[45] Editorischer Bericht
I. Zur Entstehung
Der vorliegende Text ist nicht mehr von Max Weber veröffentlicht worden. Sein unvermittelter Abbruch spricht dafür, daß er unvollendet blieb.
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[45] Der am Ende stehende Vergleich zwischen griechischem und römischem Adel bildet schwerlich einen sinnvollen Abschluß. Nach den voranstehenden Ausführungen zum Scheitern griechischer Großstaatsbildungen wäre zu erwarten gewesen, daß Weber seine vorher im Text (unten, S. 225 f.) gegebene Ankündigung wahrgemacht hätte, den Zusammenhang zwischen der römischen Expansionspolitik und der Herausbildung der Militärmonarchie zu skizzieren. Vgl. Deininger, Jürgen, Die politischen Strukturen des mittelmeerisch-vorderorientalischen Altertums in Max Webers Sicht, in: Schluchter, Wolfgang (Hg.), Webers Sicht des antiken Christentums. Interpretation und Kritik. – Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 72–110, hier S. 107, Anm. 88.
Über die Genese der Abhandlung liegen keine gesicherten Nachrichten vor. Ein Hinweis ist in einem Brief Webers vom 21. Juni 1914 an den Historiker Georg von Below enthalten, mit dem er sich für die Zusendung von dessen Buch über den „deutschen Staat des Mittelalters“
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bedankte: „Ich werde wohl im Winter anfangen, einen ziemlich umfangreichen Beitrag zum ,Grundriß der Sozialwissenschaften‘ drucken zu lassen, der die Formen der politischen Verbände vergleichend und systematisch behandelt, auf die Gefahr hin, dem Anathema: ,Dilettantenvergleiche‘ zu verfallen. Ich meine: das was der mittelalterlichen Stadt spezifisch ist, also: das was die Geschichte grade uns darbieten soll (darin sind wir absolut einig!), ist doch nur durch die Feststellung was andern Städten (antiken, chinesischen, islamischen) fehlte, zu entwickeln – und so mit Allem.“ Below, G[eorg] von, Der deutsche Staat des Mittelalters. Ein Grundriß der deutschen Verfassungsgeschichte, Band 1: Die allgemeinen Fragen. – Leipzig: Quelle & Meyer 1914.
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Dieses Selbstzeugnis belegt Webers Absicht, in absehbarer Zeit seinen Beitrag zum – wie es richtig [46]heißen muß – „Grundriß der Sozialökonomik“ (= GdS), GStA Berlin, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 30/11, Bl. 78–79 (MWG II/8). – Der Brief ist mit einigen abweichenden Lesungen abgedruckt worden in: Below, G[eorg] von, Der deutsche Staat des Mittelalters. Eine Grundlegung der deutschen Verfassungsgeschichte, Band 1: Die allgemeinen Fragen, 2. Aufl. – Leipzig: Quelle & Meyer 1925, S. XXIVf., hier S. XXIV.
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dessen dritte Abteilung „Wirtschaft und Gesellschaft“ (= WuG) vorbehalten sein sollte, vorzulegen und in diesem Kontext auch das Thema „Stadt“ in einer universalhistorischen Perspektive zu behandeln. Aus dem Brief an Below läßt sich nicht völlig eindeutig schließen, daß Weber diesen Abschnitt schon fertiggestellt hatte. Da er jedoch bereits in einem Brief an den Verlag vom 30. Dezember 1913 davon gesprochen hatte, daß er für das geplante Werk neben einer „geschlossene[n] Theorie und Darstellung […], welche die großen Gemeinschaftsformen zur Wirtschaft in Beziehung setzt“, auch eine „umfassende soziologische Staats- und Herrschaftslehre“ „ausgearbeitet“ habe, ist es wahrscheinlich, daß zu dem zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Manuskript[46] Dieser Titel stand seit April 1914 fest; Winckelmann. Johannes, Max Webers hinterlassenes Hauptwerk: Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Entstehung und gedanklicher Aufbau. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1986, S. 39.
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auch Ausführungen zum Thema „Stadt“ gehörten. Da Weber jedoch seinen GdS-Beitrag bis zum August 1914 wegen der Redaktionsarbeiten am Gesamtwerk und ständiger Umarbeitungen seines eigenen Textes nicht zum Druck gebracht hat, Die hier und im folgenden zitierte Korrespondenz findet sich im Verlagsarchiv J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Deponat Bayerische Staatsbibliothek München, Ana 446. – Die wichtigsten, die „Stadt“ betreffenden Briefpassagen sind abgedruckt bei Winckelmann, Hauptwerk. Der Text des zitierten Briefes ebd., S. 36.
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läßt sich aus diesen brieflichen Äußerungen nicht entnehmen, in welcher Form der Abschnitt über die „Stadt“ im Sommer 1914 vorgelegen hat. Winckelmann, Hauptwerk, S. 36–41.
Webers Intention, den Themenkomplex „Stadt“ im Kontext seines GdS-Beitrags zu behandeln, wird auch aus seinem, auf den 2. Juni 1914 datierten, Plan für das Gesamtwerk deutlich, in dem er für die III. Abteilung „Wirtschaft und Gesellschaft“ im Kapitel 8: „Die Herrschaft“ einen Abschnitt c): „Die nichtlegitime Herrschaft. Typologie der Städte“ vorgesehen hatte.
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Hier kann – unabhängig von der Frage, ob Weber in seiner Herrschaftssoziologie später an dem Konzept der „nichtlegitimen Herrschaft“ festgehalten hätte – bezweifelt werden, ob der überlieferte Text dieser Konzeption entspricht, jedenfalls dann, wenn „Typologie der Städte“ unter „nichtlegitime Herrschaft“ zu subsumieren ist. Webers Ausführungen zur fehlenden Legitimität von Stadtregimes betreffen nur Teile des Textes (namentlich zur Kommunegründung durch coniuratio, zu den Sonderverbandsbildungen des popolo im italienischen Mittelalter sowie zu Entsprechungen in der Antike), keinesfalls aber die Abhandlung insgesamt. Die Datierung ergibt sich aus dem Vorwort zur I. Abteilung des GdS (Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1914), S. VII–IX; der Werkplan ist ebd., S. X–XIII, abgedruckt; wieder in: Winckelmann, Hauptwerk, S. 165–167 und 168–171. [[MWG I/24, S. 164–167 und S. 168–173]]
[47]Es gibt allerdings Indizien dafür, daß Weber sich auch den vorliegenden Text als Teil seines großen GdS-Beitrags vorgestellt hat.
