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MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[59][A 621]Die Stadt.
a
[59] In A folgt: Eine soziologische Untersuchung. Von MAX WEBER.

I. Begriff und Kategorien der Stadt.

Eine „Stadt“ kann man in sehr verschiedener Art zu definieren versuchen. Allen Definitionen
b
Fehlt in A; Definitionen sinngemäß ergänzt.
gemeinsam ist nur: daß sie jedenfalls eine (mindestens relativ) geschlossene Siedelung, eine „Ortschaft“ ist, nicht eine oder mehrere einzeln liegende Behausungen. Im Gegenteil pflegen in den Städten (aber freilich nicht nur in ihnen) die Häuser besonders dicht, heute in der Regel Wand an Wand zu stehen. Die übliche Vorstellung verbindet nun mit dem Wort „Stadt“ darüber hinaus rein quantitative Merkmale: sie ist eine große Ortschaft. Das Merkmal ist nicht an sich unpräzis. Es würde, soziologisch angesehen, bedeuten: eine Ortschaft, also eine Siedelung in dicht aneinandergrenzenden Häusern
c
A: Häuser
, welche eine so umfangreiche zusammenhängende Ansiedelung darstellen, daß die sonst dem Nachbarverband spezifische, persönliche gegenseitige Bekanntschaft der Einwohner miteinander fehlt. Dann wären nur ziemlich große Ortschaften Städte, und es hängt von den allgemeinen Kulturbedingungen ab, bei welcher Größe etwa dies Merkmal beginnt. Für diejenigen Ortschaften, welche in der Vergangenheit den Rechtscharakter von Städten hatten, traf dieses Merkmal bei weitem nicht immer zu. Und es gibt im heutigen Rußland „Dörfer“, welche, mit vielen Tausenden von Einwohnern, weit größer sind als manche alte „Städte“ (z. B. im polnischen Siedlungsgebiet unseres Ostens), welche etwa nur einige Hundert zählten.
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[59] Webers Informationsgrundlage für die bevölkerungsreichen Dörfer im Rußland seiner Zeit ist nicht festzustellen. Daß in Rußland Ortschaften existierten, die nicht als Städte galten, obwohl sie mehrere tausend Einwohner zählten, läßt sich nachweisen; vgl. Statistische und andere wissenschaftliche Mittheilungen aus Rußland, 16. Jg. – St. Petersburg: H. Schmitzdorff 1883, S. 9–30, wo die betreffenden Orte als „Flecken oder Marktflecken“ (S. 9) bezeichnet werden, wie z. B. die Orte Dubowka (Gouvernement Saratow) mit 12 737, Wosnessensk (Gouvernement Chersson) mit 9 458, Sergijewskij (Gouvernement Moskau) [60]mit 27 471 Einwohnern und im Gouvernement Jekaterinoslaw: Asow mit 16 791, Lugan mit 10 049 und Nikopol mit 9 706 Einwohnern. – Erhebliche polnische Bevölkerungsanteile gab es in den preußischen Provinzen Posen (60 % der Gesamtbevölkerung nach der Volkszählung von 1890), Westpreußen (30 %) und Schlesien (23 %); die polnische Bevölkerung lebte (von der Stadt Posen abgesehen) überwiegend in geschlossenen Siedlungsgebieten auf dem Land und in kleinen Landstädten. Nach der Volkszählung von 1905 gab es in Posen 53 Städte mit weniger als 2000 Einwohnern, davon 33 mit überwiegend polnischer Bevölkerung. Unter den acht Städten, deren Einwohnerzahl unter 1000 lag, überwog in fünf der Anteil der polnischen Bevölkerung: Jaratschewo (Kreis Jarotschin) 850 Einwohner (davon 696 polnischer Abstammung), Baranow (Kreis Kempen in Posen) 877 (801), Xions (Kreis Schrimm) 898 (549), Gonsawa (Kreis Znin) 827 (718) und Rogowo (Kreis Znin) 841 (620); Gemeindelexikon für die Provinz Posen. Auf Grund der Materialien der Volkszählung vom 1. Dezember 1905 und anderer amtlicher Quellen bearbeitet vom Königlich Preußischen Statistischen Landesamte (Gemeindelexikon für das Königreich Preußen, Heft 5). – Berlin: Verlag des Königlichen Statistischen Landesamtes 1908.
Die Größe allein kann jedenfalls nicht entscheiden. [A 622]Versucht man, die Stadt rein ökonomisch zu [60]definieren, so wäre sie eine Ansiedelung, deren Insassen zum überwiegenden Teil von dem Ertrag nicht landwirtschaftlichen, sondern gewerblichen oder händlerischen Erwerbs leben. Aber es wäre nicht zweckmäßig[,] alle Ortschaften dieser Art „Städte“ zu nennen. Jene Art von Ansiedelungen, welche aus Sippenangehörigen mit einem einzelnen[,] faktisch erblichen Gewerbebetrieb bestehen – die „Gewerbedörfer“ Asiens
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„Asien“ dürfte sich in erster Linie auf Indien beziehen. In Indien gab es seit ältester Zeit Dörfer, in denen sämtliche Einwohner jeweils ein spezifisches Handwerk ausübten; dazu Fick, Richard, Die sociale Gliederung im nordöstlichen Indien zu Buddha’s Zeit. Mit besonderer Berücksichtigung der Kastenfrage. Vornehmlich auf Grund der Jâtaka dargestellt. – Kiel: C. F. Haeseler 1897, S. 180–182 (hinfort: Fick, Sociale Gliederung), sowie Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 174 f. Das Phänomen begegnet aber auch in späteren Epochen der indischen Geschichte; an welche Zeit Weber hier konkret denkt, ist nicht zu entscheiden.
und Rußlands
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In Rußland bestanden in zahlreichen Dörfern bäuerliche Handwerksbetriebe zur Beschäftigung der Bauernfamilie außerhalb der landwirtschaftlichen Saison; dabei wurde in den einzelnen Gemeinden im Regelfall nur jeweils ein bestimmtes Handwerk betrieben; vgl. Haxthausen, August von, Studien über die innern Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen Einrichtungen Rußlands, 1. Theil. – Hannover: Hahn 1847, S. 182. In manchen Regionen stellte der bäuerliche Handwerksbetrieb („Kustar“) die wichtigste Einnahmequelle dar. Im Laufe des 19. Jahrhunderts fand ein Übergang zur Produktion mit Maschinen statt. Bekannt ist besonders das Gewerbedorf Ivanovo (etwa 250 km nordöstlich von Moskau), in dem das seit dem 16. Jahrhundert betriebene Textilgewerbe im 19. Jahrhundert mit der Umstellung auf Baumwollverarbeitung und -druck großen Aufschwung nahm; vgl. Tugan-Baranowsky. M[ichail], Geschichte der russischen Fabrik. Vom Verfasser revidierte deutsche Ausgabe von B[oris] Minzѐs (Sozialgeschichtliche Forschungen. Ergänzungshefte zur Zeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Heft 5/6). – Berlin: Emil Felber 1900, S. 58–60 und 260–265.
–, wird man nicht unter den Begriff „Stadt“ bringen wollen. Als weiteres Merkmal wäre das einer gewissen „Vielseitigkeit“ der betriebenen Gewerbe hinzuzufügen. Aber auch dieses an sich scheint nicht geeignet, für sich allein [61]ein entscheidendes Merkmal zu bilden. Sie kann grundsätzlich in zweierlei Art begründet sein. Nämlich entweder
d
[61] In A folgt: a)
in dem Vorhandensein eines grundherrlichen, vor allem eines Fürstensitzes als Mittelpunkt
e
A: Mittepunkts
, für dessen ökonomischen oder politischen Bedarf unter Produktionsspezialisierung gewerblich gearbeitet und Güter [WuG1 514]eingehandelt werden. Einen grundherrlichen oder fürstlichen Oikos aber mit einer noch so großen Ansiedelung fron- und abgabenpflichtiger Handwerker und Kleinhändler pflegt man nicht „Stadt“ zu nennen, obwohl historisch ein sehr großer Bruchteil der wichtigsten „Städte“ aus solchen Siedelungen hervorgegangen ist
f
A: ist,
und die Produktion für einen Fürstenhof für sehr viele von ihnen (die „Fürstenstädte“) eine höchstwichtige, oft die vorzugsweise Erwerbsquelle der Ansiedler blieb. Das weitere Merkmal, welches hinzutreten muß, damit wir von „Stadt“ sprechen, ist: das Bestehen eines nicht nur gelegentlichen, sondern regelmäßigen Güteraustausches am Ort der Siedelung als eines wesentlichen Bestandteils des Erwerbs und der Bedarfsdeckung der Siedler: eines Markts. Nicht jeder „Markt“ aber macht den Ort, wo er stattfindet, schon zur „Stadt“. Die periodischen Messen
g
A: Messen-
und Fernhandelsmärkte (Jahrmärkte), auf welchen sich zu festen Zeiten zureisende Händler zusammenfinden, um ihre Waren im großen oder im einzelnen untereinander oder an Konsumenten abzusetzen, hatten sehr oft in Orten ihre Stätte, welche wir „Dörfer“ nennen. Wir wollen von „Stadt“ im ökonomischen Sinn erst da sprechen, wo die ortsansässige Bevölkerung einen ökonomisch wesentlichen Teil ihres Alltagsbedarfs auf dem örtlichen Markt befriedigt, und zwar zu einem wesentlichen Teil durch Erzeugnisse, welche die ortsansässige und die Bevölkerung des [A 623]nächsten Umlandes für den Absatz auf dem Markt erzeugt oder sonst erworben hat. Jede Stadt im hier gebrauchten Sinn des Wortes ist „Marktort“, d. h. hat einen Lokalmarkt als ökonomischen Mittelpunkt der Ansiedelung, auf welchem, infolge einer bestehenden ökonomischen Produktionsspezialisierung, auch die nicht städtische Bevölkerung ihren Bedarf an gewerblichen Erzeugnissen oder Handelsartikeln oder an beiden deckt, und auf welchem natürlich auch die Städter selbst die Spezialprodukte und den Konsumbedarf ihrer Wirtschaften gegenseitig aus- und eintauschen. Es ist ursprünglich durchaus das Normale, [62]daß die Stadt, wo sie überhaupt als ein vom Lande unterschiedenes Gebilde auftritt, sowohl Grundherren- oder Fürstensitz wie Marktort ist, ökonomische Mittelpunkte beider Art – Oikos und Markt – nebeneinander besitzt, und es ist häufig, daß neben dem regelmäßigen Lokalmarkt Fernmärkte zureisender Händler im Ort periodisch stattfinden. Aber die Stadt (im hier gebrauchten Sinn des Worts) ist Marktansiedelung. Die Existenz des Markts beruht sehr oft auf einer Konzession und Schutzzusage des Grundherrn oder Fürsten, welcher einerseits an dem regelmäßigen Angebot fremder Handelsartikel und Gewerbeprodukte des Fernmarkts und an den Zöllen, Geleits- und anderen Schutzgeldern, Marktgebühren, Prozeßgefällen,
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[62] Buß- und Friedensgelder, auf die Markt- und Stadtherren als Inhaber der Marktgerichtsbarkeit Anspruch hatten.
die er einbringt, ein Interesse hat, außerdem aber an der lokalen Ansiedelung von steuerfähigen Gewerbetreibenden und Händlern und, sobald an dem Markt eine Marktansiedelung entsteht, auch an den dadurch erwachsenden Grundrenten zu verdienen hoffen darf, – Chancen, welche für ihn um so größere Bedeutung haben, als es sich hier um geldwirtschaftliche, seinen Edelmetallschatz vermehrende Einnahmen handelt. Daß einer Stadt die Anlehnung, auch die räumliche, an einen Grundherren- oder Fürstensitz völlig fehlt, daß sie entweder an einem geeigneten Umschlagsplatz kraft Konzession nicht ortsansässiger Grundherren oder Fürsten oder auch kraft eigener Usurpation der Interessenten als reine Marktansiedelung entsteht, kommt vor. Entweder so, daß einem Unternehmer eine Konzession gegeben wird, einen Markt anzulegen und Siedler zu gewinnen. Dies war im mittelalterlichen, und zwar speziell im ost-, nord- und mitteleuropäischen Städtegründungsgebiet etwas besonders häufiges und kam in der ganzen Welt und Geschichte vor, wenn es auch nicht das Normale war. Dagegen konnte die Stadt auch ohne alle [A 624]Anlehnung an Fürstenhöfe oder Fürstenkonzessionen durch Zusammenschluß von fremden Eindringlingen, Seekriegsfahrern oder kaufmännischen Siedlern oder endlich auch von einheimischen Zwischenhandelsinteressenten entstehen, und dies ist an den Mittelmeerküsten im frühen Altertum und gelegentlich im frühen Mittelalter ziemlich häufig gewesen. Eine solche Stadt konnte dann reiner Marktort sein. Aber immerhin war noch häufiger: das Miteinander großer [63]fürstlicher oder grundherrlicher [WuG1 515]Patrimonialhaushaltungen einerseits und eines Marktes andererseits. Der grundherrliche oder fürstliche Hofhalt als der eine Anlehnungspunkt der Stadt konnte dann seinen Bedarf entweder vornehmlich naturalwirtschaftlich, durch Fronden oder Naturaldienste oder Naturalabgaben
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[63] „Fronden“ waren Dienstleistungen, die einem Leib-, Grund- oder Landesherren geschuldet wurden. Sie umfaßten in ihrem zeitlichen Umfang festgelegte Arbeitsverpflichtungen auf dem Herrenland oder zweckgebundene Leistungen (Pflug-, Spann-, Reparatur- und Botendienste). Weber bezeichnet diese auch mit dem Begriff „Naturaldienste“. „Naturalabgaben“ zählten ebenfalls zu den aus persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit folgenden Leistungen; sie konnten nicht nur landwirtschaftliche, sondern (wie im Falle der im Text angeführten, zu einer Hofgenossenschaft zählenden Handwerker und Händler) auch gewerbliche Produkte umfassen. Dazu Brünneck, [August W.] von, „Fronden“, in: HdStW3, Band 4, S. 485–488; Heckel, Max von, „Naturalleistungen“, in: HdStW3, Band 6, S. 894–896.
der von ihm abhängenden ansässigen Handwerker oder Händler decken, oder er konnte auch seinerseits mehr oder minder vorwiegend durch Eintausch auf dem städtischen Markt, als dessen kaufkräftigster Kunde, sich versorgen. Je mehr das letztere geschieht, desto stärker trat die Marktbasis der Stadt in den Vordergrund, hörte die Stadt auf, ein bloßes Anhängsel, eine bloße Marktansiedelung neben dem Oikos zu sein, wurde sie also trotz der Anlehnung an die großen Haushalte eine Marktstadt. In aller Regel ist die quantitative Ausdehnung ursprünglicher Fürstenstädte und ihre ökonomische Bedeutsamkeit Hand in Hand gegangen mit einer Zunahme der Marktbedarfsdeckung des fürstlichen und der an ihn, als Höfe der Vasallen oder Großbeamten, angegliederten anderen städtischen Großhaushalte.
