305.
dieser Idealtypus des formal rationalen Rechts ist so weit von dem in der Freirechtsschule entdeckten „wirklichen“ Recht entfernt, daß die Tatsachen des Rechts gar nicht erst in den Blick zu geraten scheinen. Aber selbst in seinen zivilistischen Interessen ist Weber kein eingefleischter Dogmatiker, sondern von Beginn an rechtshistorisch orientiert. Und dies gilt auch für seinen Zugang zum römischen Recht. So moniert Weber in einem Studienbrief an die Mutter, daß die Darstellung der „Institutionen“ durch den berühmten Lehrer des römischen Rechts Ernst Immanuel Bekker (1827–1916) zwar gefällig sei, dafür aber wird das Kolleg über römische Rechtsgeschichte kri[7]tisiert: „Die römische Rechtsgeschichte dagegen, die er ganz mit dem anderen Kolleg zusammenhängend liest, gefällt mir, dem Puchta noch im Kopf sitzt, […] deshalb weniger, weil es keine Geschichte ist, sondern in erster Linie eine Darstellung des ausgebildeten römischen Zivil- und Kriminalprozesses mit wenigen rechtsvergleichenden Intermezzos.“
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[7] Brief Max Webers an die Mutter vom 2. Mai 1882, abgedr. in: Weber, Jugendbriefe, S. 41 (MWG II/1).
Damit zeigt Weber eine Vorliebe für die geschichtliche Betrachtung des Rechts. Zum besseren Verständnis dieser Orientierung ist daran zu erinnern, daß – wie Weber durch den Bezug auf Puchta andeutet – die gemeinrechtliche Praxis als Rechtsgeschichte angelegt war, während das historisch entfernte römische Recht als Vorbild dogmatischer Systembildung entwickelt wurde. Wenn man Webers weitere Studien hinzunimmt – neben der rechtshistorischen Prägung durch die Kollegien Theodor Mommsens hat Weber die Logik-Vorlesung von Kuno Fischer verfolgt –, so nimmt es nicht wunder, daß Spannungen gegenüber einem Studium auftreten, dessen Abschluß auf die Rechtspraxis zielt. Weber greift eben von Beginn an über die auf Praxis zielende Rechtsdogmatik hinaus, was ihn den typischen Examensnöten aussetzt. So gesteht Weber in einem weiteren Schreiben an die Mutter vom 17. Februar 1886 zu, daß er sich zur Examensvorbereitung mit einem Repetitorium hätte befassen sollen. Noch ein Jahr zuvor hatte er über einen Kameraden der Alemannen berichtet: „[…] er schwitzt hier im Repetitorium bei einem Assessor – ich glaube, daß ich dergleichen gerade so gut nicht mitmache.“
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Brief Max Webers an den Vater vom 2. Nov. 1885, ebd., S. 181–185 (MWG II/1), hier S. 185
Am Ende schwindet freilich dem cand. jur. Max Weber jun. der Mut: „[…] ich glaube mich mit außerordentlich vielen Sachen abgegeben zu haben, die dabei durchaus nicht in Betracht kommen und mit denen mich zu befassen ich gerade so gut bis nach dem Examen hätte aufschieben können.“
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Brief Max Webers an die Mutter vom 17. Febr. 1886, ebd., S. 202 (MWG II/1).
Nur in der Examenssituation bedauert Weber die „außerordentlich vielen Sachen“, die er hätte aufschieben können: „Jetzt indessen werde ich die Sache eben so versuchen müssen, obwohl jeder Professor zugesteht, daß die Leute, welche sich haben ,einpauken‘ lassen, selbst ohne vorher etwas getan zu haben, weit bessere Examenskandidaten sind als die strebsamsten Lichter der Studentenschaft.“
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Ebd.
In Professor Frensdorff hat Weber nun wenigstens einen Privatrepetitor, auch wenn ihn dieser nur in deutscher Rechtsgeschichte examiniert.
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Vgl. den Brief Max Webers an die Mutter vom 24. Jan. 1886, ebd., S. 198–202 (MWG II/1), hier S. 200; zur nachhaltigen Anhänglichkeit an den Studienfreund des Vaters vgl. den Brief an die Mutter vom 13. April 1909, MWG II/6, S. 100 f., hier S. 101.
[8]Für Webers weiteren Weg ist entscheidend, daß er das Angebot von Ferdinand Frensdorff, eine deutsch-rechtliche Dissertation zu verfassen, ablehnt. Die Begründung macht Webers Verhältnis zur Rechtsgeschichte nochmals deutlich: Es sei einfach mit der noch zu gewinnenden „juristischen Bildung“ unvereinbar, neben dem bildungsträchtigen römischen Recht bzw. dem Pandektenrecht auch noch die „Masse politischen Materials“ im preußischen Landrecht ernsthaft zu betreiben.
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[8] Brief Max Webers an Ferdinand Frensdorff vom 22. Jan. 1887, abgedr. in: Weber, Jugendbriefe, S. 216 (MWG II/2).
So wird Weber seine juristische Promotion mit einer Arbeit über die Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter bei Levin Goldschmidt bestreiten.
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Vgl. Weber, Max, Entwickelung des Solidarhaftprinzips und des Sondervermögens der offenen Handelsgesellschaft aus den Haushalts- und Gewerbegemeinschaften in den italienischen Städten. – Stuttgart: Gebrüder Kröner 1889 [Diss. iur. Berlin; Teildruck von Weber, Handelsgesellschaften] (MWG I/1, S. 190–293; vgl. dazu den Editorischen Bericht, ebd., S. 127 f.).
Trotz dieses eindeutigen wissenschaftlichen Interesses zieht es Weber zunächst auch zur Praxis hin. In einem weiteren Brief an Frensdorff schildert er sein unübersehbares Vergnügen an der zivilistischen Arbeit: „Wenigstens merkt man bei der gegenwärtigen Tätigkeit bei den Zivilkammern doch wieder, was längst nicht mehr der Fall gewesen ist, daß man nicht einer degenerierten Spezies eines Kanzlisten, sondern ein vielfach der Verwendung zugänglicher Jurist ist und bei einer juristischen Behörde und nicht in einer schlichten Schreiberstube gedrillt wird.“
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Brief Max Webers an Ferdinand Frensdorff vom 16. Juni 1887, abgedr. in: Weber, Jugendbriefe, S. 247 (MWG II/2).
Diese Einschätzung trifft nach wie vor für die Arbeit in Strafsachen nicht zu, die er schlichtweg „öde“ findet und der er „nie erhebliches wissenschaftliches Interesse abzugewinnen“
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Brief Max Webers an Ferdinand Frensdorff vom 22. Jan. 1887, ebd., S. 215 (MWG II/2).
vermocht hat. Aus einem Brief an Hermann Baumgarten wissen wir, daß er sich um eine Stelle als Syndikus beworben hat. Vom Scheitern berichtet er mit großem Bedauern: „Ich habe eine ganz außerordentliche Sehnsucht nach einer praktischen Tätigkeit, und diese würde hier vielleicht befriedigt und damit erledigt worden sein.“
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Brief Max Webers an Hermann Baumgarten vom 3. Jan. 1891, ebd., S. 326 (MWG II/2).
Weber schlägt dennoch die wissenschaftliche Laufbahn ein, wobei seine Habilitation nicht ohne Schwierigkeiten verläuft, weil sein in der Promotion von der rechtshistorischen Seite anvisiertes Fachgebiet, das Handelsrecht, an der Berliner Fakultät nach Einschätzung Goldschmidts übermäßig vertreten ist.
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Vgl. ebd.
Die Habilitationsschrift schließlich handelt über „Römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht“.
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Vgl. Weber, Römische Agrargeschichte (MWG I/2).
Als Privatdo[9]zent ist Weber dann verpflichtet, die für sich selbst als „unwissenschaftlich“ abgelehnten Repetitorien selbst abzuhalten,
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[9] Vgl, hierzu die Aufstellung der Lehrveranstaltungen Max Webers vom Sommersemester 1892 bis zum Sommersemester 1894, in denen er fünfmal ein Praktikum im Handelsrecht anbietet (Anhang 1 zur Einleitung, MWG III/1, S. 53 f.).
wonach seine anfangs empfundene pädagogische Berufung immer mehr zu schwinden scheint. Die Bewerbung auf einen Lehrstuhl für Nationalökonomie in Freiburg mag auch durch seine wachsende Distanz zur Jurisprudenz als Wissenschaft bedingt sein, zumal Weber in einem Brief an Hermann Baumgarten bekennt: „Ich meinerseits bin im Laufe der Zeit ungefähr zu einem Drittel Nationalökonom geworden.“
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Vgl. den Brief Max Webers an Hermann Baumgarten vom 3. Jan. 1891, abgedr. in: Weber, Jugendbriefe, S. 324–330 (MWG II/2), hier S. 327.
Das Unbehagen an der Juristerei wird greifbar, wenn er in einem Brief an die Mutter seinen Hoffnungen auf eine Berufung nach Freiburg Ausdruck verleiht: „Leid täte es mir, wenn ich an die doch relativ öde Juristerei geschmiedet bliebe.“
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Brief Max Webers an die Mutter vom 26. Juli 1893, ebd., S. 372 (MWG II/2).
Nicht als Nationalökonom, dem ja von seiner juristischen Herkunft her die notorische Problematik von Recht und Wirtschaft besonders am Herzen hätte liegen müssen, sondern als Kritiker von „R. Stammlers ,Überwindung‘ der materialistischen Geschichtsauffassung“
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Weber, Überwindung.
tritt aus dem Hintergrund der methodologischen Kritik eines vermeintlichen Kantianers das Sachinteresse am Recht derart in den Vordergrund, daß die Ausrichtung des Weberschen Beitrages zum Schönbergschen Handbuch, dem späteren GdS, aus der Frontstellung zu Stammler motivational und sachlich, bis zu einem bezeichnenden Wendepunkt freilich, gespeist wird.

2. Von der Stammlerkritik zur verstehenden Soziologie des Rechts

Es ist also eine methodologische Auseinandersetzung, die Weber wieder in den Bannkreis des Rechts zieht und dann als methodisches und sachliches Grundmotiv die Ausarbeitung des Weberschen Grundrißbeitrages vorantreibt. Wie konnte eine methodologische Auseinandersetzung diese wichtige Scharnierfunktion erfüllen, die sich bis in Details der Argumentation des hier edierten Textes über „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ nachweisen läßt? So weit, daß Weber noch 1913 an Kantorowicz zu dem Projekt seiner „Verstehenden Soziologie“ schreibt: „Es ist der Versuch, alles ,Organizistische‘, Stammlerische, Überempirische, ,Geltende‘ (=Normhaft Geltende) zu beseitigen und die ,soziologische Staatslehre‘ als Lehre vom rein empirischen typischen menschlichen Handeln aufzufassen […].“
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Brief Max Webers an Hermann Kantorowicz vom 29. Dez. 1913, MWG II/8, S. 442 f.
Hierbei konnte Weber an [10]ein Einverständnis über den geistigen „Unwert“ Stammlers anknüpfen, eine Einschätzung, die Kantorowicz in seiner Rezension von Stammlers „Die Lehre vom Richtigen Recht“ so scharf formuliert hatte, daß Weber hierüber methodische Differenzen zu Kantorowicz zurücktreten läßt und bekennt „daß ich in der vorliegenden Frage durchaus Ihrer Ansicht bin und mich sehr freue, bei der Fortsetzung meiner Analyse von Stammler […] nun der Aufgabe, den Unfug des ,richtigen Rechts‘ auch noch totzuschlagen, durch die gründliche Arbeit eines Berufeneren enthoben zu sein“.
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[10] Brief Max Webers an Hermann Kantorowicz vom 30. Okt. 1908, MWG II/5, S. 690 f., hier S. 690.
Nicht nur Weber hat sich an Stammler gerieben. Vielmehr sind die soziologischen Gründerfiguren Simmel,
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Vgl. Simmel, Georg, Zur Methodik der Socialwissenschaft, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Jg. 20, 1896, S. 227–237.
Tönnies,
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Vgl. Tönnies, Ferdinand, Besprechung von: Rudolf Stammler, Recht und Wirtschaft nach der materialistischen Geschichtsauffassung, in: Archiv für Systematische Philosophie, N. F. Band 4, 1898, S. 109–116.
Durkheim (durch die Année Sociologique)
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Vgl. Simiand, Georges, Besprechung von: Rudolf Stammler, Recht und Wirtschaft nach der materialistischen Geschichtsauffassung, in: L’Année Sociologique, Band 1, 1898, S. 488–497.
– neben Weber – in grundlegender Weise auf Stammlers Anschauungen eingegangen. Auch die rechtsphilosophischen und rechtstheoretischen Strömungen der Jahrhundertwende bleiben auf Stammler fixiert. Dies macht sich u. a. an Autoren wie Emil Lask
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Vgl. Lask, Emil, Rechtsphilosophie, in: Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts (Festschrift für Kuno Fischer, hg. von Wilhelm Windelband), 2., verb. und erw. Aufl. – Heidelberg: Carl Winter 1907, S. 269–317 (hinfort: Lask, Rechtsphilosophie).
und Gustav Radbruch fest. Letzterer schreibt an Kantorowicz über die erste Auflage von Stammlers „Wirtschaft und Recht“: „Ich halte dies Werk nach erneuter Lektüre für sehr hervorragend. Sie müssen es jedenfalls lesen.“
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Brief Gustav Radbruchs an Hermann Kantorowicz vom 12. Sept. 1903, GRG, Band 17 (Briefe 1: 1898–1918), bearb. von Günter Spendel. – Heidelberg: C. F. Müller 1991, S. 33 f., hier S. 33 (hinfort: GRG 17/1).
Erst Webers Kritik, die er gegenüber Kantorowicz als „trefflich“ kennzeichnet, veranlaßt Radbruch schließlich zu einer kritischeren Einschätzung von „Wirtschaft und Recht“. Aus einem Beitrag Stammlers im Hinnebergschen Handbuch über „Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft“
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Stammler, Rudolf, Wesen des Rechtes und der Rechtswissenschaft, in: Systematische Rechtswissenschaft (Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hg. von Paul Hinneberg, Teil II, Abt. VIII), 2. verb. Aufl. – Leipzig, Berlin: B. G. Teubner 1913, S. 1–65.
nämlich könne man ersehen, „daß man nicht 2 dicke Bände brauchte, um diese Gedanken auszudrücken“.
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Brief Gustav Radbruchs an Hermann Kantorowicz vom 22. Jan. 1907, in: GRG 17/1 (wie oben, Anm. 39), S. 110 f., hier S. 111.
Das Urteil des Philosophen Vorländer ist hingegen ungetrübt positiv, denn Stammler sei [11]„seine Hauptabsicht gelungen: die Grundlagen einer Sozialphilosophie als Wissenschaft zu schaffen“
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[11] Vorländer, Karl, Eine Sozialphilosophie auf Kantischer Grundlage, in: Kantstudien, Band 1, 1897, S. 197–216, hier S. 216.
und zwar als Anwendung des kantischen Kritizismus auf ein „fast noch völlig unbearbeitetes Gebiet“.
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Ebd., S.197.
Was hat Stammlers Lehre eine solche Bedeutung verliehen und sie zugleich für Weber als so verdammungswürdig erscheinen lassen? Und welchen Stellenwert besitzt das Anti-Stammlerische für „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ sowie für „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“ Max Webers?
In einer ungemein polemischen Auseinandersetzung mit Rudolf Stammlers Werk „Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung“
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Weber, Überwindung.
unterzieht Weber den Autor einer vernichtenden Kritik, die von Invektiven durchsetzt ist, wenn er z. B. von dem „Monströse[n]“ dieses Buches spricht
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Ebd., S. 94.
oder ein „Dickicht von Scheinwahrheiten, Halbwahrheiten, falsch formulierten Wahrheiten und hinter unklaren Formulierungen versteckten Nicht-Wahrheiten“ moniert, „scholastische Fehlschlüsse und Sophismen“ kritisiert, „welche die Auseinandersetzung mit dem Buche zu einem, schon des wesentlich negativen Ergebnisses wegen, unerfreulichen, dabei unendlich lästigen und höchst weitläufigen Geschäft machen.“
46
Die Zitate, ebd., S. 95. Mit allen Stilmitteln der klassischen Rhetorik, die in Webers Handexemplar (Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München) noch krudere Formen aufweisen, polemisiert er: „ganz schief formuliert“ (Marginalie in: Stammler, Wirtschaft und Recht, S. 13), „Ausdruck“ (ebd., S. 20), „das ist eine törichte Formulierung“ (ebd., S. 28), und immer wieder: „falsch und schief“ (ebd., S. 33, passim), um permanent „Begriffsschwächen“, „Erschleichungen“ und schlechterdings „Unsinn“ (ebd., S. 63) zu monieren, bis hin zum Empörungsausruf: „Unglaublich“ (ebd., S. 69), wenn Stammler behauptet: „Der soziale Materialismus ist eine systematische Methode dafür, in welcher allgemeingültigen Art und Weise die konkreten Vorgänge des Gesellschaftslebens überhaupt erst wissenschaftlich begriffen werden können.“
Am Maßstab der Weber bereits verfügbaren Methodologie bemessen, ist der Stammlersche Versuch, ein allgemeines Gesetz zu suchen, das der Gesamtheit aller sozialen Wirklichkeiten zugrunde liege und auch noch in einer „Form“ aufgipfele, der gegenüber die Wirklichkeitsfülle „Materie“ sei, unerfüllbar: er verkennt den Konsens der „Jünger Kants“ und die Einsichten der neukantianischen Erkenntnistheorie vor allem Heinrich Rickerts, daß sich die jeweiligen Forschungsgebiete, oder die „Formen“ des sozialen Lebens in Stammlers Sprachgebrauch, nicht als „abgeschlossene Welten selbständig in eignen Kausalreihen“
47
Weber, Überwindung, S. 97.
erschließen lassen, sondern nur „als unselbständige, lediglich im Wege der Abstraktion aus dem Ganzen der Einheit des Lebens gewonnene“,
48
Ebd.
durch spezifi[12]sche Gesichtspunkte konstituierte „Wirklichkeit“ betrachtet werden können. Damit allein stürzt das Projekt zusammen, eine solche die Einheit des sozialen Lebens konstituierende Kraft ergründen zu wollen und damit auch die von Stammler vermeintlich gefundene Weltformel vom „Recht“ als „Form des sozialen Lebens“. Dieses negative Ergebnis ist umso bemerkenswerter, als Weber selbst – auch im Stammler-Aufsatz – betont, daß die juristische Begriffsbildung als „Archetypos“
49
[12] Ebd., S. 138.
der sozialökonomischen Begriffsbildung zu fungieren vermag, insofern also eine methodologische Sonderstellung der juristischen Begriffswelt für die Sozialwissenschaften durchaus bestehe.
50
Vgl, hierzu die radikalste Formel in: Weber, Kategorien, S. 264 f.
Diese Sonderrolle der Rechtsbegriffe und damit auch des Rechts ergibt sich jedoch erst aus der Auflösung des fundamentalen Kategorienfehlers von Stammler, der Vermengung von empirischer und normativer Geltung einer Regel. Nach der Heterogenitätsthese der „Urteilskategorien (,Sein‘ und ,Sollen‘)“
51
Weber, Überwindung, S. 119.
ist die Regel und damit auch die Rechtsregel möglicher Bestimmungsgrund realen Handelns nicht aufgrund ihrer normativen Geltung, sondern erst dadurch, daß die „Vorstellung von der ,Norm‘, als reales Agens des Handelns“
52
Ebd., S. 125.
wirkt. Nicht die weitere Differenzierung des Regel- und Geltungbegriffs, bis hin zur regelorientierten Konstitution des Untersuchungsobjektes
53
Vgl. ebd., S. 134 f.
ist hier das Entscheidende, sondern die Erschließung des Rechts als legitimen Forschungsgegenstand einer wirklichkeitswissenschaftlichen Betrachtung, die den Kausalbeitrag zur Erklärung des Handelns in der Vorstellung der Akteure über die empirische Geltung einer normativen Ordnung sucht. Damit aber ist auch die Brücke zum Logos-Aufsatz geschlagen, in dem die Kategorie des „Einverständnisses“ ausgearbeitet wird, die ihrerseits den in die „Wirtschaft und die Ordnungen“ eingewobenen methodologischen Erörterungen erst die begrifflich-sachliche Schärfe verleiht. Polemik, Empörung und Entsetzen über das Maßlose Stammlers – „wie wichtig sich St. nimmt“
54
Marginalie in Max Webers Handexemplar von Stammler, Wirtschaft und Recht (Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München), S. 74.
–, mit den Mitteln der kunstvollen Invektive und der Parodie ausgebreitet, sollten daher nicht das paradoxe Resultat vergessen machen: aus der Kritik eines Regelfundamentalismus entspringt die Einsicht, die empirische Tragweite normativer Ordnungen thematisieren zu können, ohne gegen das Konfusionsverbot zu verstoßen oder einen Sphärenfrevel zu begehen, und dadurch zugleich das sachliche Verhältnis von „Wirtschaft und Recht“ präziser zu bestimmen. Weder eine materialistische noch eine spiritualistische Auffassung, etwa vom kausalen „Geist der Gesetze“, sind dann angemessen, sondern eine methodologisch [13]haltbare, prinzipielle Fassung der Beziehung von Wirtschaft zu den normativen Ordnungen der Gesellschaft und eine der Vorstellungskausalität von Recht angemessene Untersuchung der Epochen oder Entwicklungsbedingungen dieser Sphärenrelation.
Der Stammleraufsatz führt daher unmittelbar in die beiden von Weber ausgearbeiteten Grundtexte zum Recht: „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ sowie die „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“. In die Bearbeitungszeit der Rechtstexte fällt nun ein für die Disziplingeschichte der Soziologie und der soziologischen Behandlung des Rechts wichtiges Ereignis, der erste Deutsche Soziologentag, durch das Weber in die Bemühungen um die Institutionalisierung des Faches verwickelt wird, wobei er der soziologischen Behandlung des Rechts einen gewichtigen, in der weiteren Disziplingeschichte verloren gegangenen Platz einräumt.

3. Rechtssoziologie im Aufbruch? Disziplingeschichtliche Kontexte und Bemühungen um Institutionalisierung

Auch wenn Weber nicht selbst als Hauptredner fungiert, liefern die von ihm eingeworbenen Beiträge von Andreas Voigt über „Wirtschaft und Recht“ und von Hermann Kantorowicz über „Rechtswissenschaft und Soziologie“ auf dem ersten Deutschen Soziologentag vom 19.–22. Oktober 1910 die Gelegenheit, die Kernpunkte der eigenen Stammler-Kritik vor einem ausgesuchten Kreise im Verlaufe der Diskussion in die Debatte einzuspielen.
55
[13] Vgl. Voigt, Andreas, Wirtschaft und Recht, in: Verhandlungen 1910, S. 249–265 (hinfort: Voigt, Vortrag); Kantorowicz, Hermann, Rechtswissenschaft und Soziologie, ebd., S. 275–309 (hinfort: Kantorowicz, Vortrag).
Nicht nur als sachliche Fortführung der eigenen Stammler-Auseinandersetzung, sondern auch als Bindeglied zu den Grundrißbeiträgen bewegt sich die Diskussion um das Verhältnis von Wirtschaft und Recht in den Bahnen des Weberschen Interesses am Recht. Aus der Korrespondenz mit Hermann Beck, dem Geschäftsführer der neu gegründeten Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), wissen wir, wie stark Weber in die Planung des Soziologentages eingebunden war. Der Themenbereich „Wirtschaft – Recht – Rechtswissenschaft – Soziologie“ wird von Weber lanciert und die Präsenz der beiden Referenten ist seiner Einwerbung zu verdanken.
56
Vgl. besonders die Briefe Max Webers an Hermann Beck, zwischen 13. und 21. Aug. 1910, und vom 12. Sept. 1910, MWG II/6, S. 600 und S. 606 f., hier S. 606. sowie den Brief Max Webers an Hermann Kantorowicz vom 18. Sept. 1910, MWG II/6, S. 613 f.
Nach einer Zusammenkunft einer Anzahl führender Freirechtler im Hause Gustav Radbruchs am 24. Juli 1910 (darunter neben Radbruch: Eugen Ehrlich, Hermann Kantorowicz, Erich Jung [14]und Hugo Sinzheimer) unterrichtete Radbruch Kantorowicz über ein Gespräch mit Max Weber, in dem dieser sich prinzipiell offen gezeigt habe für die Idee, daß einer von ihnen auf dem Soziologentag sprechen werde. Weber hat dies dann im Zuge der weiteren Planung des Soziologentages auch realisiert.
57
[14] Vgl. den Brief Gustav Radbruchs an Hermann Kantorowicz vom 27. Juli 1910, GRG 17/1 (wie oben, S. 10, Anm. 39), S. 133; außerdem: Foulkes, Albert S., Gustav Radbruch in den ersten Jahrzehnten der Freirechtsbewegung, in: Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch 21. 11. 1878 – 23. 11. 1949, hg. von Arthur Kaufmann. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1968, S. 231–241, hier S. 235; Muscheler, Karlheinz, Hermann Ulrich Kantorowicz. Eine Biographie (Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen, N. F. Band 6). – Berlin: Duncker & Humblot 1984, S. 31 (hinfort: Muscheler, Kantorowicz).
Aber nicht nur programmatisch gedachte Redebeiträge wurden anvisiert, sondern die DGS sollte, durch Kantorowicz angeregt, eine Abteilung „für Philosophie und Soziologie des Rechts“ erhalten und damit einen starken rechtssoziologischen Akzent erfahren, wie Weber in einem Brief an Hermann Beck fordert.
58
Vgl. den Brief Max Webers an Hermann Beck vom 4. Okt. 1910, MWG II/6, S. 634 f.
Und selbst nach dem skandalösen Ablauf der Diskussion um den Beitrag von Kantorowicz, der durch sein Thema der Beziehung von „Rechtswissenschaft und Soziologie“ den Sprengstoff der Werturteilsfrage in sich enthielt, an dem sich dann auch Webers Zorn gegenüber Tönnies entzündete, selbst nach diesem Eklat hält Weber daran fest, daß Sektionen nicht nur für Statistik, Gesellschaftsbiologie und theoretische Nationalökonomie, sondern auch für „Rechtssoziologie“ gebildet werden könnten.
59
Vgl. den Brief Max Webers an Franz Eulenburg vom 27. Okt. 1910, MWG II/6, S. 655 f., hier S. 656.
Weber insistiert, nach dem Eklat, in seinem Schreiben an den Vorstand der DGS: „Daß es möglich sein muß, die Beziehungen zwischen Soziologie und anderen Wissenschaften bei uns zu diskutieren (also auch der Rechtswissenschaft)[,] steht außer Frage.“
60
Brief Max Webers an den Vorstand der DGS vom 7. Nov. 1910, MWG II/6, S. 680–682, hier S. 681.
Einen Tag später freilich schreibt er resigniert an Tönnies: „Die Möglichkeit einer Rechtssoziologischen Sektion scheint vernichtet, nun, vielleicht gelingt es doch noch verständige Juristen heranzuziehen […].“
61
Brief Max Webers an Ferdinand Tönnies vom 8. Nov. 1910, MWG II/6, S. 687 f., hier S. 687.
Genau dies ist allerdings nicht geschehen: Weder ist es zu einer Konstituierung einer rechtssoziologischen Sektion gekommen, noch wurden die von Weber ja einmal angelockten Juristen für die Arbeit der DGS gewonnen. Noch für die Publikation der Verhandlungen drängt Weber seinem Verleger gegenüber auf baldige Drucklegung,
62
Vgl. den Brief Max Webers an Oskar Siebeck vom 20. Febr. 1911, MWG II/7, S. 108 f.
damit nun an anderem Orte, auf einer Juristen-Tagung, nämlich auf dem zweiten Kongreß der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie samt den Gesetzgebungsfragen (I.V.R.) (später Rechts- und Sozialphilosophie) vom 6. bis 9. Juni [15]1912, die Ergebnisse der Debatten über das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Soziologie zur Kenntnis genommen würden.
Nicht unerheblich für das Scheitern des Institutionalisierungsversuches war Webers trügerische Hoffnung, über den hochgeschätzten Kantorowicz auch die Freirechtsbewegung mit einbinden zu können. Im Vorfeld des Soziologentages hatte Weber dem Geschäftsführer Hermann Beck gegenüber Kantorowicz nämlich mit der Überlegung als Redner angepriesen, „weil die Herren von der ,Freirechtlichen‘ Bewegung, welche heute zweifellos die besten Köpfe der jüngeren soziologisch-philosophisch interessierten Juristen umfaßt, gern auf dem Soziologentag erscheinen würden, wenn Einer von ihnen dort zu Worte käme“.
63
[15] Brief Max Webers an Hermann Beck vom 12. Sept. 1910, MWG II/6, S. 606 f., hier S. 607.
Und damit verband sich die Erwartung auf „eine gute Beteiligung“
64
Ebd.
der Rechtsphilosophen. Diese „besten Köpfe der jüngeren soziologisch-philosophisch interessierten Juristen“ waren freilich nicht so einfach zu handhaben, wie die Reaktionen auf den ersten Debattenbeitrag zu Kantorowicz’ Vortrag über „Rechtswissenschaft und Soziologie“ belegen: Ernst Fuchs hatte nämlich die These gewagt, daß Werturteile in der Beziehungsanalyse von Rechtswissenschaft und Soziologie nicht auszuschließen seien,
65
Vgl. die Diskussion zum Vortrag von Hermann Kantorowicz („Soziologie und Rechtswissenschaft“), in: Verhandlungen 1910, S. 312.
ein Sakrileg für die Werturteilsasketen. Im übrigen stand ja der Versuch einer Normen begründenden soziologischen Rechtslehre, wie sie Fuchs vertrat, in unvereinbarem Gegensatz zu den methodologischen Grundüberzeugungen Webers, die schließlich in die scharfen gegen die Freirechtler gerichteten Formulierungen des achten Paragraphen der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ Eingang finden werden.
66
Siehe unten, S. 623–626.
Überdies war gerade die brisante Frage der Beziehung zwischen der Rechtswissenschaft und einer Soziologie, von der die Freirechtler – in Webers Augen jedenfalls – noch gar nicht wußten, was sie überhaupt sein sollte, dafür geeignet, den offenen Dissens sichtbar zu machen. Wie hat sich also im Verlauf dieser doppelt heiklen Auseinandersetzung mit der über die Stammlerkritik hoch besetzten Thematik von Wirtschaft und Recht einerseits und der methodologischen Herausforderung der Jurisprudenz durch die Soziologie oder einige ihrer selbst ernannten Vertreter andererseits, das Webersche Verständnis dieser Problematik entwickelt und konkretisiert?
Auch Andreas Voigts Vortrag über „Wirtschaft und Recht“
67
Voigt, Vortrag (wie oben, S. 13, Anm. 55).
auf dem Ersten Deutschen Soziologentag ist eine explizite Auseinandersetzung mit Stammler. Voigt kritisiert die Konsequenz eines Konzeptes der Wirtschaft, das in der [16]„Geregeltheit“, also rechtlichen Verfaßtheit eines Handelns besteht, welches auf die Befriedigung irgendeines Bedürfnisses gerichtet ist. Demgegenüber stellt Voigt auf die Relation von Zweck und Mittel der Bedürfnisbefriedigung ab, woraus sich dann auch die Rolle des Rechts bestimmen läßt, als Beschränkung der wirtschaftlichen Dispositionsfreiheit. Jedes Recht, außerhalb der natürlichen Rechtssphäre zu handeln, ist daher ein Verfügungsrecht. Darin liege also der „fundamentale Fehler Stammlers“,
68
[16] Ebd., S. 260.
daß er wirtschaftliche und rechtliche Gesetze miteinander vermenge. Erstere gäben die Gesetzmäßigkeit des Disponierens über knappe Mittel wieder, während die Rechtsordnung die Grenzen dieser Dispositionsfreiheit bestimme. Nicht ein Kategorienfehler, sondern ein sachlicher Fehler des immerhin respektvoll behandelten Stammler wird gerügt. Weber hingegen nutzt die Gelegenheit eines zum Korreferat geratenden Diskussionsbeitrages dazu, den Begriff des Wirtschaftens von der Zweck-Mittel-Relation bei der Bedürfnisbefriedigung auf die Tauschfähigkeit der wirtschaftlichen Leistungen zu begrenzen, um das religiöse Handeln z. B. für eine eigene Disziplin reservieren zu können. Wenn Weber sodann in Voigt einen Verbündeten gegen den formalen Rechtsbegriff Stammlers lobt,
69
Vgl. den Diskussionsbeitrag Max Webers zum Vortrag von Andreas Voigt („Wirtschaft und Recht“), in: Verhandlungen 1910, S. 265–270 (MWG I/12), hier S. 268 (hinfort: Weber. Diskussionsbeitrag I).
so weist die Bestimmung der empirischen Geltung von Recht für die Wirtschaft als „Bestehen“ eines bestimmten „Rechtssatzes“ auf die in „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ entwickelte Garantienlehre voraus, hier plastisch formuliert in der Bemerkung, „daß da Leute mit Pickelhauben sind“,
70
Ebd., S. 269.
um Verfügungsrechte des wirtschaftenden Subjekts zu schützen. Damit fällt auch die funktionale Verschränkung von Wirtschaftsordnung und Rechtsordnung in sich zusammen, die ja den Ausgangspunkt jeder „materialistischen“ Rechtsauffassung darstellt, denn die faktische Geltung einer Rechtsordnung vermag von ihrer normativen Struktur derart abzuweichen, daß „bei vollem Bestehenbleiben des Bürgerlichen Gesetzbuches eine sozialistische Gesellschaftsordnung entstehen könnte“.
71
Ebd.
So versteht sich auch Webers Kommentar an Franz Eulenburg: „Voigt: sachlich solide und gut […].“
72
Brief Max Webers an Franz Eulenburg vom 27. Okt. 1910, MWG II/6, S. 655 f., hier S. 655; dort fortfahrend: „[…] gehemmt in der Form, weil er seine Frau vor 8 Tagen verloren hat und deprimiert war“.
Es bleibt festzuhalten, daß die DGS wohl kein Ort für eine soziologische Betrachtung des Rechts gewesen wäre, auch wenn ihre prominentesten Mitglieder, wie Tönnies und Simmel, keineswegs blind für die soziologische Bedeutung des Rechts waren. Ferdinand Tönnies hatte gar das Dritte Buch in „Gemeinschaft und Gesellschaft“ als „Soziologische Gründe des Natur[17]rechts“
73
[17] Vgl. Tönnies, Ferdinand, Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlungen des Communismus und des Socialismus als empirische Culturformen. – Leipzig: Reisland 1887.
überschrieben und Georg Simmel wußte immer wieder auf das Recht, wenn auch als eine „ewige Krankheit“, zurückzukommen: „[…] von gewissen Grundtatsachen aus logisch entwickelt, in einem Kodex fester Gesetze niedergelegt, von einem besonderen Stande getragen, gewinnt es den anderweitigen, von den Personen empfundenen Verhältnissen und Bedürfnissen des Lebens gegenüber jene Starrheit, durch die es sich schließlich wie eine ewige Krankheit forterbt, Vernunft zum Unsinn, Wohltat zur Plage wird.“
74
Simmel, Georg, Philosophie des Geldes. – Leipzig: Duncker & Humblot 1900, S. 525 (hinfort: Simmel, Philosophie des Geldes), an Goethe anknüpfend. Max Webers Handexemplar (Diözesanbibliothek Aachen) ist hier wenig ergiebig, da die Marginalien wohl nicht von Webers Hand stammen.
Dennoch ist die Institutionalisierung des Themas „Recht“ in der deutschen Soziologie nicht geglückt. Für Weber konnte das die Notwendigkeit, etwas Eigenes zu liefern, nur steigern, denn wo andere „Minderleistungen“ produzierten, setzte Webers Ehrgeiz ein.

4. Die verstehende Soziologie des Rechts im Kontext der Freirechtsschule und ihrer Kritik

Der Kommentar zum Beitrag von Kantorowicz über „Rechtswissenschaft und Soziologie“ auf dem ersten Soziologentag war enthusiastisch: „Kantorowicz: sehr gut. Debatte skandalös […].“
75
Brief Max Webers an Franz Eulenburg vom 27. Okt. 1910, MWG II/6, S. 655 f., hier S. 655.
Liest man die einflußreiche Schrift von Kantorowicz zum „Kampf um die Rechtswissenschaft“, die selbst eine Kampfschrift ist,
76
Erschienen unter dem Pseudonym: Flavius Gnaeus, Der Kampf um die Rechtswissenschaft. – Heidelberg: Carl Winter 1906 (hinfort: Flavius, Kampf).
wird kaum verständlich, wie Weber sich überhaupt für Kantorowicz
77
Als Biographie vgl. die Studie von Muscheler, Kantorowicz (wie oben, S. 14, Anm. 57).
als Redner auf dem ersten Deutschen Soziologentag hat verwenden können. Auch wenn Weber in Kantorowicz einen bedeutenden Kopf der „jüngeren soziologisch-philosophisch interessierten Juristen
78
Nach der Formulierung im Brief Max Webers an Hermann Beck vom 12. Sept. 1910, MWG II/6, S. 606 f., hier S. 607.
sah, so laufen seine Anschauungen denen der Freirechtsschule im allgemeinen, aber auch den Auffassungen ihres Vertreters Hermann Kantorowicz im besonderen, fundamental zuwider. Das postulierte „freie“ Recht als „Naturrecht des 20. Jahrhunderts“ zu bezeichnen, steht Webers Ideal des formal rationalen Rechts diametral entgegen. Und was Kantorowicz als „Fiktion der Rechts[18]kenntnis“
79
[18] Flavius, Kampf, S. 13.
karikiert und als „juristischen Größenwahn“
80
Ebd., S. 17.
infolge einer „angeblich systematischen Vollkommenheit“ des Rechtssystems geißelt, als idealistische Annahme der juristischen Konstruierbarkeit der Welt kritisierte
81
Ebd., S. 26.
und als „Jagd nach einem allgemein gültigen System von Sätzen“ in logischer Geschlossenheit, schließlich als „Utopie einer dilettantischen Logik“
82
Ebd., S. 28.
ins Ridiküle zieht, dies sind nach Weber genau die am Ende des § 1 der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ eingefügten Postulate des formal rationalen Rechts,
83
Vgl. unten, S. 305.
denen er doch gerade ein Höchstmaß an Vernunft zuschreibt. Dem Autor der Kampfschrift ist hingegen eine „antirationalistische Gesinnung“
84
Flavius, Kampf, S. 23 und S. 39.
von vornherein „natürlich“ und das von Weber als Rechtsquelle zurückgewiesene Rechtsgefühl der unterschätzte Garant einer „freien“ Rechtsschöpfung.
85
Das 20. Jahrhundert werde „ein Jahrhundert des Gefühls und des Willens“ sein (ebd., S. 49).
Kein Wunder also, daß Weber insbesondere im letzten Paragraphen der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“, in dem die formalen Qualitäten des modernen Rechts herauspräpariert werden, seinerseits der Freirechtsschule den Kampf ansagt,
86
Vgl. unten, S. 623–626.
einer „Bewegung“,
87
So die durchgängige dynamische Selbstbeschreibung der Freirechtsschule (z. B. Flavius, Kampf, S. 5, 30, 32, passim).
die den Methodendualismus ablehnt
88
Vgl. ebd., S. 33 f.
und deshalb eben in Webers Augen nur eine sogenannte „Rechtssoziologie“ betreibt. Sie verkennt den Eigensinn und die legitime Eigengesetzlichkeit von Dogmatik, wenn sie einen „Parallelismus“ von „dogmatischer Jurisprudenz und orthodoxer Theologie“
89
Ebd., S. 35 f.
ausmacht: Diese Verwandtschaft soll juristische Dogmatik diskreditieren, während Weber nicht nur deren Lob anstimmt, sondern überdies den Zusammenhang von religiöser Ethik und juristischer Weltsicht, insbesondere im § 5 der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“,
90
Vgl. unten, S. 510 ff.
zu den entscheidenden Bestimmungsgründen des juridischen Rationalisierungsprozesses rechnet.
Nicht verwunderlich erscheint daher auch der Eklat, den es um den Vortrag von Kantorowicz auf dem ersten Deutschen Soziologentag gegeben hat. Weber schreibt dies der „unfähigen Leitung von Tönnies einerseits, de[m] Betragen von Goldscheid und anderen andererseits zu: thörichte Debatten zur Geschäftsordnung über Werturteile, schulmeisterliche Unterbrechung [19]von Tönnies, Protest dagegen u.s.w.“.
91
[19] Brief Max Webers an Franz Eulenburg vom 27. Okt. 1910, MWG II/6, S. 655 f., hier S. 655.
Aber in seinem Schreiben an Eulenburg bleibt er bei der Behauptung: „Kantorowicz sehr gut“, auch wenn Webers Urteil gegenüber Tönnies, wie das der Frankfurter Zeitung, darin mündet: „Die Tagung Sonnabend nachmittag hat alles verdorben[,] was erreicht war.“
92
Brief Max Webers an Ferdinand Tönnies vom 26. Okt. 1910, MWG II/6, S. 653 f., hier S. 654.
Selbst der durch Webers Hand gegangene stenographische Bericht
93
So schreibt Weber an Oskar Siebeck am 20. Febr. 1911, MWG II/7, S. 108 f., hier S. 108: „Die Diskussion ist von mir ,redigiert‘, d. h. etwas zusammengestrichen (dies gehört nicht in den Vertrag).“
gibt noch etwas von der Schärfe der Auseinandersetzung wieder, auch wenn eine an die Adresse Philipp Hecks gerichtete Kritik des Vorsitzenden, Ferdinand Tönnies, er betreibe „Sophistik“ nicht überliefert ist.
94
Daß ein solcher Vorwurf für einen Kritiker der „technischen Begriffsjurisprudenz“ besonders schmerzlich sein mußte, läßt sich etwa aus dem Beitrag Philipp Hecks entnehmen: „Was ist diejenige Interessenjurisprudenz, die wir bekämpfen?“, in: Deutsche Juristen-Zeitung, Jg. 14, 1909, Sp. 1457–1461.
Kantorowicz kommentiert die Eingriffe des Vorsitzenden unter Berufung auf das von Weber selbst ja gegenüber Ernst Fuchs zunächst so scharf eingebrachte Wertfreiheitspostulat
95
Vgl. die Diskussion zum Vortrag von Hermann Kantorowicz („Rechtswissenschaft und Soziologie“), in: Verhandlungen 1910, S. 312.
in ironischer Manier, daß es „nur in unserem methodologischen Zeitalter möglich“ sei, „daß ein methodologisch-philosophisches Prinzip, nämlich der Ausschluß von Werturteilen, zu einem Punkt der Geschäftsordnung gemacht werden kann.“
96
Ebd., S. 314.
Weber behauptet nun in seiner Replik auf Kantorowicz, daß im „Hintergrund des Vortrags des Herrn Dr. Kantorowicz“ die methodologische Unterscheidung von faktischer und normativer Geltung eines Rechtssatzes gestanden habe, worauf er, Weber, „noch einmal in voller Übereinstimmung“
1
Diskussionsbeitrag Max Webers zum Vortrag von Hermann Kantorowicz („Rechtswissenschaft und Soziologie“), in: Verhandlungen 1910, S. 323–330 (MWG I/12), hier S. 324 (hinfort: Weber, Diskussionsbeitrag II).
hinweisen wolle. Wie wir wissen, wird diese Voraussetzung nur begrenzt geteilt, sicher nicht mit Ernst Fuchs
2
Vgl. dessen Einlassungen zur „Freien Rechtsschule“ als einer „soziologischen Rechtslehre“, ebd., S. 310–312.
– und auch die Zwischeneinwürfe von Kantorowicz selbst zeigen das
3
Vgl. ebd., S. 327.
–, während Weber den Vortrag des Autors der Kampfschrift zum Anlaß nimmt, seine Unterscheidung von juristischer und soziologischer Betrachtungsweise des Rechtssatzes vor dem Forum eben „der besten Köpfe der jüngeren soziologisch-philosophisch interessierten Juristen“ in extenso darzulegen. Freilich hatte Kantorowicz in seinem Vortrag die [20]in der Kampfschrift geübte Kritik des Methodendualismus zurückgenommen und sogar eine an Rickert angelehnte Gegenstandsbestimmung der Rechtssoziologie gesucht, die Weber zusagen mußte: „Die Rechtssoziologie ist also eine theoretische, die Wirklichkeit des sozialen Lebens mit Beziehung auf den Kulturwert des Rechtszwecks generalisierend bearbeitende Wissenschaft.“
4
[20] Ebd., S. 297.
Daher sei dann Jurisprudenz – eine Aussage, zu der Weber das intellektuelle Haupt der Freirechtsschule am Ende doch verleitet hat – nicht durch Soziologie ersetzbar.
5
Vgl. Kantorowicz, Vortrag (wie oben, S. 13, Anm. 55), S. 297.
Weber wendet sich allerdings gegen die Lösung des Lückenproblems, daß nämlich in die aus systematischen Gründen auftretenden „Lücken“ des Rechtssystems nun die Soziologie als extrajuridische Rechtsquelle einzutreten habe, ebenso wie er den berühmten § 1 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB) nicht als Ermächtigung zur soziologisch freien Ausfüllung betrachtet.
6
Vgl. Weber, Diskussionsbeitrag II (wie oben, S. 19, Anm. 1), S. 327, sowie unten, S. 625 f.
Worauf Weber sich nicht einlassen kann, ist eine Bestimmung von Rechtssoziologie als derjenigen Disziplin, in der „das soziale Leben auf seine Beziehung zu den Rechtsnormen hin untersucht wird“.
7
Kantorowicz, Vortrag (wie oben, S. 13, Anm. 55), S. 276, gesamtes Zitat dort hervorgehoben.
Hans Kelsen nimmt dies zum Anlaß seiner, im von Max Weber mit herausgegebenen „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ publizierten Auseinandersetzung mit Kantorowicz, die zugleich Nähe und Differenz zu Weber sichtbar macht.
8
Kelsen, Hans, Zur Soziologie des Rechtes. Kritische Betrachtung, in: AfSSp, Band 34, 1912, S. 601–614 (hinfort: Kelsen, Soziologie des Rechtes).
Weder die „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“
9
Kelsen Hans, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatz. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1911 (hinfort: Kelsen, Hauptprobleme).
noch die Kritik an Kantorowicz noch schließlich die Kontroverse zwischen Hans Kelsen und Eugen Ehrlich im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“
10
Vgl. Kelsen, Hans, Eine Grundlegung der Rechtssoziologie, in: AfSSp, Band 39, 1915, S. 839–876; Ehrlich, Eugen, Entgegnung, ebd., Band 41, 1916, S. 844–849; Kelsen, Replik, ebd., Band 42, 1916, S. 850–853; Ehrlich, Replik, ebd., Band 42, 1916/17, S. 609–610; Kelsen, Schlußwort, ebd., S. 611.
dürften Max Weber entgangen sein. Dennoch sind die Spuren einer Rezeption Kelsens im Werk von Max Weber äußerst spärlich. Zwar erhielt Kelsen, nach mehreren erfolglosen Anläufen, ein Reisestipendium nach Heidelberg, das ihm die Fertigstellung seiner Habilitationsschrift am Seminar von Georg Jellinek ermöglichen sollte.
11
Vgl. Métall, Rudolf Aladár, Hans Kelsen. Leben und Werk. – Wien: Franz Deuticke 1969, S. 11.
Aber er versäumte es, nach eigenem [21]Bekunden, mit dem Kreis um Max Weber und mit diesem selbst in Verbindung zu treten. Erst während der Gastprofessur Webers in Wien (Sommersemester 1918) lernten sie sich persönlich kennen, ohne daß die Bekanntschaft explizite Spuren in Webers Werk hinterlassen hätte. Dabei zeigt die Auseinandersetzung Kelsens mit Weber in „Der Staatsbegriff der ,verstehenden‘ Soziologie“ wie nahe Weber Kelsen steht, wenn dieser mit Blick auf Webers Grundriß-Beitrag meint, „daß alle Bemühungen, das Wesen des Staates auf außerjuristischem, speziell soziologischem Wege zu bestimmen, immer wieder auf eine mehr oder weniger versteckte Identifikation des gesuchten Begriffes mit dem der Rechtsordnung hinauslaufen“.
12
[21] Kelsen, Hans, Der Staatsbegriff der ,verstehenden Soziologie‘, in: Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik, N. F. Band 1, 1921, S. 104–119, hier S. 105.
Was Kelsen kritisch anmerken möchte, ist freilich von Weber durchaus intendiert, insofern er ja gerade im Kategorienaufsatz behauptet: „Es ist aber allerdings das unvermeidliche Schicksal aller Soziologie: daß sie für die Betrachtung des überall stetige Übergänge zwischen den ,typischen‘ Fällen zeigenden realen Handelns sehr oft die scharfen, weil auf syllogistischer Interpretation von Normen ruhenden, juristischen Ausdrücke verwenden muß, um ihnen dann ihren eigenen, von dem juristischen der Wurzel nach verschiedenen, Sinn unterzuschieben.“
13
Weber, Kategorien, S. 265.
Auch wenn Kelsen bezweifelt, daß es überhaupt noch einen soziologischen Rest gäbe, wenn über die Differenz von normativer und empirischer Geltung der Rechtsordnung, das „Soziologische“ eingeführt werde, bleibt die Nähe verblüffend. So besteht eine große Übereinstimmung in der Kritik der Lehren der Freirechtsschule, wie Kelsens Auseinandersetzung mit Kantorowicz zeigt: Zweckorientierung sei durchaus Bestandteil der traditionalen Rechtswissenschaft, ja Bestandteil des Methodenkanons,
14
Vgl. Kelsen, Soziologie des Rechtes (wie oben, S. 20, Anm. 8), S. 604.
das Lückenproblem hingegen sei kein Argument für „freie“ Rechtsfindung, weil der Normbezug bzw. der „Rechtssatz“ als „Zurechnungsregel“ von richterlichem Handeln und Rechtsordnung unentbehrlich sei und nur darin auch der Zurechnungssinn des wie immer determinierenden Rechtssatzes bestehe.
15
Vgl. ebd., S. 605.
Daher kann es auch im Rechtsstaat zumindest keine Tätigkeit „sine lege“ geben, denn jede Staatstätigkeit lasse sich als Realisierung eines Rechtssatzes darstellen. Und man kann noch einen Schritt weiter gehen: Kelsens Anliegen in den „Hauptproblemen“ geht gerade dahin, „die Eigengesetzlichkeit des Rechtes gegenüber der Natur oder einer nach Art der Natur bestimmten sozialen Realität zu gewinnen“.
16
Kelsen, Hans, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatz, 2. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1923, Vorrede, S. VI.
Aber genau dies ist das Anliegen Webers, insofern er reduktionistische Volksgeistlehren – wie die von Kantorowicz übri[22]gens
17
[22] Vgl. dazu Kantorowicz, Hermann, Volksgeist und historische Rechtsschule, in: Historische Zeitschrift, Band 108, 1912, S. 295–325 (hinfort: Kantorowicz, Volksgeist).
– ablehnt, oder auch eine ökonomische Erklärung des Rechts – wie in der Auseinandersetzung mit Andreas Voigt
18
Vgl. Weber, Diskussionsbeitrag I (wie oben, S. 16, Anm. 69).
– zurückweist. Es ist ja gerade das Hauptargument seiner „Rechtssoziologie“, daß sich die Richtung der Rationalisierung des Rechts zu einem gewichtigen Teil den rein „innerjuristischen Verhältnissen“ verdankt, die erst der Entfaltung juridischer „Eigengesetzlichkeit“ Raum geben. Weber hat freilich diese „Qualitäten des modernen Rechts“ ins Soziologische gewendet, insofern er fragt, wie eigentlich eine juristische Dogmatik entstehen konnte, die genau dies zum Gegenstand hat, die Welt als Fall der Anwendung von Rechtssätzen zu begreifen, welche, ein in sich geschlossenes, logisches System vorgebend, zu einer Rechtsordnung verbunden sind. Wo Weber also auf die Lehre vom Rechtssatz zurückgreift – insbesondere in „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ –, wird die Eigengesetzlichkeitsthese soziologisch gewendet, indem er behauptet, daß der an der Pandektistik geschulte Begriff des Rechts nur im Okzident entstanden sei. Insofern ließe sich Kelsen gegen Weber erkenntniskritisch wenden, als Kritiker eines vermeintlich universalen Rechtsbegriffs, den Weber in „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ – noch vor dem monumentalen Vergleich der Rechtskulturen, wie er in der späten Phase der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ einer Privatrechtsgeschichte des Okzidents übergestülpt wird – als Grundaxiom verwendet hatte. Wäre Weber an „Rechtstheorie“ als solcher interessiert gewesen, dann hätte er eine von allem Soziologischen befreite „Reine Rechtslehre“ auf der Grundlage der Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz für sicherlich achtbar gehalten. Kelsen hingegen bestreitet Weber, überhaupt noch etwas Soziologisches, jenseits seiner, in Kelsens Sinne „richtigen“ Beobachtungen über Staat und Rechtsordnung, entdeckt zu haben. Und dies zeigt sich in der noch zu Webers Lebzeiten verfaßten Kritik an Kantorowicz, dem ein klarer Begriff von Soziologie abgesprochen wird.
19
Vgl. Kelsen, Soziologie des Rechtes (wie oben, S. 20, Anm. 8), S. 603.
Kelsens eigener Vorschlag freilich, die Rechtsnormen als Vorstellungskomplexe zu behandeln und nur die tatsächlich durch ein Rechtsbewußtsein motivierten Handlungen einer Rechtssoziologie zuzuschlagen, während die übrigen einer Moral- oder Sittensoziologie zuzurechnen seien, verkennt die enorme Differenzierungsleistung, die Weber seit der Stammler-Auseinandersetzung entwickelt hatte. Aber auch der gemeinsame Ort der Wiener Universität, der im Café Landmann Raum für einen heftigen Streit über Wirklichkeit und Entwicklungstendenzen der russischen Revolution zwischen Weber und Joseph Schumpeter geboten hatte,
20
So der Bericht von Somary, Felix, Erinnerungen aus meinem Leben. – Zürich: Manesse o.J. [1955], S. 171 f.
hinterließ nur geringfügige Spuren: die Bitte an [23]den Verlag Duncker & Humblot, seine Schrift „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland“ an den „Professor Dr. H. Kelsen Wien VIII [Wicker]burg-Gasse 23“ zu übersenden.
21
[23] Brief Max Webers an den Verlag Duncker & Humblot vom 27. April 1918, Verlagsarchiv Duncker & Humblot, Berlin (MWG II/10). Zur Edition der Schrift vgl. MWG I/15, S. 421–596.
In der Abgrenzung der Geltungssphären einer juristischen und der soziologischen Betrachtungsweise sind sie sich freilich in der Sache nahe, wie Kelsens Vortrag „Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode“
22
Vortrag, gehalten in der Soziologischen Gesellschaft zu Wien. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1911.
belegt. Der „Sphärenfrevel“ einer mangelnden Scheidung von Soziologie und Jurisprudenz verbindet Weber und Kelsen, ohne daß sie sich auf eine Arbeitsteilung eingelassen hätten der Art, die „unreine“ soziologische Rechtslehre Weber zu überlassen, während Kelsen sich auf die „reine“ von allen empirischen Beimischungen freie Rechtslehre kapriziert hätte.
Webers soziologischer Zugang zum Recht ist nicht allein aus seiner juristischen Sozialisation zu verstehen, der heftigen Frontstellung zu Stammler, dem Scheitern einer Institutionalisierung von Rechtssoziologie angesichts der intellektuellen Bedrohung einer Soziologie des Rechts durch die falschen Propheten einer normativ gewendeten soziologischen Rechtslehre oder eines ausdrücklichen Erkenntnisverzichts der reinen Rechtslehre. Sondern ganz unterschiedliche Strömungen der rechtshistorisch und rechtsvergleichend operierenden Rechtswissenschaften liefern den Hintergrund dafür. Recht als Gegenstand der Kulturwissenschaften zu fassen.