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Weber hat den Text mit einer Fülle von Vor- und Rückverweisen – „wie wir sehen werden“, „wie wir sahen“, etc. – versehen. Die Mehrzahl der mehr als vierzig Verweise läßt sich innerhalb des vorliegenden Textes der „Stadt“ auflösen. Es gibt jedoch mindestens drei Verweise, deren Auflösung am ehesten in älteren Teilen von WuG1 zu finden ist,[47] Vgl. Orihara, Hiroshi, Eine Grundlegung zur Rekonstruktion von Max Webers „Wirtschaft und Gesellschaft“. Die Authentizität der Verweise im Text des „2. und 3. Teils“ der 1. Auflage, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 46, 1994, S. 103–121.
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drei weitere stellen Zweifelsfälle dar. Unten, S. 123 mit Anm. 61, S. 180 mit Anm. 130 und S. 258 mit Anm. 172.
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Eine Ankündigung an anderer Stelle in WuG1 – „die später zu besprechende Mischung von Geschlechtern und popolo grasso in Italien“ Unten, S. 148 mit Anm. 6, S. 184 mit Anm. 143 und S. 230 mit Anm. 108.
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– läßt sich als Verweis aus einem anderen Teil des Werkes auf die „Stadt“ verstehen. Allerdings bleibt zu bedenken, daß nicht eindeutig zu rekonstruieren ist, auf welchen Textbestand und in welcher Anordnung sich Weber zum Zeitpunkt der Einfügung dieser Verweise bezogen hat. WuG1, S. 719 (MWG I/22-4).
Auch deshalb ist mit der Feststellung, daß Weber allem Anschein nach bei der Niederschrift der „Stadt“ von einer Einordnung in seinen GdS-Band ausging, noch nicht ausgemacht, ob bzw. in welcher Form er den Text, wenn er einmal fertiggestellt gewesen wäre, in WuG integriert hätte. Die sowohl für Teile des Vergleiches zwischen Antike und Mittelalter wie für den Kontrast zwischen dem Okzident und den ostasiatischen Kulturen hervortretende religionssoziologische Ausrichtung könnte auf einen engeren Zusammenhang mit den dafür einschlägigen Studien Webers sprechen. Es ist deshalb vermutet worden, daß der Text letztlich der „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ zugeordnet worden wäre.
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Ein Anhaltspunkt dafür könnte in einer Selbstanzeige in den Verlagsmitteilungen vom 25. Oktober 1919 für den 2. Band der „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“ vorliegen. Weber kündigte an, daß die Aufsätze erweitert werden sollten „durch eine kurze Darstellung der ägyptischen und mesopotamischen und der zarathustrischen religiösen Ethik, namentlich aber durch eine der Entstehung der sozialen Eigenart des Okzidents gewidmeten Skizze der Entwicklung des europäischen Bürgertums in der Antike und im Mittelalter“. Schluchter, Wolfgang, Max Webers Religionssoziologie. Eine werkgeschichtliche Rekonstruktion, in: ders. (Hg.), Max Webers Sicht des antiken Christentums. Interpretation und Kritik. – Frankfurt: Suhrkamp 1985, S. 525–560, hier S. 542; ders., Religion und Lebensführung, Band 2: Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie. – Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 395, Anm. 34.
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Weni[48]ger als zwei Wochen vor der Formulierung dieses Werbetextes, der am 24. September beim Verlag eingegangen war, Abgedruckt in: Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 28.
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hatte Weber am 11. September in einem Brief an den Verleger von einem, für diesen Band noch zu schreibenden Aufsatz („im Kopf fertig“) über die „allgemeinen Grundlagen der occidentalen Sonderentwicklung“ gesprochen.[48] Schmidt-Glintzer, Helwig, Editorischer Bericht, in: Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 31–73, hier S. 45.
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Ob diese beiden Ankündigungen denselben Aufsatz meinen und wie sich dieser letztlich zum vorliegenden Text über die „Stadt“ verhalten hätte, läßt sich nicht klären. Über einen im Januar 1918 in Berlin gehaltenen Vortrag Webers über das „abendländische Bürgertum“ ist weiteres nicht bekannt; das gleiche gilt für einen Münchener Vortrag zum gleichen Thema vom März 1919. Schmidt-Glintzer, a. a. O., S. 44.
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Vgl. Weber, Max, Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914–1918, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Gangolf Hübinger (MWG, Abteilung I: Schriften und Reden, Band 15). – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1984, S. 781, und Weber, Max, Zur Neuordnung Deutschlands. Schriften und Reden 1918–1920, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Wolfgang Schwentker (MWG, Abteilung I: Schriften und Reden, Band 16). – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1988, S. 557 f.
Eine eindeutige werkgeschichtliche Zuordnung des erhaltenen Textes der „Stadt“ läßt sich aufgrund dieses Befundes nicht vornehmen. Der Text hätte vermutlich umgestaltet werden müssen, wenn Weber ihn in WuG oder in die „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“ bzw. in Teilen in beide Werke hätte übernehmen wollen.
Angesichts des Fehlens eindeutiger Informationen über Webers Arbeit speziell an diesem Text kann die Eingrenzung seiner Entstehungszeit nur aufgrund interner Evidenz sowie der Korrelation mit den sonstigen verfügbaren bio-bibliographischen Informationen über Webers Arbeiten erfolgen. Der Text selbst enthält keine Anhaltspunkte für Datierungen, sieht man einmal davon ab, daß Weber nach der Oktoberrevolution von 1917 schwerlich noch vom „heutigen Rußland“ und nach dem November 1918 gewiß nicht mehr vom „polnischen Siedlungsgebiet unseres Ostens“ gesprochen hätte.