Dem Typus der Fürstenstadt, also einer solchen, deren Einwohner in ihren Erwerbschancen vorwiegend direkt oder indirekt von der Kaufkraft des fürstlichen und der anderen Großhaushalte abhängen, stehen solche Städte nahe, in welchen die Kaufkraft anderer Großkonsumenten, also: Rentner, ausschlaggebend die Erwerbschancen der ansässigen Gewerbetreibenden und Händler bestimmt. Diese Großkonsumenten können aber sehr verschiedenen Typus haben, je nach Art und Herkunft ihrer Einnahmen. Sie können 1. Beamte sein, die ihre legalen oder illegalen Einkünfte, oder 2. Grundherren und politische Machthaber, welche ihre äußerstädtischen Grundrenten oder andere, speziell politisch bedingte, Einnahmen dort verausgaben. Beide Male steht die Stadt dem [64]Typus der Fürstenstadt sehr nahe: sie ruht auf patrimonialen und politischen Ein[A 625]nahmen als Basis der Kaufkraft der Großkonsumenten (Beispiel: für die Beamtenstadt: Peking, für die Grundrentnerstadt: Moskau vor Aufhebung der Leibeigenschaft).
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[64] Peking war seit 1421 die Residenzstadt der chinesischen Kaiser. – Die Leibeigenschaft wurde in Rußland mit dem Gesetz vom 19. Februar 1861 aufgehoben.
Von diesen Fällen ist der scheinbar ähnliche Fall prinzipiell zu scheiden, daß städtische Grundrenten, die durch monopolistische „Verkehrslage“ von Stadtgrundstücken bedingt sind,
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Gemeint ist, daß mit städtischen Grundstücken, die für Gewerbe- und Handelsbetriebe geeignet sind oder in einer bevorzugten Wohngegend liegen, wegen der Beschränktheit des zur Verfügung stehenden Bodens durch Vermietung und Verpachtung hohe Erträge zu erzielen sind, die auf einer Quasi-Monopolstellung beruhen; vgl. Lexis, [Wilhelm], „Grundrente“, in: Wörterbuch der Volkswirtschaft in zwei Bänden, hg. von Ludwig Elster, Band 1, 2., völlig umgearbeitete Aufl. – Jena: Gustav Fischer 1906, S. 1136–1141, hier S. 1139.
ihre Quelle also indirekt gerade in städtischem Gewerbe und Handel haben, in der Hand einer Stadtaristokratie zusammenfließen (zu allen Zeiten, speziell auch in der Antike, von der Frühzeit bis zu Byzanz[,] und ebenso im Mittelalter verbreitet). Die Stadt ist dann ökonomisch nicht Rentnerstadt, sondern, je nachdem, Händler- oder Gewerbestadt, jene Renten sind
h
[64] Fehlt in A; sind sinngemäß ergänzt.
Tribut der Erwerbenden an den Hausbesitz. Die begriffliche Scheidung dieses Falles von den nicht durch Tributpflicht des städtischen Erwerbs, sondern außerstädtisch bedingten Renten kann nicht hindern, daß in der Realität beides in der Vergangenheit sehr stark ineinander überging. Oder die Großkonsumenten können Rentner sein, welche geschäftliche Einnahmen, heute vor allem Wertpapierzinsen und Dividenden oder Tantiemen dort verzehren: die Kaufkraft ruht dann hauptsächlich auf geldwirtschaftlich, vornehmlich kapitalistisch bedingten Rentenquellen (Beispiel: Arnhem).
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In Arnhem, der Hauptstadt der niederländischen Provinz Geldern, hatten sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche „Zuckerlords" niedergelassen, die ihr Vermögen mit Geschäften der Handelskompagnie in Niederländisch-Indien gemacht hatten. Der Zuzug von Wohlhabenden ließ wegen des Rückgangs der Einkünfte aus den Zuckerimporten nach 1870 zunächst nach, nahm dann aber aufgrund wiederholter Werbekampagnen der Stadtverwaltung (mit Hinweis auf die hohe Wohnqualität und die günstigen klimatischen Verhältnisse) bis 1910 erneut zu.
Oder sie ruht auf staatlichen Geldpensionen oder anderen Staatsrenten (etwa ein „Pensionopolis“ [65]wie Wiesbaden).
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[65] Beamte und Offiziere prägten die Bevölkerungsstruktur Wiesbadens, das 1806 Hauptstadt des neu gegründeten Herzogtums Nassau geworden und seit der Annexion durch Preußen 1866 Sitz eines Regierungspräsidenten war. Der Ausbau der Kuranlagen seit dem frühen 19. Jahrhundert bewirkte zudem, daß gutsituierte „Pensionäre“ sich hier auf Dauer niederließen. Das Bevölkerungswachstum (von 3000 Einwohnern 1807 bzw. 26 000 Einwohnern 1866 auf über 100 000 im Jahre 1905) beruhte wesentlich auf der Zuwanderung, die der Ausbau als Kur- und Fremdenverkehrsort bzw. Wohnstadt für „Rentiers“ mit dem entsprechenden Bedarf an Dienstleistungspersonal mit sich brachte. Durch seinen vergleichsweise hohen Anteil an alten und wohlhabenden Einwohnern unterschied sich Wiesbaden erheblich von anderen Großstädten. Die Bezeichnung als „Pensionopolis“ findet sich auch bei Sombart, Werner, Der moderne Kapitalismus, Band 2: Die Theorie der kapitalistischen Entwicklung. – Leipzig: Duncker & Humblot 1902, S. 223 (hinfort: Sombart, Kapitalismus); sie soll zurückgehen auf eine scherzhafte Bemerkung Kaiser Wilhelms l., der sich häufig im Frühjahr in Wiesbaden aufhielt; Schultes, C., Physiognomie einer Welt-, Bade- und Pensionsstadt, in: Vom Fels zum Meer, 1883, Heft 8, S. 180–191, hier S. 182.
In all diesen und zahlreichen ähnlichen Fällen ist die Stadt, je nachdem, mehr oder weniger, Konsumentenstadt. Denn für die Erwerbschancen ihrer Gewerbetreibenden und Händler ist die Ansässigkeit jener, untereinander ökonomisch verschieden gearteten, Großkonsumenten an Ort und Stelle ausschlaggebend.
Oder gerade umgekehrt: die Stadt ist Produzentenstadt, das Anschwellen ihrer Bevölkerung und deren Kaufkraft beruht also darauf, daß – wie etwa in Essen oder Bochum
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Die rasante Zunahme der Einwohnerzahlen beruhte auf dem Aufschwung von Stahlindustrie und Steinkohlebergbau seit dem späteren 19. Jahrhundert. Die Einwohnerzahl Bochums stieg von 8800 (1858) über 41 000 (1885) auf 53 000 (1895); diejenige Essens im gleichen Zeitraum von 18 000 über 65 000 auf 96 000. Für den Anstieg auf 118 000 (Bochum) bzw. 231 000 (Essen) im Jahre 1905 sind auch die seit 1895 erfolgten Erweiterungen des Stadtgebiets durch Eingemeindungen zu berücksichtigen.
– Fabriken, Manufakturen oder Heimarbeitsindustrien in ihnen ansässig sind, welche auswärtige Gebiete versorgen: der moderne Typus, oder daß in Form des Handwerks Gewerbe am Ort bestehen, deren Waren nach auswärts versendet werden: der asiatische, antike und mittelalterliche Typus. Die Konsumenten für den örtlichen Markt stellen teils, als Großkonsumenten, die Unternehmer – wenn sie, was nicht immer der Fall, ortsansässig sind –, teils und namentlich, als Massenkonsumenten, die Arbeiter und Handwerker und, teilweise als Großkonsumen[WuG1 516]ten, die [A 626]durch sie indirekt gespeisten Händler und Grundrentenbezieher. Wie diese Gewerbestadt, so stellt sich schließlich der Konsumentenstadt auch die Händlerstadt gegenüber,
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Weber orientiert sich mit seiner Typologie an Sombart, Kapitalismus, Band 2, S. 196–224; vgl. ferner die Einleitung, oben, S. 12 f.
eine [66]Stadt also, bei welcher die Kaufkraft ihrer Großkonsumenten darauf beruht, daß sie entweder fremde Produkte am örtlichen Markt mit Gewinn detaillieren (wie die Gewandschneider im Mittelalter) oder heimische oder doch (wie bei den Häringen
i
[66] Andere Schreibweise von Heringen
der Hansa)
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[66] „Hanse“ (von ahd. „hansa“, bewaffnete Schar) war ursprünglich die Bezeichnung für eine Schutzgemeinschaft von Fernhändlern, die sich zu gemeinsamer Fahrt zusammenfanden. Hier meint Weber den (vom 13. bis zum 17. Jahrhundert bestehenden) Zusammenschluß von west- und norddeutschen Städten, die den Handel von Flandern bis zum Baltikum beherrschten. Seit dem 14. Jahrhundert kontrollierte die deutsche Hanse den höchst profitablen Handel mit den vor der Küste von Schonen (Südschweden, bis 1658 unter dänischer Herrschaft) von dänischen Fischern gefangenen Heringen; dazu Lindner, Theodor, Die deutsche Hanse. Ihre Geschichte und Bedeutung. Für das deutsche Volk dargestellt, 2. Aufl. – Leipzig: Ferdinand Hirt 1901, S. 120–123; Schäfer, Dietrich, Die Hanse (Monographien zur Weltgeschichte, Band 19). – Bielefeld und Leipzig: Velhagen & Klasing 1903, hier S. 42 f.; ders., „Hanse“, in: HdStW3, Band 5, S. 393–398, hier S. 396.
von heimischen Produzenten gewonnene Waren mit Gewinn nach außen absetzen
k
A: absetzten
, oder fremde Produkte erwerben und mit oder ohne Stapelung
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In Städten, die das Stapelrecht besaßen, konnte von stadtfremden Kaufleuten verlangt werden, ihre Waren für einen bestimmten Zeitraum auf dem Markt oder auf den Schiffsanlegeplätzen zum Verkauf anzubieten; Stieda, Wilhelm, „Stapelrecht“, in: HdStW3, Band 7, S. 808–824.
am Orte selbst nach auswärts absetzen (Zwischenhandelsstädte). Oder – und das ist natürlich sehr oft der Fall – daß sie alles dies kombinieren: die „Commenda“ und „Societas maris“ der Mittelmeerländer bedeuteten zum erheblichen Teil, daß ein „tractator“ (reisender Kaufmann) mit dem von ortsansässigen Kapitalisten ganz oder teilweise ihm kommanditierten Kapital einheimische oder auf dem einheimischen Markt gekaufte Produkte nach den Märkten der Levante fuhr – oft genug dürfte er auch ganz in Ballast dorthin gefahren sein –, jene dort verkaufte, mit dem Erlös orientalische Waren kaufte und auf den heimischen Markt brachte, wo sie verkauft, der Erlös aber nach vereinbartem Schlüssel zwischen dem tractator und dem Kapitalisten geteilt wurde.
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Weber definierte die „Kommenda“ als ein „dem Um- und Absatz von Gütern durch Seehandel dienendes Geschäft“, bei dem „jemand die Verwertung von Waren eines andern, auf dessen Gefahr, gegen Gewinnanteil übernimmt“; Weber, Handelsgesellschaften, S. 15 und 17 (MWG I/1). Bei der „societas maris“ hingegen tragen sowohl der reisende wie der nur mit einer Einlage beteiligte Gesellschafter gemeinsam die Risiken für den gesamten Warenbestand; ebd., S. 22 f. und weiter S. 26–43.
