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Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[652]Anhang II: Exemplarische Typoskript-Textgruppen

Editorische Vorbemerkung

Zum besseren Verständnis der kompositorischen Abfolge der Textstufen der „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ kommen im folgenden die zusammenhängenden Typoskriptblattfolgen der Textgruppen II–IV der „Entwicklungsbedingungen“ zum Abdruck, die über den negativen Apparat zwar zu erschließen, aber nicht als sinnhafte Texteinheit lesbar sind.
1
[652] Vgl. die Textgruppenübersicht im Anhang zum Editorischen Gesamtbericht, oben, S. 161–169.
Die Textgruppe IV (Blätter A 1 bis A 10) repräsentiert den vermutlich frühesten Typoskripttext, während die Blätter der Textgruppe II (A 12 bis A 17) in Verbindung mit der den späteren § 2 einrahmenden Textgruppe III (A 18 bis A 28) diesen primären Textbestand offenbar zunächst fortsetzten, ehe Weber durch Neuorganisation und Umarbeitung der vorhandenen Typoskripte den Text letzter Hand herstellte.
2
Zu Datierung von Typoskriptsequenzen und handschriftlichen Bearbeitungsstufen vgl. den Editorischen Gesamtbericht, oben, S. 151.
Die maschinenschriftlichen Blattfolgen werden als reiner Typoskripttext so geboten, wie sie der Variantendarstellung des Edierten Textes im negativen Apparat zu entnehmen sind. Sämtliche Textfehler, soweit sie nicht entweder als Sofortkorrekturen von Weber eigenhändig gebessert sind oder nach den Editionsregeln stillschweigend emendiert wurden, folgen dem Originaltext. Der am Seitenrand mitgeführten Originalpaginierung ist zur Orientierung in kleinerer Schrifttype die MWG-Seitenzählung beigefügt.
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Der Hinweis auf die Seitenangaben wurde in MWG digital vervollständigt; in der MWG-Druckfassung fanden sich die Referenzangaben nur in Verbindung mit den Angaben zur Textfassung A.
Dort ist auch beim jeweils ersten Blatt der neuen Textgruppe der Textgruppenwechsel angezeigt. Über textgenetische Informationen, die den hier präsentierten Typoskriptblattfolgen zu entnehmen sind, geben Einleitung und Editorischer Gesamtbericht Auskunft.
3
Oben, S. 58 ff. und S. 143 ff.
Die Typoskripte befinden sich im Deponat Max Weber, Bayerische Staatsbibliothek München, Ana 446, OM 10 (A).

Exemplarische Typoskript-Textgruppen
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[A 1, Tgr IV][S. 306]Dieser ganz allgemeine Sachverhalt nimmt nun für die inhaltliche Gestaltung des Rechts und seiner Beziehungen zur Wirtschaft sehr konkrete Formen an. Wir haben bisher das Bestehen eines Rechtssatzes nur als die Gewährung eines Superadditum von Chance da[653]für: daß bestimmte Erwartungen nicht enttäuscht werden, an die durch den Rechtssatz mit subjektiven Rechten ausgestatteten betrachtet. [S. 307]Der faktisch im Besitz der Verfügungsgewalt über eine Sache oder Person Befindliche gewinnt dadurch eine spezifische Sicherheit für deren Dauer, derjenige, welchem etwas versprochen ist, dafür, daß die Vereinbarung auch erfüllt werde. Dies sind in der Tat die elementarsten Beziehungen zwischen Recht und Wirtschaft. Aber nicht die einzig möglichen. Das Recht kann vielmehr, nachdem es einmal als ein technisches Mittel zur Erzielung solcher Erfolge erkannt und angewendet ist, auch so funktionieren, daß es die Entstehung bestimmter Ordnungen der faktischen Verfügungsgewalt oder der auf Vereinbarung beruhenden Erwartungen überhaupt erst ermöglicht, indem Rechtssätze eigens zu diesem Zweck absichtsvoll geschaffen werden. Darüber ist einiges kurz zu sagen.
Die geläufigste Einteilung der Rechtssätze eines modernen Rechts ist, wie bei allen Ordnungen, die in gebietende, verbietende und erlaubende Rechtssätze, denen als subjektive Rechte der einzelnen die Ansprüche dieser entsprechen, anderen ein Tun zu gebieten oder zu verbieten oder [S. 308]zu erlauben, also rechtlich begrenzte Macht über deren Tun zu besitzen. Oder, empirisch gewendet, es entsprechen ihnen die rechtlich garantierten Erwartungen: 1. daß andere etwas bestimmtes tun oder 2. daß sie etwas bestimmtes lassen werden oder 3. daß man selbst ohne Störung Dritter etwas tun oder nach Belieben auch lassen dürfe. Das Recht garantiert diese Erwartungen durch Verbürgung berechtigter Macht. Ein jedes subjektives Recht ist eine Machtquelle, welche das Recht auch dem, der ohne Recht machtlos wäre, zuwenden kann. Die zuletzt genannte Art von rechtlich garantierten Erwartungen, die „Ermächtigung“, ihr Umfang und ihre Art, sind nun die für die Entwicklung der Wirtschaftsordnung besonders wichtigen. Sie begreifen zweierlei unter sich. Einerseits die sogen[annten] Freiheitsrechte, d. h. die einfache Sicherstellung gegen bestimmte Arten von Störungen durch Dritte innerhalb des Bereichs des rechtlich erlaubten Verhaltens (Freizügigkeit, Gewissensfreiheit, freies Schalten mit einer im Eigentum besessenen Sache usw.). Ferner aber stellen er[A 2][[S. 308]]mächtigende Rechtssätze es in das Belieben der einzelnen, durch Rechtsgeschäfte ihre Beziehungen zu einander nach Belieben zu regeln. So weit dies Belieben von einer Rechtsordnung zugelassen wird, soweit reicht das Prinzip der Vertragsfreiheit. Das Maß der Ver[654]tragsfreiheit, d. h. der von der Zwangsgewalt garantierten Inhalte von Rechtsgeschäften, die relative Bedeutung also der zu solchen rechtsgeschäftlichen Verfügungen ermächtigenden Rechtssätze [S. 309]innerhalb der Gesamtheit einer Rechtsordnung ist natürlich Funktion in erster Linie der Marktverbreiterung. Bei vorherrschender tauschloser Eigenwirtschaft hat das Recht naturgemäß vorwiegend die Funktion, durch gebietende und verbietende Sätze diejenigen Situationen, in welche die einzelnen hineingeboren werden, als einen Komplex von Rechtsverhältnissen nach außen abzugrenzen und dem einzelnen dergestalt seine angeborene Freiheitssphäre zuzuweisen. Denn Freiheit heißt im Rechtssinn: Rechte haben, aktuelle und potentielle, die aber in einer marktlosen Gemeinschaft naturgemäß in aller Regel nicht auf Rechtsgeschäften, welche er abschließt, sondern direkt auf dem Recht beruhen. Das Recht erscheint in diesem Stadium als eine Kombination angeborener unabänderlicher Qualitäten der einzelnen. Tausch dagegen ist, unter der Herrschaft einer Rechtsordnung, ein Rechtsgeschäft: Erwerb, Abtretung, Verzicht, Erfüllung von Rechtsansprüchen. Mit jeder Erweiterung des Markts vermehren und vervielfältigen sich diese. Die Vertragsfreiheit ist in keiner Rechtsordnung eine schrankenlose, dergestalt, daß das Recht für jeden beliebigen Inhalt einer Vereinbarung seine Zwangsgarantie zur Verfügung stellte. Charakteristisch für die einzelne Rechtsordnung ist vielmehr: für welche Vertragsinhalte dies geschieht und für welche nicht. Auf diese Frage nun haben, je nach der Struktur der Wirtschaft, sehr verschiedene Interessenten den ausschlaggebenden Einfluß. Mit zunehmender Marktverbreiterung aber zunächst und vor allem die Marktinteressenten. Deren Einfluß vornehmlich bestimmt dann die Art derjenigen Rechtsgeschäfte, welche das Recht ordnet. [S. 340]Diese Ordnung aber greift nun notwendig über die Sphäre bloßer Abgrenzung des gegenseitigen individuellen Freiheitsbereichs grundsätzlich hinaus. Denn die zugelassenen Rechtsgeschäfte schließen in aller Regel die Ermächtigung zu Gunsten der Interessenten in sich, auch Dritte, an dem betreffenden Akt nicht Beteiligte, zu binden. In irgend einem Maß und Sinn wirkt fast jedes Rechtsgeschäft zwischen zwei Personen, [A 3][[S. 340]]indem es die Art der Verteilung der Verfügung der rechtlich garantierten Verfügungsgewalten verschiebt, auf die Beziehungen zu unbestimmt vielen Dritten zurück. Aber immerhin in sehr verschiedener Art. Soweit es nur zwischen denjeni[655]gen, welche es abschließen, Ansprüche und Verbindlichkeiten schafft, scheint dies rein äußerlich überhaupt nicht der Fall zu sein. Hier scheint in der Tat nur die Chance, daß das Zugesagte erfüllt wird, rechtlich garantiert. Allein soweit es sich um rechtsgeschäftliche Übertragungen von Besitz aus einer Hand in die andere handelt, ist insofern das Interesse aller Dritten berührt, als jetzt ein anderer Inhaber des auch bisher für sie nicht zugänglichen Objekts zu respektieren ist. Vom Standpunkt des Erwerbers ist es lediglich die Sicherung, daß kein Dritter die mit dem Rechtsgeschäft erworbene Chance stören werde. In Wahrheit ist diese Unberührtheit der Interessen Dritter stets nur eine relative und finden sich diese immer, meist freilich