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Die aus Webers verwendeter Literatur, soweit rekonstruierbar, zu erschließenden Datierungshinweise können grundsätzlich nur zur Feststellung eines terminus post quem führen. Neben älterer Literatur wird eine Reihe von Arbeiten benutzt, die zwischen 1908 und 1913 erschienen sind. Von den von Weber selbst genannten Arbeiten ist Hatscheks Buch, „Englische Verfassungsgeschichte“, erst im Juli 1913 erschienen; Unten, S. 59.
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der ebenfalls zitierte Aufsatz von Strack über die Freigelassenen in der Antike lag Ende No[49]vember 1913 vor; Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, 80. Jg., Nr. 155 vom 8. Juli 1913.
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die Auswertung einer weiteren, frühestens Ende 1913 verfügbaren Arbeit ist wahrscheinlich.[49] Strack, Freigelassene, ist erschienen in: Historische Zeitschrift, Band 112, 1914, S. 1–28. Diese Zeitschrift erscheint in 2 Jahresbänden. Der Aufsatz von Strack ist im ersten Heft des ersten Bandes für 1914 erschienen, das bereits Ende November 1913 ausgegeben wurde (laut Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, 80. Jg., Nr. 277 vom 29. November 1913, S. 13 076).
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Damit ist nur evident, daß Weber auf jeden Fall im Dezember 1913 noch an dem vorliegenden Text gearbeitet haben muß, da die jüngste nachweisbar verwendete Publikation frühestens zu diesem Zeitpunkt verfügbar war. Aus den bisherigen Feststellungen kann man weder herleiten, wann Weber mit der Niederschrift des Textes begonnen noch zu welcher Zeit er die seit Ende 1913 verfügbare Literatur eingearbeitet hat. Webers Bemerkungen zum Demos in Karthago und Tyros, unten, S. 93, setzen wahrscheinlich die Kenntnis des an der Parallelstelle in: Weber, Judentum I, S. 87, Anm. 31 (MWG I/21), zitierten Aufsatzes von Slousch, Nahum, Representative Government among the Hebrews and Phoenicians, in: The Jewish Quarterly Review, n.s., vol. 4, 1913/14, S. 303–310, voraus. Dieser Artikel ist Ende 1913 erschienen.
Für eine Bestimmung des wahrscheinlichen Entstehungszeitraums bleibt man deshalb auf inhaltliche Überlegungen angewiesen. Danach sollte außer Zweifel stehen, daß Webers Arbeit an der „Stadt" frühestens nach der Anfang 1908
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erfolgten Fertigstellung der letzten Fassung der „Agrarverhältnisse im Altertum“ für das „Handwörterbuch der Staatswissenschaften“ eingesetzt haben kann. In diesem Text hatte Weber erstmals einen Vergleich zwischen Antike und Mittelalter skizziert und am Ende hervorgehoben: „Eine wirklich kritische Vergleichung der Entwickelungsstadien der antiken Polis und der mittelalterlichen Stadt […] wäre ebenso dankenswert wie fruchtbar“. Der 1. Band der 3. Aufl. trägt zwar das Datum 1909, der Faszikel mit dem Beitrag Webers ist jedoch schon im April 1908 erschienen; vgl. Winterling, Aloys, Rezension MWG I/2, in: Gnomon, Band 61, 1989, S. 401–407, hier S. 401, Anm. 2. – Weber hat den Beitrag etwa zwischen November 1907 (oder etwas früher) und Ende Januar 1908 niedergeschrieben und von Anfang Februar bis Mitte März 1908 an den Korrekturen gesessen; vgl. die Briefe an Oskar Siebeck (26.12.1907); Robert Michels (9.1.1908); Marie Baum (4.2.1908); Robert Michels (4.2.1908); Oskar Siebeck (10.2.1908); Marianne Weber (14.3.1908), in: Weber, Briefe 1906–1908, MWG II/5, S. 426, 429, 430, 433, 435 und 454.
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Für die späteren, die griechisch-römische Antike betreffenden, Ausführungen zur Stadt stellte dieser Lexikonartikel, wie sich aus einer Reihe von Parallelen erkennen läßt, zweifellos eine wichtige Grundlage dar. Weber, Agrarverhältnisse3, S. 188 (MWG I/6). Vgl. die Einleitung, oben, S. 6 f.
Der Inhalt des Textes spricht weiter dafür, daß große Teile in der vorliegenden Form erst seit ca. 1911 entstanden sind, als Weber an den Studien über Konfuzianismus und Hinduismus sowie über das antike Judentum, das Christentum und den Islam arbeitete. Erst in diesem Zusammenhang ver[50]fügte er über das nötige Material und die angemessenen Kategorien, um die Stadttypen des Orients und Okzidents – unter Berücksichtigung aller konkreten historischen Unterschiede in beiden Bereichen – vergleichen zu können. Eine Reihe von Ausführungen in der „Stadt“ lesen sich, wie oben in der Einleitung dargelegt, wie Kurzversionen seiner ausführlicheren Analysen in den religionssoziologischen Aufsätzen. Sie dürften deshalb ein fortgeschrittenes Stadium dieser Studien voraussetzen, von denen zumindest diejenigen zu China, Indien und zum Judentum 1913 in ersten Fassungen vorlagen.
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In der aus dem Jahre 1913 stammenden Einleitung zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ heißt es, daß das Christentum in der „Stadt des Okzidents in ihrer Einzigartigkeit gegenüber allen anderen Städten“ und im „Bürgertum in dem Sinne, in welchem es überhaupt nur dort in der Weit entstanden ist“, seinen „Hauptschauplatz“ gefunden habe.[50] Die Arbeit daran ist 1911 begonnen worden; die Konfuzianismus-Studie lag 1913 abgeschlossen vor und ist von Weber 1915 weitgehend unverändert in Druck gegeben worden; die Studien zum antiken Judentum und zu Indien müssen 1913 ebenfalls bereits in umfangreichen Manuskripten vorgelegen haben, auch wenn Weber sie für die Drucklegung nach der Wiederaufnahme seiner wissenschaftlichen Arbeit im Sommer 1915 in stärkerem Maße überarbeitet hat; vgl. Schluchter, Religionssoziologie, S. 535–537 und 545 f.; Schmidt-Glintzer, Helwig, Editorischer Bericht, in: Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 31–73, hier S. 34–40.