5. Kulturwissenschaftliche Herausforderungen der Rechtsanalyse

Ebenso wie der Nationalökonom Weber mit der historischen Schule in Verbindung stand, so sind auch Webers juristische Wurzeln in der historischen Rechtsschule zu suchen. Es lohnt sich daher, zunächst am Beispiel der beherrschenden Figur Friedrich Karl von Savignys klar zu machen, wie der kulturelle Faktor in der Analyse des Rechts Beachtung findet.
Recht erscheint Savigny zwar als Teil der Gesamtkultur und darin ist er Schüler Herders. Aber „Kultur“ ist für von Savigny geistiges Erbe und Tradition, die auf literarische Überlieferung („Litterärgeschichte“) eingeengt wird. Rechtsgeschichte heißt für ihn: Aktualisierung dieser kulturellen Tradition. Diese findet sich eben nicht im Volksleben, sondern in der Geschichte der juristischen Bildung und des juristischen Unterrichts. Wenn Savigny dem Kodifikationsplan Thibauts das organische Wachsen aus dem „Volksgeist“ entgegenstellt, so meint er damit als soziales Substrat die Träger einer juristi[24]schen Kultur, die im römischen Recht wurzelt und in einer künstlichen Wiederschöpfung durch Rechtswissenschaft und Praxis aktualisiert werden soll: „Bey steigender Cultur nämlich sondern sich alle Thätigkeiten des Volkes immer mehr, und was sonst gemeinschaftlich betrieben wurde, fällt jetzt einzelnen Ständen anheim. Als ein solcher abgesonderter Stand erscheinen nunmehr auch die Juristen.“
23
[24] Savigny, Friedrich Karl von, Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft. – Heidelberg: J.C.B. Mohr 1840, S. 12 (hinfort: Savigny, Beruf).
Franz Wieacker hat u.E. zu Recht hervorgehoben, daß der Volksbegriff somit zu einem idealen Kulturbegriff erhoben wird, der durch eine geistige und kulturelle Elite repräsentiert wird.
24
Vgl. Wieacker, Franz, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2. Aufl. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1967.
Trotz einer Anbindung an die allgemeine Kulturentwicklung gelangt Savigny also zum privilegierten Hüter der Rechtskultur in dem, was wir später juristische „Profession“ nennen und bei Weber in den Trägern rechtlicher Rationalisierung manifestiert wird.
Die Orientierung Savignys am römischen Recht garantiert zugleich einen universalistischen Zug, der über eine national-partikulare Rechtskultur hinausweist: Gerade durch die, wie Savigny meint, „organische Aufnahme des römischen Rechts ist der gesunde Parallelgang von Cultur und Recht erhalten geblieben; denn die ganze Cultur der modernen Völker ist international geblieben.“
25
Savigny, Beruf (wie oben, Anm. 23), S. 38.
Savigny geht daher von einer gemeinsamen europäischen Rechtskultur aus, der ein nationaler Volksgeist fremd ist. Auch Weber spürt in seiner Analyse der rationalen Rechtskulturen einer gemeinsamen okzidentalen Wurzel nach, der gegenüber die rein nationalen Differenzen zurücktreten. Während sich bei Savigny jedoch die Rezeptionsgeschichte des römischen Rechts in einem juristischen Auslegungsakt verdichtet,
26
Dieser wird über „organische Rechtsverhältnisse“ mit dem Hinweis auf „Institutionen“ nicht näher an die Wirklichkeit herangeführt, sondern es werden, von der Wirklichkeit abgezogene, Abstraktionen als solche legitimiert.
bleibt für Weber die Rezeption der römischen Rechtskultur das Ergebnis von Ideen, Interessen und deren je spezifischen Trägern.
Welche Autorität Georg Friedrich Puchta für Weber darstellt, wird aus dem bereits erwähten Brief des Rechtsstudenten an die Mutter ersichtlich, in dem Weber das Kolleg von Ernst Immanuel Bekker über römische Rechtsgeschichte kritisiert, weil ihm, Weber, „Puchta noch im Kopf sitzt“
27
Brief Max Webers an die Mutter vom 2. Mai 1882, abgedr. in: Weber, Jugendbriefe, S. 41 (MWG II/1).
und daher eine ungeschichtliche Darstellung des römischen Rechts mißfalle. Dabei ist es gerade Puchta, der – seinerseits Savigny beeinflussend – den Begriffsfor[25]malismus in pyramidischen Ableitungen zur Hochblüte gebracht hat.
28
[25] Zum Wandel des Puchtabildes vgl. Haferkamp, Hans Peter, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“. – Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2004.
Die Kulturgeschichte des Rechts läßt einer „Unschuldsperiode“ eine Periode der „Mannigfaltigkeit“ folgen, die schließlich in einer höheren Einheit der Periode der „Wissenschaftlichkeit“ zusammenfließt. Damit wird wiederum der Rechtswissenschaft das Monopol in der Auslegung des Volkslebens zugesprochen. Dieses wird aber nicht in irgendeinem wirklichkeitswissenschaftlichen Sinne untersucht; vielmehr soll allein durch die Deduktion von Rechtssätzen aus allgemeinen Begriffen der verborgene Gehalt der nationalen Rechtskultur extrapoliert werden, der weder im realen „Volksgeist“ noch in den Gesetzen manifestiert worden ist.
29
Vgl. Puchta, G[eorg] F[riedrich], Cursus der Institutionen, Band 1. – Leipzig: Breitkopf und Härtel 1841, S. 460–463 (hinfort: Puchta, Cursus).
Damit wird die Rechtswissenschaft als „Product einer wissenschaftlichen Deduction“
30
Ebd., S. 37.
zur privilegierten Rechtsquelle der Pandektistik. Unter rechtshistorischem Vorzeichen, von dem sich auch der junge Weber täuschen läßt, wird die kulturelle Autonomie des Rechts postuliert, dessen Begriff, Konstruktionen und Sätze der Alltagskultur vollständig entrückt werden, um ihnen eine Eigengesetzlichkeit zuzuschreiben, von der auch Webers These der formalen Rationalisierung des Rechts gezeichnet bleibt. Gleichzeitig aber wird im Strome der juridischen Romantik ein Volksgeist beschworen, der auch zur Differenzierung nationaler Rechtskulturen eingesetzt wird. „Durch dieses gemeinsame Rechtsbewußtseyn“, sagt Puchta, „wie durch eine gemeinsame Sprache, und durch eine gemeinsame Religion, wenn diese eine natürliche ist, sind die Glieder eines Volks verbunden, einer auf leiblicher und geistiger Verwandtschaft beruhenden, über die Innigkeit des Familienbandes hinaus sich erstreckenden, durch eine Scheidung der Menschheit entstandenen Vereinigung.“
31
Ebd., S. 24.
Während von Savigny zu Puchta der Bezug zur Kultur eines Volkes zunehmend ausgedünnt wird und es akrobatischer Hilfskonstruktionen bedarf, um diese „Konstruktionsjurisprudenz“ an das Kulturleben zurückzubinden, geht es dem Adlatus und späteren Freund Savignys, Jacob Grimm,
32
Über die Beziehung von Savigny und Grimm vgl. den interessanten Artikel von Rothacker, Erich, Savigny, Grimm, Ranke. Ein Beitrag zur Frage nach dem Zusammenhang der Historischen Schule, in: Historische Zeitschrift, Band 128, 1923, S. 415–445, bes. 429 ff.
weniger um die Erkenntnis des richtigen Rechts als um den Ort des Rechts in der Gesamtkultur. Die sinnliche, anschauliche Seite des Rechts ist für Grimm von besonderem Reiz. Ihn interessiert dabei nicht primär der formale Aspekt der Rechtsbekräftigung, sondern die zugrundeliegende geschichtliche Bedeutung, die in die kulturellen Traditionen einer Rechtsgemeinschaft zurückweist. So ist in [26]dem Bändchen „Von der Poesie im Recht“ die Rechtsform als Quelle einer bedeutungsbezogenen Kulturanalyse aufgetan. Im dortigen § 10 heißt es etwa – soweit bleibt der aus juristischem Hause stammende Germanist und Märchensammler durchaus in der Form juristisch –: „Es ist eine unbefriedigende Ansicht, welche in solchen Symbolen blose leere Erfindung zum Behuf der gerichtlichen Form und Feierlichkeit erblickt, im Gegentheil hat jedes derselben gewiß seine dunkle, heilige und historische Bedeutung; mangelte diese, so würde der allgemeine Glaube daran und seine herkömmliche Verständlichkeit fehlen.“
33
[26] Grimm, Jakob, Von der Poesie im Recht, in: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft, Band 2, 1816, S. 25–99, hier S. 74 f.
Max Weber hingegen ist, als ein in der Pandektenwissenschaft geschulter Jurist, an dieser Art einer Bedeutungsanalyse der juristischen Kulturinhalte und ihrer Formen nicht weiter interessiert. In der dem Verleger Siebeck in einem Postskriptum angekündigten „Soziologie der Culturinhalte“ firmieren Kunst, Literatur, Weltanschauung, aber nicht das Recht. Und so konstatiert Weber in den „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ zwar einen Prozeß der De-Symbolisierung des modernen Rechts, ohne sich hierbei aber auf seinen jeweiligen Kulturinhalt einzulassen. Inwieweit Weber gleichwohl eine kultursoziologische Perspektive zum Recht und zwar gerade eine der vergleichenden Kultursoziologie pflegt, werden wir im weiteren sehen.
Wenn Weber nicht nur in der Religionssoziologie, sondern auch in der kultursoziologischen Betrachtung des Rechts das Zusammenspiel von Ideen und Interessen thematisiert, muß eine weitere zentrale Figur der juristischen Welt des 19. Jahrhunderts, nämlich Rudolf von Ihering, eine besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Nicht nur aus ironischer Distanz – wie sie in „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz“
34
Ihering, Rudolf von, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz. Eine Weihnachtsgabe für das juristische Publikum, 10. Aufl. – Leipzig: Breitkopf und Härtel 1909 (hinfort: Ihering, Scherz und Ernst).
zutage tritt – hat Ihering das paradoxe Verhältnis beschrieben, in dem sich Naturrecht und rechtshistorische Schule zur kulturellen Wirklichkeit befanden. So war das historischer Kontingenz enthobene Naturrecht nur eine Idealisierung der vorhandenen Zustände, während die historische Schule in Gestalt des römischen Rechts eine Universalität entdeckte, die – wie Ihering im „Geist des römischen Rechts“ ausführt – etwas „Berauschendes für die Juristen“
35
Ihering, Rudolf von, Geist des römischen Rechts, auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Theil 1, 3. Aufl. – Leipzig: Breitkopf & Härtel 1873, S. 10.
hatte. Der Weg zu einer eigentlichen Rechtsgeschichte bzw. „Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts“ wird erst in einer postum erschienenen Schrift – jenseits von sukzessiver Dogmengeschichte und idealistischer Nachkonstruktion der Idee des römischen Rechts – in seiner methodologischen Schwierigkeit sichtbar. Ihe[27]ring meint hierzu, die Prämissen der rechtshistorischen Schule hinter sich lassen zu müssen, nämlich das „dumpfe Werden“ der Volksgeistlehre Savignys: „Das Recht ist kein Ausfluß des naiv im dunklen Drang schaffenden Rechtsgefühls, jenes mystischen Vorgangs, welcher dem Rechtshistoriker jede weitere Untersuchung abschneiden und ersparen würde, sondern es ist das Werk menschlicher Absicht und Berechnung, die auf jeder Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung das Angemessene zu treffen bestrebt war.“
36
[27] Ihering, Rudolf von, Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts, aus dem Nachlaß hg. von Victor Ehrenberg. – Leipzig: Breitkopf & Härtel 1894, S. 28.
Weder Volksgeist noch „Kultur“ ist das Movens der Geschichte, nach der berühmten „Kehre“ Rudolf von Iherings. Im „Geist des römischen Rechts“ geht die Untersuchung noch von der (Kultur-)„Bedeutung des römischen Rechts für die moderne Welt“ aus, und bleibt auf die Frage gerichtet, inwieweit das römische Recht ein „Culturelement der modernen Welt“ ist. Und „Römischer Geist“ sei es, der dort zur spezifischen „Cultur des Rechts“ der römischen Welt prädestiniere und der auf vielfache Weise auch mit der Religion verschlungen sei. Im ersten Brief der anonym verfaßten „Vertraulichen Briefe über die heutige Jurisprudenz“ – später in die Spottschrift „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz“ aufgenommen – werden die Studien über den „Geist“ der Rechte, einschließlich des selbst verfaßten „Geist des römischen Rechts“ wie ein spiritualistischer Unfug karikiert, als deren Ursprung Ihering interessanterweise Montesquieus „De l’esprit des lois“ ansieht.
37
Ihering, Scherz und Ernst (wie oben, S. 26, Anm. 34), S. 3.
So geht Iherings Wandlung von der Konstruktions- zu der nach ihm benannten Interessenjurisprudenz mit dem Wechsel von einer kulturbezogenen Analyse des Rechts zu einer nur aus dem Interesse hervorspringenden, soziologistischen Reduktion des Rechts einher. Gleichwohl bewegt sich Iherings Blick auf das Recht zwischen den Polen einer kulturbezogenen und einer zweck- und interessenorientierten Rechtsanalyse, ohne daß in seinem System eine Vermittlung Stattgefunden hätte. Bei Weber werden wir sehen, wie Iherings Kulturbegriff des römischen Rechts in der Dimension der Analytik wiederkehrt und wie Zweck und Interesse in Webers Frage nach den Trägern rechtlicher Rationalisierung aufgenommen werden.
Während Weber der ethnologischen Jurisprudenz wie auch ethnologischer Religionswissenschaft eher skeptisch gegenüberstand, hat Josef Kohler ein juristisches Universalbild der Welt erarbeiten wollen, das vom ägyptischen Patentrecht über Shakespeares Rechtsbild, das Recht der Bantuneger bis zum islamischen Recht reichen sollte.
38
Vgl. als Sicht auf diesen umfassenden Anspruch Kohlers den Beitrag von Gast, Wolfgang, Historischer Optimismus. Die juristische Weltsicht Josef Kohlers, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 85, 1986, S. 1–10.
Seine Studien erfolgen nicht im Namen der Soziologie und auch nicht als Rechtsgeschichte, sondern sie wer[28]den in zahllosen Artikeln der „Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft“ verfaßt. Universalhistorisch und interkulturell ist der ungeheure Anspruch der Kohlerschen Unternehmung, die ihn insoweit mit Weber verbindet. In der „Encyklopädie der Rechtswissenschaft“ hat Kohler in einem Artikel über „Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte“ Recht als Kulturerscheinung in sehr allgemeiner Weise gewürdigt. Nach der Zerstörung des Naturrechts durch Savigny sieht Kohler es als die tiefe Erkenntnis der vergleichenden Rechtswissenschaft an, den jeweiligen kulturellen Wert auch der entlegensten Rechte erkannt zu haben, ebenso wie die vergleichende Religionswissenschaft sich weigerte, die religiösen Verrichtungen der „Primitiven“ weiterhin als bloße Verirrungen abzutun.
Das Recht wird damit aber nicht einfach kontingent: „Wenn auch das Recht ein ständig Wechselndes und sich Entwickelndes ist, so ist es doch nichts Äußerliches und Zufälliges […].“
39
[28] Kohler, Josef, Rechtsphilosophie und Universalrechtsgeschichte, in: Encyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung, hg. von Josef Kohler, 6., der Neubearb. 1. Aufl., Band 1. – Leipzig, Berlin: Duncker & Humblot und J. Guttenberg 1904, S. 1–69, hier S. 6.
Es ruht „mit seinem innigsten Gefaser in den Wurzeln der Volksseele und entspricht dem kulturentwickelnden Drange, der das Volk durchzieht, das Volk, seien es alle Mitglieder, seien es einige hervorragende, weitschauenden Geister“.
40
Ebd.
Darin soll nunmehr also die Rationalität der Rechtskultur bestehen, daß sie sich in Entsprechung zur Entwicklung der Gesellschaft entfaltet. Von dort her ergebe sich auch der Wertmaßstab, mit dem das Recht zu messen sei. So heißt es: „[…] es [das Recht, Hg.] ist zu schätzen nach der Art und Weise, wie es der Kultur und dem Kulturbedürfnis des Volkes nachkommt; aus Kultur und Kulturbedürfnis entnehmen wir das Ideal, dem das Recht einer bestimmten Zeit möglichst genügen soll.“
41
Ebd.
Die Kulturbedeutung des Rechts ist also mit Wertansprüchen durchsetzt, die nicht nur die Selektion und Kombination des Forschungsgegenstandes begründen, sondern die so konzipierte vergleichende Rechtswissenschaft bleibt der Suche nach dem „richtigen Recht“ verpflichtet, das sich aus der Adäquanz von Kulturentwicklung und Rechtsinhalt ergeben soll. Dieses kulturrelativ richtige Recht ruht auf den Grundlagen einer Kultur und ist damit zugleich nach Kohler ein Element, das die alte Kultur zerstört und eine künftige mithervorbringt. Weder soziologische Reduktion noch kulturalistische Verengung auf die Binnenkultur des Rechts, sondern die Erfassung des Rechts im Kosmos der übrigen Kulturformen scheint das Unterfangen Josef Kohlers aufs Engste an eine kultursoziologische Analyse des Rechts heranzuführen. Gleichwohl bleibt das Ergebnis enttäuschend: trotz einer immensen [29]Fülle an aufbereitetem rechtsethnologischen Material gelangt Kohler über die Differenzierung von Natur-, Kultur- und Halbkulturvölkern nicht hinaus.
Aber geht Webers „Rechtssoziologie“ in dem universalgeschichtlich konzipierten Unternehmen einer komparativen Analyse der Rechtskulturen im Sinne der ethnologisch inspirierten Rechtsvergleichung, wie sie etwa Kohler betreibt, tatsächlich auf? Wenn wir von den Kuriosa des Fragebogens zur Analyse primitiver Rechtskulturen
42
[29] Vgl. den von Josef Kohler entwickelten „Fragebogen zur Erforschung der Rechtsverhältnisse der sogenannten Naturvölker, namentlich in den deutschen Kolonialländern“, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 12, 1897, S. 427–440.
einmal absehen, so leidet die Kohlersche Betrachtung von Recht als Kulturerscheinung vor allem daran, daß Methodik, Sachgehalt und theoretische Konzeptualisierung einer Kulturanalyse des Rechts völlig im Dunkeln verbleiben. Sie dürfte für Weber daher sicher nicht methodisch,
43
Zu den Grenzen dieser rechtsethnologischen Versuche vgl. aus soziologischer Sicht auch: Durkheim, Emile, Besprechung von: Josef Kohler, Studien aus dem Strafrecht. Das Strafrecht der italienischen Statuten vom 12.–16. Jahrhundert, Mannheim 1895–1897, in: L’Année sociologique, Band 1, 1898, S. 351–353, hier S. 352 f.
wohl aber sachlich durch die Fülle des ausgebreiteten rechtsethnologischen Materials inspirierend gewesen sein.
Die wissenschaftsgeschichtliche Rahmung der Weberschen Texte zum Recht läßt sich also folgendermaßen resümieren: Weber greift für den im Recht sowohl rechtsdogmatisch wie rechtshistorisch bewanderten Juristen einen selbstverständlichen Wissensfundus auf. Im Spannungsfeld einer Überwindung der Stammlerschen Konfusion von Faktizität und Normativität auf der einen Seite und der Kritik einer soziologistischen Reduktion des Rechts auf der anderen Seite, wie sie von der Freirechtsschule gepflegt wurde, bezieht Weber seine rechtssoziologische Position. Dabei setzt seine Grundannahme über die Eigengesetzlichkeit der Sphären den Blick auf das Recht als eines Kulturtatbestandes frei, dessen innere Eigendynamik nicht ohne die Bezüge zu anderen Sphären, den Sphären der Herrschaft, der religiösen Mächte und der wirtschaftlichen Ordnungen zu erfassen ist. Damit stellt sich das Problem, wie ein Begriff des Rechts zu fassen ist, der die doppelte Konfusion von empirischer und normativer Geltung – aus der Sicht einer normativistischen oder empiristischen Reduktion – so vermeidet, daß er für eine „verstehende Soziologie“ fruchtbar wird. Diese Aufgabe nimmt Weber in dem hier edierten Text „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ in Angriff.
44
Siehe unten, S. 191 ff.
Sie setzt die fundamentale Unterscheidung von juristischer und soziologischer Betrachtungsweise voraus.

[30]II. Die Unterscheidung von juristischer und soziologischer Betrachtungsweise

„Wenn von ,Recht‘, ,Rechtsordnung‘, ,Rechtssatz‘ die Rede ist, so muß besonders streng auf die Unterscheidung juristischer und soziologischer Betrachtungsweise geachtet werden.“
45
[30] Unten, S. 191.
Aus Webers Sicht ist die Art der Unterscheidung von juristischer und empirischer Betrachtungsweise grundlegend. Sie berührt zentrale Probleme seiner Wissenschaftslehre.
46
Vgl. die weiterhin gültige Darstellung bei Loos, Fritz, Zur Wert- und Rechtslehre Max Webers. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1970, S. 93 ff. (hinfort: Loos, Wert- und Rechtslehre).
Das Problem der Unterscheidung empirischer und normativer Betrachtungsweise zieht sich wie ein roter Leitfaden durch das gesamte Werk, von der „Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter“,
47
Weber, Handelsgesellschaften.
der juristischen Promotion, über seine verschiedenen Aufsätze zur Wissenschaftslehre bis in sein Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft'' hinein. Es gilt die These einer radikalen logischen Trennung von juristischer und empirischer Begriffsbildung, normativer und empirischer Geltung einer Regel, sowie empirischer und juristischer Betrachtungsweise zu entfalten, die gleichzeitig behauptet, daß rechtssoziologische Erkenntnis nur im Hinblick auf den möglichen normativen Sinn einer Norm denkbar sei und die Frage empirischer Geltung sich hierbei von dem „idealen“ Sinn der Norm zu lösen habe, um die Faktizität der Geltung erfassen zu können.

1. „Juristische Konsequenzmacherei“ und „soziale Theorie“

Interessant ist ein wenig beachteter, früher Ausgangspunkt in der juristischen Dissertation Webers, hier ist der Rechtshistoriker nämlich äußerst skeptisch, inwieweit zum rechtshistorischen Verständnis der Solidarhaftung der Gesellschafter der Bezug auf Vorstellungen einer „Gesamtperson“ philosophischer Provenienz erforderlich sei, oder aber eigengesetzliche Überlegungen der juristischen Problemlage zur Geltung kommen. Webers Suche nach philosophischen oder sozialtheoretischen Anknüpfungspunkten verläuft negativ: „Wieder ein Beweis dafür, wie weit juristische Konsequenzmacherei Grundlage der einzelnen Entscheidungen der Juristen ist und wie wenig man deshalb berechtigt ist, darin Ausflüsse einer tiefliegenden philosophischen oder sozialen Theorie zu sehen.“
48
Ebd. (MWG I/1), S. 320.

[31]2. Normativer Sinn des juristischen Begriffs, faktische Wirkungsweise der Rechtsvorstellung und die Vorbildfunktion
der normativen für die empirische Begriffsbildung

In den methodologischen Arbeiten Webers bricht sich dann eine radikale Trennung der juristischen und der soziologischen Betrachtungsweise Bahn, die zuerst in dem Aufsatz über „Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie“
49
[31] Weber, Roscher und Knies I–III.
formuliert ist. Mit diesem Aufsatz wird die Folge methodologischer Schriften eröffnet, die zunächst noch ganz im Zeichen der schweren Erkrankung Webers steht.
50
Vgl. hierzu Weber, Marianne, Lebensbild, S. 274, 278.
Aber für das Verständnis der uns interessierenden Frage nach der Rolle juristischer Begriffsbildung und ihrer möglichen empirischen Bedeutung ist der Beitrag grundlegend. So wird die juristische Begriffsbildung einer „kausalen“ gegenübergestellt: „Sie erfolgt, soweit sie begriffliche Abstraktion ist, unter der Fragestellung: wie muß der zu definierende Begriff X gedacht werden, damit alle diejenigen positiven Normen, welche jenen Begriff verwenden oder voraussetzen, widerspruchslos und sinnvoll, neben- und miteinander bestehen können?“
51
Weber, Roscher und Knies II, S. 132.
Dies könne man teleologische Begriffsbildung nennen, um diese „eigenartige ,subjektive Welt‘ der juristischen Dogmatik“ zu kennzeichnen.
Juristische Begriffsbildung ist also Abstraktion, die den zu bildenden Begriff im Hinblick auf seine Vereinbarkeit mit anderen Rechtsnormen, also im Sinne der Widerspruchsfreiheit systematisch ausformt. Dieser systematisierende Blickwinkel dogmatisch-normativer Sinnfindung verliert sich, sobald der von seinem Ursprung her juristische Begriff in einen empirischen Zusammenhang gerät: „Für letztere [die juristische Dogmatik, Hg.] steht der begriffliche Geltungsbereich gewisser Rechtsnormen, für jede empirisch-geschichtliche Betrachtung dagegen das faktische ,Bestehen‘ einer ,Rechtsordnung‘, eines konkreten ,Rechtsinstituts‘ oder ,Rechtsverhältnisses‘ nach Ursachen und Wirkungen in Frage. Sie finden als diesen ,faktischen Bestand‘ in der historischen Wirklichkeit die ,Rechtsnormen‘ einschließlich der Produkte der dogmatisch-juristischen Begriffsbildung lediglich als in den Köpfen der Menschen vorhandene Vorstellungen vor, als einen der Bestimmungsgründe ihres Wollens und Handelns neben anderen, und sie behandeln diese Bestandteile der objektiven Wirklichkeit wie alle anderen: kausal zurechnend. Das ,Gelten‘ eines bestimmten ,Rechtssatzes‘ kann z. B. für die abstrakte ökonomische Theorie unter Umständen begrifflich sich auf den Inhalt reduzieren: daß bestimmte ökonomische Zukunftserwartungen eine an Sicherheit grenzende faktische Chance der Realisierung haben.“
52
Ebd., S. 132 f.
Wenn Weber nun von dem [32]„begrifflichen“ Geltungsbereich eines Rechtssatzes, also doch wohl der im Sinne der Begriffsjurisprudenz gewonnenen Bestimmung des normativen ideellen Sinns, den faktischen Geltungsbereich einer Rechtsordnung oder eines Rechtsinstituts unterscheidet, dann stellt sich die Frage, wie diese „Faktizität“ denn vermittelt sein soll.
53
[32] Zur Verschlingung von „Faktizität und Geltung“ vgl. Habermas, Jürgen, Faktizität und Geltung. – Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992 (hinfort: Habermas, Faktizität): zum Verhältnis normativer und faktischer Geltung vgl. Gephart, Werner, Recht als Kultur. Zur kultursoziologischen Analyse des Rechts (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Band 209). – Göttingen: Vittorio Klostermann 2006, S. 179 ff. (hinfort: Gephart, Recht).
Bedeutet „empirische Geltung“ die Befolgung des Normsinnes oder die Anerkennung des normativen Geltungsanspruchs und wie soll die Brücke aus dem heterogenen „Reich des Normativen“ in das der „empirischen Wirklichkeit“ geschlagen werden? Hier betont Weber, daß diese Verbindung nicht über den Weg äußeren Verhaltens hergestellt wird, indem die beobachtete Wirklichkeit also mit dem normativ gebotenen Verhalten verglichen würde, sondern indem der Normgehalt sich in den Repräsentationen des Akteurs als ein Handlungsmotiv wiederfindet, d. h. der empirische Geltungsbereich einer Rechtsordnung oder eines Rechtsinstituts ist über die handlungsmotivierende „Vorstellung“ von der Geltung der Norm vermittelt. Insofern reicht also die normative Welt in die empirische hinein, was im übrigen auch die selbstverständliche Erwartung jeder Rechtssetzung ist, daß sie nämlich handlungsrelevant werde. Nur: ob dies auch geschieht, ist eine empirisch offene Frage, die nicht notwendigerweise im Wege äußeren Zwangs verläuft, also nicht ausschließlich durch einen Erzwingungsstab zu bewerkstelligen ist, sondern durch Einwirkung auf die Vorstellungskraft „in den Köpfen“ der Rechtsunterworfenen erfolgt. Damit hat Weber also implizit wichtige Aussagen über die Wirkungsweise von Recht im normativen Sinne getroffen.
Hiervon zu unterscheiden ist freilich der Gedanke, daß die „politische oder soziale Geschichte“, von der Weber hier spricht, im Zusammenhang kausal-historischer Zurechnung terminologisch auf die juristische Begriffsbildung zurückgreift: „Und wenn die politische oder soziale Geschichte juristische Begriffe verwenden – wie sie dies fortwährend tun – so wird das ideale Geltenwollen des Rechtssatzes hier nicht erörtert, sondern die juristischen Normen sind nur der für die Geschichte allein in Betracht kommenden faktischen Realisierung gewisser äußerer Handlungen von Mensch zu Mensch terminologisch soweit substituiert, als dies nach Lage der Sache möglich ist.“
54
Weber, Roscher und Knies II, S. 133.
Damit ist ein neuer Gedanke angesprochen, der erklärt, warum die von Weber so scharf attackierte Konfusion normativ-juristischer Begriffsbildung und wortgleicher, aber logisch differenter empirischer Begriffsbildung, so leicht und vielfach unbemerkt vonstatten geht. Weil es nämlich innere Gründe für die [33]Verwendung der juristisch-normativen Begriffe im empirischen Aussagezusammenhang gibt, die auf der faktischen Eingelebtheit, Plastizität und auch vermuteten Kausalrelevanz des juristischen Begriffsarsenals beruht. So insbesondere, wenn die aus der juristischen „subjektiven Welt“, wie Weber sagt, genommenen Kollektivbegriffe für die Wirklichkeit selbst gehalten werden, obwohl sie jeweils nur Chancen abgeben, daß eine bestimmte Art des Handelns faktisch abläuft: „Das Wort ist dasselbe, – was gemeint ist, etwas in logischem Sinn toto coelo Verschiedenes. Der juristische Terminus ist hier teils Bezeichnung einer oder vieler faktischer Beziehungen, teils ein ,idealtypischer‘ Kollektivbegriff geworden. Daß dies leicht übersehen wird, ist die Folge der Bedeutung rechtlicher Termini in der Praxis unseres Alltagslebens; – und im übrigen ist der Sehfehler nicht häufiger und nicht schwerwiegender als der umgekehrte: daß Gebilde juristischen Denkens mit Naturobjekten identifiziert werden. Der wirkliche Tatbestand ist, wie gesagt: daß der juristische Terminus zur Erfassung eines rein kausal zu analysierenden realen Sachverhaltes verwendet wird und normalerweise auch verwendet werden kann, weil wir alsbald dem Geltenwollen juristischer Begriffsgebilde das faktisch existente soziale Kollektivum unterschieben.“
55
[33] Ebd.
Diese untergründige Verwicklung von normativer und empirischer Begriffsbildung taucht dann im gleichen Bild des „Unterschiebens“ im Kategorienaufsatz wieder auf, wenn Weber von dieser Notwendigkeit als dem „Schicksal“ aller Soziologie spricht.

3. Das Kausalitätsproblem als juristische und empirisch-historische Zurechnung

Auch im Eduard Meyer-Aufsatz
56
Weber, Kritische Studien.
finden wir einschlägige Aussagen Webers über das Verhältnis von Rechtswissenschaft und empirisch-historischen Sozialwissenschaften. So sei für die leidige Kausalitätsfrage gerade die juristische Theoriebildung, insbesondere im Strafrecht, auf fruchtbare Weise für die methodologischen Probleme der empirischen, nicht-normativen Disziplinen nutzbar zu machen. Die Jurisprudenz könne nämlich dort hilfreich sein, wo „die Geschichtslogik noch im argen liegt“.
57
Ebd., S. 188.
Folgende Annahme wird von Weber zugrunde gelegt: „Daß gerade die Juristen, in erster Linie die Kriminalisten, das Problem behandelten, ist naturgemäß, da die Frage nach der strafrechtlichen Schuld, insoweit sie das Problem enthält: unter welchen Umständen man behaupten könne, daß jemand durch sein Handeln einen bestimmten äußeren Erfolg ,verursacht‘ habe, reine Kausalitätsfrage ist, – und zwar [34]offenbar von der gleichen logischen Struktur, wie die historische Kausalitätsfrage.“
58
[34] Ebd., S. 188 f.
Damit ist die Kausalitätsfrage sowohl für die strafrechtliche wie die historische „Zurechnung“ auf den Handlungsbegriff zentriert, hierfür gibt es einen inneren Grund, wie Weber anschließend ausführt: „Denn ebenso wie die Geschichte sind die Probleme der praktischen Beziehungen der Menschen zueinander und insbesondere der Rechtspflege ,anthropozentrisch‘ orientiert, d. h. sie fragen nach der kausalen Bedeutung menschlicher Handlungen.“
59
Ebd., S. 189 f.
Auf dieser Gleichstellung fußt daher die Übertragung der juristischen Kausalitätslehre auf die Geschichtswissenschaft. Dort ist in Anlehnung an Arbeiten des Physiologen von Kries, den Weber übrigens in seiner Freiburger Zeit kennengelernt hatte, die „Lehre von der adäquaten Verursachung“ entwickelt worden – so der Titel der Dissertation Gustav Radbruchs,
60
Radbruch, Gustav, Die Lehre von der adäquaten Verursachung, in: Abhandlungen des kriminalistischen Seminars an der Universität Berlin, hg. von Franz v. Liszt, N. F. Band 1, Heft 3, 1902, S. 325–408.
die Weber seinen „Kritischen Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik“ zugrunde legte.
61
Man sollte in der Zitierung Radbruchs das persönliche Moment nicht überbewerten. Freilich sollte man wissen, daß Weber erst 1914 – also acht Jahre nach dem Eduard-Meyer-Aufsatz – eine Gelegenheit sah, Gustav Radbruch „aufrichtig Glück zu wünschen zu der, weiß Gott! späten und ganz unzulänglichen Anerkennung, die Sie endlich finden […]“ (Brief Max Webers an Gustav Radbruch vom 20. April 1914, MWG II/8, S. 632 f., hier S. 632).
Es ist also juristischem Denken geschuldet, daß Weber mit dem Dogma der positivistischen Geschichtswissenschaft gründlichst aufräumt, sie habe sich nur um die „Wirklichkeit“, nicht aber um „Möglichkeiten“ zu kümmern: „Um die wirklichen Kausalzusammenhänge zu durchschauen, konstruieren wir unwirkliche.“
62
Weber, Kritische Studien, S. 204.
Hinter diese methodologische Einsicht dürfe die Historiographie nicht mehr zurückfallen. „Abstraktion“ und sogar „Phantasiegebilde“ sind nicht nur zulässig, sondern notwendige Voraussetzung des historisch-empirischen Kausalurteils. Die juristische Denkform liefert die Basis der empirisch-kausalen Zuordnung.

4. Normative und empirische Geltung einer Regel: ihre „komplizierten Kausalverknüpfungen“

Schließlich ist im Stammler-Aufsatz
63
Weber, Überwindung.
eine auf die Norm bezogene, gleichwohl empirisch gemeinte Rechtsbetrachtung zu finden. Dies scheint Webers [35]Rechtsauffassung in unmittelbare Nähe zu der von Durkheim seit seiner Einführungsvorlesung entwickelten These zu bringen, nach der Recht als Struktur des sozialen Lebens zu betrachten sei. Freilich ist dies gerade ein Modell des Rechts, das von Weber aufs Schärfste kritisiert wird. Er führt aus, „daß es sinnlos ist, die Beziehung der Rechtsregel zum ,sozialen Leben‘ derart zu fassen, daß das Recht als die – oder eine – ,Form‘ des ,sozialen Lebens‘ aufgefaßt werden könnte […]“.
64
[35] Ebd., S. 142.
Aus gegen den Vitalismus gerichteten Motiven
65
Heinrich Rickerts Kritik des Vitalismus erscheint erst später; vgl. ders., Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1920.
erscheint es Weber zunächst suspekt, „die Möglichkeit einer selbständigen und eigenartigen sozialen Wissenschaft“
66
Stammler, Wirtschaft und Recht, S. 109.
an die Vorstellung des „sozialen Lebens“ zu koppeln. Stammler behauptet nämlich, die Wechselwirkungslehre Simmels z. B. führe zwangsläufig auf eine naturwissenschaftliche Betrachtung von einzelnen Menschen als Wirkverhältnis zurück. Es ist die Stammlersche „Lösung“ des Emergenzproblems, die Weber herausfordert, nämlich in der äußeren „Reguliertheit“ des sozialen Lebens eine die Einzelwesen verbindende „Form“ entdeckt zu haben. Webers Thema, das sich an der Rezension von Stammlers Buch über „Wirtschaft und Recht“ entfaltet, ist auf der unmittelbar wahrnehmbaren Ebene die Ambivalenz und Mehrdeutigkeit des „Regelbegriffs“, der die „stete Gefahr der hoffnungslosen Konfusion des Empirischen mit dem Normativen auf das Maximum“
67
Weber, Überwindung, S. 136 [Hervorhebung der Hg.].
steigen läßt. In der Stammler-Auseinandersetzung wird aber zugleich die handlungsförmige Bestimmung des Gegenstandsbereichs einer verstehenden Soziologie vorbereitet, wie sie im Logos-Aufsatz explizite Gestalt annimmt. Sie entzündet sich an Stammlers Bestimmung des „sozialen Lebens“, dessen formale Eigenart darin bestehe, daß es „geregeltes“ Zusammenleben sei.
Eine die „Konfusion des Empirischen mit dem Normativen“ vermeidende Betrachtung stellt nach Weber nämlich zwei Bedeutungen von „Regel“ fest, die beide nicht dafür taugen. Recht als „Form“ des sozialen Lebens zu betrachten. Einmal ist mit „Regel“ der gelten sollende Sinn einer Norm gemeint, der im Skatspiel von der „Skatjurisprudenz“, im Rechtsleben von der Rechtswissenschaft zur Ermittlung der „juristische[n] Wahrheit“
68
So die Formulierung in: ebd., S. 140.
festgestellt wird, welche wiederum ein „rein ideelles, vom juristischen Forscher destilliertes Objekt begrifflicher Analyse“
69
Ebd., S. 139.
bilde. Das „Gelten“ der Regel in diesem Sinne ist das Ergebnis – so Weber – der gedanklichen Verbindung von Begrif[36]fen, ein „Gelten-Sollen“ für den juristischen Intellekt. Diesem idealen Sinn der Regel aber kommt keine unmittelbare Bedeutung für ihre empirische Geltung zu. So heißt es im Stammler-Aufsatz: „Die Rechtsregel, als ,ldee‘ gefaßt, ist ja keine empirische Regelmäßigkeit oder ,Geregeltheit‘, sondern eine Norm, die als ,gelten sollend‘ gedacht werden kann, also ganz gewiß keine Form des Seienden, sondern ein Wertstandard, an dem das faktische Sein wertend gemessen wird, wenn wir ,juristische Wahrheit‘ wollen“.
70
[36] Ebd., S. 142.
Aber Weber tendiert nun keineswegs zu einem schlichten Normrealismus als „Form“ des sozialen Lebens, vielmehr gelte: „Die Rechtsregel, empirisch betrachtet, ist aber erst recht keine ,Form‘ des sozialen Seins, wie immer das letztere begrifflich bestimmt werden möge, sondern eine sachliche Komponente der empirischen Wirklichkeit […].“
71
Ebd.
Und das heißt: Nur soweit die am Recht beteiligten Personen, „Richter“, „Anwälte“, „Gerichtsvollzieher“, „Polizisten“ und die „Rechtsgenossen“, sich an der Vorstellung vom Gelten-Sollen der Regel orientieren, ist das soziale Sein durch ein rechtliches Sollen bestimmt. Da aber das Ausmaß der empirischen Geltung ungewiß ist, was nicht zuletzt die Implementationsforschung belegt und in Durkheims Normalitätsthese der Regelabweichung auch positiv gewendet ist,
72
Vgl. Durkheim, Emile, Die Regeln der soziologischen Methode. – Neuwied und Berlin: Luchterhand 1961 (zuerst 1895), S. 155 ff. Zur soziologischen Deutung siehe auch: Gephart, Werner, Strafe und Verbrechen. Die Theorie Emile Durkheims. – Opladen: Leske und Budrich 1990, S. 4–33.
macht nach Weber die Rede vom „Recht als Form des sozialen Lebens“ keinen Sinn. Und dies hat seinen Grund darin, daß es – entgegen dem panjuristischen
73
Dieser treffende Ausdruck stammt von Carbonnier, Sociologie juridique (wie oben, S. 1, Anm. 1).
Bild – unterschiedliche Relevanzstufen
74
Vgl. die Formulierung in: Weber, Überwindung, S. 144: „Man könnte – was jedoch an dieser Stelle nicht geschehen soll – eine Serie von Gattungen möglicher Objekte der Untersuchung zu konstruieren suchen, bei der in jedem folgenden Beispiel die generelle kausale Bedeutung der konkreten Eigenart der ,empirischen Rechtsordnung‘ immer weiter zurücktritt […].“
der rechtlichen Geordnetheit des Handelns gibt, die zu einer differenzierten Einschätzung der kausalen Tragweite der empirischen Rechtsordnungen für die „Kulturtatsachen“ führt. Weber formuliert dies nicht ohne Ironie als eine Kritik des juristischen Weltbildes. So heißt es: „Der Fachjurist freilich ist begreiflicherweise geneigt, den Kulturmenschen im allgemeinen als potentiellen Prozeßführer zu betrachten, in demselben Sinn, wie etwa der Schuster ihn als potentiellen Schuhkäufer und der Skatspieler ihn als potentiellen ,dritten Mann‘ ansieht.“
75
Ebd., S. 145.
Was ist nun unter „Recht“ oder „Rechtsordnung“ im Zusammenhang der Stammler-Kritik zu verstehen? Im normativen Sinne kann nur die ideelle [37]Normordnung gemeint sein, deren begriffliche Vernetzung genau dem „Ideal“ entsprechen müßte, das in Webers „Rechtssoziologie“ durch die Postulate der gemeinrechtlichen Jurisprudenz als formal rationalstes System des Rechts ausgewiesen wird. Verwandtschaft und Differenz zu Kelsens Grundidee der reinen Rechtslehre
76
[37] Vgl. hierzu Loos, Wert- und Rechtslehre (wie oben, S. 30, Anm. 46). Siehe auch: Bobbio, Noberto, Max Weber und Hans Kelsen, in: Rehbinder, Manfred und Tieck, Klaus-Peter (Hg.), Max Weber als Rechtssoziologe. – Berlin: Duncker & Humblot 1987 (hinfort: Rehbinder/Tieck, Weber als Rechtssoziologe), S. 109–126.
sind offenkundig. Empirisch farblos bzw. unzureichend bleibt dieser Begriff für die empirische Rechtsordnung. Denn es kommt ja ausschließlich auf die Vorstellung von der Geltung im jeweiligen Handeln an, so daß Weber am Ende eine rein kognitivistische Vorstellung von der empirischen Rechtsordnung zu entwickeln scheint. So heißt es ausdrücklich: „Das ,empirische Sein‘ des Rechts als Maxime-bildenden ,Wissens‘ konkreter Menschen nannten wir hier: die empirische ,Rechtsordnung‘.“
77
Weber, Überwindung, S. 142 [letzte Hervorhebung, Hg.].
Nun: was hat Weber aus der polemischen Kritik dieses von ihm sogenannten „Geschichtsspiritualisten“ an positiver Deutung der Beziehung von juristischer und empirischer Betrachtungsweise entwickelt? Juristische und empirische Geltung einer Regel sind aufs Schärfste geschieden, insbesondere ist bei der Rede von der Existenz einer Rechtsnorm höchste Vorsicht geboten: Sie kann im Sinne eines ideell Gelten-Sollenden gemeint sein, von dem wir hoffen, daß es durch die in einer Rechtsgemeinschaft zu verbindlicher Auslegung Berufenen auch als „Recht“ erkannt, für ihr praktisches Handeln also empirisch wirksam werde, und das zugleich auch noch davon zu unterscheiden ist, inwieweit die Alltagsakteure in ihrem Handeln die Geltung der Norm unterstellen und sich in ihrem praktischen Handeln danach ausrichten.