nur für gewisse Eventualitäten, mitbetroffen. So werden die Interessen der etwaigen Gläubiger eines jeden, der eine Schuldverpflichtung eingeht, durch dessen vermehrte Belastung mit Verbindlichkeiten berührt und die Interessen der Nachbarn bei einem Grundstücksverkauf durch Änderungen, die der neue Besitzer im Gegensatz zum bisherigen in der Art von dessen Benutzung vornehmen kann. [[S. 341]]Indessen gibt es andere Fälle, in welchen die Interessen Dritter durch Ausnutzung der Vertragsfreiheit in wesentlich drastischerer Art berührt werden können. Wenn z. B. durch Vertrag jemand sich in die Sklaverei verkauft oder ein Weib sich durch Ehevertrag in die Vormundschaft ihres Ehemanns begibt, oder wenn ein Grundstück zum Fideikommiß erklärt wird, oder wenn eine Anzahl von Personen eine Aktiengesellschaft gründen – dann werden davon die Interessen Dritter zwar im Einzelfall dem Grade nach verschieden, immer aber doch in qualitativ weitergehender Art berührt, als in den obigen Beispielen. Im Gegensatz zu dort sind hier die sonst geltenden Regeln des Rechtsverkehrs, d. h. der Gültigkeit von Verträgen, des zwangsweisen Zugriffs der Gläubiger auf Vermögensobjekte, für diese Fälle von Vereinbarungen zu Gunsten der Vertragsschließenden gänzlich außer Kraft gesetzt und durch ganz neue und andersartige, auch jeden Dritten in seinen Ansprüchen und Chancen bindende Normen soweit ersetzt, als dem freien Belieben der Vertragsschließenden rechtliche Geltung zugestanden wird. [A 4][[S. 342]]Nur die Ausdrucksweise des Rechts verschleiert dies oft. Daß z. B. eine Aktiengesellschaft ein bestimmt anzugebendes Kapital gesetzlich haben muß und daß sie dies Kapital unter bestimmten Kautelen durch Beschluß der Generalversammlung herabsetzen kann, bedeutet praktisch: daß kraft Geset[656]zes zugunsten der Gläubiger ein bestimmter Überschuß des gemeinsamen Besitzes an Sachgüter und Forderungen über die Schulden deklariert werden muß und daß an dieser Deklaration die beteiligten Gesellschafter bei der Berechnung des zur Verteilung kommenden Gewinns derart gebunden sein sollen, daß Gewinn nur verteilt werden darf, wenn jener als Kapital deklarierte Betrag nach den Regeln der ordnungsmäßigen Taxierung und Buchführung gedeckt bleibt, daß aber unter Umständen die jeweils beteiligten Gesellschafter berechtigt sein sollen, jene Deklaration und also auch die entsprechende Garantie für die Gläubiger und später eintretenden Gesellschafter herabzusetzen und trotz Nichtdeckung des anfänglich deklarierten Betrages Gewinn zu verteilen. Es ist klar, daß diese Regelung die Interessen dritter, zu dem jeweiligen Bestande der [S. 343]Gesellschafter nicht gehöriger, Personen: Gläubiger, spätere Erwerber von Aktien, höchst intensiv berührt. Ebenso natürlich die mit einer Ergebung in die Sklaverei eintretende Beschränkung der Vertragsfähigkeit des Sklaven Dritten gegenüber oder die mit Eintritt einer Frau in eine Ehe entstehenden Generalhypotheken, welche diese nach manchen Rechten selbst auf Kosten älterer Rechte am Vermögen des Mannes erwirbt, und es ist klar, daß eine solche Beeinflussung der Rechtslage Dritter den Vertragschließenden gegenüber über denjenigen Einfluß, welcher im Gefolge fast jeden Rechtsgeschäfts irgendwie über den Kreis der Beteiligten hinaus eintreten kann, hinausgeht. Selbstverständlich ist das Maß der Beeinflussung nur graduell abgestuft.
Eine Ermächtigung zur gültigen, d. h. also zu einer in ihren Konsequenzen auch von Dritten anzuerkennenden Eingehung solcher über die interne Beziehung der Vertragschließenden spezifisch hinausgreifenden Rechtsgeschäfte bedeutet also jedenfalls mehr als die bloße Einräumung eines Freiheitsrechts, welches eine bloße Erlaubnis zum beliebigen Tun und Lassen konkreter Handlungen enthält, so unbedingt zuzugeben ist, daß die Übergänge auch hier völlig flüssig sind. [S. 344]Auf der anderen Seite kann das Recht auch Vereinbarungen die rechtliche Gültigkeit versagen, welche direkt wenigstens Interessen Unbeteiligter gar nicht zu berühren [A 5][[S. 344]]scheinen oder doch wenigstens keine Sonderregeln gegenüber dem sonst gültigen Recht in sich schließen oder Dritten nur Vorteile, aber keine Schädigung zu versprechen scheinen. Die Gründe für solche Einschränkungen der Vertragsfreiheit können die allerverschie[657]densten sein. So schloß das klassische römische Recht nicht nur alle die Interessen Dritter direkt berührenden und ein abnormes Recht konstituierenden Formen beschränkter Haftung (Aktiengesellschaft und ähnliche) und auch die Sondernormen der offenen Handelsgesellschaft (Solidarhaft und Sondervermögen) aus, sondern auch alle Begründungen ewiger Renten, also den Rentenkauf, die Begründung von Erbpachtverhältnissen (außer in superfiziarischer und im spätkaiserlichen Recht emphyteutischer Form wenigstens für Private – das Institut des ager vectigalis war ursprünglich nur den Kommunen, erst später auch den Grundherren zugänglich –), ferner die Inhaber- und Orderpapiere und ließ ursprünglich nicht einmal die Cession von Forderungsrechten an Dritte zu. Und das spezifisch moderne Recht lehnt z. B. nicht nur die Anerkennung von Verträgen, welche eine Unterwerfung in ein sklavenartiges persönliches Verhältnis enthalten, ab, sondern schloß z. B. in Preußen bis vor kurzem auch ganz wie das römi[S. 345]sche Recht, jede Belastung von Grundstücken mit ewigen Renten aus, die jetzt unter bestimmten Voraussetzungen zulässig ist, stempelt zahlreiche Verträge als gegen die guten Sitten verstoßend zu nichtigen Vereinbarungen, welche der Antike als ganz normal bekannt waren: namentlich Vereinbarungen über sexuelle Beziehungen, für welche z. B. im antiken Ägypten fast völlige Vertragsfreiheit gegolten hatte, zu Gunsten der heute allein zugelassenen legalen Ehe, und schließt andere (so die meisten der Antike bekannten Vereinbarungen über die väterliche und eheherrliche Gewalt) aus dem Kreise der zulässigen Rechtsgeschäfte aus. Die Gründe für diese jeweilig verschiedene Bestimmung der Grenzen der Vertragsfreiheit liegen teils darin, daß die betreffenden Institutionen der Verkehrstechnik der betreffenden Epoche noch kein Bedürfnis [S. 346]war. So das Fehlen der Inhaber- und Orderpapiere dem antiken oder, vorsichtiger ausgedrückt, dem offiziellen römischen Reichsrecht. Ebenso das Fehlen der kapitalistischen Vergesellschaftungsformen, für welche Parallelen nur in den staatskapitalistischen Assoziationen der Antike zu finden sind: weil der antike Kapitalismus damals seinem Schwerpunkt nach vom Staat lebte. Und die gegebenen rechtstechnischen [A 6][[S. 346]]Verkehrsschemata, welchen das Recht eine Garantie darbieten soll, müssen anderseits ebenso wie technische Manipulationen erst einmal erfunden werden, um in den Dienst aktueller ökonomischer Interessen treten zu können. Daher ist die gegebene rechts[658]technische Eigenart einer Rechtsordnung, die Art der Denkformen, mit denen sie arbeitet, für die Chance, daß ein bestimmtes Rechtsinstitut in ihrer Mitte erfunden werde, von weit erheblicherer Bedeutung[,] als man oft anzunehmen pflegt. Ökonomische Situationen gebären diese Rechtsformen nicht einfach automatisch aus sich, sondern enthalten nur eine Chance dafür, daß die betreffende rechtstechnische Erfindung, wenn sie gemacht wird, auch Verbreitung finde. Daß so viele unserer spezifisch kapitalistischen Rechtsinstitute mittelalterlichen und nicht römischen Ursprungs sind, obwohl doch das römische Recht wesentlich stärker rationalisiert war als das mittelalterliche, hat zwar auch einige ökonomische, daneben aber verschie[S. 347]dene rein rechtstechnische Gründe. Die Denkformen des okzidentalen mittelalterlichen Rechts mit seiner Auffassung z. B. der Urkunde nicht als eines rationalen Beweismittels, sondern als eines symbolischen Trägers von Rechten, seiner Gewöhnung an Solidarhaftpflichten aller möglichen Gemeinschaftskreise für ihre Mitglieder nach außen hin, seiner Vertrautheit mit der Scheidung von Sondervermögensmassen auf den allerverschiedensten Gebieten gestattete dem Geschäftsverkehr die Entwicklung eines weit größeren Reichtums an rechtstechnischen Schemata[,] als dem rationalisierten römischen Recht zu entnehmen war. Und diese sachlichen Sonderinstitute, welche dem entstehenden modernen Kapitalismus so besonders gut auf dem Leib paßten, konnten im allgemeinen leichter auf dem Boden einer überhaupt zahlreiche, den Interessen ganz konkreter Interessentenkreise entsprechender Sonderrechte erzeugenden Gesellschaft entwickelt werden.