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Die inhaltliche Übereinstimmung mit wesentlichen Thesen des „Stadt“-Textes liegt auf der Hand, ohne daß sich daraus jedoch herleiten ließe, daß dieser Text schon (in welchem Zustand auch immer) vorgelegen haben müsse. Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 87. Die Datierung ergibt sich aus Webers Fußnote ebd., S. 83.
Es ist aufgrund der bisher getroffenen Feststellungen durchaus damit zu rechnen, daß Weber auch im Laufe des Jahres 1914 noch an der „Stadt“ (wie an seinem gesamten GdS-Beitrag)
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gearbeitet hat. Wenn dies der Fall gewesen sein sollte, so muß diese Arbeit spätestens mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs unterbrochen worden sein. Weber meldete sich am 2. August 1914 freiwillig zum Militärdienst und wurde beim Aufbau der Heidelberger Reservelazarette eingesetzt. Diese Aufgabe hat zumindest in den ersten Monaten seine ganze Arbeitskraft in Anspruch genommen und eine längere Unterbrechung seiner gesamten wissenschaftlichen Arbeit bedingt. Vgl. oben, S. 46.
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Seit dem Sommer 1915 und dann intensiv nach der Entlassung aus dem Militärdienst am 30. September 1915 hat sich Weber wieder mit seinen Studien zur [51]Wirtschaftsethik der Weltreligionen befaßt. Vgl. Mommsen, Wolfgang J., Editorischer Bericht [Erfahrungsberichte über Lazarettverwaltung], in: Weber, Max, Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914–1918, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Gangolf Hübinger (MWG, Abteilung I: Schriften und Reden, Band 15). – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1984, S. 23–25, hier S. 23, sowie Weber, Marianne, Lebensbild, S. 527 ff.
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Denkbar wäre, daß er sich bei dieser Gelegenheit zugleich auch wieder der „Stadt“ zugewendet hat. Allerdings finden sich für eine Wiederaufnahnne der Arbeit seit diesem Zeitpunkt weder im Text selbst noch in den verfügbaren bio-bibliographischen Informationen über Webers wissenschaftliche Produktion seit dieser Zeit irgendwelche Anhaltspunkte.[51] Vgl. Weber, Marianne, Lebensbild, S. 561, mit dem Hinweis, daß Weber „sich dafür schon in den letzten Monaten der Dienstzeit täglich eine Stunde herausgespart“ habe.
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Auch die Durchsicht des Briefwechsels Max Webers mit dem Verleger und der im Archiv des Verlages J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen verwahrten Materialien (Druckaufträge und Arbeitstagebücher der Verlagsangestellten) erbrachte keinen anderen Befund. Auch die Tatsache, daß Weber ausführlich auf die Herrschaftsverhältnisse im islamischen Mekka zu sprechen kommt, kann – gegen Hungar, Kristian, Empirie und Praxis. Der Zusammenhang der Arbeiten Max Webers im Lichte neuerer Konzeptionen (Mannheimer sozialwissenschaftliche Studien, Band 6). – Meisenheim am Glan: Anton Hain 1971, S. 71 – kein Beleg für eine Spätdatierung sein, da sich Weber hierfür auf Snouck Hurgronje, Mekka, stützt, ein Werk, das bereits 1888 erschienen war.
Alles in allem ergibt sich, daß wesentliche Partien, wenn nicht das Ganze des „Stadt“-Textes erst seit ca. 1911 entstanden sein dürften. In der vorliegenden Form repräsentiert er wahrscheinlich einen Bearbeitungsstand von 1914. Für spätere Zusätze oder Überarbeitungen gibt es keine zwingenden Hinweise; die Möglichkeit kann aber auch nicht definitiv ausgeschlossen werden.
Die Ungewißheit über den Status des nachgelassenen Textes hat auch die Geschichte seiner posthumen Publikation bestimmt. Am 30. Juni 1920 schrieb Marianne Weber an den Verleger Paul Siebeck, daß sie Manuskripte ihres Mannes gefunden habe, darunter: „ein großes Konvolut: Formen der Stadt“.
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Marianne Weber hat das Manuskript schließlich im Oktober 1920 an den Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) geschickt, weil der Redakteur des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“, Emil Lederer, auf den Abdruck in der Zeitschrift drängte. VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446.
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Es hat allerdings bis zum Juli 1921 gedauert, bis der Text in Druck ging Marianne Weber an den Verlag am 23.10.1920: „Ich schicke heute hochversichert ein sehr wertvolles Manuskript meines Mannes an Sie adressiert ab. Prof[essor] Lederer wünscht diesen in sich abgeschlossenen Aufsatz für das ,Archiv‘ u[nd] teilt mir mit[,] daß die Druckerei ,Futter‘ brauche“; am 7.11.1921: „Vorigen Sommer bat mich Prof[essor] Lederer um die Abhandlung ,die Stadt‘ für das Archiv u[nd] ich gab sie nur her unter der Voraussetzung, daß sie auch im Grundriß an passender Stelle aufgenommen werde. Sie wurde auch schon im Sommer 1920 gesetzt, aber das Erscheinen des betr[effenden] Archivhefts zögerte sich dann unerwartet lange hinaus […]“; ebd.
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und im August 1921 unter dem Titel „Die [52]Stadt. Eine soziologische Untersuchung“ im „Archiv“, Band 47, Heft 3, S. 621–772, erschien. Druckauftrag für das „Archiv“, Band 47, Heft 3, vom 21.7.1921; Verlagsarchiv J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen.