Auch die Kaufkraft und Steuerkraft der Handelsstadt beruht also jedenfalls, wie bei der Produzentenstadt, und im Gegensatz zur Konsumenten[67]stadt, auf ortsansässigen Erwerbsbetrieben. An diejenigen der Händler lehnen sich die Speditions- und Transportgewerbe
l
[67]A: Transportgewerbe-
und die zahlreichen sekundären Groß- und Kleinerwerbschancen an. Jedoch vollziehen sich bei ihr die Erwerbsgeschäfte, welche diese Betriebe konstituieren, nur beim örtlichen Detaillieren gänzlich am örtlichen Markt, beim Fernhandel dagegen zum erheblichen oder größeren Teil auswärts. Etwas prinzipiell Ähnliches bedeutet es, wenn eine moderne Stadt (London, Paris, Berlin) Sitz der nationalen oder internationalen Geldgeber und Großbanken oder (Düsseldorf) Sitz großer Aktiengesellschaften oder Kartellzentralen ist. Überwiegende Teile der Gewinnste aus Betrieben fließen ja heute überhaupt, mehr wie je, an andere Orte als die, in denen der sie abwerfende Betrieb liegt. Und andererseits wieder werden stetig wachsende Teile von Gewinnsten von den Bezugsberechtigten nicht an dem großstädtischen Ort ihres geschäftlichen Sitzes konsumiert, sondern auswärts, teils in Villen[A 627]vororten, teils aber und noch mehr in ländlichen Villeggiaturen, internationalen Hotels usw. verzehrt. Parallel damit entstehen die nur oder doch fast nur aus Geschäftshäusern bestehenden „Citystädte“ oder (und meist) Stadtbezirke. Es ist hier nicht die Absicht, eine weitere Spezialisierung und Kasuistik, wie sie eine streng ökonomische Städtetheorie zu leisten hätte, vorzuführen. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß die empirischen Städte fast durchweg Mischtypen darstellen und daher nur nach ihren jeweils vorwiegenden ökonomischen Komponenten klassifiziert werden können.
Die Beziehung der Städte zur Landwirtschaft war keineswegs eindeutig. Es gab und gibt „Ackerbürgerstädte“, d. h. Orte, welche als Stätten des Marktverkehrs und Sitz der typischen städtischen Gewerbe sich von dem Durchschnitt der Dörfer weit entfernen, in denen aber eine breite Schicht ansässiger Bürger ihren Bedarf an Nahrungsmitteln eigenwirtschaftlich decken und sogar auch für den Absatz produzieren. Gewiß ist das Normale, daß die Stadteinwohner, je größer die Stadt ist, um so weniger über eine irgendwie im Verhältnis zu ihrem Nahrungsbedarf stehende und ihnen zur Nahrungsmittelproduktion vorbehaltene Ackerflur, meist auch: daß sie über keine hinlängliche, ihnen vorbehaltene Weide- und Wald[68]nutzung zu verfügen pflegen, in der Art, wie ein „Dorf“ sie besitzt. Der größten deutschen Stadt des Mittelalters: Köln, fehlte z. B. auch die bei keinem normalen damaligen Dorf fehlende „Allmende“ fast gänzlich und offenbar von Anfang an.
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[68] Weber spielt auf die Diskussion um die Gemeindeentstehung in Köln an, in der das Vorhandensein einer Allmende in Köln umstritten war. Er folgt hier offensichtlich (wie auch an anderen Stellen) der Ansicht von Beyerle, Entstehung; vgl. die Zusammenfassung der Forschungsdiskussion ebd., S. 14–17, sowie die Einleitung, oben, S. 31, Anm. 163.
Allein andere deutsche und ausländische mittelalterliche Städte hatten zum mindesten beträchtliche Viehweiden und Waldungen, die ihren Bürgern als solchen zu Gebote standen. Und sehr große Ackerfluren als Zubehör des städtischen Weichbildes
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„Weichbild“ bedeutet „Ortsrecht“ im Gegensatz zum im ganzen Land geltenden Recht; dies erklärt die Venwendung im Sinne von „Stadtrecht“ und dann auch im Sinne von „Stadtgebiet“; Below, Georg von, Das ältere deutsche Städtewesen und Bürgertum (Monographien zur Weltgeschichte, Band 6), 2. AufI. – Bielefeld und Leipzig: Velhagen und Klasing 1905, S. 5 (hinfort: Below, Städtewesen).
sind, und zwar in der Vergangenheit, je mehr wir nach Süden und rückwärts in die Antike gehen, desto mehr, vor[WuG1 517]gekommen. Wenn wir heute den typischen „Städter“ im ganzen mit Recht als einen Menschen ansehen, der seinen eigenen Nahrungsmittelbedarf nicht auf eigenem Ackerboden deckt, so gilt für die Masse der typischen Städte (Poleis) des Altertums ursprünglich geradezu das Gegenteil. Wir werden sehen,
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Siehe unten, S. 263 und 265–267.
daß der antike Stadtbürger vollen Rechts, im Gegensatz zum mittelalterlichen, ursprünglich geradezu dadurch charakterisiert war: daß er einen Kleros[,] fundus (in Israel: chelek),
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Weber führt nacheinander die griechische, lateinische und hebräische Bezeichnung für Landlos, Grundstück, Erbgut an. Er verweist in: Judentum I, S. 130 (MWG I/21), darauf, daß er die Parallele zwischen dem griechischen und dem hebräischen Begriff, bei dem die Bedeutung „Beuteanteil“ mitschwinge, Meyer verdanke; Meyer, Eduard, Die Israeliten und ihre Nachbarstämme. Alttestamentliche Untersuchungen. – Halle: Niemeyer 1906, S. 498 f. (hinfort: Meyer, Israeliten).
ein volles Ackerlos, welches ihn ernährte, sein eigen nannte: der antike Vollbürger ist „Ackerbürger“.
[A 628]Und erst recht fand sich landwirtschaftlicher Besitz in den Händen der Großverbandschichten
m
[68] Das Textverderbnis läßt sich nicht klären, gemeint sein könnte: Großbürgerschichten
der Städte, sowohl des Mittelalters – auch hier freilich im Süden weit mehr als im Norden
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D.h. südlich bzw. nördlich der Alpen.
– wie der [69]Antike. Landbesitz von gelegentlich ganz exorbitanter Größe findet sich weithin zerstreut in den mittelalterlichen oder antiken Stadtstaaten, entweder von der Stadtobrigkeit mächtiger Städte als solcher politisch oder auch grundherrlich beherrscht oder im grundherrlichen Besitz einzelner vornehmer Stadtbürger: die chersonesische
n
[69]A: chersonnesische
Herrschaft des Miltiades
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[69] In der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. unternahm Miltiades der Ältere mit athenischen Freiwilligen einen Zug auf die thrakische Chersones (eine Halbinsel am Hellespont, heute Gallipoli) und begründete dort eine Herrschaft, die seine Familie bis 493 v. Chr. innehatte, zuletzt der jüngere Miltiades, der Sieger über die Perser bei Marathon 490 v. Chr. (Herodot 6, 34–41).
oder die politischen und grundherrlichen Besitzungen mittelalterlicher Stadtadelsfamilien, wie der genuesischen Grimaldi in der Provence und über See,
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Die Grimaldi, nachgewiesen seit dem ersten Drittel des 12. Jahrhunderts, waren eine der einflußreichsten Familien in Genua. Sie beherrschten mit Unterbrechungen seit Ende des 13. Jahrhunderts, dauerhaft seit 1458 Monaco (seit 1612 als Fürstentum) zusammen mit weiteren Besitzungen in der provenzalischen Küstenregion (Cagne, Villeneuve-sur-Vence, Menton). Außerdem waren sie im 15. Jahrhundert in den genuesischen Niederlassungen auf Chios sowie in Galata (einem Stadtteil Konstantinopels) vertreten und erwarben 1547 die Insel Tabarca vor Tunis.
sind Beispiele dafür. Indessen diese interlokalen Besitzungen und Herrschaftsrechte einzelner Stadtbürger waren in aller Regel kein Gegenstand der städtischen Wirtschaftspolitik als solcher, obwohl ein eigentümliches Mischverhältnis überall da entsteht, wo der Sache nach jener Besitz den einzelnen von der Stadt, zu deren mächtigsten Honoratioren sie gehörten, garantiert wird, er mit indirekter Hilfe der Stadtmacht erworben und behauptet, die Stadtherrschaft an seiner ökonomischen oder politischen Nutzung beteiligt ist, – wie dies in der Vergangenheit häufig war.
Die Art der Beziehung der Stadt als Träger des Gewerbes und Handels zum platten Land als Lieferanten der Nahrungsmittel bildet nun einen Teil eines Komplexes von Erscheinungen, welche man „Stadtwirtschaft“ genannt und als eine besondere „Wirtschaftsstufe“ der „Eigenwirtschaft“ einerseits, der „Volkswirtschaft“ andererseits (oder einer Mehrheit von in ähnlicher Art gebildeten Stufen) entgegengestellt hat.
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Weber bezieht sich auf die Wirtschaftsstufentheorien, die (mit leichten Variationen) von Schmoller, Schönberg, Bücher u. a. seit den 1880er Jahren entwickelt worden waren; vgl. die Einleitung, oben, S. 8 f.
Bei diesem Begriff sind [70]aber wirtschaftspolitische Maßregeln mit rein wirtschaftlichen Kategorien in eins gedacht. Der Grund liegt darin, daß die bloße Tatsache des zusammengedrängten Wohnens von Händlern und Gewerbetreibenden und die regelmäßige Deckung von Alltagsbedürfnissen auf dem Markt allein den Begriff der „Stadt“ nicht erschöpfen. Wo dies der Fall ist, wo also innerhalb der geschlossenen Siedelungen nur das Maß der landwirtschaftlichen Eigenbedarfsdeckung oder – was damit nicht identisch ist – der landwirtschaftlichen Produktion im Verhältnis zum nicht landwirtschaftlichen Erwerb und das Fehlen und Bestehen von Märkten Unterschiede konstituiert, da werden wir von Gewerbe- und Händlerortschaften und von [A 629]„Marktflecken“ reden, aber nicht von einer „Stadt“. Daß die Stadt nicht nur eine Anhäufung von Wohnstätten, sondern außerdem ein Wirtschaftsverband ist, mit eigenem Grundbesitz, Einnahmen- und Ausgabenwirtschaft, unterscheidet sie ebenfalls noch nicht vom Dorf, welches das gleiche kennt, so groß der qualitative Unterschied sein kann. Endlich war es auch an sich nicht der Stadt eigentümlich, daß sie, in der Vergangenheit wenigstens, nicht nur Wirtschaftsverband, sondern auch wirtschaftsregulierender Verband war. Denn auch das Dorf kennt Flurzwang,
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[70] Flurzwang besteht, wenn die Grundbesitzer einer Gemarkung sich verpflichten (oder vom Grundherrn verpflichtet werden), „auf ihrem Anbaulande einen im wesentlichen gleichen Fruchtbau mit übereinstimmenden Bestellungs-, Aussaat- und Erntefristen innezuhalten“; Meitzen, August, „Flurzwang“, in: HdStW3, Band 4, S. 374–377, das Zitat S. 374.
Weideregulierung, Verbot des Exports von Holz und Streu und ähnliche Wirtschaftsregulierungen: eine Wirtschaftspolitik des Verbandes als solche also. Eigentümlich war nur die in den Städten der Vergangenheit vorkommende Art und vor allem: die Gegenstände dieser wirtschaftspolitischen Regulierung von Verbands wegen und der Umfang von charakteristischen Maßregeln, welche sie umschloß. Diese „Stadtwirtschaftspolitik“ nun rechnete allerdings in einem erheblichen Teil ihrer Maßnahmen mit der Tatsache, daß unter den Verkehrsbedingungen der Vergangenheit die Mehrzahl aller Binnenstädte – denn von den Seestädten galt das gleiche nicht, wie die Getreidepolitik von Athen und Rom [WuG1 518]beweisen
24
Es kam jeweils auf die Sicherung der Getreideimporte aus überseeischen Gebieten an; vgl. auch unten, S. 256 f.
– auf die Versorgung der Stadt durch die Landwirtschaft des unmittelbaren Umlandes angewiesen war, daß [71]eben dies Gebiet den naturgemäßen
o
[71]A: der naturgemäße
Absatzspielraum der Mehrzahl der städtischen Gewerbe – nicht etwa: aller – darstellte und daß der dadurch als naturgemäß gegebene lokale Austauschprozeß auf dem städtischen Markt nicht die einzige, aber eine seiner normalen Stätten fand, insbesondere für den Einkauf der Nahrungsmittel. Sie rechnete ferner damit, daß der weit überwiegende Teil der gewerblichen Produktion technisch als Handwerk, organisatorisch als spezialisierter kapitalloser oder kapitalschwacher Kleinbetrieb mit eng begrenzter Zahl der in längerer Lehrzeit geschulten Gehilfen, ökonomisch endlich entweder als Lohnwerk oder als preiswerkliche Kundenproduktion verlief und daß auch der Absatz der ortsansässigen Detaillisten in hohem Maße Kundenabsatz war.
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[71] „Lohnwerk“ bedeutet nach Bücher, Karl, „Gewerbe", in: HdStW3, Band 4, S. 847–880, hier S. 855 (hinfort: Bücher, Gewerbe), „gewerbliche Berufsarbeit, bei welcher der Rohstoff dem Kunden, das Werkzeug dem Arbeiter gehört“. „Preiswerk“ ist dagegen die „gewerbliche Produktion für fremden Bedarf […], bei welcher der Produzent zugleich Arbeiter und Eigentümer der Roh- und Hilfsstoffe ist“ (ebd., S. 862).