[[S. 348]]Oder jene Schranken der Vertragsfreiheit sind, wie der Ausschluß oder die Begrenzung derselben in Familienangelegenheiten, welcher den meisten modernen Rechten eigentümlich ist, und wie die Ablehnung der vertragsmäßigen Ergebung in die Sklaverei, durch vorwiegend politische und ethische Interessenvorstellungen bedingt. Oder sie haben ihren Grund in sozialen und ökonomischen Interessen maßgebender Schichten: so sicherlich der Ausschluß aller feudalen und aller überhaupt eine [A 7][[S. 358]]dauernde Belastung eines Grundstücks zu Gunsten eines Privatmanns zulassenden Institutionen im römischen Recht ebenso wie, seit den preußischen [S. 359]Ablösungsgesetzen, in Preußen, in beiden Fällen durch bürgerliche Klasseninteressen und mit diesen assoziierte ökonomische Vorstel[659]lungen beeinflußt. Oder endlich sie entspringen der aus den verschiedensten Gründen heraus möglichen Abneigung, rein private Vereinbarungen durch Rechtsgarantie zu schützen, deren Konsequenz über die Personen der direkt Beteiligten hinausreichen.
Wie das römische, so erreicht nun auch das heutige Recht diesen die Vertragsfreiheit einschränkenden Effekt technisch in der Regel nicht dadurch, daß es Vereinbarungen der betreffenden Art durch besondere Verbotsgesetze entgegentritt, sondern einfach[,] indem es keine Vertragsschemata (und in Rom keine Klageschemata) für sie zur Verfügung stellt und die in ihren Rechtsfolgen schematisch normierten Tatbestände so gestaltet, daß die Art dieser Normierung mit Vertragsabreden der gedachten, vom Recht nicht gebilligten Art unvereinbar ist. Denn die in Rom ebenso wie heute übliche technische Form, in welcher Ermächtigungen zu bestimmten Arten von rechtlichen Verfügungen, insbesondere zu solchen, welche, wie etwa die Gründung einer Aktiengesellschaft, die Interessen Dritter berühren, gegeben werden, ist die Aufstellung entsprechender Vertragsschemata, deren Normen jede Vereinbarung von Interessenten [S. 360]zugrunde legen muß, um gültig zu sein und vom Recht garantiert zu werden. Man kann die Vereinbarungen, welche innerhalb bestimmter Schranken auch Unbeteiligte binden – immer mit dem Vorbehalt, daß dies in irgend einem Sinn bei fast jedem Rechtsgeschäft zutrifft – gewillkürtes Recht im Gegensatz zum gemeinen Recht nennen. Gewillkürtes Recht zu schaffen kann eine Angelegenheit monopolistischer Einungen sein. Daß derart gewillkürtes Recht dem gemeinen Recht vorgeht, – Willkür das Landrecht bricht – ist Charakteristikum einer bestimmten ständisch gegliederten Sozialordnung, und die wichtigsten Träger gewillkürten Rechtes sind Einungen unter ständisch Gleichgestellten. Es ist ein Zustand, in welchem das Monopol der politischen Gemeinschaft, Recht zu schaffen, oder doch die Schaffung gewillkürten Rechtes zu erlauben, sich noch nicht durchgesetzt hat, die[S. 361] Summe aller innerhalb eines gegebenen Gebiets oder Personenkreises geltenden Rechts vielmehr durch Usurpationen verschiedener gegeneinander autonomer Gemeinschaften geschaffen und [A 8][[S. 361]]fortgebildet wird, zwischen denen der stets erneut erforderliche Ausgleich durch gegenseitige Kompromisse geschaffen oder durch überragende politische oder kirchliche Gewalten oktroyiert wird. Die Sprengung der ständischen Sozialordnung, die fortschreitende Nivellierung und [[S. 367]]zu[660]nehmende Einordnung aller einzelnen in eine auf formaler Rechtsgleichheit beruhenden Gemeinschaft, ist das Werk der beiden großen rationalisierenden Mächte: der Markterweiterung einerseits, der Bürokratisierung andererseits. Sie ersetzt jene auf der Eigenmacht monopolistisch abgegrenzter Personenverbände ruhende Art der durchweg individuellen Entstehung gewillkürten Rechts – die Autonomie der dem Schwerpunkt nach ständischen Einungen – durch eine allgemeine gleiche, aber eng begrenzte Autonomie einerseits und durch Herstellung von schematischen Ermächtigungen, gewillkürtes Recht durch Rechtsgeschäft zu schaffen, andererseits. Die entscheidende Triebkraft für diese technische Verfügung der autonomen Rechtsschöpfung ist [[S. 368]]zwar nicht ausschließlich, aber in starkem Maße das Interesse der Marktmachtinteressenten, d. h. also: der durch Besitz (Klassenlage in dem später zu erörternden Sinn) bestimmter Art im formal freien Preis- und Konkurrenzkampf auf dem Markt faktisch Privilegierten. Denn die der formalen Rechtsgleichheit entsprechende allgemeine Ermächtigung für jedermann ohne Ansehn der Person, z. B. eine Aktiengesellschaft zu schaffen oder ein Fideikommiß zu stiften, bedeutet in Wahrheit die Schaffung einer weitgehenden Autonomie der besitzenden Klassen als solcher, die ja allein davon Gebrauch machen können, gegenüber dem gemeinen Recht. Sie ist, weil sie Dritte zu binden gestattet, die höhere Stufe derjenigen Autonomie, welche das allgemeine Prinzip der Vertragsfreiheit in sich schließt. Die Rechtsordnung als solche ist die universellste und weitaus wirksamste Form der Befriedung, d. h.: der Ablenkung des Kampfs der Interessenten von der Form direkter Gewaltsamkeit in die Bahnen einer durch andere als die im gewaltsamen Kampf ausschlaggebenden Qualitäten sich entscheidenden Form des Austrags der Interessengegensätze. Sie ist daher das geeignete Mittel, anstelle jener im gewaltsamen Kampf ausschlaggebenden Qualitäten die rationale ökonomische Klugheit und speziell die kluge Verwendung von Güterbesitz im Interessenkampf auf dem Markt als Mittel der Macht über andere zu setzen. Die Marktinteressenten sind daher die universellen Interessenten einer Rechtsordnung, welche dies erzieht,
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Komma fehlt in A und MWG-Druckfassung; in MWG digital hinzugefügt.
und die universelle Form dafür [A 9][[S. 426]]ist die Schaffung solcher Schemata von gültigen Vereinbarungen, welche bei formaler Freiheit der Benutzung durch alle doch tatsächlich nur den Besitzenden zugänglich sind und also nur deren Autonomie stützen.