Im Juni 1921 schloß Marianne Weber mit dem Verlag einen Vertrag, in dem ihre Herausgeberschaft bezüglich der von Weber für den GdS verfaßten Teile abschließend geregelt wurde.
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Zusammen mit der Rücksendung des Vertrages am 3. Juni 1921 ersuchte Marianne Weber den Verlag, die „Stadt“ für den „Grundriß“ noch nicht setzen zu lassen,[52] Verlags-Vertrag vom 1.6.1921, Privatbesitz; vgl. auch Winckelmann, Hauptwerk (wie oben, S. 46, Anm. 4), S. 95.
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sondern die „für das Archiv gesetzten Bögen“ an sie und Palyi zu senden, damit sie gemeinsam überlegen könnten, ob der Text überhaupt in den „Grundriß“ passe: „Er ist an sich wundervoll, aber in etwas andrer Diktion – rein historisch, nicht systematisch – deshalb muß man noch überlegen, ob er nicht aus dem Rahmen herausfällt. Max Weber hatte allerdings in seinem Stoffverteilungsplan im ersten Grundrißband einen solchen Abschnitt vorgesehen“. Diese Aufforderung erging am gleichen Tag auch vorab per Telegramm an den Verlag; VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446.
Am 7. Juni 1921 kündigte Oskar Siebeck an, daß er dieser Bitte folgen werde. Bis in den Herbst hinein korrespondierte Marianne Weber mit dem Verlag wegen der Aufnahme der „Stadt“ in den GdS, da sie sich über die Zuordnung nicht schlüssig war und als Alternative zu einer Plazierung im „Grundriß“ (zunächst dachte sie als „Nachtrag“) eine Aufnahme in eine künftige Ausgabe „gesammelter Aufsätze“ erwog, bevor sie doch den Druck im GdS verlangte. Der Verlag plädierte für die Publikation in einer Aufsatzsammlung; zum einen könne man dadurch den Umfang des GdS-Beitrags reduzieren, zum anderen sei der Text erst kürzlich (d. h. im August 1921) im „Archiv“ erschienen.
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Dagegen verwies Marianne Weber schließlich am 26. Oktober 1921 auf den Werkplan von 1914 und darauf, daß Max Weber „zweifellos die Stadt als höchste Form der Vergesellschaftung in den Grundriß aufnehmen“ wollte. Nachdem Werner Siebeck im November 1921 Marianne Weber an den Verlag am 9.7., 3.8., 20.10. und 7.11.1921 – der Verlag an Marianne Weber am 16.7. und 24.10.1921; ebd.
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diesem Plan doch noch zugestimmt hatte, wurde der Text unter dem Titel „Die Stadt“ zum größten Teil – S. 513–596 – in der 3. Lieferung des GdS im Juni 1922, S. 597–600 in der 4. Lieferung im Dezember 1922 noch einmal veröffentlicht. Allerdings erhielt er nicht die Plazierung, die dem Weberschen Werkplan von 1914 entsprochen hätte, sondern wurde in den 2. Teil („Typen der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung“) als letztes, VIII. Kapitel nach der „Rechtssoziologie“ eingestellt. Briefe vom 1., 10., und 15. November 1921; ebd.
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Erst in der 4. und 5. Aufl. von WuG (1956 bzw. 1972) hat Johannes Winckelmann den Text unter Berufung auf den Werkplan von 1914 als Teil der Herrschaftssoziologie von WuG präsentiert. In der 4. Aufl. in Kapitel IX als Abschnitt 8 und in der 5. Aufl. in Kapitel IX [53]als Abschnitt 7. Die unterschiedliche Abschnittszählung ergibt sich daraus, daß Winckelmann in der 5. Aufl. den in die Aufl. von 1956 neu hineingenommenen (2.) Abschnitt „Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft“ als nicht zu WuG gehörend wieder entfernt und stattdessen in: Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, 3. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1968, S. 475–488 eingeordnet hatte.
[53]II. Zur Überlieferung und Edition
Von der vorliegenden Abhandlung Webers ist kein Manuskript überliefert; es muß als verschollen gelten. Das Verhältnis der beiden überlieferten Fassungen zueinander läßt sich sowohl aufgrund der Abläufe bei der Drucklegung wie einer Überprüfung der in der zweiten Fassung vorgenommenen Veränderungen klären.
Der Verbleib des Manuskripts, das Marianne Weber für den Druck im „Archiv“ an den Verlag geschickt hatte, ist nicht zu rekonstruieren. Es war verlegerische Praxis, Manuskripte sofort nach ihrem Eintreffen zu setzen und dann unverzüglich zurückzusenden.
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Ob dies auch hier geschehen ist, läßt sich nicht mehr ermitteln. Es ist nicht bekannt, ob Marianne Weber das Manuskript zurückerhalten und was sie gegebenenfalls damit gemacht hat. Es ist jedoch auszuschließen, daß sie es für die Drucklegung der 3. Lieferung des GdS an den Verlag zurückgeschickt hat. Am 25. März 1921 übermittelte sie Manuskriptteile für den GdS, die noch nicht gedruckt waren, an den Verlag. Beigefügt war der Sendung ein handschriftliches „genaues Verzeichnis der Kapitelfolge so, wie ich sie in Gemeinschaft mit Dr. Palyi festgestellt habe“. In dieser Liste sind die einzelnen Kapitel jeweils mit einem Haken versehen worden – von wem, ist nicht klar. Beim neunzehnten und letzten Abschnitt, der „Stadt“, fehlt dieses Prüfzeichen jedoch. Hier findet sich stattdessen von Marianne Webers Hand der Vermerk: „bereits bei Siebeck u[nd] im Archiv gedruckt“. Nachdem der Verlag schließlich einer Publikation der „Stadt“ im GdS zugestimmt hatte, schrieb Werner Siebeck am 15. November 1921 an Marianne Weber, er werde „nunmehr diesen Abschnitt sogleich für den Grundriss absetzen lassen“. Hinweis Georg Siebeck 6.11.1990.