5. Zur banalen Empirie der Regelanwendung

Von welchen Banalitäten die Umsetzung eines ideal geltenden normativen Sinns in der Rechtsanwendungswirklichkeit abhängt, führt Weber im Anschluß an den Vortrag von Hermann Kantorowicz über „Rechtswissenschaft und Soziologie“ auf dem Soziologentag aus: „Ob nun im einzelnen Fall sich diese Rechtssätze faktisch in einem Urteil, welches, wenn wir auf den Sinn des Rechtssatzes sehen, – also eine ganz andere Frage als die soziologische stellen – ,richtig‘ ist, realisieren, – nun, das hängt von einer Unmasse soziologischer Umstände und ganz konkreter Dinge ab. Gewiß auch davon unter Umständen, ob der Richter etwa einen sehr starken Frühschoppen hinter sich hat. Es hängt von der Art der Vorerziehung des Juristen ab, es hängt von tausend konkreten Verhältnissen ab, die, ob sozialer oder nicht sozialer Natur, [38]jedenfalls reine Faktizitäten sind. Das ,Gelten‘ eines Rechtssatzes im soziologischen Sinn ist ein empirisches Wahrscheinlichkeitsexempel über Fakta, das Gelten im juristischen Sinn ist ein logisches Soll, und das sind zwei ganz verschiedene Dinge […].“
78
[38] Weber, Diskussionsbeitrag II (wie oben, S. 19, Anm. 1), S. 325.
Kontingente Umstände aus der Lebenswelt des rechtsanwendenden Richters, der Frühschoppen oder aber auch seine „Vorerziehung“, verweisen auf eine empirische Richtersoziologie, wie sie Weber selbst nie betrieben hat oder allenfalls als Typologie der rechtskulturell geprägten Richtergestalten im angelsächsischen und kontinentalen Recht, nicht aber als eine Untersuchung der richterlichen Lebenswelten, einschließlich ihrer banalen Lebensumstände, sowie ihrer „Vorerziehung“, d. h. doch wohl ihrer klassen- und schichtenbedingten allgemeinen Sozialisationserfahrungen und ihrer jeweils spezifischen fachlichen Bildung, also ihrer juristischen Sozialisation.
So sehr die Wirklichkeit der Rechtsanwendung vom Normideal abzuweichen vermag, so wenig kann die empirische Erforschung des Rechts umgekehrt auf die rechtsdogmatische Betrachtung verzichten. Und dies gilt auch für die Erforschung der rechtsgeschichtlichen Wirklichkeit. Nicht nur werde das rechtshistorisch Bedeutsame durch rechtsdogmatische Fragen der Gegenwart mitbestimmt, sondern als heuristisches Prinzip leiten rechtsdogmatische Überlegungen auch die rechtshistorische Forschung. Weber führt eine für die Rechtsgeschichte wichtige Beobachtung ein: „Darum würde ich es für unberechtigt halten, etwa den Unterschied zu machen: das Recht, das nicht mehr gilt, nur als Faktum und nicht als ,Norm‘ zu betrachten, und das Recht, das noch gilt, nicht als Faktum[,] sondern als Norm.“
79
Ebd., S. 328.
Die Rechtsgeschichte befaßt sich daher mit komplexen „gedanklichen Operationen“,
80
So schon Weber, Überwindung, S. 148, Fn. 16.
nämlich der Eruierung eines historisch relativen, richtigen normativen Sinns („indem ich mich also möglichst in die Seele eines Richters der damaligen Zeit zurückversetze“),
81
Weber, Diskussionsbeitrag II (wie oben, S. 19, Anm. 1), S. 328.
um sodann das „lebendige, d. h. das faktisch in realem Zwang sich äußernde. Recht der betreffenden Zeit de facto“
82
Ebd.
zu erkunden.

6. Verhältnis der Verstehenden Soziologie zur Rechtsdogmatik

In dem grundlegenden Beitrag über „Einige Kategorien der verstehenden Soziologie“ kommt Weber im dritten Abschnitt dieses werkgeschichtlich umstrittenen Aufsatzes in einem eigenen Abschnitt auf das „Verhältnis zur [39]Rechtsdogmatik“ zu sprechen, hier hat ein Perspektivenwechsel stattgefunden: Es geht nicht mehr um die Bedeutung der soziologischen Betrachtung für die Jurisprudenz, sondern um die Bedeutung der Jurisprudenz, insbesondere ihrer Begriffsbildungsleistungen, für die von Weber erstmals aus der Sphäre von Dilettantenleistungen herausgehobene „verstehende Soziologie“. Das Postulat des „Verstehens“ ist zunächst der Grund, warum diese Art der Soziologie sich von Kollektivbegriffen lösen muß, die nicht verstehbare Subjekte konstruieren: denn ein substanzhaft vorgestellter „Staat“ ist nur vermittels seiner Akteure „verstehbar“. Wie Weber gerade in seiner Dissertation gezeigt hatte, kann es gute juristische Gründe für die Annahme einer juristischen Persönlichkeit des Staates oder auch der Handlungs- und Zurechnungsfähigkeit von „Gesellschaftsformen“ geben. Um die Konstruktion normativer Zurechnung aber geht es der Soziologie nicht: „Die Soziologie hat es dagegen, soweit für sie das ,Recht‘ als Objekt in Betracht kommt, nicht mit der Ermittelung des logisch richtigen ,objektiven‘ Sinngehaltes von ,Rechtssätzen‘ zu tun, sondern mit einem Handeln, als dessen Determinanten und Resultanten natürlich unter anderem auch Vorstellungen von Menschen über den ,Sinn‘ und das ,Gelten‘ bestimmter Rechtssätze eine bedeutsame Rolle spielen.“
83
[39] Weber, Kategorien, S. 264.
Diese Geltungsvorstellung kann nun Anknüpfungspunkt etwa der Wirtschaftsakteure darüber sein, ob sie berechtigte Erwartungen hegen können, daß ihr Vertragspartner seinem Handeln eine Geltungsvorstellung etwa des Vertragsrechts zugrunde legt und darüber hinaus erwartet, daß gegebenenfalls auch der beurteilende Richter eine solche Erwartung der Erwartungserwartung hegt und sie in Anwendung des idealiter logisch objektiv zu ermittelnden Normsinnes, in wie immer gearteter Abweichung von dieser Erwartung, verbindlich bestimmen und mit den Mitteln des jeweiligen rechtlichen „Erzwingungsstabes“ durchsetzen wird.
Aus diesem Tatbestand aber folgt – so Weber – das Begriffsbildungsmonopol der Jurisprudenz für die verstehende Soziologie, die eben auf die Vorstellungen über die Geltung einer normativen Ordnung aus Gründen der kausalen Zurechnung des Handelns besondere Rücksicht zu nehmen habe: „Es ist aber allerdings das unvermeidliche Schicksal aller Soziologie: daß sie für die Betrachtung des überall stetige Übergänge zwischen den ,typischen‘ Fällen zeigenden realen Handelns sehr oft die scharfen, weil auf syllogistischer Interpretation von Normen ruhenden, juristischen Ausdrücke verwenden muß, um ihnen dann ihren eigenen, von dem juristischen der Wurzel nach verschiedenen, Sinn unterzuschieben.“
84
Ebd., S. 265.
So mag man an die begrifflichen Unterscheidungen der römischrechtlichen „actiones“ oder an die Vertragstypen des Besonderen Schuldrechts denken, die eine Trennschärfe der rechtlichen [40]Zurechnung begründen, gerade indem sie die von Weber oft so bezeichneten „flüssigen“ Übergänge des Handelns künstlich einfrieren.

7. Die Unterscheidung von juristischer und soziologischer Betrachtungsweise und die Differenzierung der Geitungsarten

In der als Manuskript überlieferten Analyse der Beziehung von „Die Wirtschaft und die Ordnungen“, in dem das ursprüngliche Konzept des Weberschen Grundrißbeitrags zum Recht besonders präsent ist,
85
[40] Im Stoffverteilungsplan von 1909/10 heißt es unter Punkt 4. a) „Wirtschaft und Recht (1. prinzipielles Verhältnis, 2. Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands)“; abgedr. bei Winckelmann, Hauptwerk, S. 150–155, hier S. 151; MWG II/8, S. 808–816, hier S. 810.
wird die Differenz von rechtssoziologischer und rechtsdogmatischer Analyse des Rechts ausdrücklich von einer Objektdifferenz geschieden und auf eine solche der reinen „Betrachtungsweisen“ zurückgeführt: „Es liegt auf der Hand, daß beide Betrachtungsweisen sich gänzlich heterogene Probleme stellen und ihre ,Objekte‘ direkt gar nicht in Berührung miteinander geraten können, daß die ideelle ,Rechtsordnung‘ der Rechtstheorie direkt mit dem Kosmos des faktischen wirtschaftlichen Handelns nichts zu schaffen hat, da beide in verschiedenen Ebenen liegen: die eine in der des ideellen Geltensollens, die andere in der des realen Geschehens.“
86
Unten, S. 193.
Beziehungen zwischen „Wirtschaft und Recht“, worum es Weber im Anschluß an die Stammler-Auseinandersetzung geht, betreffen nicht die Beziehungen der Wirtschaft zu einer ideellen normativen Ordnung, sondern zum faktischen Geltungsbereich des Rechts. Damit also unterscheidet Weber nicht nur – wie Jellinek, an den er anknüpft
87
Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre, S. 174 ff., differenziert zwischen „sozialem Staatsbegriff“ und „juristischem Staatsbegriff“.
– einen juristischen und einen soziologischen Staatsbegriff, sondern zergliedert den Begriff des Rechts selbst in einen juristischen und einen soziologischen. Weber geht noch darüber hinaus: Sämtliche Grundbegriffe der Rechtstheorie, wie „Recht“, „Rechtsordnung“, „Rechtssatz“, weisen eine völlig unterschiedliche Bedeutung auf, je nachdem sie im Sinne normativer oder faktischer Geltung gemeint sind. Die empirischen Geltungsgründe, Fügsamkeitsmotive und objektiven „Garantien“, wie es in dieser für „Wirtschaft und Gesellschaft“ bestimmten Passage heißt, lassen wir hier außer acht. Das Trennungspostulat wird nirgends so konsequent entwickelt, wie es in dem Eröffnungssatz von „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ formuliert ist: „Wenn von ,Recht‘, ,Rechtsordnung‘, ,Rechtssatz“ die Rede ist, so muß besonders streng auf die Unterscheidung juristischer und soziologischer Betrachtungsweise [41]geachtet werden.“
88
[41] Unten, S. 191.
Dies führt unter anderem zu dem später zu vertiefenden Ergebnis, daß die rechtsdogmatische Konstruktion eines wirtschaftlichen Sachverhalts rechtshistorisch und im Vergleich zwischen den Rechtskulturen sehr unterschiedlich ausfallen kann, ohne daß der Effekt auf die Wirtschaft, nämlich Berechenbarkeit des Handelns der Wirtschaftsakteure zu garantieren, hierdurch beeinflußt würde.
Das aus methodologischen Gründen komplizierte Verhältnis von Rechtswissenschaft und Soziologie läßt sich von Weber her in der folgenden Weise resümieren:
1.) Die Sphäre des ideellen Geltensollens ist von der des faktischen Geschehens grundlegend geschieden.
2.) Rechtswissenschaft im normativen Sinne ist daher von einer empirischen Rechtssoziologie zu unterscheiden (Konfusionsverbot bzw. Sphärenfrevel).
3.) Nicht das einheitliche Objekt, sondern die jeweilige Betrachtungsweise konstituiert den „Gegenstand“ der normativen und der empirischen Betrachtungsweise, die besonders scharf geschieden werden müssen, wenn auch der wissenschaftliche Sprachgebrauch in der Rede von „Recht“, „Rechtssatz“ oder „Rechtsordnung“ diese logische Differenz nicht sichtbar werden läßt.
4.) Nur im Hinblick auf das Geltensollende ist der historische Sinn einer Rechtsnorm ebenso wie der positiv geltende Norminhalt zu ermitteln, ohne daß er hierdurch in die Faktizität hineinreicht. Die faktische Geltung einer Norm läßt sich, in Bezug auf vergangene oder gegenwärtige Geltung, freilich nur im Hinblick auf einen normativen Geltungssinn überhaupt beurteilen.
5.) Weil normative und kausale Sphäre völlig heterogen sind, kann es auch kein direkt kausales Wirken des ideellen Normgehalts in die faktische Geltungssphäre geben.
6.) Die „Wirkung“ der Norm verläuft vielmehr über die Vorstellung der Akteure von ihrer Geltung, gleichgültig worauf gegebenenfalls ihre Fügsamkeitsmotive beruhen: auf der Anerkennung des jeweiligen Normgehaltes, einer allgemeinen Rechtstreue, oder der Furcht vor dem Einsatz des Erzwingungsstabes. Freilich ist die Wirkungschance der ideellen Rechtsnorm erhöht, soweit in einem gewissen Ausmaß die Norm befolgt wird, weil sie geboten ist, sie also von einem Legitimitätseinverständnis getragen wird.
7.) Hat die soziologische Betrachtung die Erklärung und das Verstehen menschlichen Handelns zum Gegenstand, dann liegt es nahe, daß ihre Begriffsbildungsstrategie auf diejenigen Begriffe zurückgreift, die in den praktischen Handlungsorientierungen des Menschen faktisch in weitem Umfang wirksam sind. Dies trifft wegen ihrer faktisches Handeln ordnenden Leistung insbesondere auf die Rechtsbegriffe in der okzidentalen Welt zu, deren Weltbild durch einen juristischen Rationalismus auch im Alltag geprägt ist. Daher macht die menschliches Handeln verstehen wollende Soziologie Begriffsanleihen in der Jurisprudenz, auch wenn sie – insbesondere im Falle der zahlreichen aus innerjuristischen Gründen sinnvollen, weil für Zurechnungsfragen tauglichen Kollektivbegriffe – ihnen dann einen „eigenen“, eben empirisch möglichen Sinn unterschiebt.
8.) Aus diesen Annahmen ergibt sich zugleich, daß die Soziologie zur Ermittlung des ideell geltenden Sinns einer Rechtsnorm oder einer Rechtsordnung als Aufgabe der rechtswissenschaftlichen Dogmatik nichts beizutragen weiß. Eine Soziologisierung der Jurisprudenz, wie sie in Teilen der Freirechtsschule bzw. einer marxistisch angeleiteten Rechtslehre postuliert wird, ist nach Weber faktisch, wegen des logischen Hiatus von [42]Sein und Sollen zum Scheitern verurteilt, zugleich aber, wie wir sehen werden, mit dem normativen Gehalt der okzidentalen Rechtskultur unvereinbar.
9.) Dies bedeutet nicht, daß die Feststellung über die faktische Geltung einer normativen Ordnung rechtlich unerheblich wäre, etwa soweit das Recht auf Handelsgewohnheiten oder Sitten und Gebräuche verweist, diese also zum Bestandteil normativ geltenden Rechts macht, insoweit es faktisch gilt. Auch ist jede Feststellung über den Schwund der faktischen Rechtsgeltung von größtem Belang für die Frage, ob eine Rechtsidee noch als Handlungsorientierung fungiert, das Rechtssystem sich an die Faktizität anpassen soll, oder aber auf seiner Fortgeltung insistieren muß und hierfür geeignete Maßnahmen zu treffen hat, die sich wieder zweckrationalen Erwägungen aufschließen, nicht aber in ihrer Finalität von einer empirischen Disziplin aus zu entscheiden sind.
10.) Nur unter Beachtung dieser Differenzierung macht die soziologische Betrachtung des Rechts nach Max Weber Sinn. Sie vermeidet eine naturalistische Bestimmung der Norm- und Rechtsinhalte und gewinnt für die Soziologie die Begriffsbildungserfahrung der Jurisprudenz, der sie ihrerseits die Grenzen ihrer Norm- und Rechtsgeltungsansprüche aufzeigt.

III. Begriff und Wirklichkeit des Rechts im Gefüge normativer Systeme: „Die Wirtschaft und die Ordnungen“

Wer sich die Argumentation des Kategorienaufsatzes vor Augen hält, ist verblüfft, daß der für Weber doch so zentrale Komplex des Rechts in eine Fußnote verbannt ist. Dort heißt es zur Erläuterung des normativen Sinns von Recht und Konvention: „Der Begriff ist hier nicht speziell zu erörtern. Es sei nur bemerkt: als ,Recht‘ gilt uns soziologisch eine in ihrer empirischen Geltung durch einen ,Zwangsapparat‘ (im bald zu erörternden Sinn), als Konvention eine nur durch ,soziale Mißbilligung‘ der zur ,Rechts‘- bzw. ,Konventions‘-Gemeinschaft vergesellschafteten Gruppe garantierte Ordnung.“
89
[42] Weber, Kategorien, S. 269, Anm. 1.
Dabei ist Recht im Kategorienaufsatz ja deshalb so zentral, weil Webers soziologische Grundfrage danach, wie angesichts der Labilität von wechselseitigen Erwartungen die empirische Geltung einer Ordnung als Chance ihres objektiven Befolgtwerdens zunehme, auf Recht verweist. Die Geltungschance einer Ordnung erhöht sich nämlich, „je mehr […] die subjektive Ansicht in relevantem Maß verbreitet ist, daß die (subjektiv sinnhaft erfaßte) ,Legalität‘ gegenüber der Ordnung ,verbindlich‘ für sie sei“.
90
Ebd., S. 270.
Demgegenüber setzt die Kategorie des „Einverständnishandelns“ an die Stelle der ,Legalität‘ der Ordnung die Haltung eines Akteurs, der Erwartungen für verbindlich hält, so „als ob“ ihnen eine Vereinbarung zugrundeläge. Das gleiche gilt aber für die Geltung von Vereinbarungen, die nicht von allen Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft oder nicht in jeder Hinsicht „gebilligt“ worden sind und daher einer Art von Meta-[43]Einverständnis bedürfen: „Auch Vereinbarungen ,gelten‘ letztlich kraft dieses (Legalitäts-)Einverständnisses.“
91
[43] Ebd., S. 280.
Damit also lastet auf dem Text über „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ eine mehrfache Erwartung: Recht als eine normative Ordnungskategorie neben solchen der Sitte und der Konvention in eine sinnverstehende Soziologie einzufügen, die dem besonderen Charakter wirtschaftlicher Erwartungen und ihrer rechtlichen Fassung so Rechnung trägt, daß die Fallstricke empiristischer und normativistischer Reduktionen des Rechts vermieden werden.
Als Ende 1908 der Plan einer Neuausgabe des „Handbuchs der politischen Ökonomie“, des späteren GdS, in der Korrespondenz zwischen dem Verleger Paul Siebeck und Max Weber Gestalt annahm, stand Weber – wie wir sahen – in der methodisch fundamentalen Frage der Grenzbeziehungen der Sozialökonomik als empirischer Wissenschaft zu den Normdisziplinen, speziell der Rechtswissenschaft, ganz auf dem Boden seiner ein Jahr zuvor veröffentlichten Stammler-Kritik. Zwar räumte er gegenüber Hermann Kantorowicz ein, daß der angekündigte Fortsetzungsartikel dazu erst „durch Krankheit, dann durch andre Arbeiten gehindert“ worden sei. Mit Kantorowicz’ kritischer Besprechung der Stammlerschen Lehre vom richtigen Recht
92
Kantorowicz, Hermann, Zur Lehre vom Richtigen Recht, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Band 2, 1908/09, S. 42–74 (hinfort: Kantorowicz, Lehre vom Richtigen Recht).
betrachtete er ausdrücklich jedoch nur die „Aufgabe, den Unfug des ,richtigen Rechts‘ auch noch totzuschlagen“ als erledigt, nicht auch die einer Fortsetzung an sich.
93
Brief Max Webers an Hermann Kantorowicz vom 30. Okt. 1908, MWG II/5, S. 690 f., hier S. 690. Tatsächlich ist Weber im § 8 der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ nur ganz kurz auf die Stammlersche Lehre vom Richtigen Recht eingegangen, wobei sein Urteil an dieser Stelle bemerkenswert „milde“ ausfällt; vgl. unten, S. 629 mit Anm. 45.
Der von Marianne Weber aus dem Nachlaß publizierte „Nachtrag“ zur Stammler-Kritik zeigt, daß Weber daran gearbeitet hat.
94
Weber, Nachtrag.
Ende 1909 war Weber „mit der Durchsicht einer russischen Übersetzung meines Anti-Stammler-Aufsatzes beschäftigt“.
95
Brief Max Webers an Heinrich Rickert, vor dem 11. Dez. 1909, MWG II/6, S. 332 f., hier S. 332, Fn.1.
Vor allem jedoch die bereits erwähnten Soziologentagsvorträge von Andreas Voigt und Hermann Kantorowicz boten Gelegenheit, öffentlichkeitswirksam die Kernpunkte der eigenen Stammler-Kritik anzusprechen.
96
Vgl. Voigt, Vortrag (wie oben, S. 13, Anm. 55); Kantorowicz, Vortrag (wie oben, S. 13, Anm. 55).
Der in den Manuskripten der hier edierten Rechtstexte zugrundegelegte Begriff des Rechts ist – wie wir sahen – aus einer langjährigen Beschäftigung mit dem Recht erwachsen. Die Konzeption des „Stoffverteilungsplanes“ für [44]das „Handbuch der politischen Ökonomie“ (1909/10), nach der Wirtschaft und Recht zunächst in ihrer prinzipiellen Beziehung, sodann in ihrer Entwicklungsdimension analysiert werden sollten, setzte eine begriffliche Schärfung des zu untersuchenden Gegenstandes voraus, also insbesondere auch eine Bestimmung des Rechtsbegriffs. Wann auch immer eine Abwendung von diesem Ausgangskonzept des Stoffverteilungsplanes erfolgt ist – es fällt auf, daß Weber in dem Eingangssatz von „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ auf eine zuvor formulierte Definition Bezug zu nehmen scheint, wenn er in dem überlieferten Manuskript einsetzt mit einer vor die Klammer gesetzten Lektüreanweisung: „Wenn von ,Recht‘, ,Rechtsordnung‘, ,Rechtssatz‘ die Rede ist, so muß besonders streng auf die Unterscheidung juristischer und soziologischer Betrachtungsweise geachtet werden.“
97
[44] Unten, S. 191.
Eine solche Abkehr von der Stammlerschen Perspektive einer Beziehung von „Wirtschaft und Recht“ setzt auf der Seite des „Rechts“ die Vielfalt der Ordnungen frei, weshalb in der Tat die von Weber gewählte Überschrift als „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ genau bezeichnet, wo Weber über das toposartig tradierte Begriffspaar von „Wirtschaft und Recht“ hinausgreift. In einem begrifflichen Ringen – in das auch der Altmeister der begriffsbildenden soziologischen Semantik Ferdinand Tönnies mit seiner Studie zur „Sitte“ einbezogen wird – greift Weber sowohl auf die soziologischen wie auf die rechtstheoretischen und rechtshistorischen Differenzierungsmuster normativer Ordnungen zurück, welche in dem Dreiklang von Recht, Sitte, Konvention in unterschiedlichsten Nuancierungen und Durchmischungen normativer Momente einerseits und empirischer Elemente andererseits vertreten werden. Aber auch die Frage des Gewohnheitsrechts spielt in diese Begriffsbildungen hinein. Denn soweit der „Gewohnheit“ als usus oder consuetudo die Qualität einer Rechtsquelle zugeschrieben wird, hat das Rechtssystem der Faktizität des menschlichen Handelns normative Kraft und damit Rechtserheblichkeit zuerkannt. Damit fällt auch das Phänomen des „Brauchs“ sowie das von Weber mehrfach erwähnte, hier aber nur indirekt angesprochene Moment der „Mode“ ins Gewicht, das von Wilhelm Wundt
98
Wundt spricht von der Mode „als dieser vergänglichen und wertlosesten Abart“ (Wundt, Wilhelm, Ethik. Eine Untersuchung der Tatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens, Band 3: Die Prinzipien der Sittlichkeit und die sittlichen Lebensgebiete. – Stuttgart: Enke 1912, S. 219). An anderer Stelle kennzeichnet er sie als ein Phänomen der „Oberfläche“, wo sich Sitte in Mode verwandelt, ähnlich wie Religion in Kultus oder Staat und Recht in die äußeren Formen (vgl. ders., Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte, Band 9: Das Recht. – Leipzig: Kröner 1918, S. 332).
und Tönnies
99
Vgl. Tönnies, Ferdinand, Die Sitte (Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien, hg. von Martin Buber, Band 25). – Frankfurt a.Μ.: Rütten & Loening 1909, S. 74 ff., bes. 80 (hinfort: Tönnies, Sitte).
im unmittelbaren Zusammenhang mit Sitte und Kon[45]vention gesehen wird, zu dem der eigentliche Zugang in den Sozialwissenschaften der Jahrhundertwende und schon zuvor in Iherings „Zweck im Recht“
100
[45] lhering, Rudolf von, Der Zweck im Recht, 2 Bände, 3. Aufl. – Leipzig: Breitkopf & Härtel 1893–98 (hinfort: lhering, Zweck im Recht I und II), hier Band 2, S. 230–240.
aber ein normentheoretischer ist, der erst von Simmel überwunden wird.
Nicht in Betracht zieht Weber in diesem Zusammenhang die dualen Bestimmungen von Recht und Moral sowie von Recht und Ethik. D.h.: die rechtsphilosophische Tradition ist ihm in diesem Kontext gleichgültig. Gerade weil Weber ja für die Religionsanalyse die Bedeutung religiöser „Ethik“ in den Vordergrund stellt, ist ihm dies für die Analyse von „Recht“ begriffsstrategisch eher hinderlich. Im Verhältnis von Rechtsbegriff, Sitte und Konvention entfalten sich aber auch rudimentäre Vorstellungen über den Rechtsbildungsprozeß, so daß sich unter dem Mantel von Begriffsabgrenzungen grundlegende Vorstellungen über die Herauskristallisierung des Rechts ergeben.

1. Zum Rechtsbegriff der Reinen soziologischen Rechtslehre

Webers Rechtsbegriff ist vielschichtig. Er weist eine Handlungs-, eine Norm-, eine Sanktions- bzw. Ordnungs- und eine Wissenskomponente auf.
1
Vgl. Gephart, Werner, Juridische Grundlagen der Herrschaftslehre Max Webers, in: Hanke, Edith und Mommsen, Wolfgang J. (Hg.), Max Webers Herrschaftssoziologie. Studien zur Entstehung und Wirkung. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 2001, S. 73–98, hier S. 74–86 (hinfort: Gephart, Juridische Grundlagen).
In unterschiedlicher Weise sind jeweils die kognitive Geltungsvorstellung, die entsubstanzialisierend gemeinte Handlungsgrundlage, der ideelle Sinn und der über einen eigenen Sanktionsapparat repräsentierte Zwangscharakter des Rechts betont. Über eine Schicht der Interessen von Rechtsgemeinschaft und Rechtsinteressenten erheben sich Ideen des Rechts, die sie erst zu einer legitimen Ordnung machen. Es bleibt zu sehen, wie im Spannungsfeld der Stammler-Problematik einerseits und der Begründungs- und Begriffsstrategien einer im Kategorienaufsatz ausformulierten verstehenden Soziologie andererseits das Konzept des Rechts in dem Text „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ angelegt ist.
2
Vgl. auch die Analyse des Weberschen Rechtsbegriffs bei Hermes, Siegfried, Das Recht einer soziologischen Rechtslehre, in: Rechtstheorie, Band 35, 2004, S. 195–231.
Dieser in sich geschichtete Text fügt nämlich konsequent die Terminologie des Kategorienaufsatzes in unterscheidbaren Bearbeitungsschritten so ein, daß sich hieran die Bedeutung für Begriff und Wirklichkeit von Recht, Rechtsordnung und Rechtssatz messen läßt. Denn ein Vergleich der Überarbeitungsstufen ist nicht nur für die Datierung relevant,
3
Vgl. den Editorischen Bericht zum Text „Die Wirtschaft und die Ordnungen“, unten, S. 179–188.
[46]sondern markiert zugleich neue Sinnakzente, die durch die Verwendung der „Kategorien“ erst möglich werden.

2. „Einverständnis“ und das Recht

Neben der Einarbeitung der Differenzierung von Gemeinschafts-, Gesellschafts-, Verbands- und Anstaltshandeln liegt der terminologische Bruch zwischen einer frühen Textstufe und mehreren Überarbeitungen
4
[46] Vgl. dazu ausführlich den Editorischen Gesamtbericht, unten, S. 143 ff.
in der nahezu inflationären Einbindung der Kategorie des „Einverständnisses“ und ihrer Komposita: von der „Einverständnisgeltung“ und dem „Einverständnishandeln“ über die „Einverständnisgemeinschaft“ und die jeweiligen „Einverständnishandelnden“ bis hin zum „Herrschafts-Einverständnis“ und zum „Legitimitätseinverständnis“. Was also hat es mit dieser Begriffsinfiltration auf sich und warum wird sie hier so konsequent exekutiert? Am Ende des zweiten Abschnitts über „Rechtsordnung, Convention und Sitte“ wird der Sinn dieser Begriffsstrategie evident: „Die normative Regelung ist eine wichtige, aber nur eine causale Komponente des Einverständnishandelns, nicht aber – wie Stammler möchte – dessen universelle ,Form‘.“
5
Unten, S. 237 f.
Das Einverständnishandeln, das eben nicht auf tatsächlicher Verständigung oder auch nur stillschweigender Vereinbarung beruht, sondern auf der empirisch begründeten Vorstellung, „daß der subjektive Glaube an die objektive Geltung solcher Normen tatsächlich in ihrer Umwelt verbreitet ist (Einverständnis)“,
6
Unten, S. 229. Diese Schlüsselkategorie Webers, die sich von der juristischen Konsenstradition, auch der stillschweigenden und erst recht einer soziologischen Konsenstheorie unterscheidet, harrt noch einer systematischen Auslegung auch für Webers Rechtslehre.
diese Kategorie des Einverständnishandelns löst die Stammlersche Naivität einer Ineinssetzung von subjektiver und objektiver Geltung, empirischer und normativer Geltungsart auf und erklärt darüber hinaus, warum eben die Fülle des objektiv nicht geregelten Handelns in unterschiedlichsten Sphären gleichwohl von der Ordnungsmacht normativer Ordnungen profitiert: kraft einer universell verbreiteten Geltungsfiktion, d. h. kraft der Entstehung von „Einverständnisgemeinschaften“ bzw. der erfolgreichen Vergesellschaftung von Einverständnissen.

3. Die Zweiseitenlehre des Rechts

In „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ ist die begriffliche Bestimmung von Recht und Rechtsordnung der Beziehung zur Wirtschaft und der Wirtschafts[47]ordnung untergeordnet. Ein Konflikt zwischen ideeller Rechtsordnung und faktischer Wirtschaftsordnung sei gar nicht denkbar. Nur wenn die Rechtsordnung in eben dem empirischen Sinne gemeint sei wie die Wirtschaftsordnung, die in der einverständnismäßig geltenden Verteilung der Verfügungsgewalt über Güter und Dienstleistungen bestehe, entstünde überhaupt das Problem einer in der Tat intimen Beziehung von Wirtschafts- und Rechtsordnung.
Das Recht der rechtsdogmatischen Betrachtung ist eben das auf seinen, dem Anspruch nach, „richtigen“ Sinn hin im Einzelfall gewonnene und in ein logisch in sich widerspruchsloses System gebrachte ideell geltende Normgebilde, unabhängig von seiner empirischen Geltung oder „Geltungsart“, wie Weber im Anschluß an Emil Lask
7
[47] Bereits bei Rickert findet sich die Gegenüberstellung unterschiedlicher (formaler) „Geltungsarten“ von Begriffen der „beschreibenden“ bzw. „erklärenden“ Naturwissenschaften (ders., Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1902, S. 86). Den Begriff der „Geltungsart“ führt Emil Lask zur Bestimmung der „Rechtswirklichkeit“ als dem Gegenstand der empirischen Wissenschaft an, während Weber die empirische Geltungsart als unterstellte Voraussetzung der juristischen Systembildung behandelt (vgl. Lask, Emil, Rechtsphilosophie, in: Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts (Festschrift für Kuno Fischer, hg. von Wilhelm Windelband), 2., verb. und erw. Aufl. – Heidelberg: Carl Winters 1907, S. 269–317, hier S. 273).
formuliert. Nur mit der empirisch geltenden Rechtsordnung könne daher eine Spannung auftreten zwischen der einverständnismäßig entstandenen Verfügungsgewalt als faktischer Wirtschaftsordnung und einer Rechtsordnung, deren Geltungskriterien zu bestimmen sind. Weber entscheidet sich weder im Sinne einer subjektiven Anerkennungslehre oder ihrer Substitute, noch gar einer allgemeinen oder durchschnittlichen Anerkennung;
8
Vgl. hierzu Welzel, Hans, An den Grenzen des Rechts. Die Frage nach der Rechtsgeltung. – Köln, Opladen: Westdeutscher Verlag 1966.
auch die Befolgungsmotive sind für den empirischen Geltungsbegriff belanglos: Rechtstreue kann nicht Kriterium der empirischen Geltung sein. Insofern ist die „Orientierung“ an der Geltung einer Ordnung entscheidend, was seit dem Stammleraufsatz von Weber festgehalten wird, gerade in Bezug auf den devianten Akteur. Für den Begriff des Rechts wiederum gilt: Nicht daß überhaupt ein durch Rechtsinteressenten mobilisierter Rechtszwang ausgeübt wird, konstituiert die Ordnung als „rechtliche“, sondern die Garantie eines Rechtszwanges durch einen „Apparat“, nämlich eine als Zwangsapparat vorgestellte Sanktionsgemeinschaft, der nur aufgrund der Tatsache einer Rechtsverletzung, also um der Geltung des Rechts willen, in Gang gesetzt wird: „als garantiertes ,Recht‘ wollen wir sie aber nur da bezeichnen, wo die Chance besteht, es werde gegebenenfalls ,um ihrer selbst willen‘ Zwang, ,Rechtszwang‘, eintreten.“
9
Unten, S. 196.
Damit nimmt Weber eine außerordentliche Ausweitung des Rechtsbegriffs vor, der keineswegs auf das staatliche Recht [48]fixiert ist, solange eine Einverständnisgemeinschaft hinsichtlich der Durchsetzung einer normativen Ordnung besteht, in der eine solche Bereitschaft, dem „Rechte“ Nachachtung zu verschaffen, institutionalisiert ist.
Ein subjektives Recht als Wahrung der Interessen des einzelnen besteht danach in der Chance, empirische Geltung – durch außerstaatliche oder staatliche Garantien – zu beanspruchen, indem ein Zwangsapparat unabhängig von Gnade, Willkür und Belieben, nämlich nur um der Durchsetzung des Rechts willen, mobilisiert werden kann. Nunmehr läßt sich der empirische Begriff der Rechtsordnung bestimmen: „Wir wollen vielmehr überall da von ,Rechtsordnung‘ sprechen, wo die Anwendung irgend welcher, physischer oder psychischer, Zwangsmittel in Aussicht steht, die von einem Zwangsapparat, d. h. von einer oder mehreren Personen ausgeübt wird, welche sich zu diesem Behuf für den Fall des Eintritts des betreffenden Tatbestandes bereit halten, wo also eine spezifische Art der Vergesellschaftung zum Zweck des ,Rechtszwanges‘ existiert.“
10
[48] Unten, S. 204.
Damit ist eine ganze Bandbreite normativer Ordnungen dem empirischen Rechtsbegriff unterstellt: das Kirchenrecht durch seinen eigenen Sanktionsapparat, gegenstaatliche Ordnungen wie bestimmte Dorf- oder Familienordnungen oder die normative Ordnung mafiöser Gemeinschaften, solange die Einverständnisgemeinschaft über einen eigenen Zwangsapparat beim Verstoß gegen die omertà verfügt, aber auch der männliche Ehrenkodex der bürgerlichen Gesellschaft, die zur Einhaltung der einverständnismäßig begründeten Duellpflicht innerhalb eines gesellschaftlichen Standes einen eigenen Zwangsapparat zur Verfügung stellt oder die Commentmäßigkeit der Ablehnung einer Forderung in Beleidigungsprozessen aus normativ rechtlichen Gründen prüft, oder wie Weber meinte: die ständische Duellpflicht für Offiziere als Rechtspflicht konstituiert
11
Vgl. unten, S. 206–209.
und damit – wegen des Widerstreits zum Zweikampfverbot – einen Geltungskonflikt erzeugt, der in merkwürdigem Widerspruch zu Webers Ideal des widerspruchsfreien Systemcharakters des modernen formal-rationalen Rechts tritt und auch noch das Duell selbst in eine privilegierende ständische Sonderordnung des allgemeinen Strafrechts stellt.
12
Vgl. aus sozial- und kulturhistorischer Perspektive: Frevert, Ute, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. – München: Beck 1991.
Setzt der empirische Begriff des Rechts also eine Fülle nichtstaatlicher Ordnungen in Beziehung zur Wirtschaftsordnung, so wird die normative Welt, die Stammler in seinem Rechtsbegriff mit jeglicher Geregeltheit des sozialen Lebens gleichsetzen wollte, von Weber dadurch erweitert, daß die normative „Stufenleiter“ lückenlos in „Konvention“ und „Sitte“ übergeht.

[49]4. Konvention und Sitte im normativen Kosmos der Gesellschaft

Gewiß waren diese Begriffe in einer Zeit, in der Konvention und Sitte in ihrer Bedeutung für die Regelung des Alltags erodierten, auch im wissenschaftlichen Diskurs umstritten. Häufig wurden sie begrifflich synonym verwendet, dabei von den rechtlichen als „soziale Normen“ geschieden. „Sitte“ wird etwa bei Ihering als „verpflichtende Gewohnheit“ begriffen, während Weber der Sitte jede Qualität einer normativen Zumutung nimmt und sie als bloß faktische Gewohnheit begreift. Das Thema der „Sitte“ wurde von Ferdinand Tönnies in einem gleichlautenden Bändchen
13
[49] Tönnies, Sitte (wie oben, S. 44, Anm. 99).
auch soziologisch aufgegriffen, das Max Weber – noch vor den Eklats auf dem ersten Soziologentag – mit der Bemerkung zur Kenntnis nahm, daß er das „Büchlein“ mit „großem Interesse und Belehrung“ gelesen habe.
14
Brief Max Webers an Ferdinand Tönnies vom 29. Aug. 1909, MWG II/6, S. 237–239, hier S. 237; vgl. auch unten, S. 211 mit Anm. 52.
In einer Welt der Konventionen wird dem Begriff der „Konventionalregeln“ ein normtheoretischer Sinn zugeordnet. Auch Stammler streift das Problem, indem er es durch einen voluntaristischen Zustimmungsakt von den zwangsbewehrten Rechtsregeln abzugrenzen sucht,
15
Vgl. Stammler, Wirtschaft und Recht, S. 121–124, 124–127, 479–482.
was nicht nur Weber gegen den Strich geht, sondern auch Julius Hatschek, der sich mit Stammler auseinandersetzt, als begriffsbildendes Merkmal zurückweist.
16
Vgl. Hatschek, Julius, Konventionalregeln oder über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung im öffentlichen Recht, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band 3, 1909, S. 1–67 (hinfort: Hatschek, Konventionalregeln).
Wenn Weber in den gleichen Zusammenhang das überlieferte rechtshistorische und rechtstheoretische Problem des Gewohnheitsrechts einordnet, dann wird das eigentümliche Problem einer jeden Befassung mit normativen Ordnungen artikuliert, wie nämlich „Verbindlichkeit“ entsteht, indem an den einzelnen oder an Gruppen gerichtete Erwartungen diesen auch, wie Weber pointierend formuliert, „zugemuthet“
17
Unten, S. 211.
werden. Es gibt also ein kontinuierliches Verbindlichkeitsgefälle von bloßem durch Gewohnheit bestimmten Massenhandeln („Sitte“) bis zur Konvention, die an einen durch objektive Merkmale bestimmten Personenkreis normative Zumutungen richtet, für deren Garantie aber ein Zwangsapparat, d. h. eine Vergesellschaftung zum Zweck der Normdurchsetzung, nicht existiert, sondern lediglich die „Billigung“ oder „Mißbilligung“ des jeweiligen Normgeltungskreises über die „Verbindlichkeit“ der Konventionalregel entscheidet.
Auch hier zeigt die Überarbeitung des Manuskriptes, wie sich über die Kategorie des „Einverständnisses“ die Besonderheit der Weberschen Auffas[50]sung pointieren läßt: Konvention ist das durch keinerlei Zwangsapparat garantierte „Einverständnis“ der Normgeltung, während die „Sitte“ weder durch eine Innen-Außen-Differenz noch durch das normative Gebotensein, sondern durch bloße Faktizität ausgezeichnet ist, die für ihre kausale Wirksamkeit eben keinerlei „Einverständnis“ benötigt. Indem Weber also den Kosmos normativer Kreise über das Recht hinaus auf Konvention, Sitte und Gewohnheit erweitert, verschiebt sich aus sachlichen Gründen die ursprüngliche, an der Stammlerkritik orientierte Fragerichtung von „Wirtschaft und Recht (1. prinzipielles Verhältnis, 2. Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands)“
18
[50] So die Formel des „Stoffverteilungsplanes“; vgl. Winckelmann, Hauptwerk, S. 151; MWG II/8, S. 810.
zu der weiterführenden nach dem Zusammenhang von „Die Wirtschaft und die Ordnungen“, wie dieser Teiltext insofern zutreffend betitelt ist. Er enthält eine soziologische Theorie normativer Ordnungen, deren zentrale Bedeutung für die Konstitution des Sozialen hier in eine beiläufig klingende Formulierung versteckt ist: „Die Orientierung des Gemeinschaftshandelns an einer Ordnung ist zwar konstitutiv für jede Vergesellschaftung, aber der Zwangsapparat ist es nicht für die Gesammtheit alles perennierenden und anstaltsmäßig geordneten Verbandshandelns.“
19
Unten, S. 237.
In der darunter liegenden Textschicht ist der Bezug auf den im Kategorienaufsatz formulierten Konstitutionszusammenhang noch deutlicher: „Und für das Gemeinschaftshandeln ist konstitutiv, daß es so abläuft, als ob eine Ordnung, an der es sich orientiere, bestände, nicht aber das reale Vorhandensein einer solchen.“
20
Unten, S. 237, textkritische Anm. m.
Insofern stellt also das „Einverständnis“ oder das „Einverständnishandeln“ die Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft dar, freilich nicht durch seine von realen Gründen des Geltungsglaubens abgehobene Normativität, sondern durch eine Geltungsfiktion normativer Reguliertheit.

5. „Gewohnheit“ als ein „Grund“ des Rechts und die Entstehung des Neuen

Ergeben sich aus der Forschungsidee von „Einverständnis“ und „Einverständnishandeln“ auch Konsequenzen für das klassische Problem des Gewohnheitsrechts? Die Zweiseitenlehre des Rechts wirft ja das Problem auf, wie denn „Faktizität und Geltung“ miteinander vermittelt sind, oder: wie aus der durch Gewöhnung faktisch bestimmten Seite ein Zumutungscharakter entsteht, der nicht nur mit dem Anspruch der Verbindlichkeit auftritt, sondern gegebenenfalls im Sinne des oben benannten Rechtsbegriffs die Chance enthält, daß notfalls ein Rechtsapparat mobilisiert wird, nur um der Geltung [51]des gewohnheitsrechtlichen Rechtssatzes willen. Oder anders formuliert: wie verwandelt sich faktische Übung in Normativität einerseits und empirische Einverständnisgeltung andererseits? Weber berührt damit grundlegende Fragen des Rechtsbildungsprozesses auf dem schmalen Grat des Konfusionsverbots, weil er das Rätsel der Genese von Normativität nicht umgehen kann.
Webers Skepsis gegenüber den Forschungsergebnissen der Ethnographie läßt ihn nicht hoffen, diesen Sprung aus der Gewohnheit in die Rechtspflicht evolutionär verorten zu können: „Der Fortschritt von hier zu dem zunächst zweifellos vage und dumpf empfundenen ,Einverständnis‘-Charakter des Gemeinschaftshandelns, d. h. zur Conzeption einer ,Verbindlichkeit‘ bestimmter gewohnter Arten des Handelns[,] ist nach Umfang und Inhalt des Gebiets, das er ergreift, heute aus den Arbeiten der Ethnographie meist höchst unbestimmt erkennbar und kümmert uns deshalb hier nicht.“
21
[51] Unten, S. 213.
Weber verlagert also das Problem der Genese von Normativität auf die Ebene der Rechtspflicht, die als subjektiv gefühlte Verbindlichkeit verstanden wird: „Es wäre absolut Frage der Terminologie und Zweckmäßigkeit, in welchem Stadium dieses Prozesses man dann die subjektive Conzeption einer ,Rechtspflicht‘ annehmen will.“
22
Unten, S. 214.
Einverständnisgeltung und subjektive Konzeption von Rechtspflicht wären danach gleichbedeutend, so daß in der Tat die Suche nach dem Grund des Rechts bei Weber in der Kategorie des Einverständnisses mündet. Wie aber soll ein Verbindlichkeitsglaube, der sich auf die Macht des Gewohnten und die seelische Eingestelltheit auf derartige Regelmäßigkeiten stützt, irgendeine Neuerung zulassen? Während Weber im § 3 der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ die Denkfigur des Charismas als Quelle der Neuerung einzusetzen weiß, finden wir in „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ allenfalls die Umschreibung charismatischer Rechtserneuerer, wenn „nach allen Erfahrungen der Ethnologie […] die wichtigste Quelle der Neuordnung der Einfluß von Individuen zu sein (scheint), welche bestimmt gearteter ,abnormer‘ […] Erlebnisse und, durch diese, bedingter Einflüsse auf Andre fähig sind.“
23
Unten, S. 215.
Soweit Weber sich im Anschluß an den Psychologen Willy Hellpach auf die Medien von „Eingebung“ und „Einfühlung“ bezieht, bleibt dann allerdings genau dieser Übergang unklar, weil sich bei Hellpach keinerlei Anhaltspunkte für die Genese eines „Verbindlichkeitsgefühls“ in der Analyse „gemeinschaftspathologischer'' Erscheinungsformen finden.
24
Vgl. unten, S. 215 f., Anm. 62, S. 217, Anm. 64.

[52]6. Kritik der materialistischen und spiritualistischen Determinations-
verhältnisse von Wirtschaft und Recht

In dem dritten, „Bedeutung und Grenzen des Rechtszwangs für die Wirtschaft“ überschriebenen Abschnitt werden nun Recht, Konvention und Sitte in ein nicht genetisches, sondern funktionelles Verhältnis gesetzt, nämlich „daß die Rechtsordnung nicht etwa infolge des Bestehens der Zwangsgarantie in der Realität empirisch ,gilt‘, sondern deshalb, weil ihre Geltung als ,Sitte‘ eingelebt und ,eingeübt‘ ist und die Convention die flagrante Abweichung von dem ihr entsprechenden Verhalten meist mißbilligt.“
25
[52] Unten, S. 240.
So sehr Weber also den Begriff des Rechts einerseits auf außerstaatliches Recht ausgeweitet und andererseits den Kosmos normativer Ordnungen um Konvention, Sitte und Gewohnheit erweitert hat und auch ein ineinander verschränktes Geltungsgefüge von Recht, Sitte und Konvention konstruiert, so eindeutig ist Webers Präferenz für das staatliche, gesatzte Recht als Garant einer dem Marktgeschehen und der Marktentwicklung adäquaten Rechts. Denn das „zunehmende Eingreifen gesetzter Ordnungen aber ist für unsere Betrachtung nur ein besonders charakteristischer Bestandteil jenes Rationalisierungs- und Vergesellschaftungsprozesses, dessen fortschreitendes Umsichgreifen in allem Gemeinschaftshandeln wir auf allen Gebieten als wesentliche Triebkraft der Entwicklung zu verfolgen haben werden“.
26
Unten, S. 241.
Damit zieht Weber die „Reine soziologische Rechtslehre“ als eine Analyse normativer Ordnungen in den Sog des Rationalisierungsprozesses, der hier als Triebkraft einer Entwicklung begriffen wird, die auch ein rationales Recht hervorbringt. Insbesondere sind es ökonomische Kräfte, die Weber – vor dem Hintergrund seiner seit dem Soziologentag behaupteten These der prinzipiellen funktionalen Unabhängigkeit von Wirtschaftsordnung und Rechtsordnung – für die Ausgestaltung eines „rationalen“ Rechts verantwortlich macht: „Die universelle Herrschaft der Marktvergesellschaftung verlangt einerseits ein nach rationalen Regeln kalkulierbares Funktionieren des Rechts. Und andrerseits begünstigt die Marktverbreiterung, die wir als charakteristische Tendenz jener kennen lernen werden, kraft der ihr immanenten Consequenzen die Monopolisierung und Reglementierung aller ,legitimen‘ Zwangsgewalt durch eine universalistische Zwangsanstalt, durch die Zersetzung aller partikulären, meist auf ökonomischen Monopolen ruhenden ständischen und andren Zwangsgebilde.“
27
Unten, S. 247.
Webers als Ergebnis präsentierte, aber eigentlich erst jetzt zum Gegenstand kommende „Zusammenfassung“ hatte das Bestimmungsverhältnis von Wirtschaft und Recht sowohl nach der Richtung einer materialistischen These der Bestimmtheit des Rechts durch die Wirtschaft wie der spiritualistischen [53]Gegenthese einer logischen Bestimmtheit der Wirtschaft durch seine normative Geregeltheit – so Stammler – in eine Analyse von Wechselwirkungsverhältnissen aufgelöst. Einmal schütze das Recht nicht nur Eigentumsrechte als Verfügungsmöglichkeiten über wirtschaftliche Güter und Dienstleistungen, sondern eben auch persönliche oder ideelle Interessen oder auch sonstige Autoritätsstellungen. Sodann sei der Wandel, ja die Revolution einer Wirtschaftsordnung trotz Kontinuität des formalen Rechtssystems denkbar. Schließlich wird die funktionale Äquivalenz von rechtlichen Regelungen, Instituten und Denkfiguren, wie sie unterschiedliche Rechtsordnungen und Rechtskulturen hervorbringen, rein von ihren die Berechenbarkeit des Rechts für die Wirtschaft erzeugenden Effekten her betrachtet. Zwar stünden Rechtsgarantien vielfach im Dienst ökonomischer Interessen. Das Ausmaß der Steuerbarkeit wirtschaftlichen Handelns durch Recht aber unterliege den inneren Schranken einer jeden Art von Zwangsanwendung und der Eigengesetzlichkeit wirtschaftlicher Handlungsmotive, deren Sinn es gerade sein könne, ökonomische Chancen nicht allein deshalb zu vernachlässigen, um legal handeln zu können, zumal wenn der Partikularismus des Rechts durch konkurrierende politische Verbände befördert wird. Im Vergleich der historischen Rechtskulturen gewährleiste keineswegs allein der Staat die Rechtsgarantien für Wirtschaftsinteressenten, da auch die Sippenhilfe z. B. Besitzschutz leiste, chartales Geld auch außerhalb staatlicher Garantien nachgewiesen werden könne. In einer zunehmend durch Kontrakte kommunizierenden Gesellschaft aber gewinnt die staatliche Garantie privatrechtlicher Ansprüche – trotz der Tradition einer Vertragslegalität, also einer Vertragstreue – allein wegen des Verlusts „des Glaubens an ihre Heiligkeit“ an Bedeutung, wie Weber ausdrücklich sagt.
28
[53] Vgl. unten, S. 247.
Legitimitätseinbußen oder ein Aufweichen der Einverständnisgeltung steigern den Bedarf nach staatlichem Recht neben den Strukturerfordernissen, die mit der Marktvergesellschaftung verknüpft sind.
Mit dieser Ausrichtung hat der Text den Kontext des Logos-Aufsatzes überschritten, auch wenn er in der Textüberarbeitung von dessen fruchtbarster Kategorie, dem Einverständnis, profitiert. Mehr als eine Analyse der Wechselwirkungen von Wirtschaft und Recht in ihrem prinzipiellen Verhältnis greifen die grundlegenden normentheoretischen Überlegungen schon in „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ über die ökonomische Sphäre als bestimmender Macht der „Epochen der Entwicklung“ dieses Beziehungsverhältnisses hinaus zu den Entwicklungsbedingungen des Rechts. Freilich nicht nur als Funktion der Entwicklung des politischen Verbandes, wie die Stellung und Formulierung in der „Einteilung des Gesamtwerkes“ von 1914 („Werkplan“) für den späteren GdS
29
Abgedr. in: Winckelmann, Hauptwerk, S. 168–171, hier S. 168 f.; MWG II/8, S. 820–823, hier S. 820 f.
nahe legt, sondern als Zusammenspiel mit der religiösen. [54]politischen, wirtschaftlichen Sphäre, aber auch als Konsequenz der Eigenlogik der rechtlichen Sphäre.