Die im spezifischen Sinn sogenannte „Stadtwirtschaftspolitik“
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Der Begriff findet sich u. a. bei Schmoller, Gustav, Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 1., größerer Teil. – Leipzig: Duncker & Humblot 1900, S. 296.
nun war wesentlich dadurch gekennzeichnet, daß sie im Interesse der Sicherung der Stetigkeit und Billigkeit der Massenernährung und der Stabilität der Erwerbschancen der Gewerbetreibenden und Händler diese damals in weitgehendem [A 630]Maß naturgegebenen Bedingungen der stadtsässigen Wirtschaft durch Wirtschaftsregulierung zu fixieren suchte
p
A: suchten
. Aber weder hat, wie wir sehen werden,
27
Siehe unten, S. 241–243 und 255.
diese Wirtschaftsregulierung den einzigen Gegenstand und Sinn städtischer Wirtschaftspolitik gebildet, noch hat sie da, wo wir sie geschichtlich finden, zu allen Zeiten, sondern wenigstens in ihrer vollen Ausprägung nur in bestimmten Epochen: unter der politischen Zunftherrschaft, bestanden, noch endlich läßt sie sich schlechthin allgemein als Durchgangsstadium aller Städte nachweisen. In jedem Fall aber repräsentiert nicht diese Wirtschaftspolitik eine universelle Stufe der Wirtschaft. Sondern es läßt sich nur sagen: daß der städtische lokale Markt mit seinem Austausch zwischen landwirtschaftlichen und nicht landwirtschaftlichen Produzenten und ansässigen [72]Händlern auf der Grundlage der Kundenbeziehung und des kapitallosen spezialisierten Kleinbetriebs eine Art von tauschwirtschaftlichem Gegenbild darstellt, gegen die auf planmäßig umgelegte
q
[72]A: umgelegten
Arbeits- und Abgabenleistungen spezialisierten abhängigen Wirtschaften, in Verbindung mit dem auf Kumulation und Kooperation von Arbeit im Herrenhof ruhenden, im Inneren tauschlosen Oikos, und daß die Regulierung der Tausch- und Produktionsverhältnisse in der Stadt das Gegenbild darstellt für die Organisation der Leistungen der im Oikos vereinigten Wirtschaften.
Dadurch, daß wir bei diesen Betrachtungen von einer „städtischen Wirtschaftspolitik“, einem „Stadtgebiet“, einer „Stadtobrigkeit“ sprechen mußten, zeigt sich schon, daß der Begriff der „Stadt“ noch in eine andere Reihe von Begriffen eingegliedert werden kann und muß
r
A: muß,
als in die bisher allein besprochenen ökonomischen Kategorien: in die politischen.
28
[72] Bei seinen Ausführungen über den politischen Charakter der Stadt stützt sich Weber in erster Linie auf Arbeiten Georg von Belows; vgl. die Einleitung, oben, S. 14 f.
Träger der städtischen Wirtschaftspolitik kann zwar auch ein Fürst sein, zu dessen politischem Herrschaftsgebiet die Stadt mit ihren Einwohnern als Objekt gehört. Dann wird Stadtwirtschaftspolitik, wenn überhaupt, nur für die Stadt und ihre Einwohner, nicht von ihr getrieben. Aber das muß nicht der Fall sein. Und auch wenn es der Fall ist, muß dabei dennoch die Stadt als ein in irgendeinem Umfang autonomer Verband: eine „Gemeinde“ mit besonderen politischen und Verwaltungseinrichtungen in Betracht kommen.
Festzuhalten ist jedenfalls: daß man den bisher erörterten ökonomischen von dem politisch–administra[A 631]tiven Begriff der Stadt durchaus scheiden muß. Nur im letzteren Sinn gehört zu ihr ein besonderes Stadtgebiet. – Im politisch-administrativen Sinn kann dabei eine Ortschaft als Stadt gelten, welche diesen Namen ökonomisch nicht beanspruchen könnte. Es gab im Mittelalter im Rechtssinn „Städte“, deren Insassen zu 910 oder mehr, jedenfalls aber zu einem weit größeren Bruchteile als sehr viele im Rechtssinn als „Dörfer“ geltende Orte, nur von eigener Landwirtschaft lebten. Der Übergang von einer solchen „Ackerbürgerstadt“ zur Konsumenten-, Produ[73]zenten- oder Handelsstadt ist natürlich völlig flüssig. Nur pflegt allerdings in jeder vom Dorf administrativ unterschiedenen und als „Stadt“ behandelten Ansiedelung ein Punkt: die Art der Regelung der Grundbesitzverhält[WuG1 519]nisse, sich von der ländlichen Grundbesitzverfassung zu unterscheiden.
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[73] Anders als auf dem Lande war Grundbesitz in der – korporativ verfaßten, autonomen – Stadt frei veräußerlich. Über die ländliche Grundbesitzverfassung handelt Wopfner, H[ermann], „Agrargeschichte II. Agrarverhältnisse im Mittelalter“, in: HdStW3, Band 1, S. 188–196 (hinfort: Wopfner, Agrarverhältnisse). Vgl. auch Webers Ausführungen zum Bodenrecht unten, S. 101.
Bei den Städten im ökonomischen Sinne des Worts ist dies durch die besondere Art von Rentabilitätsgrundlage bedingt, welche städtischer Grundbesitz darbietet: Hausbesitz also, bei dem das sonstige Land nur Zubehör ist. Administrativ aber hängt die Sonderstellung des städtischen Grundbesitzes vor allem mit abweichenden Besteuerungsgrundsätzen, meist aber zugleich mit einem für den politisch-administrativen
s
[73]A: politisch administrativen
Begriff der Stadt entscheidenden Merkmal zusammen, welches ganz jenseits einer rein ökonomischen Analyse steht: daß die Stadt im Sinn der Vergangenheit, der Antike wie des Mittelalters, innerhalb wie außerhalb Europas, eine besondere Art von Festung und Garnisonort war. Der Gegenwart ist dieses Merkmal der Stadt gänzlich abhanden gekommen. Aber auch in der Vergangenheit bestand es nicht überall. In Japan z. B. in aller Regel nicht. Administrativ gesprochen kann man infolgedessen aber auch mit Rathgen bezweifeln, ob es dort überhaupt „Städte“ gab.
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Weber bezieht sich auf Rathgen, Volkswirtschaft, besonders S. 147: „Japan ist kein Land der Städte. Weder sind volkreiche Ansiedelungen häufig, noch tragen sie in der Regel einen besonders stadtartigen Charakter“. Und S. 148 f.: „Was bei uns historisch die Städte in ihrer Eigenart geschaffen hat, die rechtliche Beschränkung von Handwerk und Marktverkehr auf die Stadt, hat in Japan ebenso gefehlt wie die örtliche Einschliessung durch Wall und Graben, während z. B. China geradezu ein typisches Land der ummauerten Städte ist“.
In China umgekehrt war jede Stadt mit riesigen Mauergürteln umgeben. Aber dort scheinen auch sehr viele ökonomisch rein ländliche Ortschaften, die auch administrativ nicht Stadt, d. h. (wie später zu erwähnen)
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Siehe unten, S. 85 f.
in China: nicht Sitz staatlicher Behörden sind, von jeher Mauern besessen zu haben. In manchen Mittelmeergebieten, z. B. Sizilien, ist ein außerhalb der [74]städtischen Mauern wohnender Mensch, also auch ein landsässiger Landarbeiter, so gut wie unbekannt gewesen: eine Folge von jahrhundertelanger Unsicherheit.
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[74] Die Bemerkung zu Sizilien läßt sich zeitlich nicht einordnen, „jahrhundertelange Unsicherheit“ liefert dafür angesichts der wechselvollen Geschichte Siziliens keinen eindeutigen Anhaltspunkt. Zur Besiedlungsweise im 19. Jahrhundert, die sich in ihrer Grundstruktur bis auf die Antike zurückführen läßt, vgl. Sartorius von Waltershausen, A[ugust], Die Sizilianische Agrarverfassung und ihre Wandlungen 1780–1912. Eine sozialpolitische und weltwirtschaftliche Untersuchung. – Leipzig: A. Deichert 1913, S. 12–37. – In: Agrarverhältnisse3, S. 123 (MWG I/6), bezieht sich Weber mit einer ähnlichen Äußerung auf Sizilien in seiner eigenen Zeit.
In Althellas glänzte umgekehrt die Polis Sparta durch ihre Mauerlosigkeit,
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Thukydides 1, 10, 2 hebt den Sonderfall der Siedlung der Spartaner in Dörfern ohne befestigtes Zentrum hervor, was einem sonst bei den Griechen überwundenen Zustand entspreche; vgl. ebd. 1, 7, 1; 1, 8, 3 und 3, 94, 4; dazu Kuhn, Emil, Ueber die Entstehung der Staedte der Alten. Komenverfassung und Synoikismos. – Leipzig: B. G. Teubner 1878, S. 15–17 (hinfort: Kuhn, Städte).
für welche aber andererseits das Merkmal: „Garnisons[A 632]ort“ zu sein, in spezifischem Sinn zutraf: deshalb gerade, weil sie das ständige offene Kriegslager der Spartiaten war, verschmähte sie die Mauern.
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Daß die ständige militärische Bereitschaft der Bürger die Mauern in Sparta ersetze, war ein antiker Topos; vgl. v.a. Plutarch, Lykurg 19, 4; Moralia 210 E–F und 217 E; Platon, Nomoi 778 d–e; Valerius Maximus 3, 7, exempla externa 8. Platon, Nomoi 666e, und Isokrates 6, 81 nennen deshalb Sparta ein „Heerlager“. Von Sparta als einem „Exercierplatz“ und „Standort eines schlagfertigen Heers“ hat Curtius, Ernst, Griechische Geschichte, Band 1, 4. Aufl. – Berlin: Weidmann 1874, S. 182, gesprochen. In den im 3. Jahrhundert v. Chr. durchgeführten Befestigungen Spartas hat Hermann, Karl F., Lehrbuch der griechischen Staatsalterthümer aus dem Standpunkt der Geschichte, 5. Aufl. – Heidelberg: J.C.B. Mohr 1875, S. 211, den Beleg dafür gesehen, daß der „kriegerische Geist von ihm [Sparta] gewichen war“.
Wenn man noch immer streitet, wie lange Athen mauerlos gewesen sei,
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Wann nach der Burg die athenische Unterstadt eine Ummauerung erhielt, ist nicht bekannt. Die Berichte bei Herodot (9, 13, 2) über die Zerstörung der Stadt durch die abziehenden Perser 479 v. Chr. und bei Thukydides (1, 89–93) über den unmittelbar danach auf Initiative des Themistokles mit fieberhafter Eile begonnenen Aufbau des Mauerrings um die Stadt (noch nicht die in den 450er Jahren errichteten „Langen Mauern“, die die Stadt mit dem Peiraieus und mit Phaleron verbanden) werden zumeist so verstanden, daß es sich bei dem Mauerbau von 479/478 v. Chr. um eine Wiederherstellung eines früheren Mauerrings gehandelt habe. Beim Fehlen eines eindeutigen archäologischen Befunds finden sich jedoch nicht nur divergierende Annahmen über Datierung und Umfang eines vorthemistokleischen Mauerrings, sondern mitunter auch Zweifel daran, daß es diesen überhaupt vor den Perserkriegen gegeben habe; für diese skeptische Position vgl. v.a. Wilamowitz-Moellendorff, U[lrich] v[on], Burg und Stadt von Kekrops bis Perikles, in: Aus Kydathen (Philologische Untersuchungen, hg. von A[dolf] Kiessling und U[lrich] v[on] Wilamowitz-Moellendorff, Band 1). – Berlin: Weidmann 1880, S. 97–172; ders., Die sieben Thore Thebens, in: Hermes, Band 26, 1891, S. 191–242, hier S. 201, Anm. 1; den Stand der Forschung Anfang des 20. Jahrhunderts gibt Judeich, Walther, Topographie von [75]Athen (Handbuch der klassischen Altertums-Wissenschaft, Band 3,2,2). – München: C. H. Beck 1905, S. 58 und 113–115 (hinfort: Judeich, Topographie).
so enthielt es [75]doch in der Akropolis, wie außer Sparta wohl alle Hellenenstädte, eine Felsenburg, ganz ebenso wie die Orte Ekbatana und Persepolis königliche Burgen mit sich daran anlehnenden Ansiedelungen waren.
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Ekbatana (Egbatana; heute Hamadan) war die Hauptstadt Mediens, die über eine stark befestigte Burg verfügte; Polybios 10, 27, 37 f.; Herodot 1, 98, 2–99, 1; Meyer, Altertum, Band 1, S. 580 f. Persepolis, die Sommerresidenz der persischen Herrscher, ist unter Darius I. seit ca. 518 v. Chr. erbaut und durch Alexander den Großen 330 v. Chr. zerstört worden (Diodor 17, 70). Über die Ruinenstätte (60 km nördlich von Schiras) lagen seit dem 17. Jahrhundert Beschreibungen von Forschungsreisenden vor.
Normalerweise gehört jedenfalls zur orientalischen wie zur antik-mittelländischen Stadt und ebenso zum normalen mittelalterlichen Stadtbegriff die Burg oder Mauer.
Die Stadt war weder die einzige noch die älteste Festung. Im umstrittenen Grenzgebiet oder bei chronischem Kriegszustand befestigt sich jedes Dorf. So haben die Slavensiedelungen, deren nationale Form schon früh das Straßendorf gewesen zu sein scheint, offenbar unter dem Druck der ständigen Kriegsgefahr im Elbe- und Odergebiet die Form des heckenumzogenen Rundlings mit nur einem verschließbaren Eingang, durch welchen nachts das Vieh in die Mitte getrieben wurde, angenommen.