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In den Unterlagen des Verlagsarchivs J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen, existiert ein Vermerk mit dem Datum vom 18.11.1921: „Weber, Die Stadt abgelegt, zu […] G.d.S. umgesetzt“.
Marianne Weber hat dem Verlag am 13. Dezember 1921 den Empfang der Druckbögen der „Stadt“ für die Publikation im GdS bestätigt. Bis zum Februar 1922
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haben Marianne Weber und Melchior Palyi an den Korrektu[54]ren der GdS-Druckfahnen gearbeitet. Angesichts des ungeklärten Schicksals des ursprünglichen Manuskripts könnte grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden, daß bei dieser Gelegenheit das Original herangezogen worden wäre, um es mit den Druckbögen zu vergleichen und dann Fehler im Satz der ersten Fassung zu beheben. Am 2.2.1922 schreibt der Verlag an Marianne Weber, daß am Tag zuvor die „restlichen Korrekturen des Abschnittes ,Die Stadt‘“ von Palyi eingegangen seien; VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446.
Der Vergleich der beiden Textfassungen zeigt jedoch, daß sich die Herausgeber in WuG1 auf die Verbesserung von evidenten Fehlern im „Archiv“-Druck bzw. auf kleinere sprachliche Eingriffe beschränkt haben: Verbesserungen von banalen Druckfehlern, von Druck- oder Lesefehlern bei Begriffen sowie Personen- und Ortsnamen,
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kleine grammatische Korrekturen, Eingriffe in die Interpunktion, (nicht konsequent durchgehaltene) Vereinheitlichungen der Schreibweise von Begriffen wie Klientel/Clientel und Kommune/Commune bzw. der eingedeutschten oder griechischen Pluralbildung bei Demen/Demoi, Streichungen einzelner in einem Satz doppelt vorkommender Wörter, einzelne sinngemäße Ergänzungen. Hinzu kommen leichte Eingriffe in die Gliederung des Textes durch die Einfügung neuer Absätze. Für keinen dieser Eingriffe ist die Kenntnis der Weberschen Vorlage erforderlich. [54] Das betrifft: „chersonnesisch“, A 628, statt richtig: „chersonesisch“; „Snouck Hargronje“, A 643, statt richtig: „Snouck Hurgronje“; „des kommunen Council“, A 701 f., statt richtig: „des kommunalen Council“; „Peisistratolen“, A 720, statt richtig: „Peisistratiden“; „Mazaine“, A 732, statt richtig: „Mazarin“; „spartisch“, A 755, statt richtig: „spartanisch“; „Livier“, A 759, statt richtig: „Livius“; „Pausanius“, A 763, statt richtig: „Pausanias“.
Für andere Eingriffe kann ausgeschlossen werden, daß auf das Manuskript zurückgegriffen wurde, da hier eine sachlich angemessene, den Herausgebern aber offensichtlich nicht vertraute Terminologie verändert wurde.
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Verschlechterungen des Textes liegen ferner beim Wegfall oder der Veränderung einzelner sinntragender Wörter vor, So: „Demosverfassung“ (WuG1, S. 591) gegenüber „Demenverfassung“ (A 755); „das römisch-italienische Reich“ (WuG1, S. 597) gegenüber „das römisch-italische Reich“ (A 766); „innerhalb der hellenistischen Welt“ (WuG1, S. 598) gegenüber „innerhalb der hellenischen Welt“ (A 768).
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die gewiß auch durch neue Setzerfehler bedingt sein könnten. Im Falle von: „gänzlich“ vor „Stamm- oder doch Sippenfremden“ (WuG1, S. 531, gegenüber A 653) und „religiösen“ vor „und magischen Bande“ im gleichen Satz; „auch“ vor: „auf dem italienischen Festland“ (WuG1, S. 546, gegenüber A 678); „welche die Qualifikation […] bedurften“ statt richtig: „welche der Qualifikation […] bedurften“ (WuG1, S. 533, gegenüber A 656).
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In einem anderen Fall wurde eine inhaltlich begründbare Emendation vorgenommen, bei der jedoch ein offensichtlicher Lese- oder Druckfehler als Sachfehler behandelt wurde. Wie bei: „Phratriern“ (WuG1, S. 532) statt richtig: „Phratrien“ (A 655).
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Indem das „,Netre vires‘-Prozeß“ (A 730) durch „,Quo warranto‘-Prozeß“ (WuG1, S. 576) ersetzt worden ist. Die sinnlose Buchstabenfolge „netre“ konnte aber nur zustandegekommen sein, wenn Weber „Ultra vires“ geschrieben hatte (vgl. zum Sachverhalt unten, S. 237, Anm. 126).
[55]Bei vorliegendem Manuskript (und seiner richtigen Entzifferung) hätte zumindest ein Teil der von Otto Hintze 1926
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aufgeführten sinnentstellenden Fehler nicht übersehen werden dürfen,[55] Hintze, Otto, Max Webers Soziologie, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, 50. Jg., 1926, S. 83–95, hier S. 87 f.
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ebenso wie die erst von Johannes Winckelmann in den von ihm bearbeiteten Auflagen von WuG vorgenommenen Emendationen bei Namens- bzw. Begriffsverwechselungen Namentlich: „Chacrudas“, A 720, statt richtig: „Charondas“; „Kriminalbeamten“, A 726, statt richtig: „Kommunalbeamten“.
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– es sei denn, daß diese Fehler auf Lapsus von Weber selbst zurückzuführen sind. So: „in Holland“, A 696, statt richtig: „in Hellas“; „der hellenische Synoikismos“, A 655, statt richtig: „der hebräische Synoikismos“; „Caldomini“, A 759, statt richtig: „Calderini“.
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Eine Möglichkeit (nach einem freundlichen Hinweis von Guenther Roth) wäre auch, daß (für Teile) ein nach Diktat hergestelltes Typoskript vorgelegen haben könnte, die Fehler somit durch Hör- bzw. Abschreibefehler des Maschineschreibers entstanden und dann von Weber nicht mehr korrigiert worden wären.