IV. Die Entwicklung des Rechts: Die sog. Rechtssoziologie Max Webers

Zu den Manuskripten, die Marianne Weber nach dem Tod Max Webers in dessen Schreibtisch vorfand, gehörte ein umfassend redigierter und offenbar satzreifer, aber unbetitelter Text, den sie in einem für den Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) erstellten Kapitelverzeichnis der nachgelassenen Grundrißmanuskripte unter dem Titel „Rechtssoziologie“ anführte.
30
[54] Das Kapitelverzeichnis ist Beilage zum Brief Marianne Webers an Oskar Siebeck vom 25. März 1921, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446; vgl. auch den Abdruck bei Winckelmann, Hauptwerk, S. 94 f.
Die „Rechtssoziologie“ bildet – zusammen mit dem an erster Stelle genannten Teiltext „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ – die Spitze dieses „Erstverzeichnisses der Kapitelfolge“.
31
Winckelmann, Hauptwerk, S. 94.
Dies mag die tatsächliche Ablage der Texte widerspiegeln und dann entweder Auskunft geben über die von Max Weber abschließend, jedenfalls zuletzt bearbeiteten Texte oder aber hinweisen auf den geplanten Fortgang der Überarbeitung des „dicken alten Manuskripts“ im Jahre 1920.
32
Zur Überlieferungsgeschichte siehe ausführlich den Editorischen Gesamtbericht, unten, S. 135 ff.
Die enge Beziehung der beiden Manuskripte immerhin, gleichviel ob sie der faktischen Textlage bei ihrer Auffindung entsprochen hat oder aus einer nachträglichen Manuskriptanordnung durch die Erstherausgeberin resultiert, ist im Kontext von Webers Arbeiten an seinem Grundrißbeitrag vielfach dokumentiert.
„Die Wirtschaft und die Ordnungen“ ließ sich im Sinne des sog. ,Stoffverteilungsplanes‘ für den späteren „Grundriß der Sozialökonomik“ nach Thematik und Sprachgebrauch dem vierten Abschnitt des dritten Kapitels „Wirtschaft und Gesellschaft“, und hier dem Punkt a) „Wirtschaft und Recht (1. prinzipielles Verhältnis)“ zuordnen, auch wenn der Text – wie wir sahen – durch das Einbrechen des Rationalitätsthemas diesen Horizont bereits überschritt. Damit stellt sich die Frage, ob wir das weitere überlieferte Manuskript nicht auch unter dieses Leitmotiv „Wirtschaft und Recht“ subsumieren können, wenn – an die oben genannte „prinzipielle Erörterung“ anschließend – im Stoffverteilungsplan von 1909/10 „2. Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands“
33
Vgl. oben, S. 40, Anm. 85 [Hervorhebung der Hg.]
ausgewiesen sind. Es ist also zunächst noch von „Epochen“ die Rede, Abfolgeschemata also, die zu historischen Sinneinheiten verdichtet [55]sind, während die Analysen zur Genese des okzidentalen Rationalismus sich von einer Epochenkonstruktion zu einer Bedingungsanalyse fortentwickelt haben. Denn das Rationalisierungsthema sieht von einer Epochenfrage innerhalb eines historischen Entwicklungsprozesses ganz ab zugunsten der nur komparativ zu beantwortenden Frage nach den spezifischen Bedingungen des okzidentalen Rationalisierungsprozesses. Diese Fragestellung aber überschreitet das aus der Stammleropposition generierte Thema der Beziehung von Wirtschaft und Recht um all die Sphären, die Weber für rationalisierungsfähig und potentiell kausal relevant hält.
Würde der Text „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“ also nichts weiter als die Fortführung der im Stoffverteilungsplan von 1909/10 niedergelegten Kompositionsidee darstellen, also das Thema von „Recht und Wirtschaft“ über die prinzipielle Beziehung hinaus in die Richtung von Epochen historisieren, dann müßte der Auftakt dieses Werkstücks im § 1 an diese Fragestellung anschließen. Im ersten Paragraphen der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ findet sich jedoch keinerlei Anbindung an die oben entfalteten Erörterungen zum Begriff rechtlicher und sonstiger Ordnungen oder gar an die vorausgehende Frage von „Wirtschaft und Recht“ in ihrem prinzipiellen Verhältnis, die dem Teiltext „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ in seiner Tiefenschicht zugrunde liegt. Merkwürdigerweise aber knüpft dann der nächste Paragraph in seiner ältesten, maschinenschriftlich verfaßten Textschicht unmittelbar an das Thema von „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ an. Im ersten Satz des § 2, der in der bisherigen Edition als ältere und gestrichene Textebene nicht sichtbar wird, heißt es nämlich: „Dieser ganz allgemeine Sachverhalt nimmt nun für die inhaltliche Gestaltung des Rechts und seiner Beziehungen zur Wirtschaft sehr konkrete Formen an.“
34
[55] Unten, S. 306, textkritische Anm. e [Hervorhebung der Hg.].
Diese „sehr konkreten Formen“ sind auch in dem umfänglichen § 2 in einer Weise ausgeführt, für die die Umschreibung „Epochen ihrer Entwicklung“ im Sinne des Stoffverteilungsplanes von 1909/10 durchaus treffend erscheint.
Es liegt daher folgende Hypothese nahe: Während die Grundschicht des § 2 und seine massiven textlichen Erweiterungen im Sinne des ursprünglichen Stoffverteilungsplanes als „Epochen der Entwicklung des heutigen Zustandes“ der Beziehung von „Wirtschaft und Recht“ gelesen werden können, die diachronische Analyse der Beziehung von Wirtschaft und Recht im Kontext der Stammlerproblematik repräsentierend, wird diese ursprüngliche Kompositionsidee überlagert von der Suche nach den Ursprüngen des okzidentalen, formal rationalen Rechts, dessen innere Differenzierung und Kriteriologie im Auftaktparagraphen entfaltet wird. Von da aus wird die nunmehr in den § 2 verwiesene Ursprungsgeschichte von Wirtschaft und Recht eingebunden in die weiterreichende Fragestellung nach den Bedingungen rechtlicher Inno[56]vationen (§ 3), die erst den gesamten Bedingungskomplex von Eigengesetzlichkeiten juristischer Dogmatikentwicklung und ihrer Träger (§ 4) sowie der politischen (§ 6) und religiösen Sphärenkontexte (§§ 4, 5) freisetzt, während der Schlußparagraph zugleich resümiert und ein Lob der formalen Eigenheiten des Rechts der okzidentalen Moderne anstimmt. Es geht also in der reifsten Fassung der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ um die Bedingungen, die über die Rezeption des römischen Rechts dazu geführt haben, daß nur im Okzident eine Konstellation für einen juridischen Rationalismus besonderer Art entstand. Die Eigenart der okzidentalen Moderne ist für Weber ohne das okzidentale Recht gar nicht zu erfassen. Diese Entdeckung Webers ist mit der Formulierung „Entwicklungsbedingungen des Rechts“, wie es im Werkplan von 1914 lautet, durchaus kompatibel. Daß die Rechtsanalyse nach dieser Gliederung dem politischen Verband subsumiert wird, würde erklären, warum wir in den Briefschaften zum Grundrißvorhaben nur derart rare Bemerkungen zum Recht finden und dies immer im Zusammenhang mit einer soziologischen Staatslehre geschieht. So ist im Januar 1913 von dem großen Beitrag über „Wirtschaft und Gesellschaft – incl. Staat und Recht“ die Rede,
35
[56] Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 23. Jan. 1913, MWG II/8, S. 52 f., hier S. 52.
der zwei Wochen später als „großer Artikel“ bezeichnet und nun in die Reihung „Wirtschaft, Gesellschaft, Recht und Staat“
36
Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 8. Febr. 1913, MWG II/8, S. 86 f., hier S. 87.
gebracht wird. Daß in dem berühmten Sylvesterbrief des gleichen Jahres von Recht im Unterschied zu allen möglichen Gemeinschaftsformen, Wirtschaft, Religion und gar Literatur in keiner Weise die Rede ist, verstärkt den Eindruck, als sollte zu diesem Zeitpunkt das Recht in die „umfassende soziologische Staats- und Herrschaftslehre“ integriert werden, die nach Weber ohne ihresgleichen und ohne Vorbild war. So war ja auch schon in dem Januarbrief die Rede davon, daß Webers „großer Beitrag“ eigentlich „eine vollständige soziologische Staatslehre im Grundriß“
37
Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 23. Jan. 1913, MWG II/8, S. 52 f., hier S. 53.
darstelle.
Vor diesem Hintergrund stellt sich für das Verständnis der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ die Frage: Lassen sich Anteile des Textes letzter Hand einerseits der Stammler-Thematik als Epochen der Entwicklung von Wirtschaft und Recht zurechnen, andererseits aber solche ausmachen, welche die Logik evolutionärer Analyse der Entwicklungsbedingungen des (okzidentalen) Rechts, einschließlich der religiösen Machtkonstellationen, entfalten, während das „Recht“ als eine eigenständige Sphäre in Spannung zu einer umfassenden „soziologischen Staatslehre“ tritt? Entscheidend ist also, wie Weber das Problem der rechtlichen Entwicklung faßt und wie er Entwicklungsstufen und Epochenkonstruktionen im Hinblick auf das Thema des okzidentalen Rationalismus, das die religiöse Sphäre einbezieht, und der Entwicklung des Staates als eines politischen Verbandes einschätzt.

[57]V. „Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands“ von „Wirtschaft und Recht“

Vor dem Hintergrund der Weberschen Einsichten in den konstruktiven Charakter der historischen Wissenschaften war das Problem von Entwicklung, Entwicklungsstufen und Epochenbildung nicht mehr naiv abzuhandeln. Zwar weist die Anlage von „Wirtschaft und Recht in ihrem prinzipiellen Verhältnis“ einerseits und die Frage nach den „Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands“ eine Parallele zu Comtes dualer Konstruktion von „Statik“ und „Dynamik“ auf, die Frage der Epocheneinschnitte und des jeweiligen Konstruktionsprinzips von Epochen oder Entwicklungsstufen wird hierdurch jedoch nicht beantwortet. Umso größer waren die Erwartungen, die Weber an die Entwicklung eines Stufenmodells richtete, wie es von Karl Bücher in seinen Schriften
38
[57] Vgl. insbesondere Bücher, Karl, Die Entstehung der Volkswirtschaft, Vorträge und Aufsätze, 2. Aufl. – Tübingen: Laupp 1898.
vorgezeichnet und auch als vorbildlich eingeschätzt war. Büchers Beitrag zum GdS jedoch wurde als minderwertig angesehen. Im Januar 1913 vermerkt Weber in einem Schreiben an den Verleger, daß „ein sehr dürftiger Einleitungs-Artikel Büchers“ eingegangen sei und er nunmehr in diese „Bresche“
39
Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 28. Jan. 1913, MWG II/8, S. 60 f., hier S. 61.
springen müsse. Gilt dies auch dem Verleger gegenüber als Begründung für die Verzögerung für Webers eigene Manuskriptablieferung, so äußert sich Weber Johann Plenge gegenüber Mitte des Jahres 1913 außerordentlich skeptisch, ob ihm selbst ein solcher theoretischer Wurf gelänge: „Ich kann nur der Hoffnung Ausdruck geben, daß Sie nach Vollendung Ihrer jetzigen Arbeiten zu Ihrer ,Stufentheorie‘ gelangen. Meine persönlichen Ansichten über diesen Punkt sind z.Z. in starkem Wandel begriffen und – nachdem Bücher mich im Stich gelassen hat, denn was er lieferte, taugt nichts – werde ich frühestens bei einer etwaigen Neuauflage des ,Handbuchs‘ in der Lage sein, zu meinem Teil etwas zu diesem Problem beizutragen […].“
40
Brief Max Webers an Johann Plenge vom 11. Aug. 1913, MWG II/8, S. 303–310, hier S. 304 f.
Daß „Epochen“ überhaupt nur als idealtypische Konstruktionen methodologisch haltbar sind, ist seit dem Objektivitätsaufsatz
41
Weber, Objektivität.
evident. Dies gilt gleichermaßen für eine „Stufenmetaphorik“. So lassen sich theoretische Stufenfolgen konstruieren, ohne daß eine „faktische Entwicklungsreihe“ damit harmonierte.
42
Vgl. den Brief Max Webers an Heinrich Sieveking vom 29. Juni 1913, MWG II/8, S. 254 f., hier S. 254.
Im Objektivitätsaufsatz war diese Gefahr ja deutlich benannt: „Auch Entwicklungen lassen sich nämlich als Idealtypen konstruieren[,] und diese Konstruktionen können ganz erheblichen heuristischen Wert haben. [58]Aber es entsteht dabei in ganz besonders hohem Maße die Gefahr, daß Idealtypus und Wirklichkeit ineinander geschoben werden.“
43
[58] Weber, Objektivität, S. 76.
Dies bedeutet für die Lektüre der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“: Hat Weber ein explizites oder nur ein implizites Modell von Rechtsentwicklungsstufen oder gar von epochalen Einschnitten der Entwicklung des Rechts, die über die ausfüllungsbedürftige Formel einer Universalgeschichte des Rechts hinausgeht, systematisch verfolgt? Und inwiefern sind Webers „persönliche Ansichten über diesen Punkt […] z.Z. in starkem Wandel begriffen“, wie er an Plenge schrieb? Wir werden sehen, wie sich die beiden Kompositionsideen oder Konzeptionen von Rechtsentwicklung eben nicht nur durch den Radius der einbezogenen Sphären – Wirtschaft und Recht einerseits, Recht, Wirtschaft, Religion, Gemeinschaft und Staat andererseits –, sondern auch durch die Entwicklungsvorstellung selbst unterscheiden als Idee von epocheartigen Abfolgen auf der einen sowie als Konstellation von Bedingungsgefügen auf der anderen Seite, die notwendige Voraussetzungen des juridischen Rationalisierungsprozesses sind.
Die zentrale Fragestellung des Weberschen Textes „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“ und seine innere Entwicklung werden durch einen Blick auf die Materialität des überlieferten Textes erhellt. Sie liegen in einer Tiefenschicht des späteren § 2 verborgen, welcher von der Grundschicht eines durchlaufenden zehnseitigen, maschinenschriftlichen Manuskripts ausgehend – so wie sie in diesem Band abgedruckt ist –,
44
Anhang I, unten, S. 643–651.
durch umfangreiche handschriftliche und maschinelle Einzüge um ein Vielfaches seines ursprünglichen Umfanges expandiert.
45
Siehe hierzu den Editorischen Bericht zu „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“, unten, S. 259 ff.
Läßt sich dieser formale Textbefund inhaltlich deuten? Stellt der zusammenhängende maschinenschriftliche Grundtext
46
Die Textgruppe IV der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ nach der Textgruppenübersicht, unten S. 162–169; vgl. den Abdruck in Anhang II, S. 652–662.
einen in sich geschlossenen Sinnzusammenhang dar und lassen sich die gewaltigen Texteinschübe einer thematischen Not, einer bloßen Ausfüllung und historischen Anreicherung des Textgerüstes zurechnen oder werden hierdurch möglicherweise auch Argumentationsbrüche oder gar Sinnwidersprüche erzeugt? Liest man die Grundschicht für sich im Zusammenhang, dann ergibt sich folgendes durchlaufendes Argumentationsmuster:
Auf die Erörterungen von „Wirtschaft und Recht“ in ihrer prinzipiellen Beziehung verweisend, kündigt Weber in der bereits zitierten Passage die Analyse der „sehr konkreten Formen“ der Beziehung an.
47
Wie oben, S. 55, Anm. 34.
Genau dies aber wird in der Grundschicht des § 2 eher angedeutet als en détail ausgeführt. Weber zeigt [59]in dieser Grundschicht vielmehr, wie die Privatautonomie, von der Lehre des Rechtssatzes ausgehend, rechtstheoretisch zu denken und in ihrer kulturellen Bedeutung einzuschätzen ist. Weber argumentiert im Ergebnis gegen eine kapitalistische Idealisierung der Vertragsfreiheit, deren effektive Ausübung an die Verfügung über Produktions- und Erwerbsmittel durch die Marktinteressenten gebunden ist; er dekuvriert zugleich die marxistische Illusion gewaltfreier Sozialität, die angesichts der „Notwendigkeit einer sehr universellen Organisation“
48
[59] Blatt A 10/B 76, unten, S. 428.
zum Scheitern verurteilt sei. Eine Geschichte der privatrechtlichen Institutionen oder gar einen Blick auf die „Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands“, wie im Stoffverteilungsplan angekündigt, sucht man freilich vergeblich.
Weber zeigt vielmehr wie die Abgrenzung der Rechtssphären unter der Garantie der Rechtsordnung dynamisiert wird, sobald die Rechtsordnung selbst Rechtssätze als Ermächtigung zur Schaffung autonomer Ordnungen, d. h. also vertraglicher Regelungen, bereitstellt. Webers Analyse geht nun von vornherein darauf aus, das durch Rechtssatz begründete Rechtsverhältnis über die unmittelbar verpflichteten Rechtssubjekte hinaus auf die Wirkung für und gegen Dritte auszuweiten. Nur als rechtshistorische Exempel zur Illustration dieses rechtstheoretischen Sachverhaltes werden die Beispiele Sklaverei, Ehevertrag oder Fideikommiß genannt, durch die in je unterschiedlicher Weise die Rechtsstellung Dritter berührt wird. So sind Beschränkungen der Vertragsfreiheit z. B. im klassischen römischen Recht dadurch gegeben, daß bestimmte, dem modernen Recht vertraute Rechtsinstitute als materieller Anspruch und justiziable Klageform gar nicht zur Verfügung stehen, wie die beschränkte Haftung der Aktiengesellschaft, die OHG, frei zirkulierende Inhaber- und Orderpapiere und die Zedierbarkeit von Forderungsrechten, während für das moderne Recht diejenigen Rechtsinstitute privatautonomer Gestaltung entzogen sind, die als Rentenbelastung von Grundstücken, vertragliche Regulierung sexueller Beziehungen oder auch als Ausgestaltung väterlicher und ehelicher Gewalt in der antiken Welt selbstverständlich waren. Nicht epochale Entwicklungen, die einem Wertewandel oder der Macht kapitalistischer Interessen entsprächen, sondern sehr pragmatische Gründe werden dafür benannt, daß ein Bedürfnis nach (betriebs-)kapitalistischen Rechtsinstituten in der antiken Welt nicht entstand: primär der politische, nicht gewerbliche Charakter des antiken Kapitalismus. Andererseits aber bringt das ökonomische Interesse nicht aus sich heraus die rechtlich tauglichen Formen, das wirtschaftsadäquate Recht, hervor; es bedarf vielmehr der Erfindung eines entsprechenden rechtstechnischen Mittels, für das die „rechtstechnische Eigenart einer Rechtsordnung, die Art der Denkformen, mit denen [60]sie arbeitet“,
49
[60] Blatt A 6/B 24, unten, S. 346.
von Bedeutung sei. So ist es möglich, daß im mittelalterlichen germanischen und nicht im stärker rationalisierten römischen Recht, Solidarhaftpflichten oder die Urkunde als eines symbolischen Trägers von Rechten „erfunden“ wurde. Und hier liegt die (rechts-)entwicklungsgeschichtliche Paradoxie begründet, daß die dem modernen Kapitalismus „auf den Leib“
50
Ebd., unten, S. 347.
geschnittenen Sonderinstitute auf dem Boden einer Gesellschaft entstanden sind, die Raum für die Entwicklung partikularer Sonderrechte bot: das okzdentale mittelalterliche Recht.
Auf die rechtstheoretische Unterscheidung von Verbots-, Erlaubnis- und Ermächtigungssätzen zurückgreifend, beschreibt Weber den rechtstechnischen Effekt der Einschränkung der Vertragsfreiheit. Er wird nicht durch Verbotsgesetze erzielt, sondern „einfach[,] indem es [das Recht, Hg.] keine Vertragsschemata (in Rom: keine Klageschemata) für sie zur Verfügung stellt“,
51
Blatt A 7/B 32, unten, S. 359.
oder, wie es ein Protagonist der Privatautonomie treffend formuliert: „Die Rechtsordnung enthält für die privatautonome Gestaltung einen numerus clausus der Aktstypen und der durch sie gestaltbaren Rechtsverhältnisse.“
52
Flume, Werner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Band 2: Das Rechtsgeschäft. – Berlin, Heidelberg, New York: Springer 1965, S. 2.
Der Gestaltungsraum der Parteiwillkür wird in einer ständischen Sozialordnung als einer Art Durchgangsstufe erweitert, wo „Willkür das Landrecht bricht“, solange noch kein (politischer) Verband das Rechtssetzungsmonopol erlangt hat. Dieser Monopolisierungsprozeß aber wird durch zwei der großen „rationalisierenden Mächte“: die Markterweiterung und die Bürokratisierung,
53
Blatt A 8/B 33, unten, S. 367.
vorangetrieben. Damit geraten nun aber doch die Markinteressenten ins Spiel als „Marktmachtinteressenten“, die im „formal freien Preis- und Konkurrenzkampf auf dem Markt ökonomisch Privilegierten“
54
Ebd., unten, S. 368.
. Sie sind an der Erzeugung derjenigen Vertragsschemata interessiert, die am Ende vor allem ihre eigene Autonomie fördern. Die Privatautonomie – so ließe sich der Gedankengang Webers resümieren – ist also lediglich eine Stütze der Autonomie der besitzenden Klassen. Eine sozialistische Rechtsordnung freilich würde die Macht der „privaten Besitzer der Produktions- und Erwerbsmittel“
55
Blatt A 9/B 75, unten, S. 427.
durch eine zentral regulierende Instanz ersetzen müssen, also keineswegs den Zwangscharakter rechtlicher Regulierung aufheben. Und umgekehrt sei die rechtsgeschäftliche „,Dezentralisation der Rechtsschöpfung‘“
56
Ebd., unten, S. 426.
keine Minderung des Zwangs im Vergleich zu einer sozialistischen Rechtsordnung, die ihrerseits nicht zwangfrei durch Recht kommuniziere.
[61]Damit enthält die Grundschicht des späteren § 2 der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“, die das Motiv des Stoffverteilungsplans aufnimmt, nämlich die Beziehung von „Wirtschaft und Recht“ als „Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands“ oder – wie der erste Satz dieser Textfassung lautet – die „sehr konkreten Formen“ dieser Beziehung, folgende Leitthemen: Es bedarf der juristischen Formen für die privatautonome Gestaltung der Lebensverhältnisse, deren Charakter vom Träger des Kapitalismus: Staat oder Wirtschaft, und vom Grad der Monopolisierung der Rechtssetzungsmacht abhängen, aber auch von der Eigenart der juristischen Denkformen, die sich nicht auf Klasseninteressen reduzieren läßt, auch wenn die Marktinteressenten die Entwicklung neuer Rechtsinstitute schließlich entscheidend vorantreiben. Mithin sind die Leitmotive der späteren Analyse von „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ benannt. Von „Epochen“ oder den „sehr konkreten Formen“ der Beziehung von Wirtschaft und Recht ist dies jedoch noch weit entfernt. Daher lohnt es sich zu beobachten, wie Weber diesen Grundstock seiner Argumentation, in dem die Eigengesetzlichkeit rechtlicher Rationalisierung aufscheint, aber die Religion als wirklichkeits- und wertbestimmende Macht des Gemeinschaftshandelns noch gar nicht in den Blick gerät, sukzessive ausfüllt und im weiteren überschreitet.

VI. Die Entwicklungsbedingungen des rationalen Rechts

Sind also die Grundschicht und die immensen Texterweiterungen des späteren § 2 der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ noch einer Historisierung des Stammler korrigierenden Projekts einer Beziehung von Wirtschaft und Recht verpflichtet, so wird mit der Bestimmung der Dimensionen der formalen Qualitäten des Rechts und seiner Entstehungsbedingungen am Ende des nun vorangestellten § 1 ein neues Thema angeschlagen: Maß und Art der Rationalität des Rechts.
Weber bewegt sich bei der Suche nach diesen Eigenschaften des modernen Rechts auf einer Gratwanderung zwischen Rechtstheorie, Rechtsgeschichte und Soziologie des Rechts. Dies zeigt sich in der Entwicklung der Textteile, die diesem Sujet verpflichtet sind. So ist der erste Paragraph zunächst im Sinne der traditionsreichen Unterscheidung als „,Privates‘ und ,öffentliches‘ Recht“ überschrieben,
57
[61] Unten, S. 274, textkritische Anm. e.
um später soziologisiert zu werden zu „Die Differenzierung der sachlichen Rechtsgebiete“. Ähnlich weist der fortlaufende Argumentationsfaden in § 3 die Notiz „§ 2: jurist. Person. // § 3: Gewohnheitsrecht.“ auf,
58
Unten, S. 430, textkritische Anm. a.
folgt also zunächst der juristisch-rechtstheoretischen [62]Semantik, um dann auch hier die engere juristische Sprache zu verlassen und als „Form des objektiven Rechts“ ein Gegengewicht zu den „Formen der Begründung subjektiver Rechte“ zu bilden, wie der § 2 in einem Korrekturzug nunmehr genannt ist, nachdem er in gleichem juristischen Duktus einmal, nicht unzutreffend, „Vertrag und Vertragsfreiheit“ benannt war. Die zunehmende Soziologisierung der Rechtsbetrachtung läßt sich also am Wandel der Überschriften sehr genau ablesen (Übersicht 1).
Verworfene TitelÜberlieferte Titel
§ 1 „Privates“ und „öffentliches“ Recht§ 1 Die Differenzierung der sachlichen Rechtsgebiete
§ 2 Vertrag und Vertragsfreiheit§ 2 Die Formen der Begründung subjektiver Rechte
§ 2 jurist. Person§ 3 Die Form des objektiven Rechts
§ 3 Gewohnheitsrecht
§ 4 Die Typen des Rechtsdenkens und die Rechtshonoratioren
§ 5 Formale und materiale Rationalisierung des Rechts. Theokratisches und profanes Recht
§ 6 Imperium und patrimonialfürstliche
Gewalten in ihrem Einfluß auf die formalen Qualitäten des Rechts. Die Codifikationen
§ 6 Amtsrecht und patrimonialfürstliche
Satzung. Die Codifikationen
§ 7 Die formalen Qualitäten des revolutionär geschaffenen Rechts. Das Naturrecht
§ 8 Die formalen Qualitäten des modernen Rechts
Übersicht 1: Wandel der Paragraphenüberschriften in „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“.
Um so mehr besteht Weber auf einem durch die innerjuristische Sicht geprägten Bild des modernen Rechts, wie es am Ende des § 1 pointiert wird. Max Weber läßt damit eine Reihe von dualen Entwicklungsschemata hinter sich, wie sie in der rechtshistorischen Diskussion en vogue waren und im Text durchaus noch aufgegriffen sind: So ist für Weber die Überwindung eines anschaulichen, an äußerliche Merkmale anknüpfenden Symbolismus entscheidend: „Das Haften an diesen äußerlichen Merkmalen: z. B. daß ein bestimmtes Wort gesprochen, eine Unterschrift gegeben, eine bestimmte[,] ein für alle mal in ihrer Bedeutung feststehende symbolische Handlung vorgenommen ist, bedeutet die strengste Art des Rechtsformalismus.“
59
[62] Unten, S. 304. Zu diesem Topos der Rechtsentwicklung vgl. z. B. Savigny, Beruf (wie oben, S. 24, Anm. 23), S. 10, der die symbolischen Handlungen in die Grammatik einer historischen Epoche zusammenfließen läßt.
Insofern kennzeichnet Weber eine Entwicklung vom Symbol zur Abstraktion, die freilich unterschätzt, wie hartnäckig der Symbolbedarf auch in rationalisierten [63]Gesellschaften ist. Ein weiteres duales Entwicklungsschema des berühmten Sir Henry Sumner Maine
60
[63] Vgl. Maine, Henry Sumner, Ancient Law. It’s Connection with the Early History of Society and its Relation to Modern Ideas. – London, New York, Toronto: Oxford University Press 1861 (hinfort: Maine, Ancient Law).
wird insbesondere im zweiten Paragraphen, also noch näher an der Entwicklungsfrage der Beziehung von Wirtschaft und Recht angelehnt, von Weber dialektisch umgeformt, indem nicht die Entwicklung vom „Status“ zum „Kontrakt“, sondern – unter der Prämisse der universalhistorischen Bedeutung des Vertrages – nur ein Wechsel der Vertragsart, nämlich vom Status- zum Zweckkontrakt
61
Siehe unten, S. 315 f. mit Anm. 22.
postuliert wird. Noch bedeutsamer freilich scheint die Kritik eines Entwicklungsmusters von Recht, daß einen unilinearen Prozeß der Universalisierung unterstellt. Webers „Modernität“ besteht – für den am Handelsrecht geschulten Juristen nicht ganz verwunderlich –
62
Vgl. unten, S. 615 f.
gerade darin, auf moderne Rechtspartikularitäten zu verweisen. Während „ständische“ und „lokale“ Rechtspartikularitäten, aber auch religiöse wie im Islam, nach Webers Auffassung jedenfalls, einer Rationalisierung des Rechts hinderlich sind,
63
Vgl. unten S. 360 ff.
sind „berufstypische“ Partikularitäten Ausdruck einer beruflichen Differenzierung, wie sie gerade ein modernes Recht kennzeichnet.
64
Diesen Aspekt hebt heraus: Nitsch, Carlo, Particolarismo giuridico moderno, ragionevolezza, equità, in: d’Avack, Lorenzo und Riccobono, Francesco, Equità e ragionevolezza nell’attuazione di diritti. – Napoli: Alfredo Guida 2004, S. 165–198.
Anstelle derartiger Simplifikationen und Schematisierungen der Rechtsentwicklung bietet Weber das komplexere Modell einer Konstellationsanalyse der Entwicklungsbedingungen rationalen Rechts an, das zunächst Begriff und Dimensionen rationalen Rechts zu fassen sucht (VI.), hieraus einerseits den innerjuristischen Verhältnissen (VII.) und den Trägern rechtlicher Rationalisierung einen hohen Entwicklungsprimat zuschreibt (VIII.), um den politischen Ordnungen (IX.) und religiösen Mächten (X.) als externen Entwicklungsfaktoren andererseits ihr jeweiliges Gewicht für den Verlauf des juridischen Rationalisierungsprozesses beizumessen.

1. Das Problem des juridischen Rationalismus

Daß der okzidentale Rationalismus, seine Eigenart und seine Genese im Zentrum der Weberschen Forschungsanstrengungen stand, wird kaum jemand anzweifeln. Und doch ist der Sinn dieses „Rationalismus“ höchst umstritten, vielschichtig und auch in manchem fragmentarisch geblieben. Das Manuskript „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“ gibt Aufschluß über die [64]allmähliche Verfertigung der Gedanken Webers auch zu diesem Schlüsselkonzept seines Denkens. Es zeigt, wie in einer „Sphäre“ Kritierien der Rationalität entwickelt werden, wie Richtungen des Rationalismus unterschieden und Bedingungskontexte freigelegt werden, die solche Entwicklungsschübe in die Richtung der Rationalisierung, d. h. für Weber: der formalen Rationalisierung des Rechts, lenken. Insofern ist der Text „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“ vielfach als eine Art Paradigma sphärentypischer Rationalisierungsprozesse begriffen worden.
65
[64] Schluchter, Entstehung des okzidentalen Rationalismus (wie oben, S. 2, Anm. 5), S. 122–203, zeigt die „formale“ und „sachliche“ Bedeutung der Rationalisierung des Rechts für die okzidentale Entwicklung in systematischer Weise auf.
Die Behandlung des Rechts stellt sich damit freilich in den Kontext der weit gespannten Untersuchungen, deren Problemstellung in der „Vorbemerkung“ zum ersten Band der „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“ am eindringlichsten formuliert ist: „[W]elche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gerne vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen“.
66
Weber, Vorbemerkung, S. 1.
Und in der Aufzählung der Eigenarten der okzidentalen Welt taucht immer wieder, neben der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Herrschaft, der Musik
67
Vgl. die Einleitung von Christoph Braun und Ludwig Finscher zur Musiksoziologie Max Webers, MWG I/14, S. 100 ff.
und der Kunst, vor allem das Recht und seine Reflexion als Rechtslehre unter den Sondergebilden des Okzidents auf. So insistieren gerade die religionsvergleichenden Aufsätze Webers darauf: „Für eine rationale Rechtslehre fehlen anderwärts trotz aller Ansätze in Indien (Mimamsa-Schule), trotz umfassender Kodifikationen besonders in Vorderasien und trotz aller indischen und sonstigen Rechtsbücher, die streng juristischen Schemata und Denkformen des römischen und des daran geschulten okzidentalen Rechtes.“
68
Weber, Vorbemerkung, S. 2.
Das Recht gerät damit in eine Schlüsselrolle für die Beschreibung und Erklärung des okzidentalen Rationalismus, die sich vor allem in der Stiftung von Berechenbarkeit erzeugenden Institutionen für den Wirtschaftsverkehr zeigt: „Denn der moderne rationale Betriebskapitalismus bedarf, wie der berechenbaren technischen Arbeitsmittel, so auch des berechenbaren Rechts und der Verwaltung nach formalen Regeln, ohne welche zwar Abenteurer- und spekulativer Händlerkapitalismus und alle möglichen Arten von politisch bedingtem Kapitalismus, aber kein rationaler privatwirtschaftlicher Betrieb mit stehendem Kapital und sicherer Kalkulation möglich ist.“
69
Ebd., S. 11.
Weber behauptet also eine spezifische Funktionalität des „rationalen Rechts“ für die [65]Entwicklung des okzidentalen Kapitalismus – und dies angesichts der These einer relativen Unabhängigkeit von Rechtsform und Wirtschaftsform, wie sie in dem Fragment „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ entwickelt wurde. In der „Vorbemerkung“ heißt es insoweit unmißverständlich weiter: „Ein solches Recht und eine solche Verwaltung nun stellte der Wirtschaftsführung in dieser rechtstechnischen und formalistischen Vollendung nur der Okzident zur Verfügung.“
70
[65] Ebd.
Über diese unmittelbare Funktionalität hinaus besteht die Rolle des rationalen Rechts der okzidentalen Moderne auch darin, daß eine bestimmte Art des unpersönlichen, abstrakten, systematisierten und von professionellen Hütern des Rechts entwickelte und garantierte normative Ordnung in alle übrigen Rationalitätssphären des Okzidents hineinragt: so ist die Herrschaft vermittels eines bürokratischen Herrschaftsapparates außerhalb einer rationalen Rechtsordnung gar nicht denkbar, weil seine konstitutiven Merkmale bereits aus dem Recht geschöpft sind.
Freilich kann man diese Art der Fragestellung nicht einfach in den als „Die Entwicklungsbedinungen des Rechts“ überlieferten Text hineinprojizieren, derart, als habe Weber darin gefragt, warum sich nur im Okzident eine bestimmte Art des juridischen Rationalismus herausgebildet habe. Vielmehr ist in der Arbeit am Text gerade zu sehen, wie die ursprüngliche, auf das Verhältnis von Wirtschaft und Recht bezogene Problemstellung sich über die Bestimmung der Dimensionen des „rationalen Rechts“ (§ 1), die Frage nach der „Richtung“ der Rationalisierung (Ende von § 3) und der inner- wie äußerjuristischen Entwicklungsbedingungen (§§ 4–7) hin zum Gesamtkomplex des juridischen Rationalismus im Okzident verlagert.
Gerade weil Weber immer wieder betont, wie unbestimmt und vieldeutig der Begriff des „Rationalismus“ sei – so am Ende der Protestantismusstudie
71
Weber, Max, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: GARS I, S. 17–206 (MWG I/18), hier S. 204 f.
und auch in der „Vorbemerkung“
72
Weber, Vorbemerkung, S. 11: „Nun kann unter diesem Wort höchst Verschiedenes verstanden werden […].“
–, ist die Bestimmung der Kriterien des „Rationalen“ im Recht von strategischer Bedeutung für die Frage, ob denn das universalhistorische Privileg nur für das okzidentale Recht gelte, welche Abstufungen der Rationalität möglicherweise zwischen den Rechtskulturen zu unterscheiden sind, und, ob diese Kriterien auch Rationalisierungsdifferenzen innerhalb der okzidentalen Rechtskultur anzuzeigen vermögen.
Diese Spezifikation von Kriterien des rationalen Rechts bleibt freilich im Zusammenhang zu sehen mit der von Weber vor allem in der „Vorbemerkung“ und in der „Zwischenbetrachtung“ zu den Studien über die „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ konstatierten Tragödie der Moderne, die aufs engste mit den Ambiguitäten und widersprüchlichen Folgen der Rationalisierung des [66]Okzidents verknüpft ist. Das Recht liefert ein besonders dramatisches Beispiel für die Widersprüche der Moderne, die sich bei Simmel scharf formuliert finden: „[…] von gewissen Grundtatsachen aus logisch entwickelt, in einem Kodex fester Gesetze niedergelegt, von einem besonderen Stande getragen, gewinnt es den anderweitigen, von den Personen empfundenen Verhältnissen und Bedürfnissen des Lebens gegenüber jene Starrheit, durch die es sich schließlich wie eine ewige Krankheit forterbt, Vernunft zum Unsinn, Wohltat zur Plage wird.“
73
[66] Simmel, Philosophie des Geldes (wie oben, S. 17, Anm. 74), S. 525.

2. Dimensionen des rationalen Rechts

„Rationales Recht“ ist bei Weber ein mehrdimensionaler Begriff. Und die Rationalisierung des Rechts kann sich in verschiedener Art vollziehen, „je nachdem, welche Richtungen der Rationalisierung die Entfaltung des Rechtsdenkens einschlägt“.
74
Unten, S. 301.
Dies ist der am Ende des § 3 formulierte Gegenstand der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“. Den komparativen, das Eigene des Okzidents herausstellenden Absichten entsprechend ist daher der Spielraum rationalen Rechts logisch so weit als möglich zu fassen.
Für die rechtsrelevante Tätigkeit „öffentlicher Verbände“ unterscheidet Weber zwei voneinander differenzierte Grundoperationen von „Rechtsschöpfung“ und „Rechtsfindung“, die sich als die Denkmanipulation von Generalisierung vs. Konkretisierung
75
Weber spricht von „Kasuistik“; vgl. im übrigen auch die aufschlußreiche Rekonstruktion bei Münch, Richard, Die Struktur der Moderne, Grundmuster und differentielle Gestaltung des institutioneilen Aufbaus der modernen Gesellschaften. – Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 380 ff.
sowie die Operation von Systematisierung vs. Analytik
76
Weber knüpft an Iherings Unterscheidungen der „Fundamental-Operationen der juristischen Technik“ an; vgl. Ihering, Römisches Recht II, 2, S. 334–388.
darstellen läßt. „Generalisierung“ bedeutet, von der konkreten Entscheidung her gedacht, die Ausweitung der im Einzelfall maßgeblichen Gründe auf andere Fallgestaltungen, und dies kann logisch nur dadurch geschehen, daß die entscheidungsrelevanten Aspekte herauspräpariert werden und insoweit die Komplexität der juristischen Argumente reduziert wird. Generalisieren heißt also: „[…] Reduktion der für die Entscheidung des Einzelfalles maßgebenden Gründe auf ein oder mehrere ,Prinzipien‘: diese sind die ,Rechtssätze‘“.
77
Unten, S. 301 f.
Diese Operation setzt nun voraus, daß aus der unendlichen Fülle der Wirklichkeit der rechtlich relevante Tatbestand durch Analyse herausgefiltert wird, was wiederum durch Vergleich mit anderen und im Hinblick auf andere Fälle geschieht. Generalisierung und Konkretisierung wer[67]den also als gegenläufige Prozesse verstanden, die sich im Medium der Kasuistik entfalten. Insofern ist also jedes Recht Fallrecht. Freilich sind die rechtstechnischen Mittel der Kasuistik verschieden: Reduktion auf Prinzipien und schließlich logisch untereinander kompatible Rechtssätze stehen dem „bloßen parataktischen und anschaulichen Assoziieren“ gegenüber. Insofern wird also schon auf der Ebene fallbezogener Operationen die Weiche für die Bildung juristischer Konstruktionen gestellt, die zu einer mehr oder minder dichten „Synthese“ von Rechtsverhältnissen führen kann, „das heißt: die Feststellung: was an einem in typischer Art verlaufenden Gemeinschafts- oder Einverständnishandeln rechtlich relevant sei und in welcher in sich logisch widerspruchslosen Weise diese relevanten Bestandteile rechtlich geordnet, also als ein ,Rechtsverhältnis‘, zu denken seien“.
78
[67] Unten, S. 302.
Dies bedeutet nicht, daß eine für die Praxis befriedigende Zusammenfassung rechtlich relevanter Merkmale in einem Rechtsinstitut auch dem höchsten Grad möglicher Begriffsanalyse entsprechen müßte. Es ist umgekehrt denkbar, daß von der juristischen Begriffsbildung her durchaus plausible Konstruktionen, gerade ihres konstruktiven Charakters halber, in der Praxis fruchtlos bleiben. Zerlegung der Wirklichkeit nach relevanten Merkmalen geht einher mit Einordnung dieser Kategorien in ein umfassendes System. Systematisierung bedeutet „die Inbeziehungsetzung aller durch Analyse gewonnenen Rechtssätze derart, daß sie untereinander ein logisch klares, in sich logisch widerspruchsloses und, vor Allem, prinzipiell lückenloses System von Regeln bilden, welches also beansprucht: daß alle denkbaren Thatbestände unter eine seiner Normen müssen logisch subsumiert werden können, widrigenfalls ihre Ordnung der rechtlichen Garantie entbehre“.
79
Unten, S. 303.
Weber hat damit sehr voraussetzungsreiche Kriterien des rationalen Rechts benannt: eine urwüchsige Art des Rechtsprechens, ohne Rücksicht auf Vergangenes und Zukünftiges, kann diesem Begriff nicht genügen. Allein die analytische Trennung von „Rechtsschöpfung“ und „Rechtsfindung“ gibt die Binnenpole einer „Rationalisierung“ des Rechts ab, solange sich eine Rechtsordnung an dieser Unterscheidung orientiert. Der von Weber skizzierte Möglichkeitsraum rationalen Rechts ist also in sich durch Gegensätze, Widersprüche und Spannungsmomente gekennzeichnet, die in Webers Verständnis nur in einem bestimmten Typus des rationalen Rechts miteinander vermittelt sind. Die Fremdheit des Rechts gegenüber dem Alltag ist programmiert, wenn Analytik und Systembildung relevanter sind als das Ablesen der typischen Verläufe von „Gemeinschafts- und Einverständnishandeln“ aus der sozialen Wirklichkeit zum Zwecke der juristischen Begriffsbildung. Und der Einzelfall ist degradiert zum Ausgangspunkt der Generalisierung und der rechtstheo[68]retischen Beschreibung dieser Extension als prinzipiengeleitete Reduktion, nicht aber als Garant einzelfallbezogener Gerechtigkeit.
Kein Zweifel, daß Weber damit den Charakter der Konstruktionsjurisprudenz
80
[68] Dies betonen auch Quensel, Bernhard K. und Treiber, Hubert, Das „Ideal“ konstruktiver Jurisprudenz als Methode. Zur „logischen Struktur“ von Max Webers Idealtypik, in: Rechtstheorie, Band 33, 2002, S. 91–124.
beschreibt und daß wir in Rudolf von Iherings Darstellung der „Fundamentaloperationen der juristischen Technik“ Webers Rekonstruktion der Konstruktionsjurisprudenz vorgezeichnet finden.
81
Vgl. unten, S. 301 mit Anm. 78.
Auffällig bleibt, daß Weber in diese „Grundoperationen“ des Rechtsdenkens ein Spannungsmoment widerstrebender Strategien einbaut. Zum Verhältnis von analytischer Begriffskonstruktion und Systematisierung etwa schreibt er: „Dieser letztere Widerspruch ist die Folge davon, daß aus der Analyse eine weitere logische Aufgabe zu entspringen pflegt, welche sich mit der synthetischen ,Konstruktions‘-Arbeit zwar prinzipiell verträgt, faktisch aber nicht selten in Spannungen zu ihr steht: die Systematisierung.“
82
Unten, S. 302 [Hervorhebungen z. T vom Hg.].
Es fragt sich, ob dies mit Webers allgemeinster Formel zur Erklärung des okzidentalen Rationalismus zusammenhängt, nämlich der Frage, „welche Sphären und in welche Richtung sie rationalisiert wurden“.
83
Weber, Vorbemerkung, S. 12.
Während die Antwort auf diese Frage in der Art der Spannung dieser Sphären
84
Vgl. Gephart, Werner, „Sphären“ als Orte der okzidentalen Rationalisierung. Zu einer vergessenen Metapher in Max Webers Rationalisierungstheorie, in: Aretz, Hans-Jürgen und Lahusen, Christian (Hg.), Die Ordnung der Gesellschaft (Festschrift zum 60. Geburtstag von Richard Münch). – Frankfurt a.Μ.: Peter Lang 2005, S. 125–159 (hinfort: Gephart, Sphären). – Das Resultat der Konfuzianismusstudie formuliert das Spannungsverhältnis von Ethik und Welt in aller Schärfe; vgl. Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 451.
begründet ist, so läßt sich zeigen, daß bereits in die Konstruktion der Rechtssphäre hinein von Weber eine Spannung eingezogen ist, die nur – so Webers These – im Okzident die Entwicklung des Rechts vorangetrieben hat, während es hieran in außerokzidentalen Rechtskulturen gerade fehlt. Damit weist die innere Logik des rationalen Rechts eine strukturelle Parallele nicht nur zur religiösen Dogmatik – dazu später –, sondern auch zur Wissenschaft auf: Denn ebenso wie rationale Wissenschaft des Okzidents durch die Synthese von Theoriebildung und rationalem Experiment gekennzeichnet ist, ließe sich – so Weber – das rationale Recht des Okzidents als eine Vermittlung der gegenläufigen Pole von Generalisierung und Konkretisierung, Systematisierung und Analytik konstituieren.
Die Sprengkraft der Weberschen Soziologie des Rationalismus
85
Hierauf gegen andere Fixierungen einer „Fragestellung“ insistiert zu haben, ist sicher das Verdienst der Arbeiten Wolfgang Schluchters.
liegt nicht in der dialektischen Konstruktion von Kriterien der Binnenrationalität, sondern [69]in der Doppelgesichtigkeit des Rationalismus. Was Weber „formale“ Rationalität nennt, steht vielfach in Widerspruch zu Erfordernissen und Ansprüchen „materialer“ Rationalität, so daß die Kulturen des Rationalismus eine prinzipielle, inhärente Widersprüchlichkeit durchzieht: formale Rationalität geht nicht mit materialen Wertansprüchen einher, verletzt sie vielfach notwendigerweise, so daß die Steigerung der einen nur auf Kosten der anderen Seite des Rationalismus möglich ist. So ist die für Weber entscheidende Frage, ob dem formalen Rationalismus nicht doch ein eigenes Wertmoment innewohnt und also – wie Weber im letzten Paragraphen der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ formuliert – die formalen Qualitäten des modernen Rechts gerade ihre materiale Rationalität begünstigen, nur eine begrifflich-soziologische Verkleidung der entscheidenden Frage nach dem Verhältnis von formal gesetztem Recht und materialer Gerechtigkeit. Zugleich ist diese, für die Soziologie des Rationalismus grundlegende Unterscheidung von formaler und materialer Rationalität bzw. Irrationalität nirgends so systematisch formuliert wie im Text „Die Entwicklungsbedinungen des Rechts“. So schreibt Weber: „Mit all diesen Gegensätzen teils zusammenhängend[,] teils sie kreuzend aber gehen die Verschiedenheiten der rechtstechnischen Mittel [einher], mit welchen die Rechtspraxis im gegebenen Fall zu arbeiten hat.“
86
[69] Unten, S. 303.
Hierbei ergäben sich folgende „einfachste“ Fälle: Vom formal rationalen Recht ausgehend, dessen Binnenrationalität sich aus den gegenläufigen juristischen Grundoperationen ergibt, ist das formal irrationale Recht durch die Verwendung irrationaler Beweismittel und irrationaler Techniken der Rechtsschöpfung bestimmt, wenn „andere als verstandesmäßig zu kontrollierende Mittel angewendet werden“,
87
Ebd.
während das material rationale Recht durch den Anspruch einer höheren Legitimität der Rechtssätze gekennzeichnet ist, das material irrationale Recht durch konkrete Wertungen des Einzelfalls, „seien sie ethische oder gefühlsmäßige oder politische“,
88
Ebd.
d. h. also durch außerhalb des Rechts liegende, sphärenfremde Kriterien, nicht aber durch generelle Normen.
Das formal irrationale Recht ist durch kulturelle, insbesondere religiöse Mittel der Rechtsfindung wie Orakel, prophetische Rechtsschöpfung und deren Surrogate gekennzeichnet. Das formal rationale Recht hingegen wird durch die Eigengesetzlichkeit von „Recht“ geprägt, d. h. die Anknüpfung an generelle Tatbestandsmerkmale. Diese kann die Richtung der Systematisierung oder aber der fallbezogenen Konkretisierung einnehmen und hierbei entweder an anschauliche äußere, einen strengen Rechtsformalismus begründende, „in ihrer Bedeutung feststehende symbolische Handlung[en]“
89
Unten, S. 304.
oder an im Wege der Analytik gewonnene abstrakte Merkmale anknüpfen. Dieser [70]jeweils unterschiedlich akzentuierten, gleichwohl funktional äquivalenten Logik der Rechtsfindung steht jede an ethischen Imperativen oder politischen Maximen ausgerichtete überpositive Rechtsauffassung fundamental entgegen; so insbesondere das Naturrecht. Auch wenn das Naturrecht somit aus dem formal rationalen Rechtsraum definitorisch ausgeschlossen ist, wird die Berücksichtigung der religionsvergleichenden Studien erweisen, daß erst die Spannung von Naturrecht und positivem Recht die Eigendynamik der okzidentalen Rechtskultur freisetzt, während dieses Spannungselement gerade den außerokzidentalen Rechtskulturen fehlt. Der viel gerügte Rechtsformalismus ist also die eigentliche Errungenschaft der Entwicklung des Rechts. Nur als „Formalismus“ ist eine „fachmäßige juristische Sublimierung des Rechts“
90
[70] Unten, S. 304.
möglich, die nicht auf der Strenge der die Rechtsverhältnisse begründenden und prozessual garantierenden äußeren Symbole beruht, sondern nur auf der Strenge der Begriffsform als Mittel des juristischen Denkens und als Ausgangspunkt einer abstrakte Rechtssätze zum System bildenden normativen Ordnung.
Nach dieser Exposition des Leitmotivs der Weberschen Soziologie des Rechts muß sich die Frage darauf richten, durch welche Umstände und Mächte eben diese formalen Qualitäten des Rechts befördert werden. Nicht die Beziehung von Wirtschaft und Recht, die Epochen der Entwicklung des heutigen Zustands, wie es der „Stoffverteilungsplan“ annonciert, sondern eine andere, das rechtshistorische Material der Weltgeschichte des Rechts sortierende und selektierende Fragestellung tut sich auf: die Bedingungen der Entwicklung des formal rationalen Rechts aus dem unendlichen Strom rechtshistorischer Ereignisketten herauszufiltern und in idealtypische Entwicklungsverläufe zu fassen. Ohne in Webers Gedankengang einen radikalen Konstruktivismus hineinlegen zu müssen, ist doch von Beginn an klar, daß die berührten Rechtskulturen oder Rechtskreise, Rechtsordnungen und Rechtsinstitutionen unter dem methodologischen Vorbehalt idealtypischer Konstruktionen stehen, so daß es also notwendig ist, immer auch nach der Art zu fragen, in der Weber das Bild einer Rechtsepoche, einer Rechtskultur, seinen eigenen methodologischen Ansprüchen entsprechend konstruiert hat.
91
Vgl. etwa paradigmatisch zum Römischen Recht: Fögen, Marie-Theres, Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002 (hinfort: Fögen, Römische Rechtsgeschichten).