[661]Es war notwendig, diesen Sachverhalt speziell hervorzuheben, um nicht in den Irrtum zu verfallen, daß diejenige Art von Dezentralisation der Rechtsschöpfung (ein an sich guter Ausdruck Andreas Voigts), welche in dieser modernen Form der Autonomie der Interessenten liegt, etwa identisch sei mit einer Herabsetzung des innerhalb einer Rechtsgemeinschaft geübten Maßes von Zwang im Vergleich mit anderen, z. B. sozialistisch geordneten Gemeinschaften. Die Herabsetzung des Zwanges durch Ermächtigungsgesetze, welche alles der freien Vereinbarung überlassen, ist nur formell eine Verminderung des Zwangs zu Gunsten derjenigen, welche von jenen Ermächtigungen Gebrauch zu machen in der Lage sind. Inwieweit sie materiell das Gesamtquantum von Freiheit innerhalb einer gegebenen Rechtsgemeinschaft [S. 427]vermehrt, ist durchaus eine Frage der konkreten Wirtschaftsordnung und speziell der Art der Besitzverteilung, jedenfalls aber nicht aus dem Inhalt des Rechts abzulesen. In einer sozialistischen Gemeinschaft würden Ermächtigungsgesetze der hier erörterten Art sicherlich eine geringere Rolle spielen, es würden ferner die Stellen, welche Zwang üben, die Art des Zwanges und diejenigen, gegen welche er sich richtet, andere sein, als in einer privatwirtschaftlich organisierten Gemeinschaft. In dieser letzteren wird der Zwang durch den privaten Besitzer der Produktions- und Erwerbsmittel kraft dieses vom Recht garantierten Besitzes und in der Form der Machtentfaltung im Marktkampf geübt. In einer sozialistischen Gemeinschaft durch Anordnungen einer, wie immer zu denkenden, einheitlichen, die wirtschaftliche Tätigkeit regelnden Instanz, denen im Fall des Widerstrebens Nachachtung durch Zwang irgendwelcher Art, nur nicht durch Marktkampf, verschafft werden würde. Wo das Mehr an Zwang und wo das Mehr an persönlicher Freiheitssphäre liegen würde, ist jedenfalls nicht durch bloße Analyse des im einen und anderen Fall geltenden oder denkbaren Rechts zu entscheiden, sondern höchstens durch Analyse der qualitativen Eigenart des Zwanges und dessen Verteilung unter die an der Rechtsgemeinschaft jeweils Beteiligten. [S. 428]Die sozialistische Idee perhorresziert den Zwang nicht nur, wo er auf Grund des privaten Besitzes durch den Marktkampf geübt wird, sondern vor allem auch den Zwang kraft persönlicher Autorität. Mit welchen dauernden Chancen angesichts der [A 10][[S. 428]]Notwendigkeit einer sehr universellen Organisation, mag gewiß höchst fraglich erscheinen. Die Marktgemeinschaft [662]kennt, in ihrer reinen Form, Zwang kraft persönlicher Autorität ebenfalls nicht ihrer Idee, sondern nur der Tatsache nach. Sie ihrerseits gebiert vielmehr aus sich heraus den Zwang – gegen Arbeiter und Unternehmer, Produzenten und Konsumenten – in der ganz unpersönlichen Form der Unvermeidlichkeit, sich den Marktgesetzen anzupassen, bei Strafe des Verlustes der ökonomischen Macht. Sie setzt diesen unpersönlichen Zwang an die Stelle der persönlichen Autorität. Sie macht im Ergebnis, auf dem Boden der kapitalistischen Organisation, auch die unvermeidlich persönlichen und autoritären, weil Disziplin in sich schließenden Unterordnungsverhältnisse im Betrieb zu Objekten des Marktverkehrs, ohne daß es ihr dadurch allein gelänge, sie ihres autoritären Charakters wirklich zu entkleiden. Je umfassender vielmehr, im Gefolge der Marktbeherrschung und der Konzentration ökonomischer Macht die Gebilde, deren Bestand auf Disziplin ruht: die kapitalistischen Betriebe, anwachsen, desto autoritärer gefärbt wird der in ihnen geübte Zwang und desto enger der Kreis derjenigen, in de[S. 429]ren Händen sich die Macht, ihn zu üben und durch Vermittlung der Rechtsordnung garantieren zu lassen, zusammenballt. Eine formell noch so viele Freiheitsrechte und Ermächtigungen verbürgende und darbietende und noch so wenig Gebots- und Verbotsnormen enthaltende Rechtsordnung kann daher in ihrer faktischen Wirkung einer qualitativ sehr bedeutenden Verschärfung des Zwangs und sogar einer Steigerung des autoritären Charakters der Zwangsgewalten dienen.
[A 12, Tgr. II][[S. 274]]Die heutige Rechtstheorie und Rechtspraxis kennt als eine der wichtigsten Scheidungen diejenige von öffentlichem und Privatrecht. Zwar über das Prinzip der Abgrenzung herrscht Streit.
1. Das öffentliche Recht einfach, der soziologischen Scheidung entsprechend, als den Inbegriff der Normen für das seinem von der Rechtsordnung zu unterstellendem Sinne nach staatsanstalts[S. 275]bezogene, d. h.: dem Bestande, der Ausdehnung und der direkten Durchführung der Zwecke der Staatsanstalt als solcher dienenden Handeln zu definieren, das Privatrecht aber als den Inbegriff der Normen für das, seinem von der Rechtsordnung unterstelltem Sinne nach, nicht staatsanstaltsbezogene, sondern nur von der Staatsanstalt durch Normen geregelte Handeln anzusehen, scheint durch den unformalen Charakter dieser Scheidung technisch erschwert. [663]Dennoch liegt diese Art der Unterscheidung letztlich fast allen Grenzabsteckungen zugrunde.
2. Diese Scheidung verschlingt sich aber mit einer anderen: Man könnte öffentliches Recht identifizieren mit der Gesamtheit der Reglements, also der ihrem richtigen juristischen Sinn nach nur Anweisungen an die Staatsorgane enthaltenden, nicht aber erworbene subjektive Rechte einzelner begründenden Normen, im Gegensatz zu den Anspruchsnormierungen, welche ebensolche Rechte begründen sollen. Der Gegensatz müßte aber zunächst richtig verstanden werden. Auch öffentlichrechtliche Normen, z. B. diejenigen über eine Präsidentenwahl, können subjektive und dabei dennoch öffentliche Rechte einzelner begründen, im Beispiel: das Recht zu wählen. Aber dieses öffentliche Recht des einzelnen ist allerdings nicht dem juristischen Sinne nach ein erworbenes Recht im gleichen Sinn wie etwa das Eigentum, welches prinzipiell für den Gesetzgeber selbst unantastbar ist [S. 276]und eben deshalb von ihm anerkannt wird. Denn die subjektiven öffentlichen Rechte enthalten dem juristischen Sinne nach in Wahrheit subjektive Zuständigkeiten, für bestimmt begrenzte Zwecke als Organe des Staates aufzutreten, können also trotz der Form des subjektiven Rechts, die sie annehmen, in Wahrheit dennoch als bloße Reflexe eines Reglements, nicht als Ausfluß einer objektiven Anspruchsnormierung angesehen werden. Allein auch bei weitem nicht alle jeweils in einer Rechtsordnung bestehenden, in dem oben unter 1) bezeichneten Sinn privatrechtlichen Ansprüche sind erworbene subjektive Rechte. Selbst der jeweils zugelassene Inhalt des Eigentums[A 13][[S. 276]]rechts ist Reflex der Rechtsordnung und die Frage, ob ein Recht als erworben gilt, reduziert sich oft auf die Frage: ob seine Beseitigung Entschädigungsansprüche nach sich ziehe. Man könnte also vielleicht behaupten, daß alles öffentliche Recht dem Sinne nach nur Reglement sei, nicht aber, daß jedes Reglement nur öffentliches Recht schaffe. In Rechtsordnungen aber, wo die Regierungsgewalt als erworbenes patrimoniales Recht eines Monarchen gilt, oder [S. 277]wo umgekehrt gewisse Bürgerrechte als schlechthin unentziehbar gelten (kraft Naturrecht), trifft auch dies nicht zu.