Es gibt somit keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß die in WuG1 vorgenommenen Texteingriffe auf das Manuskript zurückgehen; sie sind vielmehr aller Wahrscheinlichkeit nach von den Herausgebern selbständig vorgenommen worden.
Zu dieser Edition
Aus diesem Überlieferungsbefund folgt eindeutig, daß für die Konstituierung des Textes der Erstdruck, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 47, Heft 3, 1921, S. 621–772 (A), als der letzten Hand am nächsten stehend zugrundegelegt werden muß, und der Zweitdruck, in: Grundriß der Sozialökonomik, Abteilung III: Wirtschaft und Gesellschaft. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1922, S. 513–600, nicht als Variante gelten kann; zur Orientierung wird lediglich die Paginierung von WuG1 marginal mitgeführt.
Offene Fragen ergeben sich hinsichtlich des Titels der Abhandlung, ihrer Untergliederung in Kapitel und der jeweiligen Bezeichnung dieser Kapitel. Marianne Weber hatte in ihrem ersten Schreiben an den Verlag von einem „Konvolut: Formen der Stadt“
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gesprochen. Ob dieser Titel über dem Manuskript stand oder sonst in irgendeiner Weise von Max Weber stammt, oder ob nicht vielmehr Marianne Weber damit nur den Inhalt des Textes charakterisieren wollte, ist nicht zu klären. Die Erstfassung im „Archiv“ trug den Titel „Die Stadt. Eine soziologische Untersuchung“; beim zweiten Abdruck des Textes ist der Untertitel wieder weggelassen worden. Auch hier läßt sich nicht entscheiden, wer für den jeweiligen Titel verantwortlich ist; außer an Marianne Weber läßt sich für die Erstfassung an den Herausgeber [56]des „Archivs“ denken, der den Untertitel für die Publikation in dieser Zeitschrift für angemessen gehalten haben könnte. Daß der Untertitel von Max Weber stammte, der bei der Arbeit an diesem Text noch die Einbindung in seinen GdS-Beitrag vor Augen hatte, wird man mit ziemlicher Sicherheit ausschließen können, ganz abgesehen davon, daß die Kategorie „soziologisch“ in seinem Text keine sonderlich prominente Rolle spielt. Da es keinen von Weber autorisierten Titel gibt und der Untertitel „Eine soziologische Untersuchung“ schwerlich adäquat ist, erscheint die Beibehaltung nur des Titels „Die Stadt“ als die beste Lösung, zumal sie keine spezifische Interpretation suggeriert. Siehe oben, S. 51.
Der Erstdruck weist eine Unterteilung des Textes in vier Kapitel auf: „I. Begriff und Kategorien der Stadt“; „II. Die Stadt des Okzidents“; „III. Die Geschlechterstadt im Mittelalter und in der Antike“; „IV. Die Plebejerstadt“. Daß die grundsätzliche Einteilung in vier Gliederungseinheiten durch Max Weber vorgegeben und – in welcher Weise auch immer – aus dem Manuskript zu entnehmen war, scheint gut möglich. Davon zu trennen ist jedoch die Frage, ob Weber auch Urheber der Überschriften gewesen sein könnte. Die drei ersten Formulierungen erregen keine grundsätzlichen Bedenken, höchst problematisch ist jedoch „Plebejerstadt“ als Überschrift des vierten Kapitels, vor allem deshalb, weil in Webers Text „Plebejerstadt“ nicht vorkommt und weil alle Verwendungen von „Plebs“, „Plebejer“, „plebejisch“ sich ausschließlich auf die (römische) Antike beziehen. Diese Diskrepanz fällt vor allem im Vergleich mit Überschrift und Wortgebrauch des dritten Kapitels („Die Geschlechterstadt im Mittelalter und der Antike“) auf: die Überschrift paßt hier sehr gut auf Inhalt und Duktus der Darstellung und spiegelt auch Webers epochenübergreifende Verwendung der Kategorie „Geschlechterstadt“ wider. In der GdS-Fassung ist das vierte Kapitel geteilt und dessen zweiter Teil unter die Überschrift „Antike und mittelalterliche Demokratie“ gestellt worden. Die neue Unterteilung, die Umstellung auf Paragraphenzählung sowie die neue Überschrift gehen mit größter Wahrscheinlichkeit auf die Herausgeber zurück; wenn sie von Weber selbst stammten, hätten sie im „Archiv“-Druck nicht gefehlt. Aus diesem und den oben genannten Gründen wurde die im Erstdruck vorgenommene Kapiteleinteilung beibehalten. Dies gilt, trotz der Vorbehalte, auch für die den einzelnen Kapiteln zugeordneten Überschriften, da sich nicht mit Sicherheit ausschließen läßt, daß sie von Weber stammen könnten.
Die in WuG1 den einzelnen Kapitelüberschriften nachgestellten Inhaltsübersichten mußten, da sie eindeutig nicht auf Weber zurückgehen, in dieser Edition unberücksichtigt bleiben. Sie stammen nachweislich von Melchior Palyi, wie aus einem Brief von Marianne Weber an den Verlag vom 27. Januar 1922 hervorgeht: „Die Fahnen sämmtlicher Abschnitte der 3. u[nd] 4. Lieferung (außer der Stadt) sind 2x gelesen u[nd] noch bei Ihnen. [57]Palyi hat jetzt weiter nichts als den Rest der ,Stadt‘. Warum er deren Revision nochmals wünscht[,] weiß ich nicht, vielleicht wegen der von ihm gemachten Kapitelüberschriften.“
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Hinzu kommt die eindeutige Feststellung Marianne Webers im Vorwort zum zweiten Teil von WuG1: „Die Inhaltsangabe der Kapitel war nur für die ,Rechtssoziologie‘ fixiert“. [57] VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446.