VII. Die Macht der „innerjuristischen Verhältnisse“

Am Ende von § 3 der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ präzisiert Weber, von dem nach innen gerichteten Begriff des rationalen Rechts ausge[71]hend, die Entwicklungskräfte der Rationalisierung des Rechts: „Wir werden sehen, daß ein Recht in verschiedner Art, und keineswegs notwendig in der Richtung der Entfaltung seiner ,juristischen‘ Qualitäten, rationalisiert werden kann. Die Richtung, in welcher diese formalen Qualitäten sich entwickeln, ist aber bedingt direkt durch so zu sagen ,innerjuristische‘ Verhältnisse: die Eigenart der Personenkreise, welche auf die Art der Rechtsgestaltung berufsmäßig Einfluß zu nehmen in der Lage sind, und erst indirekt durch die allgemeinen ökonomischen und sozialen Bedingungen.“
92
[71] Unten, S. 475.
Weber unterscheidet also „direkte“ und „indirekte“ Einflußfaktoren der Rationalisierung des Rechts, wobei die unmittelbaren aus den Eigentümlichkeiten der Rechtssphäre, also den „Eigengesetzlichkeiten“ des Rechts fließen, die durch mittelbare „ökonomische“ und „soziale“ Bedingungen, d. h. „Fremdgesetzlichkeiten“ anderer Sphären, gebrochen werden.

1. Die Abstreifung der Magie im rechtlichen Zaubergarten

Als eine urwüchsige Stufe der Rechtsentwicklung entwirft Weber das Panorama eines rechtlichen Zaubergartens, wenn man so will: einer magischen Rechtskultur,
93
In einer angeklebten Allonge werden diese Passagen mit der später gestrichenen Überschrift: „Das primitive Recht“ bzw. „Die primitive Rechtspflege“ versehen; siehe unten, S. 445, textkritische Anm. i.
in der heilige Gepflogenheiten dadurch garantiert werden, daß hiervon abzuweichen „bösen Zauber oder die Unruhe der Geister oder den Zorn der Götter hervorrufen kann“.
94
Unten, S. 446.
Solche Regeln sind nicht veränderbar, sondern sie müssen nur richtig erkannt werden und hierfür bedarf es einer Beherrschung der „Kunstregeln für den Verkehr mit den übersinnlichen Mächten“,
95
Ebd.
d. h. es bedarf der fachmäßigen Kenntnis dieser magischen Regeln, wie sie von Priestern oder Rechtsmagiern beansprucht wird. Dieser juristische Zaubergarten aber ist keineswegs unformal, im Gegenteil. Er fördert den streng formalen Charakter des Rechts: „Denn nur auf die formal richtig gestellte Frage geben ja die Zaubermittel die richtige Antwort.“
96
Unten, S. 447.
Und es ist geradezu ein systematisierender Effekt dieses rechtsmagischen Glaubens, daß es für bestimmte Rechtsfragen auch jeweils bestimmte magische Rechtsmittel geben muß mit der Folge, daß der geringste Fehler bei der Ausübung des magischen Rituals den Verlust des Rechtsmittels, unter Umstän[72]den des gesamten Prozesses zur Folge hat, hierin seien sich auch römische Legisaktionen wie das frühmittelalterliche Recht noch gleich.
97
[72] Vgl. ebd., S. 447 mit Anm. 34.
Die allererste Voraussetzung auf dem Wege zur Rationalisierung des Rechts ist daher die „Abstreifung“ der Magie im Sinne eines magischen Rechtsformalismus. Noch die Jury läßt sich als Verlängerung des magischen Orakels deuten, so daß nach Weber auch im modernen Recht die Rechtsmagie keineswegs verbannt wäre. Nur: Ebenso wie die Rationalisierung der religiösen Sphäre die Befreiung vom magischen Denken voraussetzt,
98
Im „Resultat“ zur Konfuzianismusstudie heißt es: „Für die Stufe der Rationalisierung, welche eine Religion repräsentiert, gibt es vor allem zwei, übrigens miteinander in vielfacher innerer Beziehung stehende Maßstäbe. Einmal der Grad, in welchem sie die Magie abgestreift hat […]“ (MWG I/19, S. 450).
ist die Überwindung eines vergleichbaren irrationalen Formalismus im Recht notwendige Bedingung der rechtlichen Rationalisierung. Sie ist nämlich insoweit noch nicht durch „innerjuristische“ Qualitäten bestimmt, sondern durch religiös-magische Faktoren, die ihrerseits noch im Vorfeld des Prozesses der religiösen Rationalisierung liegen.
99
In der systematischen Religionssoziologie sind die Konsequenzen benannt: „Wo eine Zaubererschaft es verstanden hat[,] die Orakel und die Gottesurteile […] in die Hand zu bekommen, ist ihre Machtstellung oft eine dauernd überwältigende […]“ (Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 164).
So schreibt Weber mit Blick auf die rechtliche Entwicklung: „Erst mit dem Zurücktreten der Bedeutung der Magie gewinnt die Tradition den Charakter, welchen sie z. B. im Mittelalter vielfach an sich trug: das Bestehen einer als Recht geltenden Übung kann Gegenstand eines ,Beweises‘ durch die Parteien werden, ganz wie ,Thatsachen‘.“
100
Unten, S. 454.
Gibt es also „sachlogische Gründe“ für eine Rationalisierung des Rechts, die nicht von der Art der Rechtsinhalte abhängt, sondern aus eigenen, soziologischen Konstellationen der Struktur des Rechtssystems fließt? Wir hatten in der Analyse von „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ die Frage herauspräpariert, wie ein Verbindlichkeitsglaube, der sich auf die Macht des Gewohnten und die seelische Eingestelltheit auf derartige Regelmäßigkeiten stützt, irgendeine Neuerung zulassen soll. Ebenso grundlegend fragt Weber zu Beginn des dritten Paragraphen: „Wie entstehen neue Rechtsregeln?“
101
Unten, S. 430.
Folgende endogene Entwicklungsmomente verdienen hervorgehoben zu werden: eine Art Rationalisierung durch Diskurs, die Paradoxie einer Entwicklung durch Tradition, eine Rationalisierung durch das Andere der Vernunft, nämlich durch Rechtsgefühle, und schließlich die entscheidende Entdeckung der rationalisierenden Entwicklung durch die innovative Kraft des Charismas.

[73]2. Rationalisierung durch diskursive Auflösung der Gewohnheit?

Parallel zu den Überlegungen in „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ geht es Weber darum, Gewohnheit als Rechtsquelle normativen Geltungsursprungs von Annahmen über den Prozeß der faktischen Normgenese scharf zu trennen. Angesichts einer aufgeklärten zeitgenössischen Lehre vom Gewohnheitsrecht, insbesondere bei dem namentlich erwähnten und seinerzeit in Bonn lehrenden Ernst Zitelmann, bedarf es einer De-Konstruktion des Konzepts von „Gewohnheitsrecht“ nicht mehr: So ist – in Weber verwandten Formulierungen – davon die Rede, daß es auf die „Vorstellung des Geltens einer Ordnung“
1
[73] Zitelmann, Ernst, Gewohnheitsrecht und Irrthum, in: Archiv für die civilistische Praxis, Band 66, 1883, S. 323–468, hier S. 463 (hinfort: Zitelmann, Gewohnheitsrecht).
ankomme und für die Geltung des Gewohnheitsrechts auf eine Geltungsvorstellung darüber, wie allein die Dauer „das Wunder“ normativer Kraft vollbringe.
2
Ebd., S. 461.
Hatte sich Zitelmann also von einer naturalistischen Geltungslehre befreit und war der Charakter der sog. „Gewohnheitsrechte“ als „juristische Construktionen“ weitgehend anerkannt, unter den Juristen jedenfalls, so galt dies für die aufkommende Rechtssoziologie gerade nicht. Weber zitiert einzig hier und in diesem Zusammenhang als Rechtssoziologen Edouard Lambert
3
Es ist nicht nachweislich, daß sich Weber intensiver mit Lambert auseinandergesetzt hätte. Interessant ist die parallele Deutung Lamberts durch Emile Durkheim, woraus ersichtlich ist, daß Durkheim auch dem Zivilrecht nicht völlig fern stand; vgl. Durkheim, Emile, Besprechung zu: Edouard Lambert, La fonction du droit civil comparé, Paris 1903, in: L’Année sociologique, Band 7, 1904, S. 374–379.
und Eugen Ehrlich. Insbesondere Ehrlich wirft er vor, aus der berechtigten Kritik einer verfehlten empirischen Theorie der Genese des Rechts mit dem durchsichtigen Motiv, die Fortgeltung des römischen Rechts aus dem Gewohnten zu legitimieren, den verfehlten Schluß auf die Unbrauchbarkeit des Gewohnheitsrechts als normativ-juristische Kategorie gezogen zu haben.
4
Vgl. Ehrlich, Grundlegung, S. 352–380. Seit seiner Inaugurationsrede hatte Ehrlich die Abschaffung der Lehre vom Gewohnheitsrecht empfohlen; vgl. Ehrlich, Eugen, Die Tatsachen des Gewohnheitsrechts. – Leipzig, Wien: Franz Deuticke 1907 (hinfort: Ehrlich, Tatsachen).
Was bleibt also nach dieser doppelten „Entzauberung“ der Kategorie des Gewohnheitsrechts für die Analyse der Rechtsentwicklung an Einsichten zu bewahren?
Weber geht es um den Nachweis, daß auch das traditionale Recht, dessen Geltung Weber in den „Soziologischen Grundbegriffen“ an den Glauben in die Legitimität des immer schon Gewesenen knüpfen wird,
5
Vgl. WuG1, S. 19.
im Sinne der Rationalisierungsthese durchaus „rationale“ Züge aufweist. Denn Weber zeigt, wie das sog. Gewohnheitsrecht, das die romantische Rechtsschule vor [74]allem der Kodifikationsidee entgegensetzte, ein „sehr moderner Begriff“ ist, der in seinen Voraussetzungen faktischer gemeinsamer Übung, gemeinsamen Legitimitätsglaubens und dem Kriterium der „Rationabilität“
6
[74] Vgl. zu den Merkmalen des Gewohnheitsrechts nach gemeinrechtlicher Lehre: unten, S. 431 mit Anm. 5.
das Resultat juristischer Konstruktionsarbeit ist und nicht einem romantischen Rechtsgrund entspringt. Sobald das Recht aus den Händen magischer und anderer „irrationaler“ Gewalten in den Umkreis irgendwie gearteter rudimentärer „Rechtspflege“ gerät, setzt eine eigenlogische „Rationalisierung“ der Tradition ein: „Ein gewisses Maß von Stabilität und Stereotypierung zu Normen tritt immerhin ganz unvermeidlich ein, sobald die Entscheidung Gegenstand irgend einer Diskussion wird oder rationale Gründe dafür gesucht oder vorausgesetzt werden, also mit jeder Abschwächung des ursprünglichen rein irrationalen Orakelcharakters.“
7
Unten, S. 442 [Hervorhebungen, Hg.].
Es ist also Max Weber, der hier eine spezifische Form der Rationalisierung durchDiskurs“,
8
Jürgen Habermas’ „Theorie des kommunikativen Handelns“ (2 Bände. – Frankfurt a. Μ.: Suhrkamp 1981; hinfort: Habermas, Theorie) fände also in dieser versteckten Passage Webers eine gewisse Stütze. Vgl. zu dem Versuch, Diskurs als Rechtsquelle zu begründen: Engländer, Armin, Diskurs als Rechtsquelle? Zur Kritik der Diskurstheorie des Rechts. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 2002.
d. h. nämlich der die Tradition sprengenden Kraft der Diskussion mit rationalen Gründen behauptet, die aus der Eigengesetzlichkeit des Vortragens, Antwortens und der Kritik mit „Gründen“ hervorgeht. Insofern findet sich in Webers Rationalisierungstheorie – trotz aller Versuche der ethischen und zivilisatorischen Neutralisierung, indem beliebige Bezugspunkte als rationalisierungsfähig beschrieben werden – auf der Ebene der Rationalisierungsmittel eindeutig eine Präferenz für vernunft- und verstandesgemäße Argumentation und systematische Beibringung von „Gründen“ des juridischen Entscheidens.

3. Rationalisierung durch Tradition?

Mag die Tradition und ihre Begründung im schon immer da Gewesenen, eben gewohnheitsmäßig und daher legitimerweise Praktizierten durch den vernunftgemäßen Gebrauch von Gründen durchbrochen werden, so wird zugleich der Tradition selbst ein revolutionäres Potential zugeschrieben: Es entsteht eine scheinbar paradoxe Form der Rationalisierung durch Tradition, wenn der Diskurs seine eigentümliche Bindungskraft entfaltet: „Denn offenbar ist es für einen Richter, dem eine bestimmte Maxime einmal bewußt und erkennbar als Entscheidungsnorm gedient hat, sehr erschwert, oft fast unmöglich, in anderen gleichartigen Fällen die in jenem Fall gewährte Zwangs[75]garantie zu versagen, ohne sich dem Verdacht der Befangenheit auszusetzen.“
9
[75] Unten, S. 443.
So stellt allein der subjektive Glaube, bereits geltende Normen anzuwenden, einen Schritt in die Richtung einer „dem prophetischen Zeitalter entwachsen[e] Rechtsfindung“ dar.
10
Ebd.
Allein die Vorstellung dieser „Tradition“ ist also „modern“, oder die „Moderne“ enthält durchaus „Traditionales“. D.h. die Chance, auch für den Einzelfall Rechtszwang zu mobilisieren, erhöht sich dort, wo – nach der Semantik des Kategorienaufsatzes – von „Einverständnissen und rationalen Vereinbarungen“
11
Unten, S. 440.
ausgegangen werden kann, die wiederum durch eine Konsistenzkultur des Entscheidens befördert werden und damit aus der von Weber so radikal perhorreszierten „Irrationalität des Einzelfalls“
12
Unten, S. 441.
herausführen.

4. Rationalisierung und die Vielfalt der Gefühlskulturen

Ein scharfer Gegensatz wird hingegen zwischen den gefühlsmäßigen Qualitäten vorrationalen Rechts und den rationalen Qualitäten des modernen Rechts aufgerichtet. Impliziter Diskussionsgegner ist für Weber die romantische Rechtsschule, die bis zu neueren Vertretern einer emotiven Rechtstheorie reicht. Die Bedeutung eines „Billigkeits-“ und „Rechtsgefühls“ für die Rechtsfindung ist in der zeitgenössischen Methodenlehre freilich umstritten. Rumpf etwa versucht, das Rechtsgefühl wissenschaftlich zu erfassen.
13
Vgl. Rumpf, M[ax], Gesetz und Richter. Versuch einer Methodik der Rechtsanwendung. – Berlin: Otto Liebmann 1906 (hinfort: Rumpf, Gesetz und Richter).
Rümelin möchte gar eine „Logik“ des Rechtsgefühls aus einem sittlichen Ordnungstrieb herleiten.
14
Rümelin, Gustav, Über das Rechtsgefühl, in: ders., Kanzlerreden (Kanzler der Universität Tübingen 1870–1889). – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1907 (hinfort: Rümelin, Rechtsgefühl).
Das Gefühl als Rechtsquelle zurückzuweisen richtet sich aber ebenso gegen die Programmatik der Freirechtsschule. Nicht nur mangels Vernunft, sondern auch aufgrund seiner destabilisierenden Effekte ist es Weber, dem die Gefühlswelt vielleicht in besonderem Maße ambivalent erschien, grundsätzlich suspekt. So führt er über die Bedeutung des Rechtsgefühls aus: „Aber die Beobachtung lehrt, wie außerordentlich labil das ,Rechtsgefühl‘ funktioniert, soweit ihm nicht das feste Pragma einer äußeren oder inneren Interessenlage die Bahnen weist.“
15
Unten, S. 444.
Die Art des Rechtsgefühls oder einer emotiven Fundierung des Rechts läßt sich aber noch weniger als Grundlage einer kollektiven Identität ausweisen. Weber erteilt den Vertretern [76]jeder Volks- und Rechtsgeistlehre auch in dieser Hinsicht eine glatte Absage: „Grade die Besonderheiten ,nationaler‘ Rechtsentwicklungen dagegen lassen sich aus einer Verschiedenheit des Funktionierens ,gefühlsmäßiger‘ Quellen, soviel bisher bekannt, nirgends ableiten. Stark emotional, ist gerade das ,Gefühl‘ sehr wenig geeignet, stabil sich behauptende Normen zu stützen, sondern vielmehr eine der verschiedenen Quellen irrationaler Rechtsfindung.“
16
[76] Unten, S. 444.
Webers Stoßrichtung ist also eine doppelte und für das Verständnis seiner „Rechtssoziologie“ zentral. Die Differenzen „nationaler Rechtskulturen“ sind nicht aus diffusen emotiven und traditional sedimentierten Tiefenschichten einer Gefühlskultur herleitbar, sondern nur aus anderen Konstellationen versteh- und erklärbar. Auch wenn Weber also durchaus behauptet, daß beliebige Aspekte der Welt „rationalisierbar“ seien, sind die „Gefühle“ hiervon ausgenommen. Im Weberschen Verständnis juridischer Rationalität ist also für das Rechtsgefühl kein Platz, auch nicht für ein Gefühl der Gerechtigkeit als Korrektiv krassen Unrechts. Rationalisierung des Rechts heißt vielmehr, das Rechtsgefühl gerade zu „überwinden“. Wir müssen diese Aussage Webers so nehmen, wie sie ohne die Voraussicht auf die Möglichkeiten des Unrechtsstaates einmal formuliert wurde, dessen „Unrecht“ vielfach in der Mobilisierung kollektiver Gefühle der Ausgrenzung bestand.

5. Juridische Innovation durch Charisma

Unter den Kräften, die das Neue hervorbringt, nimmt das Charisma des Rechts einen besonderen Stellenwert ein. War in „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ allenfalls die sachliche Umschreibung charismatischer Rechtserneuerer zu finden, wenn Weber schreibt, daß „nach allen Erfahrungen der Ethnologie […] die wichtigste Quelle der Neuordnung der Einfluß von Individuen zu sein [scheint], welche bestimmt gearteter ,abnormer‘ […] Erlebnisse und, durch diese, bedingter Einflüsse auf Andre fähig sind“,
17
Unten, S. 215.
so entfaltet Weber im § 3 der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ eine komplexe Beschreibung „charismatischer Rechtsoffenbarung“, welche „charismatisch Qualifizierte“ kennt, die wiederum „charismatischen Instanzen“ konkrete Fragen vorlegen, aus deren Beantwortung sich ihre „charismatische Qualifikation“ ergibt.
18
Die Zitate unten, S. 446–453.
Zur Übernahme charismatischer Offenbarung gehört, daß ihre Vermittler „die charismatische Qualifikation anerkennen“, die ihrerseits beruhen kann auf „persönlichem Charisma“ oder auf Alter, Wissen oder Honoratiorenstellung.
19
Die Zitate unten, S. 455 f.
Dieser charismatische Komplex verdichtet sich gar zu einer [77]„charismatischen Epoche der Rechtsschaffung und Rechtsfindung“, um sich typologisch in religiös gebundene charismatische Rechtsprophetie einerseits und „charismatische Rechtsweisung“ andererseits zu zergliedern. So spricht Weber von einem eigenen „Charisma der Rechtsweisheit“, dem eine besondere „charismatische Würde“ zukommt,
20
[77] Die Zitate unten, S. 458–461.
das als „echtes Charisma“ durchaus unter Bewährungszwang steht – im Unterschied zur Rechtsprophetie – und das in der dinggenossenschaftlichen Justiz eine Art Gewaltenteilung zwischen der „Autorität des Rechtscharisma“ und der „Ratifikation der Ding- und Wehrgemeinde“ aufweist.
21
Die Zitate unten, S. 473.
Der charismatische Komplex der rechtlichen Sphäre weist also durchaus eine Eigenlogik auf,
22
Das zeigt diese in den Textgruppen IX und X (Textkern des § 3 der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“) gehäufte und nur hier vorfindliche Zusammenstellung der ausgewählten Charisma-Komposita; vgl. dazu die Textgruppenübersicht unten, S. 162–169, sowie den Editorischen Bericht zu „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“, unten, S. 264 f.
die aber nicht zu einer der Herrschaftsform des Charismas vergleichbaren typologischen Dichte ausgearbeitet ist.
23
Vgl. Weber, Herrschaft, MWG I/22-4, S. 454 ff. und S. 473 ff. Daß das „Charisma“ zu Webers Zeiten kein Fachbegriff der Sozialwissenschaften, sondern ein Fachbegriff der Exegese war, haben nunmehr auch Edith Hanke und Thomas Kroll in der Einleitung zum Herrschaftsband (ebd., S. 37 ff.) nachgewiesen. Daß Weber gerade an kirchenrechtliche Ausführungen Sohms anknüpft, bestätigt seine Strategie sozialwissenschaftlicher Begriffsbildung aus dem Geist der Jurisprudenz.
Gleichwohl leistet das Charismakonzept, in dem der entscheidende Gesichtspunkt des gleichnamigen Herrschaftstypus noch fehlt, nämlich die Konstitution von Charisma per Zuschreibung und nicht per objektiver Eigenschaft, eine wichtige darstellerische und explanative Funktion: einerseits die Vielzahl an Rechtsformen, vorwiegend des germanischen Rechts, der Weistümer, Fürsprecher etc., sowie die besonderen Qualitäten von Richterpersönlichkeiten und religiösen Rechtspropheten unter einem einzigen Gesichtspunkt zusammenzufassen und andererseits Ansätze einer Erklärung für das Wunder des Normwandels in den Zeiten des Rechtsglaubens an die Unverbrüchlichkeit der Tradition zu geben. Eine den Einzelfall übersteigende, insofern universalistische Rechtsschöpfung ist durch spezifische emotive Qualitäten des Rechtsschöpfers geprägt, die dergestalt in den Epochen des traditionlen Rechts allein für Rechtsänderungen maßgeblich ist: „Dies aber kann geschehen nur auf dem hierfür ausschließlich möglichen Wege einer neuen charismatischen Offenbarung.“
24
Unten, S. 446.
Der Tradition gegenüber ist das Charisma nämlich revolutionären Charakters. So formuliert Weber: „Die Rechtsoffenbarung in diesen Formen ist das urwüchsige revolutionierende Element gegenüber [78]der Stabilität der Tradition und die Mutter aller ,Satzung‘ des Rechts.“
25
[78] Unten, S. 446.
Das Recht offenbart sich also durch tatsächliche oder vermeintliche Eingebung, wenn die überkommenen Normen für die Ordnung neuer Problemlagen nicht mehr hinreichen. „Normaler Träger dieser primitiven Form einer Anpassung von Ordnungen an neu entstandene Situationen ist der Zauberer oder der Priester eines Orakelgottes oder ein Prophet.“
26
Unten, S. 447 [Hervorhebung, Hg.].
Am Anfang aller Satzung also steht der Künder eines normativen Programms, der charismatische Schöpfer des Gesetzes. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, wenn bis in die heutige juristische Methodenlehre hinein der „Gesetzgeber“, auf dessen tatsächliche oder vermeintliche Motive man sich beruft, mit einem eigenen Charisma der Rechtsgeltung ausgestattet ist. Das Problem der entsprechenden Herrschaftsform, nämlich die „Veralltäglichung des Charisma“,
27
Zur Verwendung in der älteren Herrschaftssoziologie vgl. Weber, Herrschaft, MWG I/22-4, S. 494, 517, sowie S. 594, 597, 625. – In „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“ fehlt der Begriff „Veralltäglichung“; vgl. auch den Editorischen Bericht zum Text „Umbildung des Charisma“, ebd., S. 475 f.
stellt sich hier nicht, weil die Rechtsprophetie funktional auf „Normwandel“ programmiert erscheint. In gleicher Weise wie sich bei Durkheim die Normdevianz als Motor normativen Wandels der intentionalen Steuerung des Normgebers entzieht, zeitigt die charismatische Rechtsschöpfung im Sinne Webers letztlich irrationale Konsequenzen. Denn nur die Formen, in denen neues Recht bei den charismatischen und magischen Gewalten gesucht wird, sind „rational“, dem steht der „irrationale Charakter der Entscheidungsmittel gegenüber“,
28
Unten, S. 448.
und dieser antirationale Effekt reicht bis in die Moderne hinein, jedenfalls in Webers Sicht des englischen Rechts. Denn: „Nur durch das Fehlen rationaler Begründungen unterschied sich das echte Orakel vom englischen Präjudiz.“
29
Unten, S. 459.
Entscheidend für den Weg aus dem Zaubergarten einer magischen Rechtskultur in die Richtung rationalen Rechts ist also, den im § 3 der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ ausgeführten Darlegungen Webers zufolge, die Abstreifung von Magie, eine elementare Rationalisierung durch Diskurs und das Brechen der Tradition in charismatischer Rechtsfindung und Rechtsschöpfung bis zur Verwandlung des Rechtspropheten und Rechtspriesters in einen auf das Recht spezialisierten Fachkundigen. So ist Webers resümierende Feststellung eindeutig: „Ein formell irgendwie entwickeltes ,Recht‘ dagegen, als Complex bewußter Entscheidungsmaximen, hat es ohne die maßgebende Mitwirkung geschulter Rechtskundiger nie und nirgends gegeben.“
30
Unten, S. 474 [Hervorhebung. Hg.].
Die Bahnen, in denen sich die Rationalisierung des Rechts fortbewegt, hängt Webers Hypothese über die Bedeutung der „innerjuristischen [79]Verhältnisse“ für die Rechtsentwicklung von der inneren Ordnung der rechtlichen Sphäre ab, und das heißt neben den Eigengesetzlichkeiten juristischer Dogmatikbildung: von den jeweiligen Trägern der rechtlichen Rationalisierung.

VIII. Träger der rechtlichen Rationalisierung

Werden unter dem Begriff des Charismas eine Fülle von rechtshistorisch und rechtskulturell variierenden Phänomenen zusammengefaßt und somit als eine theoretische Stufe der Rechtsentwicklung konstruiert, anstelle einer rechtsereignisorientierten Verknüpfung historischer Kausalketten der Genese einzelner Rechtsinstitute und Rechtsschemata, so wird unter dem Blickwinkel der Trägerschaft des Rechtsdenkens als Motor der juridischen Rationalisierung der Bogen von den germanischen Rechten, dem französischen, dem englischen bis zurück zum römischen Recht geschlagen. Erst der strukturell-historische Vergleich vermag die Bedingungen der Rechtsentwicklung herauszupräparieren, ohne die eine Rationalisierung des Rechts – nach Webers Analyse – nicht stattfinden kann.
Dabei ist die soziologische Denkfigur der Trägerschichten gerade im Kontext der Soziologie des Rationalismus weit entwickelt: Sie sind Träger von Interessenkonstellationen, die auf den religiösen Inhalt ausstrahlen – so in Webers systematischer Religionssoziologie oder in der „Einleitung“ in die „Wirtschaftethik der Weltreligionen“,
31
[79] Vgl. Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 218–290; Weber, Einleitung, S. 100 ff.
wo ein systematischer Zusammenhang behauptet wird derart, „daß die Art des in einer Religion als höchstes Gut erstrebten (diesseitigen) Seligkeits- oder Wiedergeburtszustandes offenbar notwendig verschieden sein mußte je nach dem Charakter der Schicht, welche der wichtigste Träger der betreffenden Religiosität war.“
32
Weber, Einleitung, MWG I/19, S. 100.
Hiernach sind in ihrer je typischen Wirkung auf den Ideengehalt der Religiosität zu unterscheiden: „Kriegerische Ritterklassen, Bauern, Gewerbetreibende, literarisch geschulte Intellektuelle“, die „darin naturgemäß verschiedene Tendenzen [hatten], welche zwar für sich allein – wie sich zeigen wird – weit davon entfernt waren, eindeutig den psychologischen Charakter der Religionen zu determinieren, ihn aber höchst nachhaltig beeinflußten“.
33
Ebd., S. 100 f.
Webers berühmte Formel der dialektischen Beziehung von Ideen und Interessen ist auf diesen Zusammenhang von durch Trägerschichten bedingten Interessen und den hiermit verwandten Ideen bezogen: „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ,Welt[80]bilder‘, welche durch ,Ideen“ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.“
34
[80] Ebd., S. 101.
Hätte Weber eine ähnliche Affinität von Klassenlagen, Trägerschichten und den Wegen rechtlicher Ordnungsbildung behauptet, dann wären die Grenzen zu einer marxistischen Rechtslehre, in der das Recht entweder als juristische Illusion oder als Ausdruck spezifischer Interessen der bürgerlichen Gesellschaft erscheint, nachhaltig verwischt worden. Ein Fundierungszusammenhang zwischen Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung war ja infolge der verfehlten „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung bei Stammler von Weber auf dem Soziologentag und in den einschlägigen Passagen von „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ nachdrücklich kritisiert worden, wie wir gesehen haben.
35
Vgl. die Einleitung, oben, S. 34 ff.
Auch ein Zusammenhang von Trägerschicht und „Culturinhalten“, wie sie Weber in der „Musiksoziologie“ entfaltet hat
36
Vgl. die Einleitung von Christoph Braun und Ludwig Finscher zur Musiksoziologie Max Webers, MWG I/14, S. 104–119.
und zu den „spezifischen Bedingungen der okzidentalen Musikentwicklung“ zählt, nämlich zum Mönchtum einerseits und zu den kulturellen Trägerschichten, insbesondere den „eigenen bürgerlichen Klassen“
37
„Ich bin ein Mitglied der bürgerlichen Klassen, fühle mich als solches und bin erzogen in ihren Anschauungen und Idealen.“ Weber, Max, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Akademische Antrittsrede, in: MWG I/4, S. 543–574, hier S. 568.
andererseits, ein derartiger Zusammenhang scheidet für die Analyse der spezifischen Bedingungen der Entwicklung rationalen Rechts aus, weil als Träger der rechtlichen Entwicklung erst in zweiter Linie Bezüge zur Klassenstruktur und ständischen Ordnung einer Gesellschaft in Betracht kommen. Allein die Interessen der Trägergruppen, die für die Entwicklung des Rechts in einer Gesellschaft „zuständig“ sind, weichen je nach der Art der Organisation der Vermittlung und Weiterentwicklung rechtlichen Wissens in charakteristischer Weise voneinander ab: So sind Anwaltsschulung und Universitätsbildung unterschiedliche Träger einer Rechtsentwicklung, aus deren Einfluß sich unterschiedliche Tendenzen rechtlicher Rationalisierung ableiten lassen. So muß also trotz der vielfach beobachteten Parallelen zwischen der Logik der „Religionssoziologie“ und der „Rechtssoziologie“
38
Vgl. insbes. Treiber, Hubert, „Wahlverwandtschaften“ zwischen Webers Religions- und Rechtssoziologie, in: Breuer, Stefan und Treiber, Hubert (Hg.), Zur Rechtssoziologie Max Webers (Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung, Band 65). – Opladen: Westdeutscher Verlag 1984, S. 6–68 (hinfort: Treiber, Wahlverwandtschaften).
beachtet werden, daß es ein irgendwie zur Theodizeefrage paralleles Problem, an dem sich unterschiedliche Trägergruppen jeweils abarbeiten würden, in der rechtlichen Sphäre, auch als „Soziodizee“ [[bezeichnet]], nicht gibt. Sondern es geht Weber ausschließlich um die Frage, welche Komponenten des [81]Rationalitätssyndroms im Recht, also die Merkmale der Generalisierung/Konkretisierung, der Analytik/Systematisierung, typischerweise aus dem Umkreis der von Weber idealtypisch differenzierten Orte und Träger der Rechtsentwicklung am ehesten bedient werden: die handwerksmäßige Spezialisierung, die Universität als Ort der Entwicklung und Vermittlung des Rechts, die theokratischen Rechtsschulen oder die Honoratiorenjustiz. Für alle Typen hat Weber rechtshistorische Beispiele vor Augen, die zu einer strukturellen Typologie ihrer unterschiedlichen Nähe zum Ideal des formal rationalen Rechts differenziert werden.

1. Der Jurist als Handwerker: Anwaltsschulung und juridischer Rationalismus

Die Eigentümlichkeiten des englischen Rechts lassen sich aus der Eigenart des Standes erklären, der die Rechtspflege verwaltet. Was der Freirechtsschule als Ideal des Richterkönigtums erscheint
39
[81] Von Hermann Kantorowicz alias Flavius, Kampf (wie oben, S. 17, Anm. 76), S. 42, zu einer „Kultur des Richtertums“, anstelle einer „Rechtskultur“, erhöht (vgl. ebd., S. 48).
und Eugen Ehrlich als „Glücksfall“ des englischen Rechts bezeichnet, daß es sich seit dem frühen Mittelalter dem römischen Recht verschlossen hat,
40
Ehrlich, Grundlegung, S. 218.
ist für Weber gerade der Grund seines, dem kontinentalen Recht gegenüber minderwertigen Rationalitätsstatus. Webers Gewährsleute zum englischen Recht, das er nicht aus eigener Anschauung kennt, – vor allem Julius Hatschek und Frederic William Maitland, Frederick Pollock und Ernst Heymann
41
Vgl. hierzu Text und Sachkommentar zu den §§ 4 und 8 der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“, unten, S. 476 ff., S. 615 ff.
– liefern die gedanklichen Bausteine zu einem eigenen Bild des englischen Rechts, das seine strukturellen „Defizite“ auf der organisationsförmigen Ebene des Rechts offenbart: „Schon die handwerksmäßige Spezialisierung der Anwälte hinderte den systematischen Überblick über die Gesammtheit des Rechtsstoffes[.]
42
Unten, S. 480.
Erst recht mit der Monopolisierung des Rechtsunterrichts in den englischen Anwaltsinnungen, den „Inns of court“,
43
Vgl. Webers Darstellung, unten, S. 478 f., wo auch das Verhältnis zu den Universitäten und die zünftige Organisation erläutert wird.
in Auseinandersetzung mit und schließlich unter Ausschaltung der universitären Lehre wird ein zünftiger, durch ein „Noviziat“ initiierter „esprit de corps“ herangezüchtet, der vor allem die eigenen Interessen des Rechtspersonals im Auge hat und dabei rein „empirisch praktisch“ ausgerichtet ist. Diese Praxis ist aber an handfesten, greifbaren, an typisch wiederkehrenden, Einzelbedürfnisse erfassenden Tat[82]beständen und nicht an systematischer Rechtsbildung ausgerichtet: „Nicht aber waren sie [die verwendeten Rechtsbegriffe, Hg.] Allgemeinbegriffe, welche durch Abstraktion vom Anschaulichen, durch logische Sinndeutung, durch Generalisierung und Subsumtion gebildet und syllogistisch als Normen angewendet wurden.“
44
[82] Unten, S. 481.
Das Rechtsdenken schließt – so Weber – vom Einzelnen auf das Einzelne und nicht auf das Allgemeine. Und so ist Webers Antwort auf die Frage, inwieweit eine zunftmäßige Organisation des Rechts Chancen der Rationalisierung befördert, für das Gesamtbild des englischen Rechts vernichtend: „Aus den ihr immanenten Entwicklungsmotiven geht ein rational systematisiertes Recht nicht hervor. Auch nur in begrenztem Sinn eine Rationalisierung des Rechts überhaupt.“
45
Unten, S. 480 f.
Die in Webers Augen bestehenden Defizite des anschaulichen, nicht an generellen Tatbestandsmerkmalen, sondern an feste Klageschemata, die „writs“, anknüpfenden juristischen Denkformen
46
Vgl. auch hierzu die anschaulichen Beschreibungen bei Ehrlich, Grundlegung, S. 220 ff.
waren zudem durch Sportelinteressen der Anwaltschaft an zünftiger „Schließung“ der Rechtskenntnisse bedingt.
47
Ehrlich betont überdies die eigenen Sportelinteressen der Richter (vgl. ebd., S. 222).
Und weil sich der Richterstand bekanntlich aus den Reihen der plädierenden Anwälte,
48
Zur Entwicklung der Differenz von soliciter und barrister vgl. unten, S. 479 f., sowie die entsprechende Sacherläuterung.
den Barrister, rekrutiert, wurde diese partikulare Bindung – in Webers Deutung – durch keine systembildende Gegenkraft konterkariert. Überdies verschafft die „Unabhängigkeit“ nicht nur des Richters, sondern auch des Barrister von der Klientel, mit der er überhaupt nur über den dazwischengeschalteten Sollicitor verkehrt, eine weitere strukturelle Barriere für den Zugang zum Recht, die also auch der Rechtsgemeinschaft einen systematisierenden Einfluß abschneidet. Der Traditionalismus des „Betriebspraktikers“ wie die Eigeninteressen der Anwaltschaft standen Weber zufolge einer systematischen Rationalisierung des Rechts entgegen. Nur hätte diese Eigengesetzlichkeit sozialer Interessen sich ja auch auf dem Kontinent entfalten und eine Rationalisierung des Rechts verhindern können. Eine zünftige Rechtsentwicklung war hier jedoch einfach deshalb ausgeschlossen, weil aufgrund der Dezentralisation der Rechtspflege eine machtvolle, die gesamte Rechtsordnung erfassende Zunft gar nicht erst entstehen konnte.

[83]2. Die Universität ais Ort der Entwicklung und Vermittlung rationalen Rechts

Nur kurz streift Weber die Universität als Ort der Entwicklung und Vermittlung rationalen Rechts, bei der Weber offensichtlich die Situation im Deutschen Kaiserreich vor Augen hat: Die Universität besitzt das Monopol der Rechtslehre, während die Praxis durch Lehrjahre im Referendariat und den abschließenden Befähigungsnachweis zum Richteramt erworben wird. Webers akademischer Lehrer Levin Goldschmidt hatte sich in einer rechtshistorischen Arbeit zur preußischen und deutschen Rechtsgeschichte mit Rechtsstudium und Prüfungsordnung systematisch befaßt.
49
[83] Goldschmidt, Levin, Rechtsstudium und Prüfungsordnung. Ein Beitrag zur preußischen und deutschen Rechtsgeschichte. – Stuttgart: Ferdinand Enke 1887.
Dabei waren, wie wir gesehen hatten, Weber selbst die Ambivalenzen und die Doppelmoral der juristischen Ausbildung aus eigener Anschauung durchaus vertraut. Bis heute stellt nämlich das Repetitorwesen das idealtypische Bild einer rein auf systematische Jurisprudenz zielenden Universitätslehre
50
Zur Schwierigkeit der Jurisprudenz als Unterrichtsgegenstand vgl. aus der zeitgenössischen Reformdebatte u. a. Zitelmann, Ernst, Die Vorbildung der Juristen. – Leipzig: Duncker & Humblot 1909.
in Frage, zumal die Vermittlung des Examenswissens durch Rechtspraktiker in den Repetitorien gerade einer Fallmethode verpflichtet ist, die eine Vermittlung der abstrakten Rechtslehre mit den Bedürfnissen der Praxis herzustellen bemüht ist, von spezifischen „Sportelinteressen“ einmal abgesehen.
In Webers Bild der „modernen rationalen juristischen Universitätsbildung“ stellt aber das deutsche Modell der Juristenausbildung den Gegentyp zur zünftigen Vermittlung im englischen Recht dar. Ihr ist die Tendenz zur Abstraktion, Systematisierung und logischen Sinndeutung eigen, die freilich eine andere Art der „Irrationalität“ in sich birgt: „Ihr rational-systematischer Charakter kann das Rechtsdenken zu einer weitgehenden Emanzipation von den Alltagsbedürfnissen der Rechtsinteressenten führen und auch der geringe Anschaulichkeitsgehalt.“
51
Unten, S. 485.
Dieser Effekt wird jedoch ausgeglichen, wenn die Schulung des Rechtsdenkens „mit der empirischen Rechtslehre kombiniert
52
Ebd. [Hervorhebung, Hg.].
wird, was die Deutung nochmals bestätigt, daß Webers Idealbild des rationalen Rechts nicht durch die einseitige Steigerung von Systematik oder Analytik, Konkretion oder Generalisierung, sondern eben durch die Kombination der verschiedenen Aspekte rationalen Rechts bestimmt wird. Wenn die Kontrolle durch die Interessenten entfällt, wird das von Weber eindeutig perhorreszierte Potential der falsch verstandenen Rationalisierung freigesetzt: „Die Gewalt der entfesselten rein logischen Bedürfnisse der Rechtslehre und der [84]durch sie beherrschten Rechtspraxis kann die Konsequenz haben, daß Interessentenbedürfnisse als treibende Kraft für die Gestaltung des Rechts weitgehend gradezu ausgeschaltet werden.“
53
[84] Unten, S. 485.
Wenn Weber als Beispiel für den Unsinn „logischer Konsequenzmacherei“ die Schwierigkeiten benennt, den Satz „Kauf bricht Miete (Pacht)“, wie er den Wohn- und Machtverhältnissen der spätrömischen Republik entsprach, im Bürgerlichen Gesetzbuch im Falle des Eigentümerwechsels zum Schutz des Mieters in sein Gegenteil zu verkehren als: „Kauf bricht nicht Miete“ (§ 571 BGB),
54
Ebd. mit Anm. 22. – Zur Genese des Bürgerlichen Gesetzbuches, insbes. des signifikanten Allgemeinen Teils, vgl. Schmoeckel, Mathias, Der Allgemeine Teil in der Ordnung des BGB, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Band 1, hg. von Mathias Schmoeckel, Joachim Rückert und Reinhart Zimmermann. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 2003, S. 123–165.
so wird man Weber nicht für die Irrationalitäten einer Begriffsjurisprudenz haftbar machen können, die Begriffslogik über Sach- und Interessenadäquanz stellt.

3. Priesterschulen als Ort der Rechtsentwicklung

Neben der zünftigen, durch Anwälte monopolisierten empirischen Rechtslehre und der universitären Rechtslehre analysiert Weber die Priesterschulen als Träger der rechtlichen Rationalisierung. Diese Verortung der Rechtsentwicklung kann durchaus zu einem gelehrten Umgang mit Rechtsproblemen führen, der freilich eher in eine „Gelehrtenkasuistik“ als in eine systematische Durchdringung des Rechtsstoffes mündet. Ebenso wie in der systematischen Religionssoziologie Konfigurationen der Bildung religiöser Gemeinschaften analysiert werden, die unabhängig von den Religionsinhalten aus der Eigendynamik ihrer sozialen Verfassung und ihrer Protagonisten hervorgehen, wird auch den Priesterschulen eine spezifische Interessenlage für den Prozeß juridischer Rationalisierung zugeschrieben.
Der Effekt ist nämlich nach Weber ganz unabhängig vom Inhalt der jeweiligen religiösen Ethik.
55
Weber leitet also keineswegs die Entwicklung des rationalen Rechts schlichtweg aus dem Charakter der religiösen Ethik ab. Gleichwohl kommt der „Eigengesetzlichkeit“ der religiösen Entwicklung eine eigene Rolle im Prozeß der rechtlichen Rationalisierung zu.
Das islamische Recht, das hinduistische Recht und die talmudische Jurisprudenz sind insoweit vergleichbar. Nicht das spezifische in den Religionen artikulierte Weltverhältnis, sondern die Organisationsstruktur des rechtlichen Wissens begünstigt Charakteristika des Rechts, die nicht in die Richtung des okzidentalen, formal rationalen Rechts weisen. Je stärker nämlich der Lehr- und Schulcharakter ausgeprägt ist, umso lebensferner entwickeln sich die Ansätze ihrer Systematik: „Die hinduistische Rechtsgelehrsamkeit war daher sehr stark rein schulmäßig-theoretisch und [85]systematisierend, in den Händen von Philosophen und Theoretikern liegend und trug die typischen Züge eines sacral gebundenen theoretischen und systematischen[,] aber sehr wenig an der Hand der Praxis sich entwickelnden Rechtsdenkens in besonders hohem Grad an sich […].“
56
[85] Unten, S. 490.
So wird zwar das Merkmal der Systembildung bedient und die Art der priesterlichen Systematisierung konnte dabei durchaus weiter gehen als das in Rechtsbüchern, etwa dem „Sachsenspiegel“, aufgezeichnete Recht. Ihre Grenzen ergeben sich jedoch aus der Bindung an die Anforderungen der jeweiligen religiösen Sphäre: „Aber die Systematik ist keine juristische, sondern eine solche nach Ständen oder nach praktischen Lebensproblemen. Denn diese Rechtsbücher sind[,] da ihnen das Recht im Dienst heiliger Zwecke steht[,] Kompendien nicht nur des Rechts, sondern zugleich auch des Rituals, der Ethik und unter Umständen der gesellschaftlichen Konvention und Höflichkeitslehre.“
57
Unten, S. 491.
Damit aber gerät nicht die Eigengesetzlichkeit der juristischen Dogmatik in Schwung, sondern die Herrschaft religiöser Dogmatik dehnt sich auf ihr fremde Gebiete und Sphären aus. Anders formuliert wird auch hier die Grundvoraussetzung von Rationalisierungsprozessen verletzt, die Ausdifferenzierung des Trägerpersonals aus sphärenfremden Logiken und Sachzusammenhängen.
Während die zünftig regulierte empirische Rechtslehre ihren partikularen Eigeninteressen zu Lasten systematischer Rechtsbildung verhaftet bleibt, die Universitätslehre durchaus systematischen Bedürfnissen der Intellektuellen Rechnung trägt, was unter Umständen zu Lasten der Praxisnähe geht, wird in den Priesterschulen sowohl Systematik wie Kasuistik gepflegt, nur an einem für die Rationalisierung des Rechts sozusagen falschen Objekt, nämlich dem Priesterbetrieb. Insofern gehört nach Weber eben die Abschichtung der rechtlichen Sphäre aus religiösen Zusammenhängen, d. h. ihre Ausdifferenzierung, zu den Bedingungen der Entwicklung rationalen Rechts als Entfaltung ihrer Eigengesetzlichkeit. Umgekehrt sind nach Weber Rationalisierungshemmnisse bei einer Verquickung von Recht und Religion vorprogrammiert.