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Die Anordnung von Häusern zu beiden Seiten einer Straße („Straßendorf“) bzw. um einen runden Dorfplatz („Rundling“) als typisch slawische Siedlungsformen erläutern Wopfner, Agrarverhältnisse (wie oben, S. 73, Anm. 29), S. 189, und Meitzen, August, „Ansiedelung“, in: HdStW3, Band 1, S. 493–508, hier S. 504 f.
Oder man hat jene überall in der Welt, im israelitischen Ostjordanland wie in Deutschland, verbreiteten Höhenumwallungen angelegt, in welche Waffenlose sich und das Vieh flüchteten. Die sog. „Städte“ Heinrichs I. im deutschen Osten waren lediglich systematische Befestigungen dieser Art.
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Die während der Regierungszeit von Heinrich I. (919–936) angesichts der Kämpfe mit Ungarn und Slawen in Sachsen angelegten „Städte“ (urbes; Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae 1, 35) dienten überwiegend militärischen Zwecken. Es handelte sich um Burgen, die den Bewohnern des Umlandes Zuflucht und Schutz garantieren sollten. Dazu u. a. Hegel, Entstehung, S. 28; Below, Georg von, „Bürger, Bürgertum“, in: HdStW3, Band 3, S. 324–331, hier S. 324 (hinfort: Below, Bürger), und Inama-Sternegg, Karl Th. von, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Band 3: Deutsche Wirtschaftsgeschichte in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters, Teil 1. – Leipzig: Duncker & Humblot 1899, S. 86 f. (hinfort: Inama-Sternegg, Wirtschaftsgeschichte).
In England gehörte zu jeder Grafschaft in angelsächsischer Zeit eine „burh“ (borough), nach der sie ihren Namen führte, und hafteten die Wacht- und Garnisondienste als älteste spezifisch „bürgerliche“ Last an bestimmten Personen und Grund[76]stücken.
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[76] Das angelsächsische „burh“ bezeichnete zunächst den befestigten Ort und den Burgbezirk; größere Burgbezirke stellten die Vorform von Städten („boroughs“) dar; Gneist, Rudolf, Englische Verfassungsgeschichte. – Berlin: Julius Springer 1882, S. 44 (hinfort: Gneist, Verfassungsgeschichte), und Hegel, Karl, Städte und Gilden der germanischen Völker im Mittelalter, Band 1. – Leipzig: Duncker & Humblot 1891, S. 36 ff. (hinfort: Hegel, Städte).
Falls sie nicht in normalen Zeiten ganz leer lagen, sondern Wächter oder Burgmannen als ständige Garnison gegen Lohn oder Land erhielten, führen von diesem Zustand gleitende Übergänge zur angelsächsischen burh, einer „Garnisonsstadt“ im Sinne der Maitlandschen Theorie, mit „burgenses“ als Einwohnern, deren Name hier wie sonst davon herrührt, daß ihre politische Rechtsstellung, ebenso wie die damit zusammenhängende rechtliche Natur ihres – also des spezifisch bürgerlichen – Grund- und Hausbesitzes durch die Pflicht der Erhaltung und Bewachung der Befestigung determiniert war.
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Maitland, Domesday Book, S. 185 f., und ders., Township, S. 36–52. Mit der „Garnisonstheorie“, d. h. der These von der Entstehung der meisten englischen Städte aus militärischen Befestigungen, stand Maitland im Gegensatz zu Historikern, die die Anfänge der englischen Städte aus der Landgemeinde oder Marktansiedlungen ableiteten; vgl. Hatschek, Verfassungsgeschichte, S. 105, der die Auffassung Maitlands als „am besten begründet“ übernimmt.
Historisch sind aber in aller Regel nicht palisadierte
a
[76]A: pallisadierte
Dörfer oder Notbefestigungen die wichtigsten Vorläufer der Stadtfestung, sondern etwas anderes. Nämlich: die herrschaftliche Burg, eine Festung, die von einem Herrn mit den entweder [A 633]ihm, als Beamten unterstellten oder ihm persönlich als Gefolge, zugehörenden Kriegern, zusammen mit seiner und deren Familie und dem zugehörigen Gesinde, bewohnt wurde.
[WuG1 520]Der militärische Burgenbau ist sehr alt, zweifellos älter als der Kriegswagen und auch als die militärische Benutzung des Pferdes. Wie der Kriegswagen überall einmal, im Altchina der klassischen Lieder,
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Die Sammlung von Volksliedern (Schi-king), die zuerst von Konfuzius (551–479 v. Chr.) zusammengestellt worden sein soll, enthält v.a. Texte aus der Zeit der westlichen Chou-Dynastie (11. Jahrhundert–771 v. Chr.).
im Indien der Veden,
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Der Veda (Wissen) ist die (aus Liedern, rituellen und magischen Formeln) bestehende Sammlung der ältesten heiligen Texte der Inder, deren schriftlicher Fixierung eine lange mündliche Überlieferungsgeschichte vorausgeht; dazu Lehmann, Edv[ard], Die Inder, in: Lehrbuch der Religionsgeschichte, hg. von P[ierre] D. Chantepie de la Saussaye, Band 2, 3., vollständig neu bearbeitete Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1905, S. 4–161, hier S. 8–12 (hinfort: Lehmann, Inder). Die „vedische Zeit“ läßt sich nicht genau datieren; die Entstehung des Veda wird im allgemeinen in die Zeit seit dem Beginn der ari[77]schen Einwanderung nach der Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. gesetzt. Die „Helden der vedischen Zeit“ charakterisiert Weber in: Hinduismus, MWG I/20, S. 83 f., als: „burgsässige, wagenkämpfende Kriegskönige mit Gefolgschaften homerischer Art“, vgl. zur Sache Zimmer, Heinrich, Altindisches Leben. Die Cultur der vedischen Arier nach den Samhita dargestellt. – Berlin: Weidmann 1879, S. 294–301.
in Ägypten und Mesopota[77]mien,
42a
Der Streitwagen war seit Mitte des 2. Jahrtausends vor Christus in Ägypten und Vorderasien im Gebrauch; Nuoffer, Oskar, Der Rennwagen im Altertum, Erster Teil. (Diss. Leipzig). – Leipzig: Hallberg und Buechting [u. a.] 1904.
in dem Kanaan, dem Israel des Deboralieds,
43
Das der Prophetin und Richterin Debora zugeschriebene Lied (Richter 5) feiert den Sieg vereinigter Stämme gegen Sisera, den Befehlshaber der Kanaaniter, der über neunhundert Kriegswagen verfügt haben soll (Richter 4); das Ereignis gehört wahrscheinlich ins späte 12. Jahrhundert v. Chr.; Meyer, Israeliten (wie oben, S. 68, Anm. 18), S. 496. Das Deboralied gilt als älteste historische Überlieferung im Alten Testament; Meyer, Altertum, Band 1, S. 354; Wellhausen, J[ulius], Prolegomena zur Geschichte Israels, 3. Aufl. – Berlin: Georg Reimer 1886, S. 306; Stade, Bernhard, Geschichte des Volkes Israel, Band 1 (Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen, hg. von Wilhelm Oncken, 1. Hauptabtheilung, 6. Theil). – Berlin: G. Grote 1887, S. 178.
in der Zeit der homerischen Epen, bei den Etruskern und Kelten und bei den Iren
43a
Zum Wagenkampf bei Homer: Helbig, W[olfgang], Das homerische Epos aus den Denkmälern erläutert. Archäologische Untersuchungen. – Leipzig: B. G. Teubner 1884, S. 88–110; bei den Etruskern: Körte, G[ustav], „Etrusker“, in: RE, Band 6, 1, 1907, Sp. 730–770, hier Sp. 754; bei den Kelten: Polybios 2, 23, 4; bei den Iren: Sagen aus dem alten Irland, übers. von Rudolf Thurneysen. – Berlin: Wiegandt & Grieben 1901, S. XI und 38–52. – Es handelt sich allerdings zum Teil um literarische Fiktionen.
die Entwicklung der ritterlichen und königlichen Kriegsführung bestimmt hat, so ist auch der Burgenbau und das Burgfürstentum universell verbreitet gewesen. Die altägyptischen Quellen kennen die Burg und den Burgkommandanten,
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Möglicherweise bezieht sich Webers pauschale Angabe u. a. auf Inschriften aus der Zeit der 6. Dynastie (ca. 2320–2150 v. Chr.); vgl. die Texte in englischer Übersetzung bei Breasted, James H., Ancient Records of Egypt. Historical Documents from the Earliest Times to the Persian Conquest, vol. 1: The First to the Seventeenth Dynasties. – Chicago: The University of Chicago Press 1906, § 312 und 377 (S. 143 und 170) (hinfort: Breasted, Ancient Records); daß es im Alten Reich den Titel eines Burgkommandanten gab, wird erwähnt bei Meyer, Altertum, Band 1,2 (2. Aufl. 1909), S. 177.
und es darf als sicher gelten, daß die Burgen ursprünglich ebenso viele Kleinfürsten beherbergten. In Mesopotamien geht der Entwicklung der späteren Landeskönigtümer, nach den ältesten Urkunden zu schließen, ein burgsässiges Fürstentum
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Die Inschriften der alten sumerisch-akkadischen Städte waren (in Transkription und mit deutscher Übersetzung) Weber zugänglich in: Thureau-Dangin, F[rançois], Die sumerischen und akkadischen Königsinschriften (Vorderasiatische Bibliothek, Band 1,1) – Leipzig: J. C. Hinrichs 1907. Vor der ersten Bildung eines ganz Mesopotamien umfassenden Territorialstaates durch Sargon von Akkad (Regierungszeit ca. 2300–2245 v. Chr.) gab es eine Vielzahl kleinerer, von einem städtischen Zentrum aus beherrschter Staaten. Webers These, es habe sich um „burgsässige“ Fürstentümer gehandelt, läßt sich jedoch nicht verifizieren.
voraus, wie es im westli[78]chen Indien in der Zeit der Veden bestand, in Iran in der Zeit der ältesten Gathas
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[78] Gathas (Gesänge) sind die ältesten Texte des Awesta, der in der gleichnamigen altiranischen Sprache aufgezeichneten heiligen Schrift des Zoroastrismus bzw. Parsismus, die zur Zeit der Sassaniden (226–642) kodifiziert wurde. Die Gathas sollen unmittelbar auf die Verkündigung des Religionsstifters Zoroaster (Zarathustra) zurückgehen, dessen zeitliche Ansetzung jedoch höchst unsicher ist; Datierungen schwanken zwischen 1000 und 600 v. Chr. Webers Formulierung „Zeit der ältesten Gathas“ dürfte sich auf den Ursprung der Tradition, d. h. die Zeit Zoroasters, beziehen.
wahrscheinlich ist, während der politischen Zersplitterung in Nordindien,
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Damit meint Weber, wie aus Hinduismus, MWG I/20, S. 371 f. hervorgeht, wahrscheinlich die Zeit vor der bald nach dem Indienzug Alexanders des Großen folgenden Etablierung des Maurya-Reiches (ca. 320–185 v. Chr.).
am Ganges, offenbar universell herrschte: – der alte Kshatriya, den die Quellen als eine eigentümliche Mittelfigur zwischen König und Adeligen zeigen, ist offenbar ein Burgfürst.
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Daß die „Kschatriya“ nicht einfach eine Kriegerkaste darstellten, sondern darunter die „Angehörigen der herrschenden Klasse, die den König, seine Lords und Vasallen zusammen mit dem adeligen Theil des Heeres umfaßt“, zu verstehen seien, betont Fick, Sociale Gliederung (wie oben S. 60, Anm. 2), S. 52. Weber spricht in: Hinduismus, MWG I/20, S. 130 f. von den Kschatriya der Buddha-Zeit als einem „Stand von Stadt- und Burgadelsgeschlechtern“.
In der Zeit der Christianisierung bestand es in Rußland,
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Die Christianisierung Rußlands begann mit dem Kiewer Großfürsten Wladimir dem Heiligen, der sich und sein Volk anläßlich seiner Heirat mit einer byzantinischen Prinzessin taufen ließ (989/990).
in Syrien in der Zeit der Thutmosedynastie
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Thutmosis ist der (gräzisierte) Name von vier Pharaonen der 18. Dynastie. Thutmosis I. (ca. 1506–1493 v. Chr. nach heutigen chronologischen Ansätzen) hatte die ägyptische Herrschaft über Syrien und Palästina begründet, Thutmosis III. (1490–1436 v. Chr.) hat 1468 v. Chr. eine Koalition zahlreicher syrischer und palästinensischer Fürsten besiegt und schließlich auch die Festung Megiddo eingenommen; Breasted, Ancient Records (wie oben, S. 77, Anm. 44), Vol. 2: The Eighteenth Dynasty, §§ 408–443 (S. 175–190); vgl. Meyer, Eduard, Geschichte des alten Aegyptens (Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen, hg. von Wilhelm Oncken, Erste Hauptabtheilung, Erster Theil). – Berlin: Grote 1887, S. 238–240.
und in der israelitischen Bundeszeit (Abimelech),
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Abimelech (hebr.: Mein Vater ist König), Sohn des Richters Gideon aus einer Verbindung mit einer kanaanitischen Frau aus Sichem, ermordete seine siebzig Halbbrüder und errichtete in Sichem eine Alleinherrschaft, die er auch über einen Teil der (im 12.–11. Jahrhundert v. Chr. in einem lockeren Bund zusammengeschlossenen) Stämme Israels auszuüben versuchte (Richter 9). Im Bericht über die Kämpfe, die zu seinem Ende führten, werden die Burgen in Sichem und Tebez genannt (Richter 9, 46–53).
und auch die altchinesische Literatur läßt es als ursprünglich sehr sicher vermuten. Die hellenischen und kleinasiatischen Seeburgen bestanden sicherlich universell, soweit der Seeraub reichte: es muß eine Zwischenzeit besonders tiefer Befriedung gewesen sein, welche die kreti[79]schen befestigungslosen Paläste
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[79] Weber meint vermutlich die (seinerzeit durch Ausgrabungen schon bekannten) Paläste von Knossos und Phaistos aus der mittelminoischen Periode ca. 2000–ca. 1600 v. Chr.
an Stelle der Burgen erstehen ließ. Burgen wie das im peloponnesischen Kriege wichtige Dekeleia waren einst Festungen adliger Geschlechter.