3. Und endlich kann man die Scheidung so vornehmen, daß man alle Rechtsangelegenheiten, bei denen einander mehrere, dem juristischen Sinne nach gleichgeordnete Parteien gegenübertreten, deren Rechtssphären abzugrenzen der richtige Sinn der Tätigkeit, [664]sei es des Gesetzgebers, sei es des Richters, sei es der betr. Parteien selbst (durch Rechtsgeschäft) ist, als privatrechtliche von dem öffentlichen rechtlichen Teil, bei welchem ein, dem juristischen Sinne nach, präeminenter Gewaltenträger mit autoritärer Befehlsgewalt anderen ihm, dem juristischen Sinn der Normen nach, unterworfenen Personen gegenübertritt. Allein nicht jedes Organ der Staatsanstalt hat Befehlsgewalt und das Handeln der staatlichen Organe ist nicht immer ein Befehl. Und endlich ist offenkundig grade die Regulierung der Beziehungen zwischen mehreren Staatsorganen, also gleichmäßig präeminenten Gewaltenträgern, die eigentlich interne Sphäre des öffentlichen Rechts. Und ferner müssen nicht nur die unmittelbar zwischen Gewaltenträgern und Gewaltunterworfenen bestehenden Beziehungen, sondern auch dasjenige Handeln der Gewaltunterworfenen, welches der Bestellung und Kontrolle des oder der präeminenten Gewal[S. 278]tenträger dient, zur Sphäre des öffentlich-rechtlich regulierten Handelns geschlagen werden. Dann aber führt diese Art der Scheidung weitgehend in die Bahnen der oben zuerst angegebenen zurück. Denn sie behandelt nicht jede autoritäre Befehlsgewalt und ihre Beziehungen zu Gewaltunterworfenen als öffentlich-rechtlich. Diejenige des Arbeitgebers offenbar deshalb nicht, weil sie durch Rechtsgeschäfte zwischen formal Gleichgeordneten entsteht. Aber auch diejenige des Hausvaters wird als privatrechtliche Autorität behandelt, offenbar nur deshalb, weil die Staatsanstalt allein als Quelle legitimer Gewalt gilt und daher nur dasjenige Handeln, welches seinem [A 14][[S. 278]]von der Rechtsordnung zu unterstellendem Sinn nach auf die Erhaltung der Staatsanstalt und die Durchführung der von ihr sozusagen in eigene Regie genommenen Interessen bezogen ist, als öffentlich-rechtlich relevant gilt. Welche Interessen nun jeweils als von der Staatsanstalt selbst wahrzunehmende gelten, ist bekanntlich auch heute wandelbar. Und vor allem kann ein Interessengebiet durch gesatztes Recht absichtlich derart geregelt werden, daß die Schaffung von Privatansprüchen einzelner und von Befehlsgewalten oder anderen Tätigkeiten von Staatsorganen selbst für ein- und denselben Sachverhalt nebeneinander stehen.
Auch heute also ist die Abgrenzung der Sphäre von öffentlichem und privatem Recht nicht überall eindeutig. Noch weit mehr war dies in der Vergangenheit der Fall. Die Möglichkeit der Scheidung kann gradezu fehlen. Dann nämlich, wenn alles Recht und alle Zu[665]ständigkeiten, insbesondere auch alle Befehlsgewalten gleichmäßig den Charakter des persönlichen Privilegs [[S. 279]]an sich tragen. Dann ist die Befugnis, in einer bestimmten Sache Recht zu sprechen oder jemanden zum Kriegsdienst aufzubieten oder von ihm sonst Gehorsam zu verlangen, genau so ein erworbenes subjektives Recht und eventuell ganz ebenso Gegenstand privaten Rechtsgeschäfts, durch Veräußerung oder Vererbung, wie etwa die Befugnis, ein bestimmtes Stück Acker zu nutzen. Die politische Gewalt hat dann eben juristisch keine anstaltsmäßige Struktur, sondern wird durch konkrete Vergesellschaftungen, Kompromisse der verschiedenen Prätendenten subjektiver Befehlsbefugnisse dargestellt. Die politische Befehlsgewalt gilt dann als von derjenigen des Hausvaters, Grundherrn, Leibherrn nicht wesensverschieden. Soweit eine solche Struktur des Rechts jeweils reicht – und sie war niemals in alle letzten Konsequenzen durchgeführt –[,] soweit ist juristisch alles, was unserem öffentlichen Recht entspricht, Gegenstand von subjektivem Recht konkreter Gewalthaber, genau wie ein Privatrechtsanspruch.
Die Scheidung von privatem und öffentlichem Recht kann aber auch aus dem grade entgegengesetzten Grunde wegfallen. Dann nämlich, wenn alle Normen fehlen, welche den Charakter anspruchsverleihenden objektiven Rechts haben, wenn also der gesamte überhaupt geltende Normenkom[S. 280]plex juristisch den Charakter von Reglements und also alle privaten Interessen nicht als garantierte subjektive Ansprüche, sondern nur als Reflexe der Geltung jener Reglements die Chance des Schutzes [A 15][[S. 280]]besitzen. Soweit dieser Zustand reicht, – und auch er hat nie universell geherrscht – soweit löst sich alles Recht in regierende Verwaltung auf. Verwaltung ist heute kein Begriff nur des öffentlichen Rechts. Es gibt private Verwaltung, etwa des eigenen Haushalts oder eines Erwerbsbetriebs, und öffentliche, d. h. durch Anstaltsorgane des Staats oder anderer, durch ihn dazu legitimierter heteronomer öffentlicher Anstalten als solcher geführte Verwaltung. Der Begriff öffentliche Verwaltung umfaßt nun in seinem weitesten Sinne dreierlei: Rechtsschöpfung, Rechtsfindung und das, was an öffentlicher Anstaltstätigkeit nach Abzug jener beiden Sphären übrig bleibt: regierender Verwaltung. Die regierende Verwaltung kann ebenso wie die Rechtsschöpfung und Rechtsfindung an Rechtsnormen gebunden und durch erworbene subjektive Rechte beschränkt sein. Dies teilt [666]sie mit der Rechtsschöpfung und Rechtsfindung. Aber darin liegt nun zweierlei: 1. positiv der Legitimitätsgrund ihrer eigenen Zuständigkeit: eine mo[S. 281]derne regierende Verwaltung entfaltet ihre Tätigkeit kraft legitimer Kompetenz, welche juristisch letztlich stets auf der Ermächtigung durch Normen der Staatsanstalt beruht. Und ferner ergibt jene Gebundenheit an geltendes Recht und erworbene Rechte negativ 2. die Schranken ihrer freien Bewegung, mit denen sie sich abzufinden hat. Ihr spezifisches eigenes Wesen aber besteht grade darin, daß sie nicht nur die Respektierung oder Realisierung von geltendem objektivem Recht, lediglich deshalb, weil es einmal gilt und erworbene Rechte darauf beruhen, zum Objekt hat, sondern die Realisierung von anderen, materialen, Zwecken: politischen, sittlichen, utilitarischen oder welchen Charakters immer. Der Einzelne und seine Interessen sind für die Verwaltung, ihrem juristischen Sinn nach, grundsätzlich Objekt, nicht Rechtssubjekt. Grade im modernen Staat besteht allerdings die Tendenz, Rechtsfindung und Verwaltung einander formal anzunähern. Innerhalb der Rechtspflege wird dem heutigen Richter teils durch positive Rechtsnormen, teils durch Rechtstheorien nicht selten zugemutet, nach materialen Grundsätzen, Sitt[S. 282]lichkeit, Billigkeit, Zweckmäßigkeit zu entscheiden. Und gegenüber der Verwaltung gibt die heutige Staatsorganisation dem einzelnen, der im Prinzip nur ihr Objekt ist, Mittel der Wahrung seiner Interessen an die Hand, welche mindestens formell denjenigen der Rechtsfindung gleichartig sind: die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
[A 16][[S. 282]]Aber alle diese Garantien vermögen dennoch den erwähnten letzten Gegensatz von Rechtspflege und Verwaltung nicht zu beseitigen. Der Rechtsschöpfung andererseits nähert sich die regierende Verwaltung überall da an, wo sie auf die ganz freie Verfügung von Fall zu Fall verzichtend generelle Reglements für die Art der Erledigung typischer Geschäfte schafft. Dies ist selbst dann der Fall, wenn sie selbst sich an diese nicht förmlich bindet. Denn immerhin wird diese Bindung trotzdem von ihr erwartet und das Gegenteil als Willkür normalerweise zum mindesten konventionell mißbilligt.