4. Honoratioren als Träger der Rechtsentwicklung

Eine Trägerschicht von „Honoratioren“ ist durch ihre spezifische Interessenlage gekennzeichnet. Rechtshonoratioren waren solche, „welche zu der Praxis des Rechtsbetriebs Beziehungen beruflicher, aber nicht in der Art wie die englischen Anwälte spezifisch zünftiger und erwerbsberuflicher Art hatten. Eine solche spezifisch mit der Rechtspraxis befaßte Honoratiorenschicht ist [86]im Ganzen nur dann möglich, wenn einerseits der Rechtsbetrieb von sakraler Beherrschung frei ist, andrerseits der Umfang der beruflichen Belastung noch nicht das durch städtische Verkehrsbedürfnisse bedingte Maß erreicht hat“.
58
[86] Unten, S. 491 f.
Die Trägerschichten der Rechtshonoratioren sind also dort wirksam, wo der priesterlich-sakrale Einfluß zurückgeht und die Rechtspraxis noch nicht eine Massennachfrage zu bedienen hat. Aber unterliegen auch sie, wenn sie Träger der Rechtsentwicklung sind, ebensolchen Rationalitätsschranken, wie die zünftig anwaltliche Rechtspraxis, das Recht der gebildeten Universitätslehre oder das Kompendienrecht der Priesterschulen?
Es war verbreitete Auffassung, einen Gutteil der Rezeption des römischen Rechts den italienischen Notaren zuzuschreiben,
59
Vgl. unten, S. 492 f.
die „schnell ein rationales Recht“ für wachsende Verkehrsbedürfnisse zur Hand haben wollten, ohne in Widerspruch zur Universitätslehre zu geraten, aber auch ohne eigene Motive, ein zünftig vermitteltes nationales Recht zu entwickeln, weil dies aus politischen Gründen fernlag. So wurde von den Rechtshonoratioren ein entscheidender Beitrag zur Rezeption eines „Weltrechts“ geschaffen, das seine Fernwirkung erst in vollem Umfang entfaltete, als das „Weltreich“ längst untergegangen war.
Wo die Grenzen der Rationalisierungsfähigkeit dieser Trägerschicht liegen, läßt sich am mittelalterlichen Rechtsbücherrecht zeigen, das Weber vergleichend hinzuzieht, hier sind es nicht – oder weniger – städtische Verkehrsbedürfnisse als vielmehr ländlich-grundherrliche Rechtsbeziehungen, die den Charakter des von Schöffen oder Beamten geprägten Rechts bestimmten. Die in „Rechtsbüchern“ aufgeführten „Traditionen“ konnten sich allerdings gegenüber der Universitätslehre nicht behaupten. So waren diese Aufzeichnungen einer „Honoratiorenjustiz“ zwar durchaus entwickelt, aber ohne spezifische juristische ratio: „Formal war das empirische Rechtsbücherrecht des Mittelalters ziemlich entwickelt, systematisch und kasuistisch aber von geringer Rationalität, wenig an abstrakter Sinndeutung und Rechtslogik und statt dessen stark an anschaulichen Unterscheidungsmitteln orientiert.“
60
Unten, S. 495.
Wiederum anders war die Bedeutung der Rechtshonoratioren im antiken römischen Recht. Gelingt es dabei, einen Zusammenhang zwischen Trägerschicht und der Eigenart des römischen Rechts plausibel zu machen? Im Unterschied zu der von Weber so qualifizierten „Kadijustiz“ der attischen Volksgerichte brachte die amtliche Prozeßleitung in der römischen Republik ein hohes Maß eigengesetzlicher Rationalität ins Spiel. Trotz zahlreicher Parallelen zum englischen Recht fehlte der zünftig geschlossene Anwaltsstand, so daß das Schema der Prozeßinstruktionen die Entwicklung von Rechtsbegriffen förderte, unter die eine Partei ihre Klagebegehren zu fassen hatte. [87]Insoweit lag die Rechtsentwicklung in den Händen der „Kautelarjurisprudenz“, „d. h. also der Tätigkeit von Rechtskonsulenten, welche die Vertragsschemata für die Parteien entwarfen, ebenso aber die Magistrate im ,consilium‘, dessen Zuziehung für jeden römischen Beamten typisch war, als Sachverständige bei der Herstellung ihrer Edikte und Klageschemata […] berieten“.
61
[87] Unten, S. 497.
Hieraus resultiert der spezifische, bei Ihering bereits charakterisierte „Geist des römischen Rechts“, nämlich sein analytischer Charakter, d. h.: „die Zersetzung der plastischen Thatbestandskomplexe des Alltagslebens in lauter juristisch eindeutig qualifizierte Elementarakte“.
62
Unten, S. 499 mit Anm. 52 und 53.
Gegenüber der Begriffsbildung im englischen Recht dominiert die Suche nach juristisch adäquaten Lösungen, die abstrakte Rechtsbegriffe hervorbringt, auch wenn etwa der vermeintlich römisch-rechtliche Eigentumsbegriff ins Reich der Legende verwiesen wird.
Ohnehin ist Webers Einschätzung dadurch geprägt, den Mythos des vollkommenen römischen Rechts zu dekonstruieren. Damit befand er sich damals schon durchaus in bester Gesellschaft; Ludwig Mitteis etwa vermerkt in seiner Darstellung des „Römischen Privatrechts“ kritisch: „Die älteren Werke sind überholt und muten in ihrem orthodoxen Echtheitsglauben fast befremdend an […].“
63
Mitteis, Römisches Privatrecht, S. VIII; Fögen, Römische Rechtsgeschichten (wie oben, S. 70, Anm. 91), geht darüber einen Schritt hinaus, indem sie die Rechtsgeschichten des alten Rom als „Konstruktionen“ entlarvt.
Einen ähnlichen „Echtheitsglauben“ hatte Weber vor Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches am Mythos eines „deutschen“ Rechts kritisiert.
64
Vgl. hierzu den aufschlußreichen Zeitungsartikel Max Webers über „,Römisches‘ und ,deutsches‘ Recht“ [1895], in: MWG I/4, S. 524–534.
Gerade die Merkmale, die Weber einem vollständig rationalisierten Recht zuschreibt, Abstraktion und insbesondere Systematik, sind jedenfalls dem frühen römischen Recht abzusprechen. Am Einfluß einer durch Priesterschulen bewirkten Systematisierung fehlt es, weil die Priesterschaft trotz ihrer formal bedeutenden Stellung politisch machtlos war.
65
Die Sonderstellung der römischen „Priester-Juristen“ wird gleichwohl auch bei Mario Bretone betont; vgl. ders., Geschichte des Römischen Rechts. Von den Anfängen bis zu Justinian. – München: Beck 1992, S. 83, unter Bezug auf Webers Analysen.
Trotz sakralrechtlicher Grundlage, vor deren Überschätzung Mitteis warnt,
66
Vgl. Mitteis, Römisches Privatrecht, S. 22–30.
ist nach Weber die Beziehung zwischen Recht und Religion in Rom eher so gestaltet, daß die religiösen Dinge juristischer Behandlung unterliegen und nicht umgekehrt: „Die materiale Säcularisierung des römischen Lebens und die politische Machtlosigkeit der Priesterschaft züchteten in dieser ein Mittel zu einer rein formalistischen und juristischen Behandlung religiöser Dinge[.]
67
Unten, S. 498.
[88]Diese konnten ihrerseits, wie Demelius in einer faszinierenden Studie gezeigt hatte, die Grundlage abgeben für eine so zentrale Denkfigur, wie die „Rechtsfiktion“, welche aus dem Satz „in sacris simulata pro veris accipiuntur“ hergeleitet wird und von der Opferfiktion, dem Substitut des Menschen- oder Tieropfers durch ein stellvertretendes Zeichen, bis zur Prozeßfiktion reicht,
68
[88] Vgl. Demelius, Rechtsfiktion, S. 12.
auch wenn Demelius sich gegen eine totalisierende Theorie vom fiktionalen Aufbau der juridischen Welt ausspricht.
69
Vgl. ebd., S. 94.
Impulse einer Systematisierung gingen vielmehr von den politischen Gewalten aus, in der Kaiserzeit und unter dem Einfluß der byzantinischen Bürokratie. Freilich ging dies wiederum auf Kosten der rechtslogischen Strenge, während die Rechtskonsulentenliteratur nicht aus Konkurrenz gegenüber einem systematischen Universitätsrecht entstand, sondern in Verbindung mit einem gelehrten Recht der Praxis stand. Von dort her sind wiederum die Chancen der juristischen Abstraktionsleistungen durch die Bedürfnisse der Praxis bestimmt. Rechtstheoretisch hoch abstrakte Begriffe, wie das „Rechtsgeschäft“, der „Anspruch“, die „Verfügung“, fehlen daher dem antiken römischen Recht, weil sie eher den Denkbedürfnissen der Universitätslehre entsprechen. Die Systematisierungsleistungen des römischen Rechts, insbesondere im Gesetzgebungswerk des oströmischen Kaisers Justinian I., schreibt Weber daher letztlich der Eigenart der Staatsentwicklung zu: „Der rein weltliche und zunehmend bürokratische spätrömische Staat war es, welcher aus den immerhin nur relativ rational systematisierten Produkten des höchst präzisen römischen Rechtsdenkens der Respondenten und ihrer Schüler jene in der Welt einzigartige Sammlung der ,Pandekten‘ auslas und systematisch durch eigene Rechtsschöpfungen ergänzte, die dann noch nach Jahrhunderten das Material für das Rechtsdenken der mittelalterlichen Universitätsbildung darbot[.]
70
Unten, S. 505.
Das systematische juristische Studium, wie es durch die kaiserliche Verwaltung als Folge ihrer „Rationalisierung und Bürokratisierung“ bedingt war, ging also über die Theoriebedürfnisse der republikanischen Rechtshonoratiorenschicht hinaus.
Weber unterscheidet somit innerhalb der römischen Rechtsentwicklung verschiedene Rationalitätsstufen, die nicht auf wirtschaftliche Sachverhalte zurückzuführen sind – obwohl der städtische Charakter des Rechtsstoffes vor allem privatrechtliche Entwicklungen begünstigte. Vielmehr sind es die Eigentümlichkeiten des rationalen Rechts, die durch die Trägerschicht der Rechtshonoratioren – dank den Anforderungen der Prozeßinstruktionen – in die Richtung analytischer Begriffsbildung lenken und unter dem Einfluß bürokratischer Rationalisierung einen zunehmend systematischen Charakter annehmen. Am Beispiel des römischen Rechts möchte Weber somit demonstrieren, daß die [89]jeweiligen Interessen einer Trägerschicht zwar für die Ausbildung bestimmter Dimensionen rationalen Rechts förderlich oder hinderlich sind, daß die Auswirkungen auf die Eigenarten des Rechtssystems aber nicht nur von diesen „innerjuristischen Verhältnissen“ abhängen, sondern dem Zusammenspiel mit den Eigengesetzlichkeiten anderer Sphären unterliegen, insbesondere dem Verhältnis zu den religiösen Mächten und ihren Ordnungen.

IX. Die religiösen Mächte, ihre Ordnungen und die Bezüge zur Analyse religiöser Gemeinschaften

Der Stellenwert der Religionen für Webers Grundrißprojekt kommt nirgends so deutlich zum Ausdruck wie in dem berühmten Sylvesterbrief aus dem Jahr 1913, der hier noch einmal in Erinnerung gerufen sei: „Da Bücher ja – ,Entwicklungsstufen‘ – ganz unzulänglich ist, habe ich eine geschlossene soziologische Theorie und Darstellung ausgearbeitet, welche alle großen Gemeinschaftsformen zur Wirtschaft in Beziehung setzt: von der Familie und Hausgemeinschaft zum ,Betrieb‘, zur Sippe, zur ethnischen Gemeinschaft, zur Religion (alle großen Religionen der Erde umfassend: Soziologie der Erlösungslehren und der religiösen Ethiken, – was Tröltsch gemacht hat, jetzt für alle Religionen, nur wesentlich knapper)[,] endlich eine umfassende soziologische Staats- und Herrschaftslehre.“
71
[89] Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 30. Dez. 1913, MWG II/8, S. 448–450, hier S. 449 f.
Diese Art der Formulierung legt den Eindruck nahe, als sei die „soziologische Staats- und Herrschafts-Lehre“, der nach dem Werkplan von 1914 auch das Rechtsmanuskript zuzurechnen ist,
72
Vgl. die Einleitung, oben, S. 56, sowie den Editorischen Bericht zu „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“, unten, S. 249 ff.
von den übrigen Sphären, insbesondere auch von den Religionen abgekoppelt. Das Gegenteil ist der Fall. Schon der Einschlagbogen, in dem sich das Rechtsmanuskript im Nachlaß befand, ist beredt: Er enthält, neben einer Notiz Marianne Webers, in der Mitte die Aufschrift von Max Webers Hand: „IV // Ethik // Tabu“ und dürfte also ursprünglich das religionssoziologische Manuskript seines Grundrißbeitrags, oder einen Teil davon, enthalten haben.
73
Vgl. hierzu ausführlicher den Editorischen Gesamtbericht, unten, S. 135 ff.
In Webers Bild der okzidentalen Moderne spielt die religiöse Ethik bekanntlich eine herausragende Rolle. Gilt dies aber auch für die Entwicklung des okzidentalen Rechts, dessen einzigartigen, formal rationalen Charakter Weber in der gewandelten Kompositionsidee seines Rechtsmanuskripts ständig herauskehrt?
74
Die Arbeit von Treiber, Wahlverwandtschaften (wie oben, S. 80, Anm. 38), bleibt u.E. zu sehr auf strukturelle Parallelen zwischen Rechts- und Religionssoziologie fixiert.
Ist die religiöse Ethik unter den die Entwicklung rationalen Rechts [90]bedingenden „außerjuristischen Verhältnissen“ gar das entscheidende Moment? Von Webers umfassendster Formel zu den Ursprüngen des okzidentalen Rationalismus aus betrachtet, nämlich von der Frage „[…] welche Sphären und in welcher Richtung sie rationalisiert wurden“,
75
[90] Weber, Vorbemerkung, S. 12.
bleibt offen, inwieweit religiöse Faktoren die Weichen in Richtung der rechtlichen „Rationalität“ mitgestellt oder auch verstellt haben. In „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“ schreitet Weber über Indien und China zum Islam fort, um antikes Judentum und Christentum hieran anzuschließen, eine Reihenfolge, die keiner Wertehierarchie entsprechen soll, die aber gleichwohl eine immer wiederkehrende feste Abfolge darstellt.
76
Vgl. hierzu ebd., S. 1 f.
Doch zunächst bildet die Vermischung und Trennung von „fas“ und „jus“ im römischen Recht das rationale Gegenmodell.

1. Sakrales und Profanes im römischen Recht

In der sog. systematischen Religionssoziologie
77
Die Überschrift „Religionssoziologie (Typen religiöser Vergemeinschaftung)“ ist eher „untypisch“ für Weber, der gewiß keine Regionalsoziologien propagieren wollte; vgl. Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2.
führt Weber – mit Blick auf „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“ – als einen der maßgeblichen Gründe für den fundamentalen Unterschied asiatischer und okzidentaler Erlösungsreligiosität gerade die Eigenart des römischen Rechts auf: „Von praktischen Momenten kommt in Betracht“ – so Weber –, „daß, aus noch zu erörternden Gründen“, womit er auf den Rechtstext verweist, „der römische Okzident allein auf der gesamten Erde ein rationales Recht entwickelt hatte und behielt.“
78
Ebd., S. 335.
Hier also wird das Recht zu den außerreligiösen Verhältnissen gezählt, die den „fundamentalen Unterschied“ asiatischer und okzidentaler Kulturen begründen. So wirkt die Rechtsvorstellung – wiederum aus Sicht der religiösen Sphärenentwicklung betrachtet – auf den Charakter der Beziehung zu Gott ein: „Die Beziehung zu Gott wurde in spezifischem Maß eine Art von rechtlich definierbarem Untertanenverhältnis, die Frage der Erlösung entschied sich in einer Art von Rechtsverfahren […].“
79
Ebd.
Wenn aber die Beziehung des Menschen zu Gott als ein „Rechtsverhältnis“ begriffen wird, bedarf dann die Sündenhaftigkeit und Verderbtheit der menschlichen Handlungen nicht einer entsprechenden „Rechtfertigung“? So ließe sich in der juristischen Konstruktionslogik, insbesondere im Kontext einer protestantischen Rechtfertigungslehre, weiter argumentieren. In dem [91]Rechtstext geht es um die spiegelbildliche Frage, inwieweit das religiös begründete Weltverhältnis, dessen „Form“ im Okzident in juridischen Kategorien als „Rechtsverhältnis“ gedacht ist, auf die Bedingungskonstellation der Entwicklung rationalen Rechts selbst einwirkt, die religiöse Sphäre also mitbestimmt, „welche Art und welche Richtung“ vom juridischen Rationalismus eingenommen wird.
Wir hatten bei der Analyse unterschiedlicher Träger der Rationalisierung gesehen, daß in Rom nicht Priesterschulen, sondern eine weltliche Honoratiorenschicht das rationale Recht als ein säkularisiertes „ius“ beförderten, obwohl die rituellen Pflichten einen ungeheuren Raum im römischen Leben einnahmen. In „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“, worin Weber ja sogar eine juristische Überformung des religiösen Alltags im Sinne einer „rein formalistischen und juristischen Behandlung religiöser Dinge“
80
[91] Unten, S. 498.
annimmt, ist dies das Ergebnis der „Unterwerfung der priesterlichen unter die profane Gewalt“.
81
Unten, S. 522, wobei wiederum auf die „Religionssoziologie“ verwiesen wird, in der die „Eigentümlichkeiten der römischen Götterwelt“ behandelt sind und wo sich umgekehrt der Verweis auf die „Rechtssoziologie“ findet.
Der Konflikt von „Recht“ und „Religion“ ist hier also politisch, nach dem Machtverhältnis theokratischer und profaner Gewalten entschieden.

2. Rechtspartikularismus in Indien

Aus den knappen Bemerkungen im § 5 des Manuskripts der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“, die wir zeitlich überwiegend in das Jahr 1913 verlegen,
82
Vgl. dazu den Editorischen Bericht zu „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“, unten, S. 263 ff.
ergibt sich für das indische Recht ein gleichwohl stimmiges Bild.
In Indien ist das Verhältnis von Recht und Religion gerade umgekehrt: Die herrschende Priesterschaft, die Brahmanen, reglementiert das gesamte Leben ritualistisch, während die profane Rechtsbildung auf die Entwicklung von Partikularrechten der einzelnen Berufsstände begrenzt ist. Weil diese Rechtsgebiete aber nicht einer Priesterlehre oder irgendeiner, in Indien so hoch entwickelten intellektuellen Durchdringung unterlagen, fehlten Ansätze einer rechtlichen Rationalisierung weitgehend.
83
Vgl. unten, S. 523–525.
Der Rechtsgang weist kaum rationale Züge auf. Angesichts der partikularen autonomen normativen Ordnungen ist die Bedeutung privater Schiedsgerichte hoch. Was für Weber die vielfach belegte Faszination Indiens ausmachte, der „Zaubergarten“ als Experimentierfeld der Religionen, sorgt für die ungebrochene Bedeutung [92]magischer Vorstellungen, etwa das eigentümliche Zwangsvollstreckungsmittel des Verhungerns des Gläubigers vor der Tür des Schuldners, um diesem den Fluch der Ahnengeister als magische Rechtsgarantie anzudrohen.
84
[92] Vgl. unten, S. 325 mit Anm. 41 und S. 524.
Nur in einer Seitenbemerkung findet sich der zeitgenössische Bezug zur „Kastenjustiz“, die als wirksamstes Sanktionsmittel den Ausschluß aus der Kaste kennt. Diese Konsequenz einer minderen Rationalität ergibt sich für Weber allein aus der bereits früher beschriebenen „Eigengesetzlichkeit“ der Trägerschichten.
In der systematischen Indienstudie,
85
Vgl. Weber, Hinduismus und Buddhismus, MWG I/20.
deren Erscheinen im Jafféschen Archiv im Kriegsjahr 1916 einsetzt und – wie aus der ersten Fußnote der „Einleitung“ von 1915 hervorgeht – Überlegungen wiedergibt, „wie sie zwei Jahre vorher niedergeschrieben und Freunden vorgelesen waren“,
86
Weber, Einleitung, MWG I/19, S. 83, Fn. 1.
also in die Zeit der Verfassung des Rechtstextes hineinreichen, kommen hingegen weitere, innerreligiöse Erklärungsmomente hinzu, die den entstehenden Polymorphismus der diversen Ethiken und das Fehlen eines universalistischen Rechts weiter verständlich machen. Die intellektuell geniale Lösung des Theodizeeproblems in der Karmalehre, eine höchst „rationale“ Lösung der spezifischen Problemstellung der religiösen Sphäre, hat nämlich höchst irrationale Konsequenzen für die übrigen Lebensbereiche: „Denn da nicht nur die Kastengliederung der Welt, sondern ebenso die Abstufung göttlicher, menschlicher, tierischer Wesen aller Rangstufen von der Karmalehre aus dem Prinzip der Vergeltung vorgetaner Werke abgeleitet wurde, so war für sie das Nebeneinanderbestehen von ständischen Ethiken, die untereinander nicht nur verschieden, sondern geradezu einander schroff widerstreitend waren, gar kein Problem. Es konnte – im Prinzip – ein Berufs-Dharma für Prostituierte, Räuber und Diebe ganz ebenso geben wie für Brahmanen und Könige.“
87
Weber, Hinduismus und Buddhismus, MWG I/20, S. 231.
Im Unterschied zum klassischen Konfuzianismus waren die Menschen eben nicht gleich, sondern sie hatten allenfalls gleiche Chancen, im Rad der Wiedergeburt einen besseren oder auch schlechteren Platz zu erlangen. Absolute „Sünden“ oder Normverstöße kann es gar nicht geben, sondern nur die Verletzung partikularer Ritualpflichten. Für die Entwicklung irgendeiner Art von übergeordneter normativer Ordnung – wie sie im Okzident vom Naturrecht entwickelt wurde – ist hier kein Raum.
88
Vgl. ebd., S. 234.
Weder „Rechte“ noch „Pflichten“, „Staat“, „Untertan“ oder „Staatsbürger“ sind in dieser religiösen Ethik denkbar, nur das ständische Dharma reguliert das – wie Weber es nennt – „hinduistische soziale System“.
89
So die Überschrift des ersten Kapitels der Indienstudie (ebd., S. 49). Der Begriff des [93]„sozialen Systems“ ist also bereits bei Max Weber zu finden, ohne daß er von grundlegender Bedeutung für die Webersche Begriffsbildung gewesen wäre.
Hieraus aber resultiert nach Weber, „daß der Stel[93]lung des Fürsten und der Politik in eigentümlich penetranter Art ihre Eigengesetzlichkeit gewahrt bleibt.“
90
Weber, Hinduismus und Buddhismus, MWG I/20, S. 233.
Dies aber führt nicht zur Entfaltung „rationaler“ Politik, sondern zum „nackten Macchiavellismus“.
91
Vgl. hierzu die Ausführungen von Noguchi, Masahiro, Kampf und Kultur: Max Webers Theorie der Politik aus der Sicht seiner Kultursoziologie. – Berlin: Duncker & Humblot 2005, bes. S. 51–57 (hinfort: Noguchi, Kampf und Kultur).
Am Beispiel Indiens macht Weber sichtbar, wie weit die Folgen einer religiösen Ethik reichen, der jede universalistische Tendenz fehlt. Es sind keine Impulse für die Ausbildung abstrakter ethischer und das heißt eben auch: juristischer Kategorien vorhanden. Die Politik ist in keinster Weise ethisch-rechtlich temperiert und die Ökonomie leidet gewiß nicht an mangelndem Gewinnstreben, aber im Vergleich mit der okzidentalen Entwicklung fehlt es am methodisch-rationalen Erwerbsstreben. Ohne einen rechtlich konstruierten und ethisch reglementierten „Staat“ ist aber auch die für das Wirtschaftsleben erforderliche Rechtsgarantie nur unvollkommen. Die in der Karmalehre religiös legitimierte und sozial-strukturell durch die Kastenordnung bedingte Dharma-Lehre bietet also keinerlei Anreize für eine rechtliche Rationalisierung des indischen Lebens. Ihre rechtskulturellen Grundlagen stellen, wo sie nicht überwunden sind, noch immer partikularistische Schranken dar. Daß bis heute das Problem des rechtlichen Universalismus die politische Landschaft Indiens prägt, Gandhis sanfte Revolution sich an der juristischen Frage der Eigentumsrechte an einem öffentlichen Gut, der Salzfrage, entzündete und sein parlamentarischer Gegenspieler Ambedkar sich die Rechtsfrage der rechtlosen Dalits auf die Fahnen geschrieben hatte
92
Vgl. Ambedkar, B. R., What Congress and Gandhi have Done to the Untouchables, 2nd ed. – Bombay: Thacker 1946.
und das Diskriminierungsverbot der indischen Verfassung noch immer seiner Durchsetzung harrt, zeigt das schwere Erbe des Rechtspartikularismus in Indien bis auf unsere Tage.

3. Die mangelnde Spannung von positivem Recht und Naturrecht in China

In China hingegen scheint die allein herrschende Schicht der Literatenbürokratie einer rechtlichen Rationalisierung eher günstig zu sein. Denn die Impulse zu einer Systematisierung des Rechtsstoffes gehen ja – der Theorie nach – gerade von einer bürokratischen Trägerschicht aus. Gleichwohl hat es [94]– wie Weber in „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“ bemerkt
1
[94] Vgl. unten, S. 525.
– eine rationalistische Tendenz im chinesischen Recht nicht gegeben. Dies lag nicht an einer religiösen Überformung der Rechtskultur – bekanntlich ist für Chinesen die Verbindung von Religion und Konfuzianismus gar nicht nachvollziehbar: „Die Irrationalitäten der Justiz aber sind dort patrimonial, nicht theokratisch bedingt.“ Aber auch die genuinen religiösen Mächte der taoistischen Chronomanten, Geomanten etc. kennen eigene Rechtsmagier nicht, damit auch keine Art von fachlicher Spezialisierung über magische Riten, die Ansatzpunkte für eine Rechtsrationalisierung geboten hätten.
Eine weiterführende Antwort auf die Rationalitätsferne des chinesischen Rechts findet sich – wie zum „indischen“ Recht – in den Studien zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“, und zwar in der Abhandlung über „Konfuzianismus und Taoismus“. Die dort entwickelte Grundfragestellung ist unzweideutig auch auf die Eigenart des Rechts bezogen: „Aber warum blieb diese Verwaltung und Justiz so […] irrational? – dies ist die entscheidende Frage.“
2
Weber, Max, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 283.
In seiner Anwort bestreitet Weber keineswegs, daß es einen eigenen, konfuzianischen Rationalismus gegeben habe. Nur habe dieser nicht zu einer Rationalisierung der Ordnungen dieser Welt durch aktive Gestaltung geführt, sondern zu einer Anpassung an die ewigen, übergöttlichen Ordnungen, das Tao, und an die sozialen Erfordernisse, die sich aus der kosmischen Harmonie ergeben. Eine Rationalisierung fand auch in dem Sinne statt, daß die Gefühlskultur von allen orgiastischen und asketischen Zügen befreit wurde, die der Ausbildung des Gentleman-Ideals wohltemperierter Selbstvervollkommnung entgegengestanden hätten.
3
Vgl. Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 470 f. mit Anm. 36.
Ein rationales Recht hat dieser konfuzianische Rationalismus der Weltanpassung jedoch nicht hervorgebracht. Einmal waren die Grundzüge der Sozialstruktur einer solchen Entwicklung nicht günstig. Die Macht der Sippen war ungebrochen und fand ihren politischen Ausdruck in der Selbstverwaltung der Dörfer, während die Stadt
4
Vgl. hierzu Sprenkel, Sybille van der, Die politische Ordnung Chinas auf lokaler Ebene: Dörfer und Städte, in: Schluchter, Wolfgang (Hg.), Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus. – Frankfurt a.Μ.: Suhrkamp 1983 (hinfort: Schluchter, Konfuzianismus und Taoismus), S. 91–113.
– in Ermangelung eines rechtlichen Korporationsbegriffs
5
Vgl. Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 266.
– nicht zum Träger einer autonomen Rechtsentwicklung werden konnte, wie dies für die okzidentale Stadt galt. So fehlten trotz verschiedener Ansätze zu einer gesinnungsethischen Sublimierung des Strafrechts,
6
Hier nennt Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 280, die rechtsvergleichenden Studien von Josef Kohler.
Vorstellungen über Freiheitsrechte im politischen Sinn oder in der Richtung einer naturrechtlich individualistischen [95]Erwerbsethik.
7
[95] Vgl. ebd., S. 340.
Die an klassischen Texten geschulte Bildung der Literati, deren Qualifikation getestet wurde,
8
Vgl. zum Stand der Literati: Weber-Schäfer, Peter, Die konfuzianischen Literaten und die Grundwerte des Konfuzianismus, in: Schluchter, Konfuzianismus und Taoismus (wie oben, S. 94, Anm. 4), S. 202–228.
verirrte sich aber nicht in die Verschriftlichung der rechtlichen Belange des Alltags. Überdies wäre aufgrund der Eigentümlichkeiten der chinesischen Schrift
9
Vgl. Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 307 f.
der Alltag für die Massen kein Stück weit „lesbarer“ geworden. An den Eigentümlichkeiten der monopolisierten Bildung der Literati mag es auch liegen, daß – wie Weber erwähnt – sich ein eigener Juristenstand nicht herausbildete. „Verwaltung und Rechtsfindung waren zwar formal durch den Dualismus der Fiskal- und Justizsekretäre, aber nicht wirklich in der Art ihrer Ausübung getrennt […].“
10
Ebd., S. 281.
Vielmehr galt eine vollständige Mischung von Verwaltung und Rechtsfindung, so daß ein die Rationalisierung des Rechts im Sinne der Entwicklung „innerjuristischer Qualitäten“ fördernder Juristenstand vollständig fehlte.
Dies aber führte zu einer für die patrimoniale Staatsstruktur
11
Vgl. hierzu Hermes, Siegfried, Soziales Handeln und Struktur der Herrschaft. Max Webers verstehende historische Soziologie am Beispiel des Patrimonialismus. – Berlin: Duncker & Humblot 2003, S. 151 ff.
typischen Differenzierung der Herrschaft der Tradition einerseits und ungehemmter Willkür andererseits, was vor allem für den gewerblichen Kapitalismus hinderlich ist.
12
Vgl. Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 280.
Daß es ein rational kalkulierbares Recht gibt, auch ohne Systematisierung, zeigt das englische Beispiel. Allerdings gab es dort eine spezifische Trägerschicht der Rechtspflege, die kapitalistischen Interessen entgegenkam. Aber nur wo diese Interessen mit einem „Beamtenrationalismus“ zusammentreffen, kann ein vollständig formal rationalisiertes Recht entstehen, was nur im Zuge der „modernen okzidentalen Rechtsrationalisierung“ geschehen sei. Die Chinastudie darf also zur Vervollständigung von Webers Bild des okzidentalen Rechts nicht vernachlässigt werden, macht in den hier verwendeteten Formulierungen dann aber auch noch einmal die zeitliche Folge klar, in der sie vom Entwicklungsgrad des Rechtstextes profitiert und ihn im Begriff der „okzidentalen Rechtsrationalisierung“ noch einmal verdichtet: „Unsere moderne okzidentale Rechtsrationalisierung war das Erzeugnis zweier nebeneinander wirkender Mächte. Einmal des kapitalistischen Interesses an streng formalem und daher – in seinem Funktionieren – möglichst wie eine Maschinerie kalkulierbarem Recht und, vor allem, Rechtsgang. Dann: des Beamtenrationalismus der absolutistischen Staatsgewalten mit seinem Interesse an kodifizierter Systematik und Gleichförmigkeit des, von einer rational geschulten und nach interlokal gleichmäßigen Avancementschancen strebenden [96]Bureaukratie zu handhabenden, Rechtes.“
13
[96] Ebd., S. 342.
Aus dem Fehlen beider Momente ergibt sich bereits die Unwahrscheinlichkeit der Entwicklung rationaler Rechtsformen. Die praktische Sozialethik aber blieb, der herrschenden Sozialstruktur entsprechend, dem Muster organischer Pietätsbeziehungen verhaftet, wie sie in den fünf natürlichen Pflichtenkreisen des Konfuzianismus festgelegt waren. Aus diesen organischen Sozialbeziehungen aber konnte eine unpersönliche Geschäfts- und Rechtsethik nicht hervorgehen, wie überhaupt jede „Verpflichtung gegenüber ,sachlichen‘ Gemeinschaften“
14
Ebd., S. 424 f.
undenkbar ist.
Der Unterschied zur okzidentalen Entwicklung besteht in der Hemmung des rationalen Betriebskapitalismus, wofür Weber zunächst „das Fehlen des formal garantierten Rechts und einer rationalen Verwaltung und Rechtspflege“
15
Ebd., S. 494.
verantwortlich macht, die ihrerseits aber mächtige kapitalistische Erwerbs- und nicht Beuteinteressen voraussetzt. Entscheidend aber für die Rationalisierung von Recht und Wirtschaft ist die Überwindung personalistischer Beziehungen, für die es in China nach Webers Analysen keinerlei religiöse Impulse gab, wo vielmehr die Übertragung organischer Pietätsbeziehungen auf andere Sozialbeziehungen den Kern der konfuzianischen Ethik darstellte.
16
Vgl. ebd., S. 425.
Die „Rationalisierung“ der Wissenschaften aber verlief in die Richtung des magischen, durch Chronomanten und Geomanten, Astrologen und Makrobioten geprägten Weltbildes,
17
Vgl. ebd., S. 403–407.
das für den Westen heute in Zirkeln alternativer Lebensformen so attraktiv ist, in dem für eine philosophische, theologische oder auch: juristische Logik nach Webers Einschätzung aber kein Raum war.
18
Vgl. ebd., S. 481.
Und dies bestätigt die von Weber behauptete Paradoxie der konfuzianischen Ethik auch fürs Recht: Gerade das Pragma der Weltanpassung führt nicht zu einer Anpassung der Welt an ihre „Eigengesetzlichkeiten“, sondern der unistische Einklang mit der Welt setzt das dynamische Element einer Spannung zwischen „heiligem und profanem Recht“ außer Kraft, während u. a. eine rationale individualistische Sozialethik „in der Neuzeit im Okzident gerade aus der Spannung zwischen formalem Recht und materialer Gerechtigkeit entsprang“.
19
Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 340. Zum chinesischen Recht mit Blick auf Webers China-Studie vgl. Bünger, Karl, Das chinesische Rechtssystem und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, in: Schluchter, Konfuzianismus und Taoismus (wie oben, S. 94, Anm. 4), S. 134–173. Das Moment der Spannung wird auch in der Studie von Noguchi, Kampf und Kultur (wie oben, S. 93, Anm. 91), in den Vordergrund gestellt. Es stellt den [97]Interpretationsschlüssel zur Auflösung des okzidentalen Rätsels dar; vgl. Gephart, Sphären (wie oben, S. 68, Anm. 84).

[97]4. Rationale und irrationale Momente des islamischen Rechts

Weber zeichnet sein Bild des islamischen Rechts als paradigmatische Beziehung von Recht und Religion: „Die Stellung des heiligen Rechts im Islam ist ein geeignetes Paradigma für die Wirkung heiliger Rechte in eigentlichen prophetisch geschaffenen ,Buchreligionen‘.“
20
Unten, S. 526.
In der überaus dichten Darstellung, welcher eine intensive Überarbeitung entspricht,
21
Vgl. die Textgruppe XII nach der Textgruppenübersicht, unten, S. 167–169.
wird nochmals deutlich, was Weber in seiner Analyse der Entwicklungsbedingungen rationalen Rechts nicht interessiert. Es geht ihm nicht um Einschränkungen von Rechten der Frau, Wertwidersprüchen zum okzidentalen Recht, also den Inhalten materialer Rationalisierung,
22
Dies verkennt Crone, Patricia, Max Weber, das islamische Recht und die Entstehung des Kapitalismus, in: Schluchter, Wolfgang (Hg.), Max Webers Sicht des Islams. – Frankfurt a.Μ.: Suhrkamp 1987 (hinfort: Schluchter, Sicht des Islams), S. 294–333 (hinfort: Crone, Islamisches Recht).
sondern um die formalen Qualitäten des islamischen Rechts. Dabei greift Weber in dieser knappen Passage auf umfängliche Spezialliteratur zurück, vor allem auf Ignaz Goldziher, den Begründer der Islamkunde, dem das Verdienst zugeschrieben wird, quellen- und traditionskritisch die Aussprüche des Propheten nicht als historische Quellen, sondern als solche der Überlieferung erfaßt zu haben, auf Carl Heinrich Becker, der von Goldziher als dem Weisen schwärmt, auf dem der Glanz der Abendsonne lag,
23
Nach Becker, C[arl] H[einrich], Ignaz Goldziher zum Gedächtnis, in: ders., Vorlesungen über den Islam, 2. umgearb. Aufl., von Franz Babinger. – Heidelberg: Carl Winter 1925, S. VI.
und auf Josef Kohler, dem auch die orientalischen Rechte in seiner Sammelleidenschaft nicht entgingen.
24
Vgl. Webers Ausführungen zum islamischen Recht mit Sachkommentierung und Nachweisen, unten, S. 526–535.
Nur Weber aber setzt diese Bilder des islamischen Rechts in einen komparativ-explikativen Rahmen, der auf den Zusammenhang von sakralem und profanem Recht auf der Grundlage einer religiösen Ethik zielt, mit Blick darauf, „daß sich die Beziehung des profanen zum sakralen Recht ganz allgemein höchst verschieden gestaltete, je nach dem prinzipiellen Charakter der religiösen Ethik“.
25
Unten, S. 522.
Im Unterschied zur konfuzianischen Ethik läßt sich die Haltung des Islams als eine Verbindung von Weltanpassung und Welteroberung charakterisieren.
26
Vgl. Schluchters Einleitung zu: ders., Sicht des Islams (wie oben, S. 97, Anm. 22), S. 11–124.
Ergeben sich allein hieraus Konsequenzen für die Einschätzung seines Rechts? Webers Vorgehen zielt zunächst auf ein Verständnis der Binnenstruk[98]tur des islamischen Rechts. Seiner Theorie von der prägenden Kraft der Träger rechtlicher Rationalisierung macht dabei die Tatsache zu schaffen, daß das „islamische heilige Recht“ durchweg Juristenrecht ist, also günstigste Bedingungen einer fachspezifischen Rationalisierung hätte bieten müssen.
27
[98] Vgl. unten, S. 529 f.
Trotz zahlreicher Parallelen mit der Stellung des Juristen im antiken Rom ist den islamischen Rechtsgelehrten aber – im Unterschied zur legitimen „interpretatio“ – die selbständige Interpretation der heiligen Schriften und ihre verbindliche Auslegung untersagt. In der Rechtsquellenlehre stehen sich Koran und Sunnah in ihrer je eigenen Legitimität gegenüber. Aber nicht diese, sondern die hieraus hervorgehenden „fiqh“ und die Sammlung von Hadithen sind Gegenstand der juristischen Arbeit, die auf Tradition fixiert ist, sobald die erneuernde Kraft des Rechtscharismas abgeschnitten wird. Die „Itschtihad“ als rechtsschöpferische Macht in den Grenzen von Koran und Sunna (im übrigen etymologisch mit dem „Jihad“ verwandt)
28
Ein Hinweis von Hamadi Redissi; vgl. auch ders., L’exception islamique. – Paris: Éditions du Seuil 2004.
versiegt, nachdem letztlich nur den Begründern der vier orthodoxen Rechtsschulen eine solche rechtsprophetische Kraft zugeschrieben wurde. Während sich das Juristenrecht des Islam im Kampf zwischen Orthodoxie und rationaler Jurisprudenz der Entwicklung von Rechtsprinzipien (fiqh) bewegt, ist eine rechtsimmanente Quelle des Neuen, nämlich eine Art Rationalisierung durch Diskurs,
29
Siehe die Einleitung, oben, S. 73 f.
im Ansatz durchaus vorhanden; sie wird aber durch eine „Konsenstheorie der juridischen Wahrheit“, nämlich die Übereinstimmung der großen Rechtspropheten im „idschma“, als Geltungsgrund des Rechts limitiert.
30
Vgl. unten, S. 529.
Während in Christentum und kanonischem Recht über die Organisation der Religionsgemeinschaft, nämlich Papsttum und Konzilien, eine systematische Neuerung auch heiligen Rechts möglich war, ist in der Schia trotz eines Glaubens an einen unsichtbaren, mit Unfehlbarkeit ausgestatteten Imam, der Irrationalismus noch gesteigert, werden gerade unabweisbare Neuerungen wie in jedem Juristenrecht notfalls erfunden, aber nur um den Preis der Erschleichung oder systemverletzender Kasuistik. Lange vor einer Diskussion um die Rolle islamischen Rechts im Prozeß rechtlicher Globalisierung sieht Weber eine prinzipielle Schranke der Anpassungsfähigkeit an die Moderne: „Das heilige Recht konnte weder beseitigt noch, trotz aller Adaptierungen, wirklich in der Praxis durchgeführt werden.“
31
Unten, S. 531.
Hierin erkennt er das stärkste Hindernis für die Entwicklung rationalen Rechts, nämlich die „Unmöglichkeit einer systematischen Rechtsschöpfung zum Zweck der inneren und äußeren Vereinheitlichung des [99]Rechts.“
32
[99] Unten, S. 531.
Darüber hinaus steht die Begrenzung der personalen Geltung auf die Rechtsgenossen des Islam einer Universalisierung entgegen: „Die Folge war der Fortbestand der Rechtspartikularität in allen ihren Formen: sowohl als ständische für die verschiedenen geduldeten und teils positiv[,] teils negativ privilegierten Konfessionen, wie als Orts- oder Berufsgebrauch nach dem Satz: Willkür bricht Landrecht […].“
33
Ebd.
Weber vermißt also neben der rationalen Veränderbarkeit, im Sinne der Positivität des Rechts, den Universalismus der Rechtsgeltung über den Kreis der Genossen hinaus und schließlich fehlt die „logische Systematisierung des Rechts in formalen juristischen Begriffen“.
34
Unten, S. 533.
Daß diese rechtslogischen Hemmnisse die Entwicklung von Rechtsinstituten des Privatrechtsverkehrs nicht behindert hat, gesteht Weber durchaus zu. So folgt er hier der Auffassung Kohlers, der die Entwicklung wichtiger handelsrechtlicher Institute des Okzidents (z. B. den Wechsel) auf eine Rezeption arabisch-islamischer Rechtsvorstellungen zurückführt;
35
Vgl. unten, S. 531, Anm. 48.
aber sie werden nur als Derivationen, Zufallsprodukte aus dem sakral fixierten Recht begriffen. Daß in der Schia der ökonomische Güterverkehr mit Ungläubigen, anders als im Judentum, als verunreinigend rituell ausgeschlossen ist, schränkt Recht als ein interkulturelles Medium drastisch ein.
36
Unten, S. 534.
Insofern ist der theokratische Einschlag im Recht nach Weber von erheblicher Bedeutung nicht nur für die Rationalität des Rechts, sondern auch für die Chancen einer Rationalisierung der „wirtschaftlichen Sphäre“. Denn die Annahme unfehlbarer Richtigkeit des Rechts schließt ein formales Moment des okzidentalen Rechts aus, das dem Verfahren selbst und der streitigen Auseinandersetzung ein eigenes Rationalitätspotential zuschreibt. Im Islam aber – so Weber – ziele Recht auf „materiale Gerechtigkeit“, also eine „prinzipielle ,Gesinnung‘ der Rechtspflege“,
37
Unten, S. 535.
die Webers Bild des formal rationalen Rechts zuwiderläuft.
Patricia Crone hat in ihrer Kritik Webers ein ganz anderes Bild des islamischen Rechts gezeichnet:
38
Vgl. Crone, Islamisches Recht (wie oben, S. 97, Anm. 22).
So seien alle Personen als „gleiche juristische Einheiten“ aufgefaßt,
39
Ebd., S. 305.
obwohl im gleichen Atemzug erwähnt wird, daß hiervon Sklaven, Frauen und (nicht-muslimische) Araber ausgenommen sind. Auch alle Gegenstände würden in ähnlicher Weise als gleiche juristische „Einheiten“ aufgefaßt, was dem okzidentalen Begriff der „Sache“ entsprechen würde. Die Unterscheidung zwischen Eigentum und Besitz sei voll entwickelt und der dominante Vertragstyp seien die Zweck- und nicht die Statuskontrakte. [100]Allein die Eventual- und Versprechungsverträge seien aus Gründen des Schutzes der Rechtsinteressenten vor riskanten Unternehmungen ausgeschlossen.
40
[100] Vgl. ebd.
Und im übrigen fehle eine Reihe von Einrichtungen bloß deshalb, weil niemand daran gedacht habe, sie zu entwickeln. Auf diese Weise wird „erklärt“, daß es kein Schadensersatzrecht, keine „Körperschaften“ und „juristischen Personen“ gibt.
41
Ebd., S. 306.
Die Schlußfolgerung von Crone lautet überraschenderweise: „Im Weberschen Sinne ist das islamische Recht also rational […].“
42
Ebd.
Tatsächlich aber könnte die Distanz zu dem von Weber als formal rational definierten Recht kaum schärfer ausfallen. Denn es fehlen ja nicht nur die Rechtsvorstellungen, die für den kapitalistischen Erwerb und Verkehr nötig sind, sondern auch die juristisch begrifflichen Voraussetzungen, die den säkularisierten Staat als eine vom religiösen Leben abgetrennte „Anstalt“ konstituieren, hierfür sind dann aber die innerreligiösen Motive verantwortlich, die den Islam als eine auf Eroberung der Welt zielende Religion der Weltanpassung kennzeichnen, welche den Eigengesetzlichkeiten dieser Welt keinerlei legitime Geltung zuschreiben kann. Und insofern bleibt das Recht eben religiös-traditional überformt, was zwar eine „Systematisierung“ keineswegs ausschließt, letztlich aber der „analytischen“ Dimension und der Idee der „Konkretisierung“ einer den sachlichen Regelungsproblemen adäquaten Rechtsdogmatik zuwiderläuft.
43
Der Grund für Crones Abwertung der Weberschen Analyse liegt einfach darin, daß sie den idealtypischen Charakter des formal rationalen Rechts nicht akzeptiert und im übrigen Webers Vorstellung einer Kombination der verschiedenen Rationalitätsdimensionen verkennt. Für die tendenziöse Rezeption ist die folgende Stelle ein eindeutiger Beleg, wo Crone, Islamisches Recht, S. 302, behauptet: „Darüber hinaus ist die Idee eines lückenlosen Systems soziologisch sinnlos.“ Weber hingegen hatte nur von dem Postulat der Lückenlosigkeit gesprochen, was gerade den soziologisch relevanten Unterschied ausmacht.
So bleibt Webers bereits zitiertes Verdikt: „Der Islam kennt der Theorie nach sogut wie kein Gebiet des Rechtslebens, auf welchem nicht Ansprüche heiliger Normen der Entwicklung profanen Rechts den Weg versperrten.“
44
Unten, S. 526.
in diesem Dilemma, entweder religiös begrenzt oder – trotz prinzipieller Anpassungsfähigkeit – unpraktikabel zu bleiben, sieht Max Weber das Recht des Islam befangen: „Das heilige Recht konnte weder beseitigt noch, trotz aller Adaptierungen, wirklich in der Praxis durchgeführt werden.“
45
Unten, S. 531.
Darüber, wie Webers Rechtsanalyse für den Islam als Teil seiner Untersuchung der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ in der geplanten religionssoziologischen Studie im Kontext der religionsvergleichenden Forschun[101]gen weitergeführt worden wäre, läßt sich nur spekulieren. Gewiß aber wäre Weber näher auf Rechtsordnungen im religiösen Herrschaftsgebiet des Islam eingegangen, die aufgrund von kolonialen Rechtsimporten oder der Überlagerung durch andere Rechtskulturen die Frage der Kollision von religiös gebundenem und profanem Recht hätten lösen müssen, wie dies etwa in den maghrebinischen Kulturen geleistet wurde.
46
[101] Vgl. die aus Weberscher Sicht entwickelte Studie von Raja Sakrani, Au croisement des cultures de droit occidentale et musulmane. Le pluralisme juridique dans le code tunisien des obligations et des contrats. – Hamburg, Schenefeld: EB-Verlag 2009.