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Dekeleia, 20 km nördlich von Athen gelegen, galt als eine der zwölf ursprünglichen Städte Attikas (Strabo 9, 1, 20 = 397C). 413 v. Chr. legten die Spartaner dort eine Festung an, von der aus sie Attika verwüsteten (Thukydides 7, 19 und 7, 27). Die Endphase des Peloponnesischen Krieges (bis 404 v. Chr.) wird deshalb als „dekeleischer Krieg" bezeichnet. Zur „Geschlechterburg“ vgl. unten, S. 179 mit Anm. 123.
Nicht minder beginnt die mittelalterliche Entwicklung des politisch selbständigen Herrenstandes mit den „castelli“
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„Castelli“ waren mit Türmen und Verteidigungsmauern befestigte Herrensitze.
in Italien, die Selbständigkeit der Vasallen in Nordeuropa mit ihren massenhaften Burgenbauten, deren grundlegende Wichtigkeit durch die Feststellung von Below’s erläutert wird: noch in der Neuzeit hing die individuelle Landstandschaft in Deutschland daran, daß die Familie eine Burg besaß, sei es auch eine noch so dürftige Ruine einer solchen.
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Weber verweist auf Below, Rittergüter. Siehe ebd., S. 115: „Die mit Burgen versehenen, von Personen adliger Herkunft besessenen und in die Matrikel eingetragenen Rittersitze haben gewisse Vorrechte“, und zwar: „Das vornehmste Recht der Rittersitze ist die Landtagsfähigkeit“. Vgl. auch ders., „Adel“, in: HdStW3, Band 1, S. 41–48, hier S. 43. „Landstandschaft“ meint die Zugehörigkeit zum Landtag, dem Zusammenschluß lokaler Herrschaftsträger (Adel, Klerus, Städte) zu Landständen, denen das Recht und die Pflicht zukam, ihren jeweiligen Landesherrn in allgemeinen Angelegenheiten des Landes zu raten und zu helfen und zumal über Steuererhebungen mitzubestimmen; dazu Below, Georg von, System und Bedeutung der landständischen Verfassung, in: ders., Territorium und Stadt. Aufsätze zur deutschen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte (Historische Bibliothek, Band 11). – München und Leipzig: R. Oldenbourg 1900, S. 163–282.
Die Ver[A 634]fügung über die Burg bedeutete eben militärische Beherrschung des Landes, und es fragte sich nur: wer sie in der Hand hatte, ob der einzelne Burgherr für sich selbst, oder eine Konföderation von Rittern, oder ein Herrscher, der sich auf die Zuverlässigkeit seines darin sitzenden Lehensmannes oder Ministerialen oder Offiziers verlassen durfte.
Die Festungsstadt nun, in dem ersten Stadium ihrer Entwicklung zu einem politischen Sondergebilde, war oder enthielt in sich oder lehnte sich an eine Burg, die Festung eines Königs oder adligen Herrn oder eines Verbandes von solchen, die oder der entweder selbst dort residierten oder eine Garnison von Söldnern oder Vasallen oder Dienstleuten dort hielten. Im angelsächsischen England war das Recht, ein „haw“, ein befestigtes Haus, in einer „burh“ zu besitzen, [80]ein Recht, welches durch Privileg bestimmten Grundbesitzern des Umlandes verliehen war, wie in der Antike und im mittelalterlichen Italien das Stadthaus des Adligen neben seiner ländlichen Burg stand. Dem militärischen Stadtherrn sind die Inwohner oder Anwohner der Burg, seien es alle oder bestimmte Schichten, als Bürger (burgenses) zu bestimmten militärischen Leistungen, vor allem zu Bau und Reparatur der Mauern, Wachtdienst und Verteidigung, zuweilen auch noch zu anderen militärisch wichtigen Diensten (Botendienst z. B.) oder Lieferungen verpflichtet. Weil und soweit er am Wehrverbande der Stadt teilnimmt, ist in diesem letzteren Fall der Bürger Mitglied seines Standes. Besonders deutlich hat dies Maitland für England herausgearbeitet: die Häuser der „burh“ sind – das bildet den Gegensatz gegen das Dorf – im Besitz von Leuten, denen vor allem andern die Pflicht obliegt, die Befestigung zu unterhalten.
56
[80] Zu Maitlands Theorie vgl. oben, S. 76 mit Anm. 40.
Neben dem königlich oder herrschaftlich garantierten Marktfrieden, der dem Markt der Stadt zukommt, steht der militärische Burgfrieden. Die befriedete Burg und der militärisch-politische
b
[80]A: militärisch politische
Markt der Stadt: Exerzierplatz und Versammlungsort des Heeres und deshalb der Bürgerversammlung auf der einen Seite, und andererseits der befriedete ökonomische Markt der Stadt, stehen oft in plastischem Dualismus [WuG1 521]nebeneinander. Nicht überall örtlich geschieden. So war die attische „pnyx“ weit jünger als die „agora“, welche ursprünglich sowohl dem ökonomischen Verkehr wie den politischen und religiösen Akten diente
c
A: dienten
.
57
Agora war ursprünglich die Bezeichnung für die Versammlung der Vollbürger (bzw. des Heeres), die dann später auf den Ort überging, an dem diese regelmäßig stattfand, und meinte zugleich den Marktplatz der Polis. Daß der politische Versammlungsort und der Marktplatz in „altertümlichen, kleinen Städten“ nicht getrennt gewesen waren, betont auch Burckhardt, Jakob, Griechische Kulturgeschichte, hg. von Jakob Oeri, Band 1. – Berlin und Stuttgart: W. Spemann [1898], S. 75 (hinfort: Burckhardt, Kulturgeschichte). Die Pnyx war ein Felsen südwestlich der Akropolis von Athen, dessen flacher Abhang – vermutlich seit kleisthenischer Zeit (Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr.) – als Ort der Volksversammlung genutzt wurde; vgl. Judeich, Topographie (wie oben, S. 75, Anm. 35), S. 65 und 348 ff.
Aber in Rom stehen seit alters comitium und campus Martius neben den
d
A: der
ökonomischen fora,
58
Das Comitium, unterhalb der nördlichen Kuppe des Capitols gelegen, war der Versammlungsplatz der ältesten Volksversammlung, der Curiatcomitien; südlich davon lag das Forum, der eigentliche Marktplatz. Der alte „Rindermarkt“ (Forum Boarium) be[81]fand sich am Ufer des Tiber. Der Campus Martius (Marsfeld) war eine Ebene zwischen dem Tiberbogen und der Via Flaminia, die als Versammlungsplatz für die Centuriatcomitien, die ursprüngliche Heeresversammlung, diente. Vgl. Mommsen, Römische Geschichte, Band 1, S. 108; ders., Staatsrecht, Band 3,1, S. 378–380.
[A 635]im [81]Mittelalter die Piazza del Campo in Siena (Tournierplatz und heute noch Stätte des Wettrennens der Stadtviertel)
59
Gemeint ist das „palio“ genannte Pferderennen, das als Wettkampf der Nachbarschaftsgemeinden („contrade“) im Juli und August jeden Jahres ausgetragen wird.
auf der vorderen, neben dem Mercato auf der hinteren Seite des Munizipalpalastes, und analog in islamischen Städten die Kasbah
e
[81]A: Kasbeh
,
60
Eine an der höchsten Stelle der Stadtmauer gelegene Burg, von der aus die Stadt beherrscht werden konnte.
das befestigte Lager der Kriegerschaft, örtlich gesondert neben dem Bazar, im südlichen Indien die (politische) Notablenstadt neben der ökonomischen Stadt.
61
Weber bezieht sich v.a. auf die Verhältnisse in Kaviripaddinam (Kaviripatnam), der Hafenstadt der Tamilen (südlich des heutigen Pondicherry), gegen Ende des 1. Jahrhunderts v. Chr., wie aus seinen Ausführungen in: Hinduismus, MWG I/20, S. 162 f. mit Anm. 85, ersichtlich ist.
Die Frage der Beziehung zwischen der Garnison, der politischen Festungsbürgerschaft einerseits und der ökonomischen, bürgerlich erwerbenden Bevölkerung andererseits[,] ist nun eine oft höchst komplizierte, immer aber entscheidend wichtige Grundfrage der städtischen Verfassungsgeschichte. Daß, wo eine Burg ist, sich auch Handwerker für die Deckung der Bedürfnisse des Herrenhaushalts und der Kriegerschaft ansiedeln oder angesiedelt werden, daß die Konsumkraft eines kriegerischen Hofhalts und der Schutz, den er gewährt, die Händler anlockt, daß andererseits der Herr selbst ein Interesse an der Heranziehung dieser Klassen hat, weil er dann in der Lage ist, sich Geldeinnahmen zu verschaffen, entweder indem er den Handel und das Gewerbe besteuert oder indem er durch Kapitalvorschuß daran teilnimmt oder den Handel auf eigene Rechnung betreibt oder gar monopolisiert, daß er ferner von Küstenburgen aus als Schiffsbesitzer oder als Beherrscher des Hafens am gewaltsamen und friedlichen Seegewinn sich Anteil schaffen kann, ist klar. Ebenso sind seine im Ort ansässigen Gefolgen und Vasallen dazu in der Lage, wenn er es ihnen freiwillig oder, weil er auf ihre Gutwilligkeit angewiesen ist, gezwungen gestattet. In althellenischen Städten, wie in Kyrene, finden wir auf Vasen den König dem Abwägen von Waren [82](Silphion) assistieren;
62
[82] Kyrene (an der Großen Syrte in Nordafrika gelegen) war 632/631 v. Chr. von Griechen aus Thera (Santorin) gegründet worden. Mit seiner monarchischen Verfassung stellte Kyrene einen Ausnahmefall dar, den Weber hier als Relikt „althellenischer“ Zustände versteht. Der Export des Silphions (einer nur in der Kyrenaika vorkommenden Pflanze), aus deren Saft Gewürze und Arzneimittel gewonnen wurden, begründete den Reichtum Kyrenes. Die herrschende Dynastie der Battiaden monopolisierte den Export (Aristophanes, Plutus 925; Aristoteles, fr. 528; Meyer, Altertum, Band 2, S. 469; Weber, Agrarverhältnisse3, S. 99 (MWG I/6)). Die sogenannte Arkesilaosschale zeigt einen Herrscher im Ornat – wahrscheinlich Arkesilaos II. (ca. 565–555 v. Chr.) – beim Überwachen des Abwiegens und Verladens von Silphion; Abbildungen finden sich bei Studniczka, Franz, Kyrene. Eine altgriechische Göttin. Archäologische und mythologische Untersuchungen. – Leipzig: F. A. Brockhaus 1890, S. 2; Furtwängler, A[dolf] und Reichhold, K[arl], Griechische Vasenmalerei. Auswahl hervorragender Vasenbilder, Serie 3: Text. – München: F. Bruckmann 1910, Tafel 151.
in Ägypten steht am Beginn der historischen Nachrichten die Handelsflotte des unterägyptischen Pharao.
63
Älteste Aufzeichnungen in annalistischer Form finden sich auf dem (seit 1877 im Museum von Palermo aufbewahrten, deshalb sogenannten) „Palermo-Stein“, die 1896 erstmals durch A. Pellegrini (Nota sopra un’iscrizione Egizia del Museo di Palermo, in: Archivio storico Siciliano, n.s., anno 20, 1896, S. 297–316) veröffentlicht worden waren. Diese Annalen verzeichnen, daß unter der Regierung des Pharao Snofru (Amtsantritt ca. 2840 v. Chr., nach Meyer, Eduard, Aegyptische Chronologie. – Berlin: Verlag der Königl[ichen] Akademie der Wissenschaften 1904, S. 178; nach heutigen chronologischen Ansätzen ca. drei Jahrhunderte später) eine Flotte von 40 Schiffen entsendet wurde, um Zedernholz aus dem Libanon nach Ägypten zu bringen; vgl. Schäfer, Heinrich, Ein Bruchstück altägyptischer Annalen. Mit Beiträgen von Ludwig Borchardt und Kurt Sethe (Abhandlungen der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften aus dem Jahre 1902). – Berlin: Georg Reimer 1902, S. 30; Breasted, Ancient Records (wie oben, S. 77, Anm. 44), vol. 1, § 146 (S. 65 f.) und § 89 (S. 57); Meyer, Altertum, Band 1,2 (2. Aufl. 1909), S. 162.