Der urwüchsige Träger der Verwaltung ist die Hausherrschaft. In ihrer primitiven Schrankenlosigkeit gibt es subjektive Rechte der Gewaltunterworfenen dem Hausherrn gegenüber nicht und objektive Normen für sein Verhalten ihnen gegenüber nur als Reflex [667]sakraler Schranken seines Han[S. 283]delns. Urwüchsig ist demgemäß das Nebeneinanderstehen der prinzipiell ganz schrankenlosen regierenden Verwaltung des Hausherrn innerhalb der Hausgemeinschaft auf der einen Seite und des auf Sühne- und Beweisvertrag beruhenden Schiedsverfahrens zwischen den Sippen andererseits. Auch hier wird über Ansprüche, subjektive Rechte also, verhandelt und ein Wahrspruch abgegeben. Nur hier finden sich, – wir werden sehen weshalb, – feste Formen, Fristen, Beweisregeln, kurz die Anfänge von einer juristischen Behandlung. Das Verfahren des Hausvaters im Umkreis seiner Gewalt weiß davon nichts. Es ist ebenso die primitive Form der regierenden Verwaltung, wie jenes die der Rechtsfinder. An der Schwelle des Hauses machte noch die antike römische Justiz unbedingt Halt. Wir werden sehen, daß das Hausherrschaftsprinzip über seinen ursprünglichen Umkreis hinaus auch auf gewisse Arten der politischen Gewalt und dadurch auch der Rechtsfindung übertragen worden ist. Wo immer aber dies der Fall ist, wird die Schranke zwischen Rechtsschöpfung, Rechtsfindung und Verwaltung durchbrochen.
[S. 286]Ähnlich frei von Beschränkungen durch subjektive Rechte und objektive Normen wie die primitive Macht des Hausherrn kann die Autorität von Magiern und Propheten sein und unter Umständen die Macht der Priester sein, soweit ihre Quelle konkrete Offenbarung ist. Der magische Glaube ist aber auch eine der urwüchsigen Quellen des Strafrechts im Gegensatz zum Zivilrecht. Diese uns heute geläufige Sonderung ist in dem Sinne, daß in der Strafjustiz ein öffentliches, sei es sitt[A 17][[S. 286]]liches oder utilitarisches Interesse an der Sühnung eines Verstoßes gegen objektive Normen durch Strafe von seiten der Organe der Staatsanstalt gegen den Verdächtigen unter den Garantien einer geordneten Prozedur wahrgenommen wird, während die Wahrnehmung privater Ansprüche dem Verletzten überlassen bleibt und nicht Strafe, sondern Herstellung des vom Recht garantierten Zustandes zur Folge hat, ist selbst heute nicht ganz eindeutig durchgeführt. Der urwüchsigen Rechtspflege ist sie fremd. Jede Verletzung erheischt Rache und diese sich zu verschaffen ist Sache des Verletzten unter dem Beistand seiner Sippe. Das Sühneverfahren zwischen den Sippen kennt eine Scheidung von [[S. 287]]Unrechtmäßigkeiten nicht und [[S. 293]]ebensowenig gibt es eine Verfolgung von Delikten von Amtswegen. Innerhalb der Hausherrschaft andererseits erfolgt jede Züchtigung kraft der Hausge[668]walt des Herrn, da aber Grund, Art und Maß in dessen Ermessen steht, gibt es kein Strafrecht. Ein solches entwickelte sich in primitiver Form außerhalb des Hauses, und zwar da, wo das Handeln eines einzelnen einen nachbarschaftlichen oder politischen Verband, dem er zugehört, in der Gesamtheit seiner Mitglieder gefährdet. Dies konnte vor allem durch zwei Arten von Handeln geschehen, Religions- und Militärfrevel. Einmal also dadurch, daß eine magische, z. B. eine Tabunorm verletzt wird und dies den Zorn der magischen Gewalten, Geister oder Götter, außer auf den Frevler selbst auch auf die Gemeinschaft, welche ihn in ihrer Mitte duldete, in Gestalt bösen Zaubers herabziehen konnte. Dann reagierten auf Veranlassung [S. 294]der Magier oder Priester die Genossen dagegen durch Verstoßung oder Lynchjustiz (wie es die Steinigung der Juden war) oder durch ein sakrales Sühneverfahren. Die zweite Hauptquelle der Strafjustiz war militärischen Ursprungs. Der durch Verrat oder, nach dem Aufkommen des disziplinierten Kampfs, durch Disziplinbruch oder durch Feigheit die Sicherheit des Wehrverbandes gefährdete, setzte sich der Reaktion von Kriegführer und Heer nach einer meist sehr summarischen Feststellung des Tatbestandes aus.
Nur von der Rache aus führt direkt ein Weg zu einem eigentlichen Kriminalverfahren, welches – wir werden sehen aus welchen Gründen – an Formen und Regeln gebunden ist. Die hausväterliche, religiöse, militärische Reaktion auf Frevel weiß prinzipiell von Formen und Regeln zunächst nichts. Bei der haus[S. 295]väterlichen Gewalt bleibt dies im allgemeinen so. Sie wird zwar durch das Eingreifen anderer Gewalten: zu[A 18, Tgr III][[S. 295]]nächst: Sippengewalt, dann religiöser und militärischer Gewalt – unter Umständen in Schranken gebannt, aber innerhalb ihres Bereichs nur sehr vereinzelt an Rechtsregeln gebunden. Dagegen die primitiven außerhäuslichen Gewalten ebenso wie die auf außerhäusliche Beziehungen übertragene hausherrschaftsartige (patrimoniale) Gewalt, alle nicht innerhäuslichen Gewalten also, die wir unter dem gemeinsamen Namen imperium zusammenfassen wollen, verfielen sämtlich der Bindung an Regeln. Welcher Provenienz diese Regeln sind, inwieweit sie sich der Träger des imperium im eigenen Interesse setzt oder mit Rücksicht auf die faktischen Schranken der Obödienz setzen muß oder durch andere Gewalten gesetzt erhält, lassen wir vorläufig dahingestellt. Es gehört in die Erörterung der Herrschaft. Jedenfalls entsteht ein öf[669]fentliches Recht ebenso wie ein Strafrecht, Strafprozessrecht, Sakralrecht [[S. 296]]auch im Keime erst da, wo irgend welche derartige Regeln als Komplex von faktisch verbindlich geltenden Normen feststellbar sind. Stets bedeuten sie ebenso viele Schranken des betreffenden imperium. Der Charakter dieser Schranken kann nun aber ein doppelter sein: 1[.] Gewaltenbegrenzung, – 2[.] Gewaltenteilung. Entweder stößt ein bestimmtes imperium kraft heilig geltender Tradition oder durch Satzung auf das Recht der ihm Unterworfenen: daß dem Gewalthaber nur Befehle einer bestimmten Art oder auch Befehle aller mit Ausnahme bestimmter Arten und nur unter bestimmten Voraussetzungen zustehen, also legitim und verbindlich sind. Für die Frage: ob es sich dabei um eine rechtliche oder um eine konventionelle oder nur gewohnheitsmäßige Begrenzung handle, ist entscheidend: ob ein Zwangsapparat die Innehaltung dieser Schranken irgend wie garantiert, einerlei mit welchen noch so praekären Zwangsmitteln, oder nur die konventionelle Missbilligung oder auch endlich eine einverständnismäßige Schranke ganz fehlt. Oder aber das imperium stößt auf ein an[A 19][[S. 296]]deres, ihm gleich oder in bestimmten Hinsichten übergeordnetes imperium, an dessen Geltung es seine Schranken findet. Beides kann zusammentreffen,
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und auf dieser Kombination beruht die Eigentümlichkeit der modernen, nach Kompetenzen gegliederten Staatsanstalt. Sie ist ihrem Wesen nach eine anstaltsmäßige Vergesellschaftung der, nach bestimmten Regeln ausgelesenen, Träger bestimmter, ebenfalls durch allgemeine Regeln der Gewaltenteilung gegeneinander abgegrenzten imperia, welche zugleich auch sämtlich durch gesatzte Gewaltenbegrenzung innere Grenzen der Legitimität ihrer Befehlsgewalt haben. Beide: sowohl die Gewal[S. 297]tenteilung als die Gewaltenbegrenzung können eine von der für die moderne Staatsanstalt charakteristischen Form höchst verschiedene Struktur haben. Speziell gilt dies auch für die Gewaltenteilung. Sie ist im antik römischen Intercessionsrecht der par majorve potestas, im ständischen politischen Gebilde und in der bureaukratischen Organisation von absolut verschiedener Struktur, wie später zu erörtern sein wird. Durchweg aber gilt, richtig verstanden, Montesquieu’s Satz: daß erst die Gewaltenteilung den Gedanken eines öffentlichen Rechts juristisch möglich mache. Nur ist es nicht notwendig eine solche von der Art, wie er sie in England vorzufinden glaubte. Andererseits schafft nicht jede Art von Gewaltenteilung schon den [670]Gedanken eines öffentlichen Rechts, sondern erst die der rationalen Staatsanstalt spezifische. Eine wissenschaftliche Lehre vom öffentlichen Recht hat nur der Occident entwickelt, weil nur hier der politische Verband ganz den Charakter der Anstalt mit rationalen Kompetenzen und Gewaltenteilung angenommen hat. Die Antike kennt genau soviel von wissenschaftlichem Staatsrecht, als rationale Gewaltenteilung vorhanden war: die [A 20][[S. 297]]Lehre von den imperia der einzelnen römischen Beamten ist wissenschaftlich gepflegt worden. Alles andere war wesentlich Staatsphilosophie, nicht Staatsrecht. Das [S. 298]Mittelalter kennt die Gewaltenteilung nur als Konkurrenz subjektiver Rechte (Privilegien) und daher keine gesonderte Behandlung des Staatsrechts. Erst die Kombination von mehreren Momenten: in der Welt der Tatsachen die Vergesellschaftung der Privilegierten zur öffentlichen Korporation im Ständestaat, der Gewaltenbeschränkung und Gewaltenteilung zunehmend mit anstaltsmäßiger Struktur verbindet, auf dem Boden der Theorien der römische Korporationsbegriff, das Naturrecht und schließlich die französische Doktrin schufen die entscheidenden juristischen Konzeptionen des modernen öffentlichen Rechts. Wir werden von der Entwicklung desselben, soweit sie uns angeht, bei Besprechung der Herrschaft zu reden kommen. Daher soll im Nachfolgenden vorwiegend von der Rechtsschöpfung und Rechtsfindung auf den Gebieten, welche heut dem Privatrecht und Zivilprozeß überlassen sind, gehandelt werden.