Entsprechend den allgemeinen Editionsregeln der MWG wurden Texteingriffe auf ein Minimum beschränkt, d. h. nur bei Textverderbnissen vorgenommen. Webers Orthographie mit ihren Eigentümlichkeiten wurde belassen; Vereinheitlichungen wechselnder Schreibweisen (wie z. B. „Kommune“ und „Commune“ mit uneinheitlichem Gebrauch des grammatischen Geschlechts) wurden nicht vorgenommen. Dies gilt erst recht für weitergehende sprachliche Anpassungen (so bedient sich Weber z. B. in der Regel des Gierkeschen Begriffes der „Einung“;
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die zweimalige Verwendung von „Einigung“ Vgl. die Einleitung, oben, S. 21.
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könnte insofern ein Schreib- oder Satzfehler sein; es liegt jedoch kein, eine Emendation rechtfertigendes, Textverderbnis vor). In die Interpunktion wurde eingegriffen, sofern dies für das Verständnis des Textes erforderlich schien; Webers eigenartige Verwendung von Doppelpunkten und Gedankenstrichen (auch in ungewöhnlichen Kombinationen mit anderen Satzzeichen) wurde beibehalten. Unten, S. 127 und 172.
Bei der Eigenart des Textes, der sich auf eine Vielzahl von Epochen bezieht, mußten die Sacherläuterungen in vielen Fällen über Hinweise auf die zeitliche Einordnung der von Weber thematisierten Sachverhalte und über quasi lexikalische Erklärungen hinausgehen. Weber rekurriert nicht einfach auf unbestrittene historische „Fakten“, sondern gibt oft pointierte Interpretationen komplexer, in der Forschung häufig höchst unterschiedlich bewerteter, historischer Vorgänge. Seine Darstellung läßt sich deshalb in sehr vielen Fällen nur angemessen nachvollziehen, wenn auf die jeweilige Forschungslage verwiesen wird, auf die er sich explizit oder implizit bezieht. Nach Möglichkeit wurde Literatur angeführt, die Weber nachweislich oder wahrscheinlich verwendet hat. Für die Ausführungen zur mittelalterlichen Geschichte, in denen Weber nicht nur selbst auf einen Teil seiner Vorlagen hinweist (wenngleich nur durch Nennung der Verfassernamen), sondern diesen (und einigen anderen, mit hoher Wahrscheinlichkeit erschließbaren) Arbeiten erkennbar folgt, ist die benutzte Literatur aufs Ganze gesehen mit größerer Sicherheit festzustellen als für andere Gegenstände. Auf (bis 1914 erschienene) Editionen mittelalterlicher Quellen wird in der Regel zusätzlich verwiesen, wenn Weber im Text allem Anschein nach auf die Quelle Bezug nimmt, auch wenn hier möglicherweise Quellenkenntnis aus zweiter Hand [58]vorliegt. Bei den Darlegungen zur Alten Geschichte ist die eindeutige Identifizierung der eigentlichen Informationsbasis Webers in vielen Fällen nicht möglich; zum einen, weil oft nicht zu entscheiden ist, ob manches auf Vertrautheit mit den Quellen (sei es aufgrund seiner früheren Untersuchungen, sei es als Bildungswissen) beruht; zum anderen, weil bei der Fülle einschlägiger althistorischer Publikationen die gleichen Sachverhalte bzw. Bewertungen aus unterschiedlichen Werken entnommen sein können. Hinzu kommt, daß schon die letzte Fassung der „Agrarverhältnisse“ (einschließlich der beigegebenen Literaturhinweise) zeigt, daß Weber sich durchaus nicht nur auf einige Standardwerke stützte, sondern auch eine Reihe von Spezialuntersuchungen herangezogen hat. Die Sachanmerkungen weisen im Regelfall die wichtigsten antiken Quellen
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für einen Sachverhalt sowie diejenige Literatur nach, an der sich Weber für seine Interpretationen orientiert haben könnte, sofern sie für die Forschungspositionen einschlägig sind, auf die sich Weber erkennbar bezieht. Bei Aussagen zum Alten Orient, die auf ausführlichere Darstellungen Webers in den „Agrarverhältnissen“ zurückgehen, sowie bei Bezügen auf die Untersuchungen zum antiken Judentum, China und Indien wird auf einschlägige Passagen dieser Arbeiten Webers verwiesen, ohne daß im Regelfall die dort nachweislich oder mutmaßlich verwendete (und gegebenenfalls in den entsprechenden Bänden der MWG verzeichnete bzw. nachzuweisende) Literatur angeführt wird. In einer Reihe von Fällen lassen sich nämlich Bemerkungen Webers nur verstehen, wenn seine im Regelfall viel detaillierteren Darstellungen in diesen Arbeiten – im Vergleich zu denen sich manche Passagen in der „Stadt“ geradezu wie Extrakte lesen – herangezogen werden. Obwohl diese religionssoziologischen Aufsätze erst seit 1915 publiziert worden sind, so ist dieses Verfahren – auch unter der Prämisse, daß Weber nach 1914 den Text der „Stadt“ nicht mehr verändert hat – durch den werkgeschichtlichen Zusammenhang begründet, da er erste Fassungen dieser Studien bereits 1913 erarbeitet hatte. [58] Die griechischen und lateinischen Quellen werden nach den üblichen Gliederungs-Schemata zitiert, die in allen modernen Ausgaben und seriösen Übersetzungen angewendet werden; d. h. im Regelfall nach Buch, Kapitel, Paragraph; manchmal (z. B. bei Platon, Aristoteles, Strabo und den „Moralia“ Plutarchs) auch nach den Seitenzahlen älterer Standardeditionen, die in modernen Ausgaben fortgeführt werden. Eine Angabe des Werktitels erfolgt nur bei Autoren, von denen mehrere Werke überliefert sind.
Sämtliche Sacherläuterungen beruhen auf Literatur, die bis 1914 veröffentlicht wurde und somit den Forschungs- und Diskussionsstand während der Entstehungszeit des Textes repräsentiert. Die Korrektur von sachlichen Irrtümern Webers erfolgte anhand dieser Literatur. Hinweise darauf, wie durch den weiteren Gang der Forschung Auffassungen Webers bestätigt oder obsolet geworden sind, können nicht Gegenstand dieser Edition sein.