Weit über die Erde verbreitet, namentlich, wenn auch nicht ganz ausschließlich, in Küstenorten (nicht nur: in „Städten“), wo der Zwischenhandel besonders leicht kontrolliert werden konnte, war nun der Vorgang: daß neben dem Monopol des Häuptlings oder Burgfürsten das Interesse der am Ort ansässigen Kriegergeschlechter an eigener Teilnahme am Handelsgewinn und ihre Macht, sich eine solche zu sichern, wuchs und das Monopol des Fürsten (wenn es bestanden hatte) sprengte. Geschah dies, dann pflegte überall der Fürst nur noch als primus inter pares zu gelten oder schließlich gänzlich in den gleich[A 636]berechtigten Kreis der in irgendeiner Form, sei es nur mit Kapital, im Mittelalter besonders mit Kommendakapital, am friedlichen Handel, sei es mit ihrer Person am Seeraub und Seekrieg sich beteiligenden, mit Grundbesitz ansässigen Stadtsippen eingegliedert, oft nur kurzfristig gewählt, jedenfalls in seiner Macht einschneidend be[83]schränkt zu werden. Ein Vorgang, der sich ganz ebenso in den antiken Küstenstädten seit der homerischen Zeit, bei dem bekannten allmählichen Übergang zur Jahresmagistratur
64
[83] Gemeint ist die Umwandlung des Königtums in eine Magistratur und die Einführung der Annuität der Magistrate, die in Athen – nach Aristoteles, Athenaion politeia 3 – über die Zwischenstufen von lebenslänglicher und zehnjähriger Amtszeit erfolgt sein soll; dazu Meyer, Altertum, Band 2, S. 345 ff.; Schoeffer, [Valerien] von, „Archontes“, in: RE, Band 2,1, 1895, Sp. 565–599, hier Sp. 570 f. Die Liste der eponymen Archonten in Athen (d. h. der Obermagistrate, nach deren Amtsjahr datiert wurde) beginnt 683/682 v. Chr.
[,] wie ganz ähnlich mehrfach im frühen Mittelalter vollzogen hat: so namentlich in Venedig gegenüber dem Dogentum
65
Dies wird ausführlich unten, S. 148 ff., erörtert.
und – nur mit sehr verschiedenen Frontstellungen, je nachdem ein königlicher Graf oder Vicomte oder ein Bischof oder wer sonst Stadtherr war – auch in anderen typischen Handelsstädten. Dabei sind nun die städtischen kapitalistischen Handelsinteressenten, die Geldgeber des Handels, die spezifischen Honoratioren der Stadt in der Frühzeit der Antike wie des Mittelalters, prinzipiell von den ansässigen oder ansässig gewordenen Trägern des Handels-„Betriebs“, den eigentlichen Händlern zu sondern, so oft natürlich beide Schichten ineinander übergingen. Doch greifen wir damit schon späteren Erörterungen vor.
66
Weber verweist auf seine Darlegungen unten, S. 193 f.
Im Binnenlande können Anfangs- oder End- oder Kreuzungspunkte von Fluß- oder Karawanenstraßen (wie z. B. Babylon)
67
Babylon war der Endpunkt eines Schiffahrtswegs von Armenien über den Euphrat (Herodot 1, 194); nach Süden gab es eine Verbindung über den Euphrat zur arabischen Küste des Persischen Golfs (Strabo 17, 3, 3 = C 766), Zu den Karawanenstraßen und speziell zu denen von Babylon nach Phönikien und Syrien einerseits, nach Indien andererseits vgl. Heeren, A[rnold] H., Ideen über die Politik, den Verkehr und den Handel der vornehmsten Völker der alten Welt, 1. Theil: Asiatische Völker, 2. Abtheilung: Phönicier, Babylonier, Scythen, Indier. Neue Ausgabe. – Wien: Franz Härter 1817, S. 517–523.
Standorte ähnlicher Entwicklungen werden. Eine Konkurrenz macht dem weltlichen Burg- und Stadtfürsten dabei zuweilen der Tempelpriester und priesterliche Stadtherr. Denn die Tempelbezirke weithin bekannter Götter bieten dem interethnischen[,] also politisch ungeschützten [WuG1 522]Handel sakralen Schutz, und an sie kann sich daher eine stadtartige Ansiedelung anlehnen, welche ökonomisch durch die Tempeleinnahmen ähnlich gespeist wird wie die Fürstenstadt durch die Tribute an den Fürsten.
Ob und wieweit nun das Interesse des Fürsten an Geldeinnahmen durch die Erteilung von Privilegien für Gewerbetreibende und [84]Händler, welche einem vom Herrenhof unabhängigen, vom Herrn besteuerten, Erwerbe nachgingen, überwog, oder ob umgekehrt sein Interesse an der Deckung seines Bedarfs durch möglichst eigene Arbeitskräfte und an der Monopolisierung des Handels in eigener Hand stärker war[,] und welcher Art im ersten Fall jene Privilegien waren, lag im Einzelfall sehr verschieden: bei der Heranziehung Fremder durch solche Privilegien hatte der Herr ja auch auf die Interessen und [A 637]die für ihn selbst wichtige ökonomische Prästationsfähigkeit
68
[84] Abgabe- oder Leistungsfähigkeit.
der schon ansässigen, von ihm politisch oder grundherrlich Abhängigen in sehr verschiedenem Sinn und Grade Rücksicht zu nehmen. Zu allen diesen Verschiedenheiten der möglichen Entwicklung trat aber noch die sehr verschiedene politisch-militärische Struktur desjenigen Herrschaftsverbandes, innerhalb dessen die Stadtgründung oder Stadtentwicklung sich vollzog. Wir müssen die daraus folgenden Hauptgegensätze der Städteentwicklung betrachten.
Nicht jede „Stadt“ im ökonomischen und nicht jede, im politisch-administrativem Sinn einem Sonderrecht der Einwohner unterstellte, Festung war eine „Gemeinde“. Eine Stadtgemeinde im vollen Sinn des Wortes hat als Massenerscheinung vielmehr nur der Okzident gekannt. Daneben ein Teil des vorderasiatischen Orients (Syrien und Phönizien, vielleicht Mesopotamien) und dieser nur zeitweise und sonst in Ansätzen. Denn dazu gehörte, daß es sich um Siedelungen mindestens relativ stark gewerblich-händlerischen Charakters handelte, auf welche folgende Merkmale zutrafen: 1. die Befestigung – 2. der Markt – 3. eigenes Gericht und mindestens teilweise eigenes Recht – 4. Verbandscharakter und damit verbunden 5. mindestens teilweise Autonomie und Autokephalie, also auch Verwaltung durch Behörden, an deren Bestellung die Bürger als solche irgendwie beteiligt waren.
69
Georg von Below nennt an verschiedenen Stellen seines Werkes die von Weber angeführten Merkmale Markt, Befestigung, Gerichtsbarkeit, Gemeindeautonomie. So u. a. in: Städtewesen (wie oben, S. 68, Anm. 16), S. 4, und in: Stadtgemeinde, Landgemeinde und Gilde, in: Vierteljahrschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte, Band 7, 1909, S. 411–445, hier S. 412.
Solche Rechte pflegen sich in der Vergangenheit durchweg in die Form von ständischen Privilegien zu [85]kleiden.
70
[85] Gemeint ist die Verleihung von Privilegien wie freie Ratswahl, Steuerrecht, Marktrecht, Freizügigkeit und Befestigungsrecht an die Gemeinden. „Ständisch“ verweist darauf, daß dies Sonderrechte waren, die nur den zum Rechtskreis der Stadt gehörenden Personen zukamen.
Ein gesonderter Bürgerstand als ihr Träger
f
[85]A: Träger,
war daher das Charakteristikum der Stadt im politischen Sinn. An diesem Maßstab in seinem vollen Umfang gemessen waren freilich auch die Städte des okzidentalen Mittelalters nur teilweise und diejenigen des 18. Jahrhunderts sogar nur zum ganz geringen Teil wirklich „Stadtgemeinden“. Aber diejenigen Asiens waren es, vereinzelte mögliche Ausnahmen abgerechnet, soviel heute bekannt,
71
Weber bezieht sich auf den Forschungsstand in der Literatur, die ihm bei der Arbeit an seinen religionssoziologischen Studien zur Verfügung stand. Eine entsprechende Feststellung wie hier im Text findet sich auch in: Konfuzianismus, MWG I/19, S. 149.
überhaupt nicht oder nur in Ansätzen. Zwar Märkte hatten sie alle und Festungen waren sie ebenfalls. Die chinesischen großen Sitze des Gewerbes und Handels waren sämtlich, die kleinen meist, befestigt, im Gegensatz zu Japan. Die ägyptischen, vorderasiatischen, indischen Sitze von Handel und Gewerbe waren es ebenfalls. Gesonderte Gerichtsbezirke waren die großen Handels- und Gewerbesitze jener Länder gleichfalls nicht selten. Sitz der Behörden [A 638]der großen politischen Verbände waren sie in China, Ägypten, Vorderasien, Indien immer, – während
g
In A folgt: gerade
dies der charakteristischste Typus der okzidentalen Städte des frühen Mittelalters namentlich im Norden gerade nicht war. Ein besonderes[,] den Stadtbürgern als solchen eignendes[,] materielles oder Prozeßrecht aber oder autonom von ihnen bestellte Gerichte waren den asiatischen Städten unbekannt. Sie kannten es nur insofern, als die Gilden und (in Indien) Kasten, welche tatsächlich vorzugsweise oder allein in einer Stadt ihren Sitz hatten, Träger von solchen Sonderrechtsbildungen und Sondergerichten waren. Aber dieser städtische Sitz jener Verbände war rechtlich zufällig. Unbekannt oder nur in Ansätzen bekannt war ihnen die autonome Verwaltung, vor allem aber – das ist das Wichtigste –
h
A: Wichtigste,
der Verbandscharakter der Stadt und der Begriff des Stadtbürgers im Gegensatz zum Landmann. Auch dafür waren nur Ansätze vorhanden. Der chinesische Stadtinsasse gehörte rechtlich seiner Sippe und durch diese seinem Heimatsdorf an, in welchem der Ahnentempel stand und zu dem er die Verbindung sorgfältig [86] aufrechter[WuG1 523]hielt, ebenso wie der russische, in der Stadt erwerbende, Dorfgenosse rechtlich „Bauer“ blieb. Der indische Stadtinsasse außerdem: Mitglied seiner Kaste. Die Stadteinwohner waren freilich eventuell, und zwar der Regel nach, Mitglieder auch lokaler Berufsverbände, Gilden und Zünfte, spezifisch städtischen Sitzes. Sie gehörten schließlich als Mitglieder den Verwaltungsbezirken: Stadtvierteln, Straßenbezirken an, in welche die obrigkeitliche Polizei die Stadt zerlegte, und hatten innerhalb dieser bestimmte Pflichten und zuweilen auch Befugnisse. Der Stadt- oder Straßenbezirk konnte insbesondere leiturgisch im Wege der Friedensbürgschaft für die Sicherheit der Personen oder anderer polizeilicher Zwecke kollektiv haftbar gemacht werden. Aus diesem Grunde konnten sie zu Gemeinden mit gewählten Beamten oder mit erblichen Ältesten zusammengeschlossen sein: so in Japan, wo über den Straßengemeinden mit ihrer Selbstverwaltung als höchste Instanz ein oder mehrere Zivilverwaltungskörper (Machi-Bugyo)
i
[86]A: (Mashi-Bugyo)
72
[86] Nach Rathgen, Volkswirtschaft, S. 45, bedeutet „Bugyo“ Chef einer Behörde. Ein „Machi-Bugyo“ war der höchste Verwaltungsbeamte einer Stadt.
standen. Ein Stadtbürgerrecht aber im Sinne der Antike und des Mittelalters gab es nicht, und ein Korporationscharakter
73
Weber, WuG1, S. 439 (MWG I/22-3), definiert: „Ein rechtspersönlicher Verband kann rechtlich so konstruiert sein, daß ein fester, grundsätzlich nur entweder durch rein privatrechtliche Rechtsnachfolge oder durch Beschluß bestimmter Körperschaften zu erweiternder Kreis von Menschen als die allein berechtigten Mitglieder behandelt werden und die Verwaltung rechtlich kraft ihres Auftrags geführt wird: Korporation.“ Im juristischen Verständnis meint der Begriff eine rechtsfähige Körperschaft, die Trägerin von Rechten und Pflichten ist. In diesem Sinne hatten die Gilden, Zünfte und Stadtgemeinden des Okzidents Korporationscharakter. Dazu auch Gierke, Otto, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Band 3: Die Staats- und Korporationslehre des Alterthums und des Mittelalters und ihre Aufnahme in Deutschland. – Berlin: Weidmann 1881, S. 784 ff.
der Stadt als solcher war unbekannt. Sie war freilich eventuell auch als Ganzes ein gesonderter Verwaltungsbezirk, so, wie dies auch im Merowinger- und Karolingerreiche der Fall war.
74
Die Städte im Reich der Merowinger und Karolinger (486 bis 911 bzw. 987) waren weder rechtlich exemt noch verfügten sie über eine eigene Verwaltung. Sie bildeten vielmehr königliche Verwaltungsbezirke; dazu Brunner, Heinrich, Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte. – Leipzig: Duncker & Humblot 1901, S. 142.
Weit entfernt aber davon
k
Fehlt in A; davon sinngemäß ergänzt.