[[S. 299]]Der Unterschied zwischen Rechtsschöpfung: Schaffung von Rechtsnormen[,] und Rechtsfindung: deren Anwendung auf den Einzelfall, besteht überall da nicht, wo alle Rechtspflege freie[,] von Fall zu Fall entscheidende Verwaltung ist. Hier fehlt die Rechtsnorm sowohl wie das subjektive Recht. Ebenso aber auch da, wo das objektive Recht als subjektives Privileg gilt und also der Gedanke der objektiven Rechtsnormen als Grundlage des subjektiven Rechtsanspruches nicht konzipiert ist. Außerdem aber überall da, wo die Rechtsfindung nicht in Form der Anwendung von generellen Rechtsnormen auf den konkreten Fall, durch dessen Subsumtion unter die Norm also, stattfindet. Dies ist bei aller irrationalen Rechtsfindung der Fall, welche[,] wie wir gesehen haben, die [A 21][[S. 299]]ursprüngliche Art der Rechtsfindung überhaupt darstellt und[,] wie wir noch sehen werden, die ganze Vergangenheit, außerhalb des Anwendungsgebietes des römischen Rechts, teils gänzlich, teils [671]mindestens in Rudimenten beherrscht hat. Andererseits ist auch die Scheidung zwischen Normen des durch Rechtsfindung zur Anwendung zu bringenden Rechts und solchen des Hergangs der Rechtsfindung selbst nicht immer so klar vollzogen worden, wie heut der Unterschied zwischen materiellem und Prozeßrecht. Wo der Rechtsgang stark auf dem Einfluß des imperiums für die Prozeßinstruktion beruhte, wie z. B. im älteren [S. 300]römischen Recht und, in ganz anderer Art, auch im englischen Recht, liegt die Auffassung nahe, daß der materielle Rechtsanspruch mit dem prozessualen Klageschema: der römischen actio, identisch sei. In der Tat scheidet daher die ältere römische Rechtssystematik Prozeßrecht und Privatrecht nicht in der Art wie wir. Aus ganz anderen formalen Gründen konnte eine wenigstens ähnliche Mischung von, nach unseren Begriffen, prozessual- und materiellrechtlichen Fragen da entstehen, wo die Rechtsfindung auf irrationalen Beweismitteln: Eid und Eideshülfe und ihrer ursprünglichen magischen Bedeutung oder auf Ordalien ruhte. Dann erscheint Recht oder Pflicht zu diesem magisch bedeutsamen Akt als Teil des materiellen Rechtsanspruchs. Immerhin ist trotzdem die Scheidung von Normen für den Rechtsgang und den materiellen Rechtsnormen in der Sonderung der Richtsteige von den Rechtsbüchern ungefähr ebenso klar durchgeführt, wie in der älteren römischen Systematik.
[S. 301]Wie das Gesagte zeigt, ist die Art der Herausdifferenzierung der einzelnen uns heute geläufigen Grundkonzeptionen von Rechtssphären in hohem Maße von rechtstechnischen Momenten, teils von der Art der Struktur des [A 22][[S. 301]]politischen Verbandes abhängig und kann daher nur indirekt als ökonomisch bedingt gelten. Ökonomische Momente spielen insofern hinein, als die Rationalisierung der Wirtschaft auf der Basis der Marktvergemeinschaftung und damit die immer weitere Kompliziertheit der durch Rechtsschöpfung und Rechtsfindung zu schlichtenden Interessenkonflikte sowohl die Entwicklung der fachmäßigen Rationalisierung des Rechtes als solcher wie die Entwicklung des Anstaltscharakters des politischen Verbandes auf das allerstärkste beförderte, wie wir stets erneut sehen werden. Alle andern rein ökonomischen Einflüsse sind konkret bedingt und nicht auf allgemeine Regeln zu bringen. Andererseits werden wir immer erneut auch sehen, daß die von intern rechtstechnischen und politischen Momenten bedingten Eigenschaften des Rechts stark auf die Gestaltung der Wirtschaft zu[672]rückwirken. Im nachfolgenden sollen nun die wichtigsten der auf die allgemeinen formellen Qualitäten des Rechts, der Rechtsschöpfung und Rechtsfindung einwirkenden Umstände kurz betrachtet werden. Und zwar kommt es uns unter diesen Qualitäten speziell an auf Maß und Art der Rationalität des Rechts, vor allem natürlich des ökonomisch relevanten Rechts.
[[S. 303]]Rechtsschöpfung und Rechtsfindung können entweder rational oder irrational sein. Irrational sind sie formell dann, wenn für die Ordnung von Rechtsschöpfung und Rechtsfindungsproblemen andere als verstandesmäßig zu kontrollierende Mittel angewendet werden, z. B. die Einholung von Orakeln oder deren Surrogaten. Materiell sind sie irrational insoweit, als ganz konkrete Wertungen des Einzelfalls, seien sie ethische oder gefühlsmäßige oder politische, für die Entscheidung maßgebend sind, nicht aber generelle Normen. [A 23][[S. 303]]Ratio[S. 304]nale Rechtsschöpfung und Rechtsfindung können wieder in formeller oder in materieller Hinsicht rational sein. Formell mindestens relativ rational ist jedes formale Recht. Formal ist ein Recht insoweit, als ausschließlich eindeutige generelle Tatbestandsmerkmale materiellrechtlich und prozessual beachtet werden. Dieser Formalismus aber kann doppelten Charakter haben. Entweder nämlich können die rechtlich relevanten Merkmale sinnlich anschaulichen Charakter haben. Das Haften an diesen äußerlichen Merkmalen: z. B. daß ein bestimmtes Wort gesprochen, eine Unterschrift gegeben, eine bestimmte[,] ein für allemal in ihrer Bedeutung feststehende symbolische Handlung vorgegangen ist, bedeutet die strengste Form von Rechtsformalismus. Oder die rechtlich relevanten Merkmale werden durch streng logische Sinndeutung erschlossen und darnach feste Rechtsbegriffe in Gestalt streng abstrakter Regeln gebildet und angewendet. Bei dieser logischen Rationalität ist zwar die Strenge des anschaulichen Formalismus abgeschwächt, da die absolute Eindeutigkeit des äußeren Merkmals schwindet. Aber der Gegensatz gegen die materiale Rationalität ist damit nur gesteigert. Denn diese letztere bedeutet: daß andere als anschauliche Merkmale und logische Generalisierungen abstrakter Sinndeutung auf die Gestaltung der Entscheidung von Rechtsproblemen Einfluß haben: ethische oder utilitarische oder andere Zweckmäßigkeitsregeln oder politische Maximen, welche sowohl den Formalismus des äußeren Merkmals wie denjenigen der logischen Abstraktion durchbrechen. Eine spezifisch fachmäßige juri[673]stische Sublimierung des Rechts ist nur möglich, soweit dieses formalen Charakter hat. Und zwar ist sie, soweit der absolute Formalismus des sinnlichen Merkmals reicht, auf Kasuistik beschränkt. Erst [A 24][[S. 304]]die sinndeutende Abstraktion läßt die spezifisch systematische Aufgabe entstehen: die einzelne Rechtsnorm durch die Mittel der Logik zu einem in sich widerspruchslosen Zusammenhang von solchen [S. 305]zusammenzufügen und zu rationalisieren. Wir wollen nun sehen, wie die an der Rechtsbildung beteiligten Bedingungen auf die Entfaltung der formellen Qualitäten des Rechts einwirken.