5. Gesetzesreligion und Religionsgesetz im antiken Judentum

Webers Einschätzung des jüdischen Rechts verdient in dem Argumentationszusammenhang der komparativen Betrachtung externer Bedingungen des okzidentalen Rechtsrationalismus eine besondere Aufmerksamkeit. Einmal steht die latente Kritik an Webers Protestantismusthese im Raum, nach der die Rolle des Judentums
47
Zu den biographischen Hintergründen von Webers Beschäftigung mit dem antiken Judentum vgl. Otto, Eckart, Max Webers Studien des antiken Judentums. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 2002, S. 1–82 (hinfort: Otto, Studien).
für die Entstehung des Kapitalismus unterschätzt sei; sodann ist in der jüdischen wie in keiner anderen Religion eine Prämie auf die Gesetzmäßigkeit des Handelns gelegt, so daß der Typus eines religiös legitimierten Rechts und eines rechtlich geprägten Religionsverständnisses in einmaliger Weise zusammenfallen.
48
Vgl. aus der Sicht des Herausgebers der Judentums-Studie Otto, Studien (wie oben, Anm. 47).
In „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“ betont Weber die Schranken, die der talmudischen Jurisprudenz in die Richtung der Rationalisierung gesetzt sind: „Formell zeigte die eigentliche talmudische Jurisprudenz jene typischen Eigenschaften heiliger Rechte, deren starkes Hervortreten hier aus der starken Schulmäßigkeit und der – grad in der Zeit der Entstehung der Mischna-Commentare – relativ, im Gegensatz zu früheren sowohl wie späteren Epochen, gelockerten Beziehung zur Gerichtspraxis folgen mußte: ein starkes Überwiegen rein theoretisch konstruierter[,] praktisch unlebendiger Casuistik, welche bei den engen Schranken rein rationaler Construktion doch nicht zu einer eigentlichen Systematik sich fortbilden konnte.“
49
Unten, S. 540.
Weber betont also Defizite bei der systematischen wie der analytischen Rationalisierung des Rechts. So ist der mangelnde Bezug zu den Rechtsinstituten des Kapitalismus, den Weber gerade am Beispiel der Inhaberpapiere gegen Werner Sombart nachzuweisen sucht,
50
Vgl. unten, S. 541 f. mit Anm. 75, 78, 79. Weber hatte Sombarts „Thesen“ über die [102]ökonomische Bedeutung der Juden, speziell ihren Einfluß auf die Entwicklung kapitalistischer Rechtsinstitute, bereits in brieflichen Äußerungen über dessen „Judenbuch“ scharf kritisiert; vgl. die Briefe Max Webers an Werner Sombart vom 27. März 1911 und vom 2. Dez. 1913, MWG II/7, S. 154 f., und MWG II/8, S. 414–417, sowie an Heinrich Sieveking vom 1. Dez. 1913, MWG II/8, S. 412 f.
nicht mehr verwunderlich: „Das genuin jüdi[102]sche Recht als solches[,] grade auch das Obligationenrecht, ist schon seinem formalen Charakter nach[,] trotz einer freien Entwicklung der rechtsgeschäftlichen Typen, doch keineswegs ein besonders geeigneter Nährboden für solche Institute gewesen, wie sie der moderne Kapitalismus braucht.“
51
Unten, S. 543.
Weber hebt auch sonst die Nähe der juristischen Thorainterpretation zu den islamischen und indischen Juristen hervor: „Sie waren […] Träger einer die Thora teils interpretierenden[,] teils aber auch von ihr selbständigen Tradition […][,] durch deren Inhalt die offiziellen Institute, etwa die Leviratsehe, ganz ähnlich stark umgewandelt wurden, wie im Islam und Indien.“
52
Unten, S. 537.
Wiederum innerreligiöse Schranken sind es, die eine Fortentwicklung der Mischna, d. h. der Thorainterpretation, verhindern: „Eine ,dialektische‘ Behandlung nach Art der occidentalen Theologie fand sich wesentlich an der Pumbedita-,Akademie‘ in Babylon; aber diese Methode ist in der späteren Zeit der Orthodoxie grundsätzlich verdächtig geworden und heute verpönt: eine spekulative theologische Behandlung der Thora ist seitdem unmöglich.“
53
Unten, S. 538.
Gleichzeitig ist nach Webers Einschätzung gerade das entwickelte talmudische Recht nicht nur durch seinen partikularen Geltungsanspruch nur für Glaubensgenossen gekennzeichnet, sondern gerade in seiner nahezu sprichwörtlichen und nicht immer ressentiment-freien Kasuistik ein Hindernis auf dem Weg in den juridischen Rationalismus: „Lebendes und totes Recht aber wurden ineinander verschlungen, juristisch bindende und ethische Normen nicht geschieden.“
54
Unten, S. 540 f.
Damit also reiht sich das jüdische Recht in die Liste der religiös kontaminierten Rechtskulturen ein, denen ein spezifisches Rationalitätshemmnis eigen ist, wie Weber resümierend formuliert: „Als Partikularrecht und als immerhin nur unvollkommen rational systematisiertes und rationalisiertes, kasuistisch und doch nicht rein logisch durchgebildetes Recht zeigt das jüdische heilige Recht vielmehr die allgemeinen Eigenarten eines unter der Kontrolle heiliger Normen und ihrer Bearbeitung durch Priester und theologische Juristen entwickelten Produkts.“
55
Unten, S. 544.
Erst in einem späteren handschriftlichen Zusatz vermerkt Weber mit Bedauern: „Wir haben hier, so interessant das Thema an sich ist, keinen Anlaß zu einer speziellen Betrachtung.“
56
Ebd.
Einen solchen „Anlaß“ [103]gab es freilich im Kontext der religionsvergleichend angelegten Judentums-Studie.
Diese „spezielle Betrachtung“ findet schließlich in der im ersten Weltkrieg verfaßten Artikelfolge über das antike Judentum statt,
57
[103] Weber, Judentum, MWG I/21, ergänzt um einen erst postum publizierten Text über „Die Phärisäer“, abgedr. ebd., S. 758–846.
die einen gewissen Gegensatz zu den Ausführungen in den „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ bildet. Weber zeichnet hier nämlich das faszinierende Bild einer Kultur, in der sich Recht und Religion gegenseitig durchdringen, ohne zwangsläufig in Konfusion und rationalitätshemmender Entdifferenzierung zu enden. Am Anfang war nämlich kein Unrecht, sondern die Verbindung Jahwes zu dem von ihm „voluntaristisch“ erwählten Volke beruhte auf einem gegenseitigen Bund, durch den die Juden als politischer und religiöser Verband konstituiert wurden. Da der Inhalt dieses Vertrages, die „berith“, die Einhaltung bestimmter Pflichten vorsah, ergibt sich die außergewöhnliche Doppelgarantie der Normen: „Alle Verletzungen der heiligen Satzungen waren also nicht nur Verstöße gegen Ordnungen, die er [Jahwe, Hg.] garantiert, wie dies andere Götter auch tun, sondern Verletzungen der feierlichsten Vertragsverpflichtungen gegen ihn selbst.“
58
Ebd., S. 425.
Der Gott der Juden war also weder ein Lokal- noch ein Funktionsgott, sondern ein durch Vertrag gebundener Gott eines Personenverbandes. Auch wenn dieser, in den verschiedenen Varianten des Dekalogs formulierte Inhalt später sakrosankt wurde, bestand die ursprüngliche Vorstellung in einer geradezu modern anmutenden Idee der Positivität des Rechts. So heißt es in der Studie zum antiken Judentum: „Nein, durch positive berith mit ihm war dies positive Recht für Israel geschaffen; es war nicht immer dagewesen und es konnte sein, daß es durch neue Offenbarung und neue berith mit dem Gott wieder geändert wurde.“
59
Ebd., S. 426.
Insofern barg also gerade das altjüdische Recht ein Modell der Veränderbarkeit, und zwar speziell des „heiligen“ Rechts. Der berith-Gedanke wurde noch dadurch verschärft, daß er – in negativer Weise – in den sog. kulturellen Dialog, als Verbot, mit anderen einen Bund zu schließen, aufgenommen wurde.
60
So heißt es Ex 34,15: „Hüte dich, einen Bund mit den Bewohnern des Landes zu schließen.“
Jahwe ist also nicht nur ein Verbandsgott, sondern universeller Rechtsschöpfer. Dies stand im größten Gegensatz zu anderen, religiös geprägten Rechtsordnungen: „Das Recht war nicht ein ewiges Tao oder Dharma, sondern eine positive göttliche Satzung, über deren Innehaltung Jahwe eiferte.“
61
Weber, Judentum, MWG I/21, S. 426.
Rechtssatzung und Rechtskontrolle fallen also zusammen, hieraus erklärt sich auch, warum das Auslegungsmonopol nicht [104]delegiert wird. So wird in Dtn 4, 2 ein radikales Auslegungsverbot formuliert, das sich bis in den Talmud hinein herhält.
62
[104] So wird in Schabbat 63a die Rückkehr zum „Wortsinn“ postuliert, als Grenze der „Auslegung“ eine juristisch bekannte Figur, die hier freilich in einen narrativen Kontext eingebettet ist. Das gleiche gilt für die weitreichende Auslegungsmaxime der Interpretation aus dem Gesamtzusammenhang, die wiederum kasuistisch expliziert wird (vgl. Sanhedrin 86a).
Dieser rechtliche Bindungscharakter hat weitreichende Folgen für die Beziehung des Volkes Israel zu Jahwe. Er befördert nämlich die religiöse Rationalisierung in einer ganz bestimmten Richtung: In den Resultaten zur Konfuzianismusstudie hatte Weber zwei Kriterien der religiösen Rationalisierung angegeben: den Grad der Systematisierung und die Abstreifung der Magie.
63
Vgl. Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 450.
Wenn Jahwe die Einhaltung der Gebote fordert, dann sind Opfer und andere Mittel des Gotteszwanges vollständig entwertet. Was Jahwe also erwartet, ist Gehorsam wie einem Kriegsführer gegenüber, der zugleich der oberste Gerichtsherr ist.
64
Vgl. Weber, Judentum, MWG I/21, S. 432.
Wenn Wohl und Wehe des Volkes also von diesem Gehorsam abhängig sind, dann müssen den im Bund begründeten Pflichten, denen Gehorsamsansprüche Jahwes korrespondieren, auch verständliche und befolgbare Befehle entsprechen.
65
So wird Jahwe ausdrücklich von Weber als „Herrscher“ (im Sinne der „Herrschaftssoziologie“) bezeichnet: vgl. ebd., S. 666.
Allein hieraus erklärt sich die ungeheure Bedeutung, die der Feststellung der rechtlichen Gebote im Judentum beikommt. Wer diese für das religiöse Heil zentrale Rechtsfunktion wahrnahm, hat von den Jahwepriestern
66
So heißt es, ebd., S. 473: „Damit aber steigerte sich die Notwendigkeit, ritual- und rechtskundige Jahwepriester zur Erforschung des Willens des Gottes und der zu sühnenden Verfehlungen angehen zu können.“
über die Leviten zu den Propheten, Pharisäern und Rabbinern geschwankt. Ihre Folge war zunächst ein antimagischer Zug der Religion: „So drängte der in den genuin jahwistischen Kreisen lebendige Gedanke der ,berith‘ alle Erforschung göttlichen Willens in die Bahn einer mindestens relativ rationalen Fragestellung und rationaler Mittel ihrer Beantwortung.“
67
Ebd., S. 476.
Das Prinzip der solidarischen Haftung des Volkes für die Verfehlungen des einzelnen steigerte diesen rationalen Zug nur weiter, obwohl die Konsequenzen höchst irrationaler Art waren. Rechts- und Ritualkenntnis wurden somit zum religiös bedingten Gebot des Verhaltens eines jeden einzelnen. Wenn andererseits die Sanktionen Jahwes, der nicht nur ein eifersüchtiger, sondern auch ein rächender und zürnender Gott ist, das gesamte Volk treffen, selbst wenn nur einzelne gefehlt haben, verschärft sich die Theodizeeproblematik, die ja für Weber der Bezugspunkt einer intellektuellen Rationalisierung ist.
68
Vgl. etwa Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 290 ff.
[105]Eine weitere Steigerung der religiös bedingten Ritual- und Gesetzesethik tritt paradoxerweise durch den Typus eines religiösen Mittlers auf, der im höchsten Maße irrational erscheint: den Propheten. Er liefert nämlich der „Theologisierung des Rechts“ und der hiermit einhergehenden „Rationalisierung der religiösen Ethik“ das gesinnungsethische Fundament. Denn erst in der von Weber ausdrücklich als „rational“ ausgezeichneten expressiven Prophetie, die der asketischen Prophetie in den asiatischen Religionen entgegengestellt wird,
69
[105] Vgl. Weber, Judentum, MWG I/21, S. 631.
gelingt nach Weber der systematische Bezug auf eine Regulierung des Verhaltens, die über die äußerliche Erfüllung der Gebote Jahwes und der interpretierenden Thoralehrer hinausgeht. So sind die Worte der Propheten des Unheils eine einzige Folge von Fluchreden gegen die Gesetzlosigkeit, deren Wirkung sich im Unterschied zu den Thoralehrern nicht aus einem Amtscharisma, sondern aus dem persönlichen Charisma der Unheilspropheten speist. Gegen „Ritualismus“ setzen die Propheten „massive ethische Werkgerechtigkeit“.
70
Weber, Judentum, MWG I/21, S. 629.
Die Prophetie ist dadurch eben nicht als Weltflucht gekennzeichnet, sondern sie hat eindeutig innerweltliche Züge, die sogar in die Richtung der individuellen Verantwortung gehen, wenn nur derjenige Sterben soll, der sündigt.
71
Nach Hes 18,4; dies bedeutet eine Einschränkung der Solidarhaft und ist um ein ethisches „Aufrechnungsverbot“ ergänzt.
Eine außerordentliche Prämie, durch den Solidarhaftgedanken und die damit verbundene Unberechenbarkeit der Folgen noch wertgesteigert, lag also auf dem rechten innerweltlichen Verhalten: „Auf das sittlich richtige Handeln, und zwar das Handeln gemäß der Alltagssittlichkeit, kam für das besondere, Israel in Aussicht gestellte Heil alles an.“
72
Weber, Judentum, MWG I/21, S. 644.
Insofern betont also gerade Weber – entgegen der Kritik Günter Stembergers
73
Vgl. Stemberger, Günter, Das rabbinische Judentum in der Darstellung Max Webers, in: Schluchter. Wolfgang (Hg.), Max Webers Studie über das antike Judentum. – Frankfurt a.Μ.: Suhrkamp 1981, S. 185–200, hier S. 198 (hinfort: Stemberger, Judentum).
– die Elemente innerweltlicher Selbstkontrolle, die namentlich von den Propheten auf einen systematischen Punkt bezogen werden, die Verletzung der Gerechtigkeit.
74
So heißt es bei Weber, Judentum, MWG I/21, S. 651: „Es [Israel. Hg.] zieht sich seinen Grimm zu vor allem durch Verletzung der ,Gerechtigkeit‘, das hieß aber: der ihm eigentümlichen sozialen Institutionen.“
Dieser Bezug ist so eng, daß im Hinblick auf die antimagische Tendenz nicht Wunder und Zauberwirkung den wahren vom falschen Propheten scheidet, sondern die Anerkennung der Allmacht des Gesetzes. Warum diese methodisch-rationale Selbstkontrolle gerade des religiös „tief“ empfindenden Juden letztlich doch nicht mit der innerweltlichen Askese des Protestanten konkurrieren konnte, ergibt sich nach Weber aus dem partikularistischen Geltungsanspruch dieser religiös bedingten Alltagsethik, d. h. der [106]Trennung von Binnen- und Außenmoral. Im Innenverhältnis aber galt, daß die Propheten des innerweltlichen Unheils sich jedweder mystischen Innewerdung mit dem Göttlichen entzogen und daher mit der Autorität des Propheten auf der Achtung der Pflichten und Gebote Jahwes insistierten. Dieser „rationale“ Charakter der Prophetie tritt daher als ein „Verstärker“ der vorhandenen Tendenzen auf, die durch „die Geistesarbeit der israelitischen Rechtsprechung und Weisheitslehre“
75
[106] Ebd., S. 653.
vorgezeichnet sind. Die Propheten sind also Stütze der bestehenden normativen Ordnung, nicht die Rufer nach einer neuen Ordnung: „Vollends anomistische Konsequenzen des ekstatischen Gottesbesitzes wurden scharf abgelehnt. Ein Lügenprophet ist nach Jeremia jeder, der das Gesetz Jahwes mißachtet und das Volk nicht zu ihm hinzuführen trachtet.“
76
Ebd., S. 668 [Hervorhebung, Hg.]; der Unterschied zur levitischen Thora-Lehre liegt in der Entwicklung eines glaubensmäßigen unbedingten Vertrauens, das gegenüber der „legalistischen“ Innehaltung einzelner Vorschriften Vorrang besitzt (vgl. ebd., S. 671 ff.).
Weber geht es bei der auch in dem Rechtstext angedeuteten Trennung von Binnen- und Außenmoral nicht um die für traditionale Ordnungen banale Feststellung, daß zwischen den Normen, die den Sippengenossen binden, und den ethischen Außenbeziehungen überhaupt geschieden wird. Dies war ja nicht zuletzt auch im römischen Recht der Fall. Und es geht Weber auch nicht um die Richtung der gesonderten Außenmoral, die, etwa im Zinsverbot nach innen und der Erlaubnis des Zinsnehmens nach außen, gerade für die Entwicklung des rationalen Kapitalismus hätte förderlich sein können. Gegen diese Argumentation spricht zunächst die Tatsache, daß auch im Binnenverhältnis der gläubigen Juden untereinander das Zinsverbot praktisch umgangen wird, nämlich durch die juristische Konstruktion eines solidarischen Partnerschaftsvertrages zwischen Bank und Sparer, der die „Zinsen“ formell als „Gewinnbeteiligung“ deklariert,
77
Auf diese „Umgehung“ des Zinsverbots macht Stemberger, Judentum (wie oben, S. 105, Anm. 73), S. 194 ff., aufmerksam.
– übrigens ganz vergleichbar den im islamischen Recht entwickelten Umgehungsformen. Außerdem ist die Deutung zu einfach, wenn nicht tendenziös, wonach die Trennung von Binnen- und Außenmoral sozusagen einen ethischen Freiraum nach außen schaffen würde. Für Webers Argument der Entstehung des rationalen Kapitalismus aus einer Wirtschaftsethik war ja auch nicht die Entfesselung des Erwerbstriebs entscheidend, sondern im Gegenteil die Verheißung einer religiösen Prämie auf eine „ethische“ Gestaltung der ökonomischen Außenbeziehungen, hieran aber fehlte es nach Weber
78
Vgl. Weber, Judentum, MWG I/21, S. 703 f.
trotz aller Ansätze, das wirtschaftliche Wohlergehen auch als Anzeichen religiöser Bewährung zu befrachten.
79
Dies betont vor allem Stemberger, Judentum (wie oben, S. 105, Anm. 73); doch gehen die Widerlegungsversuche insgesamt an Weber vorbei. Auch wenn im Talmud strik[107]te Rechtlichkeit gegenüber dem Nichtjuden gefordert wird, erwächst hieraus noch nicht die umgekehrte Folge ethischer Sonderpflichten bis zur utilitaristischen Umdeutung als: „honesty is the best policy“.
Dies mußte [107]erst recht geschehen, nachdem die „urwüchsige“ Differenzierung von Binnen- und Außenmoral mit der Situation des Pariavolkes in der Diaspora auf Dauer zusammenfiel. Die Erschwerung der Kommensalität durch Speiseverbote und Schlachtrituale und der Ausschluß des Konnubium führten zwar zu einer Festigung nicht nur der Binnenmoral, sondern auch der Binnensolidarität, aber das Geflecht aus religiösen Geboten, Ritualvorschriften und Rechtsregeln blieb dem Einfluß ihrer religiös-autoritativen Interpreten,
80
So charakterisiert Max Weber die Rabbiner im Fragment über „Die Pharisäer“ in: Weber, Judentum, MWG I/21, S. 829 f.
den Rabbinern, unterworfen. Diese aber ließen – auch auf Grund des Verbots, gegen Entgelt zu lehren – keine Ansätze für eine systematische Rechtsbildung oder eine fortdauernde Anpassung an die Ordnungen dieser Welt erkennen, hierfür freilich macht Weber nicht nur das innerreligiös bedingte Auslegungsverbot verantwortlich, das ja eine intensive Bindung an das Gesetz zur Folge hat, vielmehr wird die technische Eigenart der Gesetzesinterpretation der Rabbiner aus ihrer kleinbürgerlich-stadtsässigen Lage erklärt,
81
Vgl. ebd., S. 830 f.
der ein ethisch-praktischer Rationalismus näher liege als ein theoretischer, weshalb zugleich die „ratio“ mehr gelte als die Bildung systematisch tauglicher Begriffe.
Die Passagen im § 5 der Rechtsstudie Max Webers sind also zur berühmten Studie zum antiken Judentum in Beziehung zu setzen. Denn diese ist nicht nur der religionsgeschichtlichen Frage gewidmet, warum aus der jüdischen Religion der entscheidende Impuls zur Entstehung des rationalen Kapitalismus nicht hervorging, sondern sie ist ebenso als rechtshistorische Studie zu lesen, die daher im Kontext der Fragestellungen weiter zu lesen ist, welche Weber in den „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ untersucht hat: warum nämlich die Antriebe zu einer rationalen Entwicklung des Rechts so schwach blieben, obwohl der einzigartige Charakter der jüdischen Religion gerade darin besteht, daß die Beachtung des Gesetzes nicht nur oberstes Rechtsgebot, sondern religiöse Pflicht ist.

6. Kanonisches Recht als Ausgangspunkt der okzidentalen Rationalisierung des Rechts

Hatte Weber schon im § 2 die außerordentliche Rolle des kanonischen Rechts für die Entwicklung des Korporationsbegriffs dargelegt, so steht nunmehr unter vergleichendem Blick die Frage im Vordergrund, warum diese – scheinbar paradoxe – Leistung eines religiösen Rechts nur im Christentum, nicht [108]aber in hinduistischer und buddhistischer Religiosität, nicht in konfuzianischer Ethik und islamischem Herrschaftsrecht und auch nicht durch die talmudische Jurisprudenz gefördert werden konnte. Gewiß nicht durch irgendeine „Überlegenheit“ der christlichen Theologie und Sinnstiftungsprozeduren, sondern durch die Eigenart der Differenzierung von religiöser und weltlicher Sphäre.
Aus den Traditionen der antiken Philosophen und des römischen Rechts entstand ein eigenes, rational geschaffenes Kirchenrecht: „In ungleich stärkerem Maße als irgend eine andre religiöse Gemeinschaft hat […] die occidentale Kirche den Weg der Rechtsschöpfung durch rationale Satzung beschritten.“
82
[108] Unten, S. 546.
Weber machte im Anschluß an Troeltschs „glänzende Untersuchungen“
83
Hier insbesondere Troeltsch, Ernst, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Gesammelte Schriften, Band 1). – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1912 (hinfort: Troeltsch, Soziallehren), sowie Troeltschs Vortrag auf dem Deutschen Soziologentag 1910: ders., Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht, in: Verhandlungen 1910, S. 166–192 (hinfort: Troeltsch, Naturrecht); vgl. unten, S. 545 mit Anm. 87.
den entscheidenden Wandel im Verhältnis von Kirche und Staat im frühen Mittelalter aus. Nachdem sie durch den spätrömischen Staat anerkannt worden war, rezipierte die frühkatholische Kirche für ihr Verhältnis zu den weltlichen Ordnungen die stoische Naturrechtslehre in deren „relativer“ Variante. Während der absoluten stoisch-christlichen Naturrechtslehre das Ideal einer im goldenen Menschheitszeitalter verwirklichten universalen, freien und gleichen Liebesgemeinschaft zugrundelag, ging das relative Naturrecht von der sittlichen Unvollkommenheit der Welt aus und formte deshalb deren positive Ordnungen zu Mitteln vernunftgemäßer Disziplinierung und Ordnung. So gelangte die katholische Kirche zu einer „organischen Berufsethik“, die dem einzelnen seine gottgewollte Stellung im Diesseits zuwies und die Wiederherstellung der ursprünglichen Gleichheit und Harmonie für das Jenseits in Aussicht stellte. Webers Erklärung für das fortlebende Rationalitäts- und Rationalisierungspotential des kanonischen Rechts liegt in einem subtilen Verhältnis von Differenzierung und Autonomie der kirchlichen und der weltlichen normativen Ordnungen. Im Binnenraum der Kirche lebten die rationalen Traditionen des römischen Rechts fort, während sie bei ihren eigenen systematischen Rechtsbildungen, den mittelalterlichen Bußordnungen, sich zwar im germanischen Recht bediente, dort aber in „Anlehnung gerade an die am meisten formalen Bestandteile des germanischen Rechtes“.
84
Unten, S. 545.
Entscheidend ist für Weber, daß Mischbildungen zwischen theokratischem und profanem Recht verhindert wurden, also der Eigengesetzlichkeitsthese entsprechend, beide Sphären getrennt blieben. Dies geschah [109]historisch durch die Ausdifferenzierung des theologischen Lehrbetriebes auf der einen Seite, sowie des weltlichen Rechts und der kanonischen Rechtslehre auf der anderen Seite. Zum anderen war das „Material“ der kanonischen Rechtskunde in sich schon systematisch bürokratischen Charakters, weil es das Institut der formalen Rechtsschöpfung durch Konzilsbeschlüsse gibt und eine Schriftlichkeit des kollektiven Gedächtnisses der Kirchenverwaltung, über Reskripte und Dekretalen, welche nicht auf innerweltliche Einzelfallgerechtigkeit, sondern auf bürokratische Vernunft setzt. Durch ihre bürokratische Amtsstruktur, aus der Anstaltsgnade und nicht persönliche Gnade gespendet wird, weist die Kirche schon an sich eine besondere Nähe zum rationalen Recht auf. Darüber hinaus erleichtert die hierarchische Struktur jede Art von Normendurchsetzung und auch Systematisierung, für die Weber ja immer wieder die Mächte der Verwaltung verantwortlich macht. Der Geltungskreis der ethischen Normen des Christentums tat auf der Ebene der Normstruktur sein Übriges für diese fortdauernde Differenzierung zwischen weltlichem und kanonischem Recht. Die christliche Ethik begrenzte den zu wahrenden Bestand an ethischen Normen auf ein Minimum, was Weber einer die frühe Kirche beherrschenden „eschatologischen Weltabgewandtheit“
85
[109] Unten, S. 547.
zuschreibt. Die normative Unterbestimmtheit der Alltagsethik schafft somit, in der christlichen Ethik, auch Entwicklungsräume für die Entfaltung neuer Normen im Wege „rein rationaler Satzung“.
Aus diesen Sonderumständen wird Weber das kanonische Recht „geradezu einer der Führer auf dem Wege zur Rationalität“
86
Ebd.
des profanen Rechts. Die „Kirchen“ sind die ersten „Anstalten“ im Rechtssinn, der kanonistische Korporationsbegriff machte den Weg frei für die „juristische Construktion der öffentlichen Verbände als Corporationen“.
87
Ebd.
Die entscheidende Erfindung des okzidentalen Rechts, die erst den Staat als rechtliches Gebilde möglich machte, ist also dem kanonischen Recht zu verdanken. Andererseits verdanken sich auch Besonderheiten des okzidentalen Rechts, wie die von Amts wegen eingreifende Offizialmaxime, dem Einfluß einer an objektiver Wahrheitsfindung interessierten theokratischen Justiz. Das kanonische Recht wird also zum Medium der Kontinuitätsgeltung des römischen Rechts; es bildet in der Organisationsform der Kirche das Paradigma bürokratischer Organisation aus, mit Amtshierarchie und Schriftlichkeit der Verwaltung, ohne den Anspruch der totalen Reglementierung des religösen Alltagslebens, weil es sich auf ein ethisches Minimum, aber nicht auf die Gestaltung eines moralischen Maximums einließ und dadurch zugleich der Entwicklung eines profanen Rechts Raum schuf, das in der Entfaltung seiner Eigengesetzlichkeiten nicht durch Konfusionen des Heiligen und des Profanen irritiert wurde.

[110]7. Die unbedeutende Rolle der protestantischen Ethik für die Genese des okzidentalen Rechts

Webers Auskunft über die Bedeutung der protestantischen Ethik für die Entwicklung rationalen Rechts bleibt in den „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ eigentümlich blaß. Es ist nur der fiktive Endpunkt einer Entwicklung des Rechts, der selbst nicht mehr ausgezeichnet wird. Nur die Trägerschicht ist klar umrissen: „[…] so pflegen die bürgerlichen Schichten im Allgemeinen am stärksten an rationaler Rechtspraxis, und dadurch auch an einem systematisierten, eindeutigen, zweckrational geschaffenen formalen Recht interessiert zu sein, welches Traditionsgebundenheit und Willkür gleichermaßen ausschließt und also subjektives Recht nur aus objektiven Normen hervorgehen läßt“.
88
[110] Unten, S. 519 [Hervorhebung Hg.].
Wo aber finden sich die Beispiele für dieses im spezifischen Sinne „bürgerliche“ Recht: „Die englischen Puritaner haben ein solches systematisch codifiziertes Recht ebenso wie die römischen Plebejer und das deutsche Bürgertum des 19. Jahrhunderts verlangt.“
89
Ebd. [Hervorhebung Hg.].
Daß Weber diesen Gedanken über den möglichen Zusammenhang von puritanischer Ethik und Rechtsentwicklung nicht weiter ausführt, ist angesichts der offenkundig schwierigen Beweisführung nicht weiter verwunderlich. Denn gerade im Einflußbereich der protestantischen Ethik ist ein sowohl systematisches wie analytisches, konkretes wie abstraktes rationales Recht nicht ausgebildet worden. Man könnte diesen Tatbestand mit weitreichenden Folgen gegen die Gültigkeit der Protestantismusthese selbst anführen, obwohl Weber selbst die Reduzierung des sozialen Lebens auf „eine Formel“ lieber den Dilettanten überlassen möchte. So schreibt er am Ende der Protestantismusthese: „Es wäre ein Leichtes gewesen, darüber hinaus zu einer förmlichen ,Konstruktion‘, die alles an der modernen Kultur ,Charakteristische‘ aus dem protestantischen Rationalismus logisch deduzierte, fortzuschreiten.“
90
Weber, Protestantische Ethik, in: GARS I, S. 205 f., Fn. 3, Zitat S. 206 (MWG I/18).
Immerhin eine Studie über den Zusammenhang von protestantischer Ethik und Recht war Weber durchaus bekannt, die – ohne des Dilettantismus verdächtig zu sein – im Geist fachwissenschaftlicher Arbeit verfaßt war und seiner generellen Protestantismusthese zumindest zeitlich voranging: Die Schrift von Georg Jellinek über „Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“.
91
Die 1. Auflage datiert aus dem Jahre 1895, die 2. Auflage (1904) bezieht die vehemente Kritik, namentlich aus Frankreich mit ein (Jellinek, Georg, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, 2. erw. Aufl. – Leipzig: Duncker & Humblot 1904 (hinfort: Jellinek, Menschen- und Bürgerrechte2)), während in der von Walter Jellinek postum herausgebrachten 3. Auflage die von Georg Jellinek dafür vorbereiteten Änderungen eingearbeitet wurden (Jellinek, Georg, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsge[111]schichte, 3. Aufl., unter Verwertung des handschriftlichen Nachlasses durchges. und erg. von Walter Jellinek. – München, Leipzig: Duncker & Humblot 1919 (hinfort: Jellinek, Menschen- und Bürgerrechte3)).
[111]Gegen die erbitterte Kritik der französischen Rechtslehrer, die zum weiteren juristischen Umfeld der Durkheim-Schule gehören, z. B. Léon Duguit und Maurice Hauriou, hält Jellinek an der eindeutigen These fest, daß der rechtsgeschichtliche Ursprung der „Déclaration des droits de l’homme“ sich nicht dem Einfluß Rousseaus oder überhaupt romanischem Rechtsdenken verdanke, sondern von einem germanischen Ursprung in der Magna Charta aus
92
Vgl. Jellinek, Menschen- und Bürgerrechte3 (wie oben, S. 110 f., Anm. 91), S. 72 ff.
über die Strömungen der Reformation hinweg schließlich in die Verfassungsbestrebungen des independistischen und puritanischen Neuen England führe.
93
Vgl. ebd., S. 64 ff.
Trotz aller Verwandtschaft mit Webers Argumentationsweise
94
So ist allein die Art, aus religiösen Ursprüngen außerreligiöse Konsequenzen abzuleiten, für Webers vergleichende religionssoziologische Studien maßgebend.
muß freilich beachtet werden, daß Jellinek in die innerreligiöse Thematik nicht eindringt.
95
So werden von Jellinek die verschiedenen, bei Weber sorgfältig geschiedenen protestantischen Strömungen nicht weiter differenziert.
Denn die These von der fundamentalen Bedeutung der Religionsfreiheit, die sich im übrigen in der Virginia Bill of Rights erst ganz am Ende findet, ließe sich umstandslos aus den „Interessen“ der Kolonisten herleiten, ihr Motiv der Auswanderung nunmehr auch rechtlich abzusichern. Auch der religionsgeschichtliche Zusammenhang von „Individualismus“ und Menschenrechten
96
Vgl. Jellinek, Menschen- und Bürgerrechte3 (wie oben, S. 110 f., Anm. 91), S. 43.
bleibt ebenso ungeklärt wie die Vorstellung einer religiös bedingten Temperierung der Staatsmacht. Allerdings wird bei Jellinek der religiöse Ursprung des Vereinigungscharakters und seiner rechtlichen Garantien ganz ebenso wie die voluntaristische Note der Soziallehre deutlich. Dabei hätte Jellinek eine noch engere Verbindung zwischen der Religionsfreiheit der Virginia Bill of Rights vom 12. Juni 1776 und dem Inhalt der protestantischen Religionen ziehen können. So heißt es ja in Section 16: „That religion, or the duty, which we owe to our Creator, and the manner of discharging it can be directed only by reason and conviction, not by force or violence […].“
97
Virginia Bill of Rights (1776), abgedr. in: Staatsverfassungen. Eine Sammlung wichtiger Verfassungen der Vergangenheit und Gegenwart in Urtext und Übersetzung, hg. von Günther Franz, 3., durchges. Aufl. – München, Wien: R. Oldenbourg 1975 (hinfort: Franz, Staatsverfassungen), S. 6–10, hier S. 10.
Die von Talcott Parsons so bezeichneten „volontarian associations“ haben also in den religiös bedingten Motiven der Sektenbildung – auch diesen Zusammenhang erwähnt Jellinek
98
So heißt es, ebd., S. 61: „Die Vereinsfreiheit tritt zuerst in der Form der Sektenbildung auf.“
– ihren Grund. Ebenso eindeutig ist das Resultat der Studie Jellineks: „Die Idee, unveräußerliche, angeborene, geheiligte Rechte [112]des Individuums gesetzlich festzustellen, ist nicht politischen, sondern religiösen Ursprungs.“
99
[112] Ebd., S. 57 [Hervorhebung, Hg.].
In gleicher Weise behauptet Weber, daß der Geist des Kapitalismus nicht ökonomischen Ursprungs, sondern auch auf religiösen Gründen beruhe.
Freilich ist Webers These insofern völlig verschieden, als sie die Ausbildung einer methodisch-rationalen Lebensführung, die als Folge der religiösen Prämierung innerweltlichen Handelns auftritt, zum Gegenstand hat.
100
Daß Jellinek andererseits der asketische Zug dieser protestantischen Bewegung nicht entgangen ist, zeigt sich an der folgenden Passage: „Was man bisher für eine Frucht der Revolution gehalten hat, ist in Wahrheit eine Frucht der Reformation und ihrer Kämpfe. Ihr erster Apostel ist nicht Lafayette, sondern jener Roger Williams, der, von gewaltigem, tief religiösem Enthusiasmus getrieben, in die Einöde auszieht, um ein Reich der Glaubensfreiheit zu gründen […]“ (ebd., S. 57).
Allerdings liegt gerade im Handlungsbezug die tiefere Beziehung von protestantischer Ethik und dem Geist der Menschenrechte: Sie sind nämlich einmal – wie Jellinek betont – negative Freiheitsrechte gegenüber dem Staat, eine allgemeine Handlungsfreiheit voraussetzend, zum anderen aber auch die Rechte zur aktiven Beherrschung des ökonomischen, sozialen und politischen Lebens. Dieser unterschiedliche Akzent ist bis in die Formulierungen der „Déclaration des droits de I’homme“ und der Virginia Bill of Rights zu verspüren, selbst dort, wo Jellinek noch die vermeintliche Identität der Bestimmungen sieht: So wird in dem berühmten 17. Artikel im säkularisierten Pathos der kultischen Revolutionssprache das Eigentum als „heiligeInstitution
101
So heißt es, Déclaration des droits de I’homme et du citoyen, Art. 17: „La propriété étant un droit inviolable et sacré, nul ne peut en être privé […]“ (abgedr. in: Franz, Staatsverfassungen (wie oben, S. 111, Anm. 97), S. 302–306, hier S. 306.
deklariert, während in der Virginia Bill of Rights ausdrücklich der Vorgang des Erwerbens und Verfügens über Eigentum („acquiring and possessing property“)
102
Virginia Bill of Rights (1776) (wie oben, S. 111, Anm. 97), Section 1, S. 6.
als ein unverzichtbares Handlungsrecht postuliert wird.

8. Die ambivalente Rationalität des englischen Rechts

Aber läßt sich darüber hinaus aus der inneren Logik der protestantischen Ethik irgendeine Tendenz zur systematischen Durchdringung des Rechtsstoffes über den skizzierten Konnex zum Handlungsthema hinaus feststellen? In England jedenfalls ist ein solcher Effekt, wie Weber in seiner ambivalenten Charakterisierung des englischen Rechts
103
Vgl. im übrigen über den Zusammenhang von protestantischer Ethik und Recht in England die Studie von Little, David, Religion, Order and Law. A Study in Prerevolutionary England. – Chicago: University Press 1984.
als einerseits relativ rationales und andererseits rationalisierungsunfähiges „case law“ immer wieder betont. [113]gerade nicht eingetreten. Dieser Tatbestand ließe sich – wie angedeutet – als ein von Weber gar nicht bemerkter Widerspruch monieren, mit Konsequenzen für den Geltungsanspruch der Protestantismusthese. Er zeigt aber andererseits die Grenzen der Verschlingung von Recht und Religion.
Die Rekonstruktion der Wechselwirkung von rechtlicher und religiöser Rationalisierung zeigt: Selbst in den scheinbar weltabgewandten Studien zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ nimmt die Betrachtung des Rechts einen ganz zentralen Raum ein. Dies gilt für die Indien- und Chinastudie und in besonderem Maße für Webers Arbeit zum antiken Judentum, die sowohl unter religionsgeschichtlichem wie unter rechtsgeschichtlichem Blickwinkel zu lesen ist.
Aus den „innerjuristischen Verhältnissen“, aus denen sich die Richtung der rechtlichen Rationalisierung ergibt, ist schon durch die jeweiligen Trägerfiguren der juristischen „Offenbarung“ und ihrer „Propheten“ auf eine außerrechtliche Sphäre, die Religion verwiesen. Es gibt aber eine ebenso enge Verbindung zur Sphäre der Politik, ohne deren Einfluß die Rationalisierungen des Rechts im Sinne dogmatischer Verfeinerungen gar nicht wirksam würden, das heißt die politischen Mächte, von denen nach Weber die Systematisierung des Rechts als Durchsetzung einer verbindlichen Rechtsordnung ausgeht.
104
[113] Vgl. bes. § 6 der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“, unten, S. 552 ff.; vgl. dazu auch Gephart, Juridische Grundlagen (wie oben, S. 45, Anm. 1).

X. Die politischen Mächte und die Rationalisierung des Rechts

Eine Vielzahl rechtshistorischer Erscheinungen – von dem Recht der Fürsten und der Magistrate im okzidentalen Rechtsraum bis zur afrikanischen Jurisprudenz, vom indischen Rechtsbücherrecht bis zur chinesischen Rechtspflege – faßt Weber unter der Fragestellung zusammen, ob zu den außerjuristischen Umständen, die auf die Entwicklung des rationalen Rechts einwirkten, auch die politischen Mächte zu zählen sind und in welchem Sinne sie gerade auf die Systematisierung in der rechtstechnischen Form der Kodifikation einwirken.
Von den politischen Gewalten geht nämlich, wie Max Weber im § 6 über „Amtsrecht und patrimonialfürstliche Satzung“ zeigt, anders als man aufgrund der politischen Gestaltungsmacht des Imperium im Sinne der Amts- und Banngewalt vermuten könnte, nicht zwangsläufig ein systematisierender Effekt aus.

[114]1. Imperium und Rechtspflege

Vielmehr tendiert das Recht in landesväterlich patriarchalen Verhältnissen dazu, das intrafamiliale Streitmuster auf den politischen Verband zu übertragen: „Die gesamte Rechtspflege würde sich, wenn man diesen Zustand in seine Konsequenzen getrieben denkt, in ,Verwaltung‘ auflösen.“
1
[114] Unten, S. 561.
Dieser ,Sphärenfrevel‘ einer Mischung von Justiz und Verwaltung ist für patriarchale Verhältnisse typisch. Die patriarchale Rechtspflege wäre dabei keineswegs in jeder Hinsicht irrational, sondern wie Weber an den Beispielen China und Indien demonstriert, durchaus rational; freilich im Sinne der Verfolgung materialer Prinzipien der sozialen Ordnung, d. h. also zur Steigerung der materialen Rationalität des Rechts. Dieser Einfluß wird sorgfältig von den Struktureffekten anderer Systeme abgeschichtet: „Diese Art von Eingreifen des Imperium in die Rechtspflege und Rechtsbildung findet sich auf den verschiedensten ,Kulturstufen‘, es ist nicht ökonomisch, sondern primär politisch bedingt.“
2
Unten, S. 564. Zur Problematik von „Kulturstufen“ und deren idealtypischem Sinn vgl. ebd., Anm. 31, sowie die Einleitung, oben, S. 57 f.
Wenn die Entwicklung des Rechts also in die Richtung formaler Rationalisierung und nicht in diejenige einer entdifferenzierenden materialen Rationalisierung gehen soll, müssen diese antiformalen Kräfte traditionaler politischer Systeme überwunden werden. Denn diese Art der patriarchalen Rechtspflege beseitigt jede Binnendifferenzierung des Rechts: „Alle Schranken zwischen Recht und Sittlichkeit, Rechtszwang und väterlicher Vermahnung, legislatorischen Motiven und Zwecken und rechtstechnischen Mitteln sind niedergerissen.“
3
Unten, S. 566.
Erst die Verbindung von fürstlichen und bürgerlichen Interessen treibt die formale Rechtsrationalisierung an.
4
Vgl. unten, S. 567.
Im Manuskript der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ heißt es anstelle von „formaler Rechtsrationalisierung“ ursprünglich: „systematische Kodifikation“.
5
Ebd., textkritische Anm. o [Hervorhebung, Hg.].
Und dies trifft auch genauer den gemeinten Sachverhalt: Die Positivierung von Recht in einem Kodex, der über bloße Spruchsammlungen hinausgeht. Ein „natürliches“ Interesse von Imperium und Bürokratie an dieser Art von Systematisierung besteht allerdings nicht: „Aber eine Garantie von Rechten, die von Fürsten- und Beamtenwillkür unabhängig sind, liegt allerdings keineswegs in den genuinen eignen Entwicklungstendenzen der Bürokratie.“
6
Unten, S. 568.
Das fürstliche Imperium trägt jedoch langfristig zu einer gewissen Rechtsvereinheitlichung aus eigenen herrschaftsbezogenen Motiven bei. So sei dem Einfluß imperialer Gewalten „überall ein Zug zur Vereinheitlichung und Systematisierung des [115]Rechts eigen gewesen: zur ,Codifikation‘.
7
[115] Unten, S. 569.
Aber was sind die Interessen der Herrschaft an Systematisierung? Es sind solche der Herrschaftstechnik einerseits, aber auch persönliche Interessen der Beamten an einem rechtseinheitlich geregelten Herrschaftsgebiet: „Der Fürst will ,Ordnung‘. Und er will ,Einheit‘ und Geschlossenheit seines Reichs. Und zwar auch aus einem Grund, der sowohl technischen Bedürfnissen der Verwaltung wie persönlichen Interessen seiner Beamten entspringt: die unterschiedslose Verwertbarkeit seiner Beamten im ganzen Gebiet seiner Herrschaft wird durch Rechtseinheit ermöglicht und ergiebt erweiterte Carrierechancen für die Beamten, die nun nicht mehr an den Bezirk ihrer Herkunft dadurch gebunden sind, daß sie dessen Recht allein kennen.“
8
Ebd. [Hervorhebungen, Hg.].
Wie bei der Analyse der Träger der innerjuristischen Rationalisierung setzt Weber also auch hier auf das theoretische Argument eines Zusammenhangs von Interesse und Rationalismus. Diese Interessen werden typologisch unterschieden: Systematisierung bedeutet für den Beamten „Übersichtlichkeit“ im Sinne rechtstechnischer Beherrschbarkeit und für den bürgerlichen Rechtsinteressenten „Sicherheit“ im Sinne von Berechenbarkeit des Apparates zur Durchsetzung subjektiver Rechte.
9
Vgl. ebd.
Erst im Zusammenspiel von bürgerlichen Erwerbs- und Sicherungsinteressen, Interessen des Beamtentums und fürstlichen fiskalischen und verwaltungstechnischen Interessen werden die Voraussetzungen von „Codifikationen“ geschaffen.

2. System, ratio und Herrschaft

Diese genuinen Interessen des Imperiumträgers an der systematischen Einheit des Rechts werden nicht durch bloße formale Aufzeichnungen erfüllt, sondern: „System und juristische ,ratio‘ bringt erst – in begrenztem Umfang – die Arbeit der Rechtspraktiker hinein. Vor allem die Bedürfnisse des Rechtsunterrichts. In vollem Maße erst die Arbeit fürstlicher Beamter.“
10
Unten, S. 573.
Daß auch Rechtscharisma und Rechtsprophetie, wie die Prophetie im religiös dogmatischen Sinne, einen systematisierenden Einfluß auf die Rechtskultur ausüben kann, wird – wie gesehen – von Weber betont. Aber der Beamtenrationalismus steht der Kodifikationsidee doch näher und die Beamten werden so zu einer wichtigen Trägerschicht. Wie das Beispiel des Allgemeinen Preußischen Landrechts belegt, reichen diese Momente für sich genommen jedoch nicht aus, denn: „Der patrimoniale materiale Rationalismus hat überhaupt naturge[116]mäß nirgends formal juristisches Denken anregen können.“
11
[116] Unten, S. 588.
Sorgfältig unterscheidet Weber zwischen Rechtssammlungen, auch denjenigen Justinians, und einer systematischen Kodifikation. Für die justinianische Rechtskodifikation etwa bestreitet Weber das Gewicht unmittelbarer ökonomischer Interessen und sieht eher die Eigengesetzlichkeit des Apparates: „Die Herstellung innerlicher Rechtssicherheit im Interesse eines präzisen Funktionierens des amtlichen Apparates, daneben (speziell bei Justinian) das Prestigebedürfnis des Monarchen hat die spätrömischen Gesetzessammlungen und schließlich die justinianische Rechtscodifikation motiviert […].“
12
Unten, S. 575.
Gleichwohl wird den Rechtssammlungen, die noch keine systematischen Rechtssatzungen sind, für den Prozeß formaler Rationalisierung des Rechts ein nicht unerhebliches Gewicht beigemessen: „Dennoch bedeutet schon dies unvermeidlich in irgend einem Grade eine Systematisierung und in diesem Sinn[:] Rationalisierung des Rechtsstoffs […].“
13
Ebd.
Diese aber wurde vor allem durch die Rechtskultur des römischen Rechts repräsentiert. Daher gewinnt die Rezeption des römischen Rechts für den Prozeß der Rationalisierung des okzidentalen Rechts in Verbindung mit den Systematisierungstendenzen der frühneuzeitlichen patrimonialen Herrschaftssysteme des Okzidents eine zentrale Bedeutung.

3. Die Rezeption der formalen Qualitäten des römischen Rechts

Vermutlich gehört die Rezeption des römischen Rechts zu den am besten untersuchten Rezeptionsphänomenen der Kulturwissenschaften überhaupt. Daher versieht Weber seine Ausführungen auch mit einem caveat: „Deren Geschichte zu verfolgen wäre hier nicht der Ort, es muß vielmehr bei wenigen Bemerkungen darüber sein Bewenden haben.“
14
Unten, S. 578.
Auch hier sei noch einmal gegen die Kritiker Webers, die in der Stofffülle mit zu ertrinken drohen oder eine Ordnung des Materials vermissen, eingewendet, daß es Weber auch bei dieser, für Rechtsgeschichte und Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts dominanten Fragestellung, nicht um die Klärung eines rechtshistorisch und kulturwissenschaftlich höchst komplexen Prozesses als solchen geht, sondern ausschließlich um die Frage, welchen Beitrag die Rezeption zu den Entwicklungsbedingungen des rationalen Rechts leistet.
Dieses spezifische Erkenntnisinteresse wird deutlich, wenn man es mit den von Weber rezipierten zeitgenössischen Deutungen vergleicht: Ausdrücklich bezieht er sich auf die rechtshistorische Kontroverse über den Einfluß, den [117]fürstliche Beamte oder aber die ordentlichen Gerichte auf fürstliche Initiative hin an der Rezeption des römischen Rechts hatten.
15
[117] Sachlicher Kontext ist die Debatte zwischen Adolf Stölzel und Eduard Rosenthal über die Gründe und den institutioneilen Ort des ersten Eindringens romanistisch geschulter Juristen in den frühneuzeitlichen deutschen Territorien: vgl. bes. Stölzel, Gelehrtes Richtertum; ders., Gelehrte Rechtsprechung, sowie Rosenthal, Gerichtswesen; ders., Besprechung von A[dolf] Stölzel, Die Entwicklung der gelehrten Rechtsprechung, B[an]d 2, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germ. Abt., Band 31, 1910, S. 522–561 (hinfort: Rosenthal, Besprechung); siehe auch im Text, unten, S. 578 f. mit Sachkommentierung.
Aus dieser Kontroverse zieht Weber indessen den Schluß, daß es sachliche Notwendigkeiten des Rechtsbetriebs waren, die selbst für skeptische Stimmen gegenüber dem römischen Recht nach einer fachlichen Rationalisierung des Prozeßverfahrens verlangten. Gerade Eugen Ehrlich, dem Rechtssoziologen, dem Weber vor allem methodologische Konfusionen verwirft,
16
Vgl. unten, S. 432.
fühlt er sich bei dem unendlichen Thema des Rezeptionsprozesses verpflichtet: Dieser stellt nämlich auf den, für den Freirechtler ja höchst bedenklichen Tatbestand einer von den Rechtstatsachen abhebenden Abstraktion in der gemeinrechtlichen Rezeption der römischen Rechtsbegriffe ab: „Damit man die römischen Begriffe verwerten könne, mußten sie zuvor so ausgeweitet werden, daß sie nicht bloß die Erscheinungen des römischen, sondern auch die des mittelalterlichen Lebens umfaßten. Zu diesem Zwecke sollte aus dem Begriffe alles ausgeschaltet werden, was für die Gegenwart nicht paßte, also alles, was durch den besonderen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhang gegeben war, aus dem der Begriff in Rom einst hervorgegangen ist. Je mehr Kennzeichen ein Begriff verliert, um so abstrakter wird er; und so wurden aus den römischen Verallgemeinerungen schon im Mittelalter Abstraktionen. Die mittelalterlichen und neueren Abstraktionen sind ihres Inhalts in hohem Maße entleerte römische Verallgemeinerungen.“
17
Ehrlich, Grundlegung, S. 244; vgl. auch ebd., S. 248; vgl. im Text, unten, S. 581 f.
Hier teilt Weber mit Ehrlich also die rechtstheoretische Beschreibung des historischen Vorgangs, bei vollständig konträrer Bewertung für die eigene Fragestellung: während Weber auf die Spuren logifizierenden, abstrahierenden und systematisierenden Rechts im Prozeß der Rezeption abzielt, den „Kulturbedeutung“ zugeschriebenen Dimensionen rationalen Rechts entsprechend, liegt für Ehrlich hierin gerade das Monitum der unheilvollen Rezeption des römischen Rechts.
Zwar erkennt Weber im römischen Recht, unter dem Einfluß der griechischen Philosophie, Ansätze für das rein Logische, doch sind ihm solche Rechtssätze gleichwohl eher „Gelegenheitsproduktionen abstrakter Rechtlogik“
18
Unten, S. 581.
als ihr eigentlicher Geltungsgrund. Denn dies ist ja die unausgesprochene Voraussetzung der gemeinrechtlichen Jurisprudenz, der Weber das Höchstmaß an formaler Rationalität zuschreibt, daß ihr die Logik zur Rechts[118]quelle, ja zum Geltungsgrund des Rechts wird. Erst seine Rezeption setzt nach Weber die Rationalität des römischen Rechts frei, und zwar durch einen abgestuften Prozeß sukzessiver Aneignung im „Abstraktwerden der Rechtsinstitute selbst“,
19
[118] Unten, S. 582.
aus dem heraus sich eine systematisch-deduktive Methode der Rechtsgewinnung entwickelt und diejenigen Kategorien gebildet werden, die den römischen Juristen noch fehlten: im Zivilrecht etwa die „Willenserklärung“ und das „Rechtsgeschäft“. Erst recht sieht Weber die Errungenschaft der konstruktiven Jurisprudenz – eines ganz ursprünglichen „Konstruktivismus“, in dem es rechtlich nur das gibt, was konstruiert oder konstruierbar ist, die Welt also ist, „was der Fall ist“ –, als Ergebnis des Rezeptionsprozesses, aber nicht als eine Eigenschaft des rezipierten Rechts selbst. Weber stellt nun deutlich heraus, daß es nicht die vermeintliche Verwandtschaft mit den unmittelbaren Bedürfnissen der Rechtsinteressenten war – „die Institute des mittelalterlichen Handels- und des städtischen Grundbesitzrechts entsprachen ihren Bedürfnissen weitaus besser“
20
Unten, S. 580.
–, sondern daß die Rezeption der „formalen Qualitäten“ des römischen Rechts und der darin angelegten „Lebensfremdheit“ gegenüber den Interessenten durch einen gelehrten Juristenstand entscheidend war. Die materiellen Rechtsinstitute waren für den modernen Rechtsverkehr nicht unbedingt tauglich und die abstraktesten Begriffe der Rechtstheorie waren ja im römischen Recht erst gar nicht ausgebildet. So war nach Webers Deutung die Übernahme der analytischen Begriffstechnik des älteren römischen Rechts maßgeblich, das bei der Rezeption aufgrund der internen Denkbedürfnisse der „Rechtstheoretiker und der von ihnen geschulten Doktoren: einer typischen Aristokratie der litterarischen ,Bildung‘ auf dem Gebiet des Rechts“,
21
Unten, S. 583.
umgeformt wurde. Nicht wirtschaftliche Interessen, sondern Denkbedürfnisse nach einer „Logisierung des Rechts“ führten gerade durch die Diskrepanz zu den Lebensverhältnissen der römischen Antike, welche Weber schon früh in ihren Bann gezogen hatte, und durch die Übertragung auf „fremdartige, der Antike unbekannte Thatbestände“ zu den Konstruktionsleistungen der gemeinrechtlichen Jurisprudenz. Gerade weil im preußischen Allgemeinen Landrecht ein Anreiz für dogmatische Systematisierung nicht vorhanden war
22
Vgl. unten, S. 586.
– wie Weber mit Blick auf die deutsche Rechtskultur bemerkt –, konnten sich die internen Denkbedürfnisse der juristischen Dogmatik entweder auf die Rekonstruktion der „aus der Vergangenheit überkommenen plastischen Rechtsinstitute des alten deutschen Rechts“
23
Unten, S. 588.
in der romantischen, germanistischen Rechtsschule zuwenden oder aber dem römischen Recht, dessen „Usus modernus Pandectarum“ zugunsten einer [119]abstrakten Rechtslogik zurückgedrängt wurde. Beide Systematisierungsversuche, der paradoxe Versuch einer Systematisierung der gerade wegen ihrer Irrationalität geschätzten „germanischen“ Rechtsinstitute
24
[119] Vgl. unten, S. 590.
wie die „logische Neusystematisierung“
25
Unten, S. 589.
durch die romanistische Partei der Rechtshistoriker, sind aber in Webers Augen gescheitert. Nur im Wechsel- und Handelsrecht, einem partikularistischen Rechtsgebiet also, sei eine wissenschaftliche und schließlich auch kodifikatorische Systembildung ohne Verlust an Konkretisierung gelungen, „weil hier zwingende und eindeutige ökonomische Bedürfnisse im Spiel waren“.
26
Unten, S. 590 [Hervorhebung Hg.].
Der Glaube der rechtshistorischen Schule an eine Überwindung des Rationalismus jedoch wird als eine Täuschung entlarvt. Ihren Kampf gegen den von Naturrecht und Aufklärung beeinflußten gesetzgeberischen Rationalismus hatte die historische Rechtsschule mit einer historistischen Programmatik geführt, welche das römische Recht, von den Zufällig- und Zweckmäßigkeiten der gemeinrechtlichen Bearbeitung (Usus modernus) befreien sollte und in seiner ursprünglichen Gestalt wiederherzustellen forderte. Indem sie aber Recht und Rechtswissenschaft bewußt unempfindlich für die Forderungen der Lebensverhältnisse machte, konnte sie schon bald, nun konstruktiv-systematisch vorgehend, das römische Recht als überzeitlich geltendes Recht präsentieren, dessen Verbindung zur Gegenwart nicht durch praktische Anpassung immer wieder mühsam hergestellt werden mußte, sondern mittels formaler Logik dauerhaft garantiert war. Die daraus hervorgehende Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts hat dem naturrechtlichen Systemdenken auf romanistischem Gebiet zu einem späten Triumph verholfen, die historische Schule so den bekämpften Rationalismus auf dem Gebiet des von ihr hauptsächlich bearbeiteten römischen Rechts überhaupt erst entfesselt.

4. Vom Geist des Code civil

Hatte Weber Erklärungen des „Geistes“ einer Rechtskultur aus der „Gefühlskultur“ abgelehnt,
27
Vgl. die Einleitung, oben, S. 75 f.
so ist es nicht verwunderlich, daß er einen Mythos der clarté und clairté erst gar nicht bemüht, um die vermeintliche Interpretationsaskese des Code civil zu begründen. So wird gerade im deutschsprachigen Kontext immer wieder die außerordentliche Bedeutung der deutschen Rechtswissenschaft für die eigentliche rechtsdogmatische Systematisierung des Code civil betont. Gleichwohl steht für Weber außer Frage, daß der Code civil „als das Produkt der rationalen Gesetzgebung, das dritte große Weltrecht [120]geworden ist“ und daß den Grund dafür eben „diese formellen Qualitäten“ bieten, „welche eine außerordentliche Durchsichtigkeit und präzise Verständlichkeit der Bestimmungen teils wirklich enthalten[,] teils vortäuschen“.
28
[120] Unten, S. 593.
Dieses Weltrecht beruht auf bestimmten politischen Voraussetzungen, einer Kombination von spezifischer Staatsräson, revolutionärem Elan und dem persönlichen Eingreifen Napoléons, das Weber nicht bestreitet.
29
Vgl. dazu die Arbeit von Theewen, Eckart Maria, Napoléons Anteil am Code civil (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Band 2). – Berlin: Duncker & Humblot 1991.
Trotz allen Vernunftglaubens aber ist die Rationalität des Code civil durchaus beschränkt: Die „Durchsichtigkeit“ und „präzise Verständlichkeit“
30
Unten, S. 593.
ist nach Weber eben vielfach vorgetäuscht.
31
Das Argument findet sich beim Meister der Pandektistik, Windscheid, Bernhard, Zur Lehre des Code Napoleon von der Ungültigkeit der Rechtsgeschäfte. – Düsseldorf: Julius Buddeus 1847 (hinfort: Windscheid, Lehre); vgl. unten, S. 593, Anm. 3.
Und die Plastik ihrer epigrammatisch wirkenden Sätze geht – das ist der entscheidende Einwand Webers – vielfach auf Kosten der juristischen Präzision, ohne jedoch die Fachjuristen zur konstruktiven Durcharbeitung der Rechtsinstitutionen anzuregen. Die „abstrakte Gesammtstruktur der Rechtssystematik“
32
Unten, S. 593 mit Anm. 5.
und die „axiomatische Art zahlreicher andrer Bestimmungen“
33
Unten, S. 593.
läßt eben keinen Raum für legitime Interpretation und die Entwicklung einer über das Gesetz hinausgreifenden juristischen Systematik. In ein Wortspiel verkleidet Weber den methodologischen Fehler der französischen Juristen, indem sie einen „Satz“ des Rechts für einen „Rechtssatz“ nähmen, also die konstruktive Arbeit vernachlässigten, aus dem erst die Prinzipien hervorgehen, die den Rechtssatz konstituieren. Ob es ein Zufall ist, daß die erste wissenschaftliche Systematik des Code civil nicht von französischen Juristen, sondern durch die deutsche Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts geschaffen wurde, mag dahingestellt bleiben. Die Geltung des Code civil und der Nachahmungen, „die er in ganz West- und Südeuropa“
34
Hier ist an Belgien, Luxemburg, Portugal, Polen und Rumänien zu denken mit einer z. T. wörtlichen Übersetzung des dritten Buches des Code civil.
gefunden hat, entgeht Webers Bewunderung nicht, ohne daß er sich hier – im Vergleich zur Rezeption des römischen Rechts – um die Frage der Rezeptionsbedingungen dieses Rechts gekümmert hätte, die nach neueren Forschungen
35
Insbesondere von Filippo Ranieri; vgl. u. a. ders., 200 Jahre Code civil. Die Rolle des französischen Rechts in der Geschichte des europäischen Zivilrechts oder zum Aufstieg und Niedergang eines europäischen Kodifikationsmodells, in: Schmoeckel, Mathias und Schubert, Werner, 200 Jahre Code civil in Deutschland und Europa. Zur 200-Jahr-Feier [121]der napoleonischen Kodifikation (Reihe des Rheinischen Vereins für Rechtsgeschichte). – Köln, Wien: Böhlau 2005, S. 85–125.
gleichermaßen einer gesamteuropäischen Rechtspraxis wie der Übernahme des Rechtscorpus selbst zu verdanken ist. Interessant bleibt [121]die Parallele zum Auslegungsverbot in Judentum und Islam. Der auf die heilige Vernunft und das Genie seines Verfassers, eines charismatischen Rechtsschöpfers
36
Weber macht hier eigenartigerweise von seiner Begriffsbildung charismatischer Rechtsschöpfung keinen Gebrauch.
par excellence, gegründete Code ähnelt darin und in seiner, von Weber plastisch so genannten „epigrammatischen Theatralik“ den Formulierungen der Menschen- und Bürgerrechte: Das aus der Vernunft begründete revolutionäre Naturrecht spricht für sich selbst.
37
Vgl. unten, S. 600 f.: „Materialer Maßstab aber für das, was naturrechtlich legitim ist, sind ,Natur‘ und ,Vernunft‘.“

5. Paradoxien des rationalen Naturrechts

Webers Zugang zum Naturrechtsproblem unter den Voraussetzungen seiner Fragestellung nach den Entwicklungsbedingungen des Rechts kann nicht auf den Charakter der überpositiven Dignität ausgerichtet sein, sondern nur darauf, inwieweit sich ein Naturrechtsglaube empirisch in den positiven Rechtsordnungen niedergeschlagen hat, d. h. inwieweit er für das Verhalten der Rechtsschöpfer, Rechtspraktiker und Rechtsinteressenten praktisch bedeutsam wird, indem „die Überzeugung von der spezifischen ,Legitimität‘ bestimmter Rechtsmaximen, von der durch keinerlei Okroyierung von positivem Recht zu zerstörenden, unmittelbar verpflichtenden Kraft bestimmter Rechtsprinzipien, das praktische Rechtsleben wirklich fühlbar beeinflußt“.
38
Unten, S. 595.
Nur die Positivierung und ihr Einfluß auf die Rationalisierung des Rechts interessiert Weber also, wenn er die Frage nach dem „Recht des Rechtes“ – wie der versteckte Verweis auf Rudolf Stammler offenbart
39
Vgl. Stammler, Wirtschaft und Recht, S. 477–630, wo dieses „Fünfte Buch“ über „Das Recht des Rechtes“ handelt.
– aufwirft als Gegenstand einer Soziologie des Rechts.
Sein Begriff des Naturrechts ist aus der Entzauberung einer religiösen Legitimation des Rechts hervorgegangen, als „die spezifische und einzig consequente Form der Legitimität eines Rechts, welche übrig bleiben kann, wenn religiöse Offenbarungen und autoritäre Heiligkeit der Tradition und ihrer Träger fortfallen“.
40
Unten, S. 596.
Daher steht es eben auch den revolutionären Mächten zur Verfügung, von denen die alten Ordnungen umgestoßen werden. „Naturrecht“ ist nach Weber „der Inbegriff der unabhängig von allem positiven Recht und ihm gegenüber präeminent geltenden Normen, welche ihre Digni[122]tät nicht von willkürlicher Satzung zu Lehen tragen, sondern umgekehrt deren Verpflichtungsgewalt erst Iegitimieren“.
41
[122] Unten, S. 595 f.
Ein derart weit gefaßter Naturrechtsbegriff setzt auch die rechtshistorische Schule dem Naturrechtsverdacht aus, weil ihre Rechtsquellenlehre einen überpositiven Geltungsvorrang des Gewohnheitsrechts postuliert. Während Durkheim in der deutschen historischen Rechtsschule einen der stärksten Widersacher gegenüber einem überzeitlich angesetzten Naturrecht schätzt, werden von Weber die „naturalistischen“ Elemente der juristischen und soziologischen Romantik attackiert, die entweder dem Volksgeist zur Rechtsgeltung verhelfen wollen oder an das „Rechtsgefühl“ appellieren. Von diesem irrationalen Naturalismus der historischen Rechtsschule aber unterscheidet Weber einen „naturrechtlichen Rechtsrationalismus“ formaler Art, für den er den Begriff des Naturrechts letztlich auch reserviert wissen will. Die doppelte Quelle einerseits des entelechischen Naturbegriffs der Renaissance, der an die Antike anknüpft und damit das auch von Troeltsch benannte stoische Naturrecht umfaßt, und andererseits der religiösen Wurzeln in den puritanischen Sekten, auf die Jellinek hinweist,
42
Vgl. Jellinek, Menschen- und Bürgerrechte3 (wie oben, S. 111, Anm. 91); vgl. hierzu auch Stolleis, Michael, Georg Jellineks Beitrag zur Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte, in: Paulson, Stanley L., und Schulte, Martin (Hg.), Georg Jellinek – Beiträge zu Leben und Werk. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 2000, S. 103–116.
bzw. im Täufertum, worauf Troeltsch abhebt,
43
Vgl. Troeltsch, Soziallehren (wie oben, S. 108, Anm. 83).
bilden den ideenmäßigen Hintergrund der Naturrechtsdynamik in der Neuzeit, hier wiederum interessiert sich Weber primär für die ökonomisch wichtigen Maximen, woraus sich erklärt, daß Vertragsfreiheit, Testierfreiheit und Theorien des gerechten Preises, nicht aber die Menschenrechte selbst Gegenstand der Weberschen Rekonstruktionen sind. Unter diesem Gesichtspunkt werden die Lehren vom Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag als „naturrechtliche Construktion“, vor allem als Produkt juristischer Konstruktionsarbeit, wie Gierke gezeigt hat,
44
Vgl. insbes. zur Differenzierung von „Herrschafts-“ und „Gesellschaftsvertrag“: Gierke, Otto von, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik, 3., durch Zusätze verm. Ausg. – Breslau: Μ. & H. Marcus 1913, S. 76–122.
beleuchtet: „Das legitim durch freien Vertrag mit Allen (Urvertrag) oder mit Einzelnen Andern erworbene Eigentum und die Freiheit der Verfügung darüber, also prinzipiell freie Konkurrenz, gehört zu seinen selbstverständlichen Bestandteilen.“
45
Unten, S. 600.
Webers Spekulation über eine radikale Formalisierung des Naturrechtsproblems ist nahe an der Behauptung eines heimlichen Naturalismus der reinen Rechtslehre, wenn er formuliert: „Die naturrechtliche Legitimität positiven Rechtes kann entweder mehr an formale Bedingungen geknüpft sein oder mehr an materiale. Der Unterschied ist graduell, denn ein ganz rein [123]formales Naturrecht kann es nicht geben: es würde ja mit den ganz inhaltleeren allgemeinen juristischen Begriffen zusammenfallen müssen.“
46
[123] Unten, S. 599.
Genau dies aber erhebt Kelsen zum Programm seiner „reinen“ Rechtslehre, die sich aus Webers Perspektive als Exponentin einer formalen Naturrechtslehre verstehen läßt. Das „materiale“ Naturrecht aber bietet den doppelten Maßstab von „Natur“ und „Vernunft“, der sich – in der zeitgenössischen rechtstheoretischen Diskussion – zur „Natur der Sache“ oder der „Logik der Dinge“ verschiebt, worin für Weber von vornherein ein Kategorienfehler, die Verwechslung des „Geltensollenden“ mit dem „faktisch im Durchschnitt überall Seienden“, liegt, hier, in der kurzen Geschichte der Naturrechtslehren,
47
Vgl. vor allem unten, S. 601–608.
taucht noch einmal der Widersacher Rudolf Stammler auf, der „Naturgesetz“ von rechtlichem Gesetz nicht zu scheiden weiß, und im „Recht des Rechtes“ ein Naturrecht auferstehen läßt, das sich im Namen Kants schwerlich begründen läßt.
Es gibt also einen naturrechtlichen Rationalismus oder ein rationales Naturrecht. Man macht sich die Deutung Webers eben viel zu einfach, wenn man in „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“ ein auschließliches Plädoyer für den Rechtspositivismus sehen will. Zwar wird dieser nach Weber zum beherrschenden Rechtsparadigma,
48
Vgl. unten, S. 611 f.
doch ist das Naturrecht gleichzeitig die letzte Form einer Legitimierung des Rechts. Dieser überpositive Charakter des Naturrechts beruht auf einer Selbstlegitimation. Der Typus des historisch richtigen Naturrechts, wie er von der romantischen Rechtsschule propagiert wurde – „man ,könne‘ dem geschichtlichen Werden nicht verbieten, daß es sich vollziehe“,
49
Unten, S. 597.
sagt Weber ironisch –, praktiziert gerade diesen „Irrationalismus“. Neben dem historisch orientierten Naturrecht, qualifiziert Weber den erwähnten naturrechtlichen Wirtschaftsliberalismus als formales Naturrecht,
50
Vgl. unten, S. 599–602.
das immer wieder materialen Aufweichungen ausgesetzt sei, entweder in Gestalt des Erbrechts
51
Vgl. unten, S. 602.
oder in der Vorstellung eines „justum pretium“,
52
Vgl. unten, S. 607 f.
νollends aber in dem materialen Naturrecht des Sozialismus,
53
Vgl. unten, S. 604 f. und S. 609 f.
das von der ausschließlichen Legitimität des Erwerbs durch Arbeit ausgeht. Dabei leugnet Weber den Einfluß von Klasseninteressen nicht im mindesten: „Natürlich haben ebenso das formale rationalistische Naturrecht der Vertragsfreiheit wie dies materiale Naturrecht der ausschließlichen Legitimität des Arbeitsertrags sehr starke Klassenbeziehungen.“
54
Unten, S. 604.
Weiter heißt es in marxistisch anmuten[124]der Terminologie: „Die Vertragsfreiheit und alle Sätze über das legitime Eigentum, welche daraus abgeleitet wurden, waren selbstverständlich das Naturrecht der Marktinteressenten, als der an endgültiger Appropriation der Produktionsmittel Interessierten.“
55
[124] Ebd. [Hervorhebung, Hg.].
Aber auch die Versuche einer naturrechtlichen Legitimation des Sozialismus
56
So heißt es, unten, S. 609: „Das Emporwachsen des Sozialismus bedeutete dann zwar zunächst die steigende Herrschaft materialer Naturrechtsdogmen in den Köpfen der Massen und mehr noch in den Köpfen ihrer der Intellektuellenschicht angehörigen Theoretiker.“
sind nicht nur selbst klassenbedingt, sondern aufgrund der „evolutionären Dogmatik des Marxismus“, wie Weber sagt, im Prozeß der Intellektualisierung zur Selbstauflösung verdammt.
So positiv Weber das Naturrecht als letzte Form der Legitimation des Rechts auch deuten mag: mit der soziologischen Aufklärung über die hinter dem Naturrecht stehenden Interessen oder Interessenkompromisse ist die legitimatorische Kraft des Naturrechts geschwunden und der „Rechtspositivismus ist infolgedessen in vorläufig unaufhaltsamem Vordringen“.
57
Unten, S. 611.
Weber sieht mit nahezu prophetischen Augen die Konsequenzen, die sich aus der Krise bzw. der Auflösung des Naturrechts ergeben, welche durch den juristischen Rationalismus selbst und durch den modernen Intellektualismus gefördert wird: „Aber eben dieses Absterben seiner metajuristischen Verankerung gehörte zu denjenigen ideologischen Entwicklungen, welche zwar die Skepsis gegenüber der Würde der einzelnen Sätze der konkreten Rechtsordnung steigerten, eben dadurch aber die faktische Fügsamkeit in die nunmehr nur noch utilitarisch gewerthete Gewalt der jeweils sich als legitim gebärenden Mächte im Ganzen außerordentlich förderten.“
58
Unten, S. 612.
So sehr jedenfalls, daß man die Herrschaft des Unrechts im Nationalsozialismus auch auf den Niedergang des Naturrechts hat zurückführen wollen, wofür bei Weber eine soziologisch-historische Erklärung vorgezeichnet wäre.
59
Dies ist bekanntlich höchst umstritten. Die Auffassung, daß die Herrschaft des nationalsozialistischen Unrechtssystems gerade oder zumindest auch auf einer Mißachtung tradierten, formal rationalen Rechts beruht, hat eine hohe Plausibilität für sich.
Jedenfalls finden sich keine Anhaltspunkte, aus einem Naturbegriff Webers dessen besonders kritisches Verhältnis zum Naturrecht herzuleiten oder seiner Naturferne eine Naturrechtsskepsis anzudichten.
60
So steht die Biographie von Joachim Radkau unter dem Leitstern von Vergewaltigung, Rache und Erlösung der „Natur“ (vgl. ders., Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. – München. Wien: Hanser 2005).
Derartige biographische Reduktionen würden genau den naturalistischen Fehlschluß begehen, den Weber den Naturrechtslehren, auch solchen im Gewande der „Natur der Sache“ oder der „Logik der Dinge“, kritisch vorhält.

[125]XI. Die materialen Qualitäten des formalen Rechts und die Gefährdungen moderner Rechtskultur

Webers Lob des formal rationalen Rechts, das die gesamte Analyse der Entwicklungsbedingungen des rationalen Rechts durchzieht, sobald die Stammlersche Fragestellung nach dem Verhältnis von Wirtschaft und Recht in den Hintergrund tritt, kulminiert im letzten Paragraphen der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ in einer Eloge der Konstruktions- und Begriffsjurisprudenz. Gleichzeitig fallen rechtssoziologische und rechtsphilosophische Versuche, aus der rechtstheoretischen Entzauberung der vermeintlich rein rechtsanwendenden Tätigkeit des Juristen den Schluß auf eine zunehmend auch normativ zu billigende charismatische Rechtsschöpfung für die Aufgaben des Rechts der Gegenwart zu ziehen, unter sein Verdikt. Dies möge man den „Propheten“ vorbehalten,
61
[125] Vgl. unten, S. 638: „Wirklich bewußt ,schöpferisch‘, d. h. neues Recht schaffend, haben sich nur Propheten zum geltenden Recht verhalten.“
als die er sich die Richter an einem königlichen Amtsgericht nicht vorzustellen vermag, hier wendet Weber seine Analyse der Bedingungen rechtlicher Rationalisierung gegen eine zeitgenössisch starke Strömung innerhalb der Freirechtsschule und verwandter Lehren, indem er – die Argumentation der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ resümierend – eine theoretische Stufenfolge derart zuspitzt, daß auf die Phase einer charismatischen Rechtsoffenbarung durch „Rechtspropheten“ eine Art empirischer Rechtsschöpfung und Rechtsfindung durch „Rechtshonoratioren“ folge, sich aus Sicht der autonomen Rechtssphäre als fremdgesetzt empfundene Eingriffe des Imperiums weltlicher und theokratischer Gewalten, anschließen, um in der Rechtssatzung nach formallogischen Gesichtspunkten zu münden, die von „Fachjuristen“, den Rechtsgebildeten und in diesem Sinne: Gebildeten des Rechts, ausgeht.
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Vgl. die Formulierungen, unten, S. 617 f.
Kein Wunder also, daß die Nachfahren der inkriminierten Lehren sich düpiert fühlten; und so hat Manfred Rehbinder den Kreis der Weber-Forscher dadurch erschreckt, daß er den Weberschen „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ attestierte, hoffnungslos hinter der zeitgenössischen Rechtstheorie und Rechtssoziologie zurückzubleiben.
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Vgl. Rehbinder, Manfred, Max Weber und die Rechtswissenschaft, in: Rehbinder/Tieck, Weber als Rechtssoziologe (wie oben, S. 37, Anm. 76), S. 127–149. Sein Beitrag beginnt mit der Behauptung (ebd., S. 127): „Von seinen Zeitgenossen als ,kenntnisreichster und scharfsinnigster Gelehrter seiner Zeit‘ gefeiert, hat der Soziologe Max Weber – von Hause aus Jurist – gleichwohl Recht und Rechtswissenschaft seiner Zeit gründlich verkannt.“
Nimmt man den Gewährsmann dieser Einschätzung Rehbinders zu Hilfe, nämlich den auch von Weber als „Rechtssoziologe“ erwähnten Eugen Ehrlich, dann wird das vermeintliche [126]Mißverstehen nachvollziehbar. So resümiert Ehrlich seine „Grundlegung der Soziologie des Rechts“ dahin, „der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liege auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in der Gesetzgebung, noch in der Jurisprudenz oder in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst.“
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[126] Ehrlich, Grundlegung, Vorrede.
Von einem solchen rechtssoziologischen Reduktionismus freilich setzt sich Weber in doppelter Hinsicht ab: Einmal werden Gesetzgebung, Jurisprudenz und Rechtsprechung ihre je eigene Bedeutung für die Entwicklung einer Rechtskultur zugestanden, während andererseits Gesellschaft nicht auf Klassen oder Interessen reduziert wird, sondern gerade die Eigengesetzlichkeit religiöser Kulturinhalte in Konkurrenz zu den rechtlichen tritt und auch als Motor der juristischen, die Rechtssphäre konstituierenden Kulturinhalte betrachtet werden muß.
Noch provozierender mußte einer sich rechtssoziologisch aufgeklärt wähnenden Jurisprudenz Webers Festhalten am Ideal einer Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz erscheinen, das auch noch sozialistische Aufweichungen einer Wertungsjurisprudenz schärfstens abwies. Dies unterschätzt Webers Respekt vor ihren Vertretern, nicht zuletzt vor Hermann Kantorowicz, den Weber für den ersten Soziologentag als Redner gewonnen hatte. Es läßt aber auch die reflexive Analyse Webers vermissen, welcher die „Entzauberung“ der ausdrücklich als „Postulate“ ausgewiesenen Annahmen dieser „rechtssoziologischen“ Strömungen selbst als ein Ergebnis des widersprüchlichen Prozesses okzidentaler Rationalisierung darstellt: „Alle, auch und gerade die irrationalistischen, Spielarten der Abkehr von der in der gemeinrechtlichen Wissenschaft entwickelten rein logischen Rechtssystematik sind aber andererseits wieder Konsequenzen der sich selbst überschlagenden wissenschaftlichen Rationalisierung und voraussetzungslosen Selbstbestimmung des Rechtsdenkens.“
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Unten, S. 631.
Weber versucht auch hier die Konsequenzen einer „intellektualistischen Desillusionierung“ als Fehlschluß aus der Faktizität der Rechtsanwendung auf eine gewünschte Normativität der beliebigen Wertungsjurisprudenz, als eine Art „Kadijustiz“ in seinem polemischen Sprachgebrauch, zu erweisen. Freilich hat sich nicht nur nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus, sondern auch nach dem Scheitern des sozialistischen Weltexperiments, der Sinn für das „Formale“ im Recht und auch die Idee des ethischen und rechtlichen Universalismus in spürbarer Weise wiederbelebt.
Weber überrascht durch ein Rechtsbild der Moderne, das keineswegs durch unaufhaltsame universalistische Tendenzen gekennzeichnet ist. Zwar liegt das Defizit außerokzidentaler Rechtsordnungen in partikularistischen Hemmnissen der Rechtsentwicklung begründet; aber auch innerhalb der okzidentalen Rechtskultur sind partikularistische Strömungen und Bewegun[127]gen zu verzeichnen. Webers sehr viel komplexere Auffassung läßt sich am ehesten dadurch charakterisieren, daß in Parallele zur Unterscheidung formaler und materialer Rationalität bzw. Irrationalität Weber zwischen formalem und materialem Universalismus bzw. Partikularismus differenziert, hiernach weisen etwa die Menschenrechte einen materialen Anspruch universaler Geltung auf, während das Vertragsrecht – wie Weber immer wieder betont – eben den nur formell universal „freien“ Kontrakt garantiert. Andererseits gibt es im modernen Recht Tendenzen der personalen Geltungsbeschränkung, etwa in dem nur für Kaufleute geltenden Handelsrecht, das freilich nicht durch ständische, sondern durch Klassenmerkmale der Tätigkeit des „Handelsgewerbes“ bestimmt ist: Das Handelsrecht ist insofern als „formal“ partikularistisch zu charakterisieren. Materiale Beschränkungen universaler Rechtsgeltung im Professionsrecht oder lokale Partikularitäten sind im modernen Staat zurückgetreten, ebenso wie die Anknüpfung an den sozialen Stand im Sinne eines ständisch gebundenen Partikularismus. Webers Sorge gilt einer anderen Art von politisch intendiertem materialem Partikularismus, der eine antiformale Ausrichtung an klassenorientierter, vermeintlich „materialer Gerechtigkeit“ anstelle „formaler Rationalität“ einfordert, wie im sozialistischen Rechtsverständnis.
Den Rechtsrationalismus sieht Weber hierbei von mehreren Seiten bedroht: Die an Berechenbarkeit des Rechts ausgerichteten Interessen, nämlich die der Gütermarktinteressenten, tragen eine eigentümliche gesinnungsethische Komponente in das formal rationale Recht hinein,
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[127] So scheint Weber die Berücksichtigung subjektiver Tatbestandsmerkmale per se problematisch: vgl. unten, S. 621 f.
nämlich sog. Vertrauenstatbestände zu juridifizieren, die ihrer personalen Natur nach weniger formal tatbestandlich zu fassen sind. Die Zunahme der bona-fides-Regeln – man denke nur an § 157 und § 242 BGB – stellt nach Weber eine Aufweichung der formalen Qualitäten rationalen Rechts dar. Letztlich sind innerjuristische Rationalität und die Erwartungen der Rechtsinteressenten in Webers Analyse aber prinzipiell disparat. Die viel beklagte „Lebensfremdheit“ der Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz ist Weber zufolge nicht zufällig, „sondern in weitem Umfang die ganz unvermeidliche Folge der Disparatheit logischer Eigengesetzlichkeiten jedes formalen Rechtsdenkens überhaupt gegenüber den auf ökonomischen Effekt abzweckenden und auf ökonomisch qualifizierte Erwartungen abgestellten Vereinbarungen und rechtlich relevanten Handlungen der Interessenten“.
67
Unten, S. 622.
Dies klingt nach uneingeschränktem Lob der Dogmatik, benennt aber am Ende nur den tragischen Konflikt zwischen Juristenrecht und populärem Rechtsempfinden.
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An diesem Konflikt scheiden sich die Geister; die Standpunkte reichen von der scharf betonten Unvereinbarkeit über Hilfskonstruktionen fiduziarischer Verantwortung des Juri[128]stenstandes für das allgemeine Rechtsbewußtsein in der juristischen Romantik bis hin zum Postulat der Herrschaft des allgemeinen Rechtsbewußtseins.
Weber nimmt dabei ja durchaus zur [128]Kenntnis, daß etwa das Postulat der Lückenlosigkeit des Rechts als bloßes Ideal entlarvt wird. Es gehört vielmehr zur „Entzauberung“ des Rechts in der Folge des allgemeineren Prozesses der „sich selbst Überschlagenden wissenschaftlichen Rationalisierung“,
69
Unten, S. 631.
daß auch das Postulat, der bloß rechtsatzanwendenden Tätigkeit des Juristen durchschaut wird. Nur hängt es wieder von der spezifischen innerjuristischen Interessenlage einer sich rein rechtstheoretisch gerierenden Kritik ab, in wessen Namen Lücken gefüllt oder wem die Legitimation der Rechtsschöpfung zugeschrieben wird. Je „freier“ die Rechtsschöpfung wird, um so größer wird der Bedarf nach neuer Bindung, sei es in dem sehnsüchtigen Rückfall in ein überpositives Recht oder in der Illusion eines quasi „natürlichen“ Rechts des Interessenausgleichs. „Rechtsprophetie“ und „Rechtserkenntnis“ überpositiver Normen aber würde die Rechtsentwicklung auf vormoderne Rechtsstufen zurückwerfen. So verschlingen sich die Idee juristischen Fachmenschentums und die These der unauflösbaren Eigengesetzlichkeit rationalen Rechts: „Jedenfalls aber wird die juristische Präzision der Arbeit, wie sie sich in den Urteilsgründen ausspricht, ziemlich stark herabgesetzt werden, wenn soziologische und ökonomische oder ethische Räsonnements an die Stelle juristischer Begriffe treten.“
70
Unten, S. 638.
Analytik und Systembildung, fallbezogene Konkretisierung und juristisch konstruktive Begriffsbildung bleiben also die Fluchtpunkte rechtlicher Rationalisierung. Sie liefern von jeher das Profil der Rechtskritik.
71
Zu einem interessanten Versuch, den Begriff des Rechts von der Stoßrichtung der Rechtskritik herzuleiten vgl. Seelmann, Kurt, Rechtsphilosophie, 2., überarb. Aufl. – München: C. H. Beck 2001.
Weber sieht dabei den Konflikt zwischen formaler Legalität und materialer Gerechtigkeit als unvermeidlich an, wenn er von den „Konsequenzen des unaustragbaren Gegensatzes zwischen formalem und materialem Prinzip der Rechtspflege“
72
Unten, S. 637.
spricht. Eigentümlicherweise versteht es Weber nicht, den Eigenwert formaler Rechtsstaatlichkeit auf einen normativen Begriff zu bringen.
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Immerhin unterstreicht Webers Bezug auf lherings Diktum über die Form als „die Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit“ im Kontext der Soziologentagsdebatten die „Kulturbedeutung“ der „Form“ im formal rationalen Recht des Okzidents (vgl. Weber, Diskussionsbeitrag II (wie oben, S. 19. Anm. 1), S. 327).
Und es im Unrecht, das im Namen materialer Gerechtigkeit gesprochen wird, sei es im Wege der nationalsozialistischen Mißachtung des Rechts als Limitierung charismatischer – prinzipiell rechts-, weil bindungsfeindlicher – Herrschaft oder [129]aber im Rahmen der „sozialistischen Gerechtigkeit“, wird nur dem Risiko formaler Irrationalität ausgesetzt, die aber zugleich eine materiale darstellt.
Ein solcher Kern okzidentaler Rechtskultur in dem gekennzeichneten Sinne formaler Rechtsrationalität steht im Hintergrund von Webers vergleichender Kultursoziologie des Rechts. Diese Errungenschaft heißt es gegen eine „soziologische Rechtswissenschaft“ im Sinne Eugen Ehrlichs
74
[129] Die Rechtswissenschaft werde ihrer Aufgabe nur dann ganz gerecht, „wenn sie eine Morphologie der menschlichen Gesellschaft gibt, und die Kräfte, die in der Gesellschaft wirken auf ihr Wesen und ihr Maß untersucht. So wird die Jurisprudenz zur Rechtswissenschaft, zur Lehre vom Recht als gesellschaftlicher Erscheinung […]“ (Eugen Ehrlich, Soziologie und Jurisprudenz. – Czernowitz: Gutenberg 1906, S. 19; hinfort: Ehrlich, Soziologie und Jurisprudenz).
und seiner Nachfolger zu verteidigen, die das Problem juristischer Wertbegründung verkennen, und gegen eine rechtstheoretische Desillusionierung des Automatenmodells, die anstelle der Idee der Rechtsanwendung die Illusion von schöpferisch freier Rechtsfindung
75
Zu Webers Auseinandersetzung mit der Freirechtsschule vgl. im Detail: unten, S. 625–627.
setzt oder zu traditionaler Rechtsprophetie – aus durchsichtigen Standesinteressen heraus – zurückkehrt. Weber ist seinerseits prophetisch in der Voraussage, daß die zunehmende „Verrechtlichung“ – Weber spricht anschaulich von dem „an technischem Gehalt stetig anschwellenden Recht“
76
Unten, S. 639.
– nicht nur eine zunehmende Rechtsunkenntnis der Laien produziere, sondern gleichzeitig die zunehmende Wertung der formalen Qualitäten des modernen Rechts „als eines rationalen, daher jederzeit zweckrational umzuschaffenden, jeder inhaltlichen Heiligkeit entbehrenden, technischen Apparats“ als sein „unvermeidliches Schicksal“
77
Ebd.
erzeuge. Diese Prognose läßt sich auf Jürgen Habermas’ Theorie des Rechts anwenden, die von einer Kolonisierungsthese in ein Lob der formalen Prinzipien des Rechtsstaates im Gewande einer prozeduralen Theorie der Gerechtigkeit umgeschlagen ist.
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Vgl. vor allem: Habermas, Theorie (wie oben, S. 74, Anm. 8); ders., Faktizität (wie oben, S. 32, Anm. 53); vgl. hierzu auch Gephart, Recht (wie oben, S. 32, Anm. 53), S. 177–183.
Aber wie läßt sich das unstillbare Bedürfnis des Laien nach Verstehen des Rechts befriedigen, was durch die von Weber eher karikatural als „Volksjustiz“ bezeichnete Rechtspflege der Geschworenen nur unzureichend möglich ist? Es nimmt nicht wunder, daß dieses letztlich wertgebundene Konzept formaler Rechtskultur des Okzidents für den Export von Civil Society und die Transformation vormals sozialistischer Gesellschaften an Attraktivität gewinnt.
Wer meint am Ende nicht, den großen Entzauberer durch den Nachweis von Plagiaten, vielleicht auch intentionalen Plagiaten selbst entzaubern zu kön[130]nen, was erst die aufwendige Arbeit am Text, auf der unendlichen Suche nach dem impliziten Zitat, überhaupt ermöglicht. – Doch das Ergebnis ist niederschmetternd: Überall wo Literaturbezüge nachweislich sind oder wahrscheinlich gemacht werden können, sei es in Wahlverwandtschaften zu dem methodologisch in die Schranken gewiesenen „Rechtssoziologen“ Eugen Ehrlich, zu den Rechtshistorikern Ludwig Mitteis, Heinrich Brunner, Andreas Heusler oder Rudolph Sohm, den Rechtsethnologen Hermann Post oder Josef Kohler etc., bleibt das völlig neue Arrangement des Materials, die hochselektive Sortierung des unendlichen Rechtsstoffes für die Zwecke allein der Fragestellung nach den rationalen Grundlagen des modernen Rechts im Okzident und nach denjenigen Zukunftschancen, die ein formal rationales Recht gegen gesinnungsethische Überformungen zeitigen würde, außer Zweifel. Der Verfall des Rechts im Nationalsozialismus geschah nicht auf den Schultern des Rechtspositivismus, sondern durch die Negierung gerade der Idee des formal rationalen Rechts, das ja ein eigenes der Willkür zuwiderlaufendes Wertideal enthält. Inwieweit dieses Ideal auch den Grund einer, rechtskulturelle Differenzen umschließenden Weltrechtskultur liefern wird, bleibt immer noch offen. Mit Webers Analysen zu den Entwicklungsbedingungen rationalen Rechts hat man freilich ein Deutungsmittel an der Hand, das die Widerstände im Kampf der Rechtskulturen aus den jeweiligen religiös-kulturellen Zusammenhängen verstehbarer macht und dem Projekt einer Rationalisierung des Rechts in einer Weltrechtsgemeinschaft sowohl die faktischen, rechtskulturell bedingten Grenzen aufzeigt wie die Bedeutung einer solchen Suche nach einer normativen Ordnung und der sie garantierenden Einverständnisgemeinschaft erhellt.

XII. Biographischer Epilog

Zu seiner Überraschung erhält Max Weber im Februar 1919 ein Telegramm des Geheimen Regierungsrates Carl Heinrich Becker aus Berlin, aus dem hervorgeht: „Kultusministerium bietet Ihnen Ordinariat für Staatslehre und Politik Universität Bonn an. Lehrauftrag und Lehrverpflichtung nach Ihren Wünschen. Brief folgt (gez.) Becker.“
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[130] Zit. nach einem Brief Max Webers an den Dekan der Juristischen Fakultät, Josef Heimberger, vom 5. Febr. 1919, UA Bonn, Acta der Juristischen Fakultät, betreffend Dozenten, Nr. 9 (MWG II/10).
Daß Weber den Ruf nicht angenommen hat, ist bekannt. Interessant bleibt Webers Selbsteinschätzung im Zusammenhang eines Berufungsverfahrens, das ihn an eine juristische Fakultät geführt hätte. Da liegen dann auch die Zweifel Webers, „ob diejenige Art der Behandlung der Staatsprobleme, die ich dabei anspreche, in eine Juristi[131]sche Fakultät gehört […].“
80
[131] Ebd.
Die Rückkehr in den Schoß der einmal verlassenen, nunmehr vom Rechtssoziologen gegen die „Rechtssoziologen“ in ihrer Eigenständigkeit verteidigten Jurisprudenz entsprach nicht Webers disziplinärer Selbstverortung. „Mir liegt“ – so schreibt er vielmehr –, „wenn ich in ein akademisches Lehramt eintreten möchte, daran, die ,Gesellschaftswissenschaft‘ (Soziologie) in ihrem vollen Umkreis, vor allem freilich die Rechts- und Staats–Soziologie, zu traktieren.“
81
Ebd.
Mag dies noch gut zu der Ausrichtung der hier edierten Manuskripte passen, so zieht Webers Kritik der Verwechslung von juristischer und soziologischer Betrachtungsweise auch wieder enger in die juristische Welt zurück: „Ich bilde mir thatsächlich ein, die äußerst dilettantische Art, wie diese beiden Fächer (und die Soziologie überhaupt) heute vielfach, zumal von Nicht-Juristen, aber gelegentlich auch von Juristen – [Randnotiz Webers:] Ehrlich! (trotz mancher zweifelloser Verdienste!) – behandelt und dadurch diskreditiert worden sind, durch eine schärfere und ganz klare Scheidung juristischer und soziologischer Betrachtungsweise verdrängen zu können.“
82
Ebd.
Freilich sieht Weber diese Behauptung als einen Wechsel auf die Zukunft an, zumal diejenigen Manuskripte, die ihn hierzu legitimiert hätten, ja noch der Überarbeitung und Integration in die sich wandelnden Konzeptionen seines Grundrißbeitrages harrten. Daher insistiert Weber auf der Frage, ob die Fakultät und insbesondere die Staatsrechtler in ausreichender Weise befragt worden seien. Gegenüber dem Geheimrat Becker verweist Weber auf die Loyalität, die ihn an die früher aufgenommenen Verhandlungen mit der Münchner Staatswirtschaftlichen Fakultät bänden. Gleichzeitig macht er für eine Berufung nach Bonn Hoffnung, weil er seine Forderung nach einer gesellschaftswissenschaftlichen Ausrichtung in München keineswegs als gesichert ansieht und für den Fall eines Scheiterns der dortigen Berufungsabsichten versichert: „[…] dann werde ich mit Freude in eine Verhandlung über Ihr ehrenvolles Angebot eintreten […].“
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Brief Max Webers an Carl Heinrich Becker vom 6. Febr. 1919, GStA PK, VI. HA, Nl. Carl Heinrich Becker, 1917–1920, Nr. 4952 (MWG II/10).
Das Schreiben Beckers macht den hochschulpolitischen Kontext deutlicher, soweit es darum ging, der Universitätsgründung in Köln, Folge eines „skrupellosen kommunalen Egoismus“, etwas entgegenzusetzen, „um Bonn wieder aus seinem Dornröschenschlaf zu erwecken und ihm möglichst erstklassige Kräfte zuzuführen“.
84
Brief von Carl Heinrich Becker an Max Weber vom 6. Febr. 1919, GStA PK, VI. HA, Nl. Carl Heinrich Becker, 1917–1920, Nr. 4952 (MWG II/10).
Dazu zählte man Weber, der die Nachfolge Bergbohms antreten sollte, ohne dessen Lehrbereich zu unterliegen. Gleichwohl fragt sich Weber in seinem Rückschreiben, was denn aus Bergbohms staatsrechtlichen [132]Kollegien werde, um hinzuzufügen: „Ich bin doch kein Staatsrechtslehrer […].“
85
[132] Brief Max Webers an Carl Heinrich Becker vom 9. Febr. 1919, GStA PK, VI. HA, Nl. Carl Heinrich Becker, 1917–1920, Nr. 4952 (MWG II/10).
Während nun die Juristische Fakultät in Bonn versichert, daß er aus eigener Initiative einstimmig und als Einziger vorgeschlagen sei, wobei Soziologie durchaus erwünscht sei,
86
Vgl. das Telegramm von Josef Heimberger an Max Weber vom 12. Febr. 1919, UA Bonn, Acta der Juristischen Fakultät, betreffend Dozenten, Nr. 9.
sekundiert Becker aus Berlin, indem er Weber damit zu locken sucht, daß die zufällig frei werdende staatsrechtliche Lehrstelle keinerlei Verpflichtungen für ihn begründen würden, zumal Rudolf Smend und Josef Partsch als Fachkollegen mit einer Begrenzung auf die Staats- und Gesellschaftswissenschaft einverstanden seien und es Wunsch des Berliner Ministeriums sei „nach und nach überall eigene Lehrstühle für Soziologie zu schaffen […]“.
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Brief Carl Heinrich Beckers an Max Weber vom 12. Febr. 1919, GStA PK, VI. HA, Nl. Carl Heinrich Becker, 1917–1920, Nr. 4952.
Umso mehr betont Weber in den Verhandlungen mit München, ihm läge nur daran, daß die Soziologie nicht in Dilettantenhände gelange.
88
Vgl. den Brief Max Webers an Walther Lotz vom 21. Febr. 1919, GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 25, Bl. 95 (MWG II/10).
Aus einem Schreiben an Hermann Oncken erfahren wir Webers Entscheidung: „Nach München gehe ich sehr ungern, wäre lieber nach Bonn gegangen und am liebsten hier geblieben, was mir aber pekuniär unmöglich war.“
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Brief Max Webers an Hermann Oncken vom 25. März 1919 (maschinenschriftliche Abschrift), GStA PK, VI. HA, Nl. Max Weber, Nr. 30, Bd. 8, Bl. 114 (MWG II/10).
In gleichem Sinne schreibt Weber auch Becker von der Annahme des Münchener Rufes,
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Vgl. den Brief Max Webers an Carl Heinrich Becker vom 25. März 1919, GStA PK, VI. HA, Nl. Carl Heinrich Becker, 1917–1920, Nr. 4952 (MWG II/10).
den er ehrenhalber wegen dessen Exponiertheit habe annehmen müssen, da – wie er an anderer Stelle bemerkt, „es die Kollegen wie eine Art Fopperei ansehen würden, wenn ich ohne sachlichen Grund mich ihnen grad jetzt entzöge“.
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Brief Max Webers an Carl Heinrich Becker vom 7. März 1919, GStA PK, VI. HA, Nl. Carl Heinrich Becker, 1917–1920, Nr. 4952 (MWG II/10).
Schließlich fügt Weber hinzu: „Sonst wäre in jeder Hinsicht die Bonner Stelle für mich das allein Erstrebenswerte gewesen, und auch dort hätte ich nützlich sein können.“ Die Juristische Fakultät in Bonn aber gab nicht auf und richtete noch im Juli desselben Jahres ein Gesuch an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volkserziehung in Berlin, Weber nun doch auf eine „Professur für Allgemeine Staatslehre und Politik“ zu berufen und einen weiteren Versuch zu unternehmen.
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In einem Schreiben Josef Heimbergers vom 15. Juli 1919, das von sieben weiteren Unterschriften, u. a. von Rudolf Smend und dem damaligen Rektor Ernst Zitelmann, unterstützt wird (UA Bonn, Acta der Juristischen Fakultät, Dozenten betreffend, Nr. 9).
[133]Was auch immer bei Weber letztlich den Ausschlag für München gegeben haben mag,
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[133] Es ist offenkundig, daß hierbei auch private Interessen Webers eine Rolle gespielt haben.
das gescheiterte Bemühen um eine Berufung an die damalige Juristische Fakultät in Bonn zeigt die Nähe, die Weber zur Jurisprudenz von seiner Studienzeit über all den Häutungen in Nationalökonomie, Geschichtswissenschaft, Religionssoziologie und soziologischer Staatslehre bis hin zur paradoxen Soziologie der Entwicklungsbedingungen des rationalen Rechts bewahrt, in der die Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit von Recht und Jurisprudenz einem methodologisch unbedachten, soziologischen Reduktionismus entgegengestellt wird, um erst so einer „Soziologie des Rechts“ den Weg zu bereiten.