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MWG: eintreffen. Korrektur in MWG digital nach der Textfassung A.
[A 25][S. 430]Wie entstehen Rechtsnormen? Heute normalerweise durch Gesetz, d. h. menschliche Satzung in den dafür kraft gewohnter oder oktroyierter Verfassung eines Verbandes als legitim geltenden Formen. Daß dies nichts urwüchsiges ist, versteht sich von selbst. Allein auch unter ökonomisch und sozial weitgehend differenzierten Verhältnissen ist es nicht das Normale. Das englische Common Law ist den durch Satzung entstandenen Arten von Rechtsnormen: Statute Law und Equity, direkt entgegengesetzt. Man pflegt bei uns das nichtgesatzte Recht als Gewohnheitsrecht zu bezeichnen. Allein [S. 431]das ist ein relativ sehr moderner Begriff, der im römischen Recht erst in sehr späten Andeutungen auftaucht und bei uns Produkt der gemeinrechtlichen Jurisprudenz ist. Vollends sind die Voraussetzungen, an welche heute die Wissenschaft seine Geltung zu knüpfen pflegt, Produkt modernen Denkens. [S. 433]Die urwüchsige Konzeption von Recht kann zweifellos nur so gedacht werden: daß faktische Gewohnheiten des Sich-Verhaltens als verbindlich empfunden und also zu Einverständnissen wurden, denen dann die [[S. 434]]Garantie von Zwangsapparaten zuteil wurde. Allein wie kommt nun Bewegung in diese träge Masse, welche ja aus sich heraus, gerade weil sie als verbindlich gilt, nichts neues gebären zu können scheint? [[S. 435]]Man wird antworten: durch Änderung der äußeren Existenzbedingung, welche Änderungen der Einverständnisse nach sich ziehen. Allein die bloße Änderung der äußeren Bedingungen ist dafür weder ausreichend noch unentbehrlich. Entscheidend ist vielmehr stets ein Handeln, welches zu einer Änderung von geltendem Recht oder zur Neuschaffung von solchem führt. An diesem Handeln sind nun verschiedene Kategorien von Personen be[A 26][[S. 435]]teiligt. Zunächst die einzelnen Interessenten eines konkreten Gemeinschaftshandelns. Sowohl unter neuen äußeren Bedingungen seine Interessen zu [674]wahren wie um unter den alten Bedingungen sie besser als bisher zu wahren, ändert der Einzelne sein Handeln, insbesondere sein Gemeinschaftshandeln, und treffen mehrere Einzelne, in Vergesellschaftung miteinander treten,
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Zu erwarten wäre: tretend,
inhaltlich neue Vereinbarungen. Durch die Einwirkung dieser beiden Momente entstehen [[S. 436]]neue[,] rein faktische Gewohnheiten oder neue[,] als geltend behandelte Einverständnisse. Es kann entweder von mehreren schon bestehenden Arten des Sich-Verhaltens diejenige, welche unter den gegebenen neuen Bedingungen die für die ökonomischen oder sozialen Chancen günstigste Art des Gemeinschaftshandelns darstellt, durchaus zu ungunsten anderer Inhalte überleben, um schließlich Gemeingut zu werden. Oder der neue Inhalt des Gemeinschaftshandelns wird durch Erfindung geschaffen und verbreitet sich durch Nachahmung und Auslese. Dieser letztere Fall ist auf allen auch nur mäßig rationalisierten Stufen der Lebensführung von der weitaus hervorragendsten Bedeutung, speziell für die ökonomisch wichtigen Rechtsänderungen. Durch Schaffung konkreter Vereinbarungen oder Einverständnisse zwischen einzelnen konkreten Interessenten ist zu allen Zeiten die ökonomische Neuorientierung in Fluß geraten. Diese Vereinbarungen kümmern sich aber normalerweise zunächst um die [S. 437]Frage, ob sie die Chance haben[,] durch Rechtszwang garantiert zu sein, gar nicht. Die Interessenten halten das entweder für unnötig oder für selbstverständlich. Nach der Rechtsgültigkeit fragt man nur in einem kleinen Bruchteil der Fälle. Jeder Beteiligte hält, je nachdem, das Eigeninteresse oder die Loyalität der anderen Beteiligten für eine ausreichende Bürgschaft[.] [A 27][[S. 437]]Wo besondere Garantien erwünscht scheinen, ersetzt den Parteien in weitestem Umfang die magische Selbstverfluchung: der Eid, jede andere Garantie. Ein ganz ungeheurer, für die meisten Epochen wohl der weit überwiegendste Teil der vereinbarungsmäßigen Ordnung ökonomischer Dinge vollzog sich auf diese Art ohne alle Rücksicht auf die Chancen des Rechtszwangs. Subjektive Rechte in unserem Sinn schaffen also solche Einverständnisse nur zum Teil. Die [[S. 440]]Chance des Rechtszwangs wird aber natürlich im stärksten Maße durch die bloße Tatsache der Verbreitung von Vereinbarungen eines bestimmten Typus geschaffen oder gesteigert. Nur das Singuläre pflegt keine Garantie durch einen Zwangsapparat zu finden. Einmal universell verbreitete Gepflogenheiten und Einverständnisse ignorieren die Zwangsapparate nur dann, wenn [675]formale Gründe oder ein Eingreifen autoritärer Gewalten sie absolut dazu nötigen, oder wenn die Organe des Rechtszwanges, weil durch die Macht eines ethnisch oder politisch fremden Herrschers den Beherrschten aufgezwungen oder durch berufliche und sachliche Spezialisierung dem realen Geschäftsleben entrückt, diesen fremd gegenüberstehen. Dies kann der Fall sein,
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und wir werden einige Bedingungen dafür noch kennen lernen. Es kann ferner der gemeinte Sinn von Vereinbarungen strittig sein oder ihre Verbreitung eine noch prekäre Neuerung und daher ist der Richter, wie wir hier a potiori den Rechtszwangsapparat nennen wollen, die zweite selbständige Instanz. Keineswegs immer drückt sie nur ihr Siegel auf die schon faktisch einverständnismäßig oder vereinbartermaßen geltenden Ordnungen, sondern mindestens in Fällen schwankender Eindeutigkeit dieser oder von Konflikten zwischen ihnen ist er zu wählen genötigt und beeinflußt dadurch die Auslese des als Recht überlebenden oft [A 28][[S. 440]]sehr stark. [[S. 441]]Wir werden bald sehen, daß hier unter Richter zunächst nicht etwa ein Beamter oder dergleichen zu verstehen ist und daß die Quelle seiner Entscheidungen zunächst entweder gar nicht oder doch nur für gewisse formale Vorfragen durch generelle Normen irgendwelcher Art gebildet werden, welche er auf den konkreten Fall anwenden könnte. Sondern gerade umgekehrt: indem der Richter in einem konkreten Fall aus noch so konkreten Gründen die Zwangsgarantie eintreten läßt, schafft er generelle Normen, objektives Recht also, welches nicht nur für diesen Einzelfall Bedeutung gewinnt. Denn mindestens ist es nun für ihn sehr erschwert und fast unmöglich, in anderen gleichartigen Fällen die Zwangsgarantie zu versagen, auch für andere Richter nach ihm, und zwar je ungebrochener im allgemeinen die Tradition herrscht, desto schwieriger. [[S. 443]]Denn gerade dann erscheint naturgemäß die getroffene Entscheidung, einerlei wie sie zustande kam, entweder als Ausdruck oder als Bestandteil richtiger Tradition. Die einmal getroffene Entscheidung wird also ein Schema, welches Geltung als Traditionsnorm zum mindesten prätendiert. Das Zusammentreffen bestimmter Einverständnisse, welche das Handeln der Einzelnen geschaffen hat, indem sie ihre Interessensphären gegeneinander abgrenzen, und die Präjudizien der Richter sind also primäre Quellen der Normbildung. So ist in Wirklichkeit z. B. das englische Common Law entstanden. Wir wollen zunächst bei diesen beiden Quellen von neuem Recht stehen bleiben. Der Grad [676]der faktischen Gebundenheit an dieses Präjudizienrecht ist dabei sehr verschieden. Denn keineswegs jede einmal getroffene Entscheidung gewinnt unbedingte Bedeutung für andere Fälle.