, daß etwa, [A 639]wie im mittelalterlichen und antiken Okzident, die Autonomie und die Beteiligung der Einwohner an den
l
A: der Verwaltung von
Angelegenheiten [87]der lokalen Verwaltung in der Stadt, also in einem gewerblich-kommerziell gearteten, relativ großen Ort, stärker entwickelt gewesen wäre als auf dem Lande, traf vielmehr regelmäßig das gerade Umgekehrte zu. Auf dem Dorf war z. B. in China die Konföderation der Ältesten in vielen Dingen fast allmächtig und insoweit also der Taotai
75
[87] „Taotai“ (Tao-t’ai) war der Titel des Beamten an der Spitze eines Regierungsbezirks (tao), der in Präfekturen und Unterpräfekturen gegliedert war; dazu Franke, Otto, Die Verfassung und Verwaltung Chinas, in: Vierkandt, Alfr[ed] [u. a.], Allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 1. Hälfte (Die Kultur der Gegenwart, Teil 2, Abteilung 2, 1). – Leipzig und Berlin: B. G. Teubner 1911, S. 87–113, hier S. 102 (hinfort; Franke, Verfassung).
auf die Kooperation mit ihnen faktisch angewiesen, obwohl das Recht davon nichts wußte. Die Dorfgemeinschaft Indiens
76
Der Ursprung der indischen Dorfgemeinde ist in der Forschung des 19. Jahrhunderts kontrovers diskutiert worden. Weber versteht sie (im Anschluß an Baden-Powell, B[aden] H., The Indian Village Community. – London [u. a.]: Longmans, Green 1896) als Ergebnis eines Systems kollektiver Steuerhaftung, das seit der Mogul-Zeit des 16. Jahrhunderts ausgebaut worden war, und nicht als Relikt eines ursprünglichen Agrarkommunismus, wie aus seinen Ausführungen in: Hinduismus, MWG I/20, S. 149 ff., deutlich wird.
und der russische Mir
77
„Mir“ kann bedeuten: 1. die bäuerliche Dorf- bzw. Landgemeinde in Rußland, 2. die Gesamtheit der bäuerlichen Haushaltungsvorstände eines Dorfes, 3. eine besondere Form der Gemeindebesitzverfassung. Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 war der Mir (bis zur Revolution von 1917) als Institution mit kollektiver Steuerhaftung und regelmäßiger bzw. fallweiser Umverteilung des bäuerlichen Gemeindebesitzes gesetzlich verankert. Gesetze von 1893 (unter Zar Alexander III.) sollten den Tendenzen zur Auflösung der Dorfgemeinschaft entgegenwirken; dazu Simkhowitsch, Wladimir G., „Mir“, in: HdStW3, Band 6, S. 714–730 (hinfort: Simkhowitsch, Mir); Milukow, Paul, Skizzen Russischer Kulturgeschichte. Deutsche vom Verfasser durchgesehene Ausgabe von E. Davidson. – Leipzig: Otto Wigand 1898, S. 124–127, und Meitzen, August, „Feldgemeinschaft“, in: HdStW3, Band 4, S. 57–71, hier S. 60 f.
hatten höchst eingreifende Zuständigkeiten, die sie, der Tatsache nach, bis in die neueste Zeit, in Rußland bis zur Bureaukratisierung unter Alexander III., so gut wie völlig autonom erledigten. In der ganzen vorderasiatischen Welt waren die „Ältesten“ (in Israel „sekenim“
78
Von den führenden Familien gestellte „Älteste" gab es seit der Wanderungszeit als Vertreter des gesamten Volkes; nach der Landnahme kamen auch „Älteste“ hinzu, die jeweils auf lokaler Ebene administrative und richterliche Funktionen ausübten; sie verloren während der Königszeit an Bedeutung, gewannen aber seit der Zeit des Exils ihre alte Stellung zurück; vgl. Seesemann, Otto, Die Ältesten im Alten Testament. – Leipzig: G. Kreysing 1895 [Diss. Leipzig].
), das heißt ursprünglich: die Sippenältesten, später: die Chefs der Honoratiorensippen, Vertreter und Verwalter der Ortschaften und des örtlichen Gerichtes. Davon war in der asiatischen Stadt, weil sie regelmäßig der Sitz der hohen Be[88]amten oder Fürsten des Landes war,
79
[88] Diesen Sachverhalt betont Weber speziell für die chinesische Stadt in: Konfuzianismus, MWG I/19, S. 154.
gar keine Rede; sie lag direkt unter den Augen ihrer Leibwachen. Sie war aber fürstliche Festung und wurde daher von fürstlichen Beamten (in Israel: sarim)
80
Der Aufbau einer zentralen Verwaltung spiegelt sich wider in den Listen der Hofbeamten Davids (2. Samuel 8, 16–18; 20, 23–26) und Salomos (1. Könige 4); unter Salomo kamen die Vorsteher der zwölf Bezirke hinzu, in die das Land zum Zweck der Steuererhebung eingeteilt worden war.
und Offizieren verwaltet, die auch die Gerichtsgewalt hatten. In Israel kann man den Dualismus der Beamten und Ältesten in der Königszeit deutlich verfolgen. In dem bureaukratischen Königreich siegte überall der königliche Beamte. Gewiß war er nicht allmächtig. Er mußte vielmehr mit der Stimmung der Bevölkerung in einem oft erstaunlichen
m
[88]A: erstaunlichem
Maß rechnen. Der chinesische Beamte vor allem war gegenüber den lokalen Verbänden: den Sippen und Berufsverbänden, wenn sie sich im Einzelfalle zusammenschlossen, regelmäßig völlig machtlos und verlor bei jeder ernstlichen gemeinsamen Gegenwehr sein Amt. Obstruktion, Boykott, Ladenschließen und Arbeitsniederlegungen der Handwerker und Kaufleute im Fall konkreter Bedrückung waren schon alltäglich und setzten der Beamtenmacht Schranken. Aber diese waren völlig unbestimmter Art. Andrerseits finden sich in China wie in Indien bestimmte Kompetenzen der Gilden oder andrer Berufsverbände oder doch die faktische Notwendigkeit für die Beamten, mit ihnen sich ins Einvernehmen zu setzen. Es kam vor, daß die Vorstände dieser Verbände weitgehende Zwangs[A 640]gewalten auch gegen Dritte ausübten. Bei alledem aber handelt
n
A: handelte
es sich – normalerweise – lediglich um Befugnisse oder faktische Macht einzelner bestimmter Verbände bei einzelnen bestimmten Fragen, die ihre konkreten Gruppeninteressen berühren. Nicht aber – normalerweise – existiert irgendein gemeinsamer Verband mit Vertretung einer Gemeinde der Stadtbürger als solcher. Dieser Begriff fehlt eben gänzlich. Es fehlen vor allem spezifisch ständische Qualitäten der städtischen Bürger. Davon findet sich in China, Japan, Indien überhaupt nichts und nur in Vorderasien Ansätze.
[WuG1 524]In Japan war die ständische Gliederung rein feudal: die Samurai (berittenen) und Kasi (unberittenen Ministerialen)
o
A: (unberittenen) Ministerialen
standen den [89]Bauern (no) und den teilweise in Berufsverbänden zusammengeschlossenen Kaufleuten und Handwerkern gegenüber.
81
[89] Nach Webers Darstellung in. Hinduismus, MWG I/20, S. 435, verfügten die Samurai über ein erbliches (jedoch unter bestimmten Umständen kündbares) Lehen, während es sich bei den „Kasi“ um „einfache Ministeriale“ handelte, „die oft ein Büroamt versahen“.
Aber der Begriff „Bürgertum“ fehlte ebenso wie der Begriff der „Stadtgemeinde“. In China war in der Feudalzeit
82
Gemeint ist die Zeit von ca. 800 bis 221 v. Chr. In dieser Zeit gab es eine Staatenpluralität auf chinesischem Boden, die 221 v. Chr. durch den Einheitsstaat abgelöst wurde; Franke, Verfassung (wie oben, S. 87, Anm. 75), S. 91.
der Zustand der gleiche, seit der bureaukratischen Herrschaft aber stand der examinierte Literat der verschiedenen Grade dem Illiteraten gegenüber, und daneben finden sich die mit ökonomischen Privilegien ausgestatteten Gilden der Kaufleute und Berufsverbände der Handwerker. Aber der Begriff: Stadtgemeinde und Stadtbürgertum fehlte
p
[89]A: fehlten
auch dort. „Selbstverwaltung“ hatten in China wie in Japan wohl die Berufsverbände, nicht aber die Städte, sehr im Gegensatz zu den Dörfern. In China war die Stadt Festung und Amtssitz der kaiserlichen Behörden, in Japan gab es „Städte“ in diesem Sinn überhaupt nicht. In Indien waren die Städte Königs- oder Amtssitze der königlichen Verwaltung, Festungen und Marktorte. Ebenso finden sich Gilden der Kaufleute und außerdem die in starkem Maße mit Berufsverbänden zusammenfallenden Kasten, beide mit sehr starker Autonomie, vor allem eigener Rechtssetzung und Justiz. Aber die erbliche Kastengliederung der indischen Gesellschaft mit ihrer rituellen Absonderung der Berufe gegeneinander
q
A: gegeneinander,
schließt die Entstehung eines „Bürgertums“ ebenso aus
r
A: aus,
wie die Entstehung einer „Stadtgemeinde“. Es gab und gibt mehrere Händlerkasten und sehr viele Handwerkerkasten mit massenhaften Unterkasten. Aber weder konnte irgendeine Mehrheit von ihnen zusammengenommen dem okzidentalen Bürgerstand gleichgesetzt werden, noch konnten sie sich zu etwas der mittel[A 641]alterlichen Zunftstadt Entsprechendem zusammenschließen, da die Kastenfremdheit jede Verbrüderung hemmte. Zwar in der Zeit der großen Erlösungsreligionen
83
Gemeint ist die Zeit seit dem 6./5. Jahrhundert v. Chr., als im nordöstlichen Indien die Erlösungsreligionen Buddhismus und Jainismus entstanden waren. Nach seiner Blütezeit im 3. Jahrhundert v. Chr. verlor der indische Buddhismus allmählich an Bedeutung.
finden wir, daß die Gilden, mit ihren erblichen Schreschthi
s
A: Schreschths
(Ältesten) an [90]der Spitze, sich in vielen Städten zu einem Verband zusammenschließen, und es gibt als Rückstand von damals bis heute noch einige Städte (Ahmadabad)
t
[90]A: (Allahobed) ; vgl. Anm. 84.
84
[90] Der im Original als Allahobed verschriebene Name der Stadt könnte als Allahabad (im Norden Indiens, im heutigen indischen Bundesstaat Uttar Pradesh) gelesen werden. Aus der Parallelstelle in: Hinduismus, MWG I/20, S. 112, geht jedoch hervor, daß Ahmadabad (im heutigen Bundesstaat Gujarat) gemeint ist.
mit einem gemeinsamen städtischen Schreschth, dem okzidentalen Bürgermeister entsprechend, an der Spitze. Ebenso gab es in der Zeit vor den großen bureaukratischen Königtümern einige Städte, die politisch autonom und von einem Patriziat regiert wurden, welches sich aus den Sippen, die Elefanten zum Heer stellten, rekrutierte.
85
Sich selbst verwaltende Städte werden in griechischen Quellen über Indien genannt, die auf den Bericht des Megasthenes zurückgehen, der sich als Gesandter des Seleukidenreichs um die Wende vom 4. zum 3. Jahrhundert v. Chr. am Hof Candraguptas, des Begründers des Maurya-Reichs, aufgehalten hatte (Arrian, Indike 11, 9; Diodor 2, 39, 4); eine Notiz über eine (nicht näher identifizierte) aristokratische Verfassungsordnung, die auf einem Rat von 5000 Besitzern von Elefanten basierte, findet sich bei Strabo 15, 1, 37 = C 702. Im Anschluß an Hopkins, Edward W., The Social and Military Position of the Ruling Caste in Ancient India, as Represented by the Sanskrit Epic, in: Journal of the American Oriental Society, vol. 13, 1889, S. 57–373, hier S. 136 mit Anm., nennt Weber in: Hinduismus, MWG I/20, S. 166, das Beispiel der im Nordosten Indiens (in der Nähe des heutigen Muzaffarpur) gelegenen Stadt Vaiçali. Die Identifizierung mit Vaiçali geht zurück auf Lassen, Christian, Indische Alterthumskunde, Band 2, Teil 1, 2., vermehrte und verbesserte Auflage. – Leipzig: L. A. Kittler 1874, S. 727.
Aber das ist später so gut wie völlig verschwunden. Der Sieg der rituellen Kastenfremdheit sprengte den Gildenverband, und die königliche Bureaukratie, mit den Brahmanen verbündet,
86
Nach Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 372 und 463 f., hatte der Aufbau eines starken Regierungsapparats im Maurya-Reich unter Açoka (Regierungszeit 268–ca. 236 v. Chr.), in dem der Buddhismus die Legitimationsideologie darstellte, auch das „Stadtpatriziat“ (das ursprünglich der soziale Träger des Buddhismus gewesen sei) nachhaltig geschwächt. Nach dem Verfall des Maurya-Reiches und des indogriechischen Reiches von Demetrios und Menander (ca. 183–150 v. Chr.), in dem ebenfalls noch der Buddhismus gefördert wurde, kam es in den zahlreichen kleineren Nachfolgestaaten erneut zu einem Bündnis des Königtums mit den Brahmanen. Aus der Mitte dieser Herrscherhäuser stieg die Gupta-Dynastie (320–ca. 500 n. Chr.) auf, die ein straff organisiertes Großreich gründete.
fegte diese Ansätze, bis auf jene Reste in Nordwestindien, hinweg.
In der vorderasiatisch-ägyptischen Antike sind die Städte Festungen
87
Den Festungs- und sonstigen größeren Orten in Ägypten fehlte eine administrative Sonderstellung, da das gesamte Land einheitlich nach Gauen unterteilt war; Weber, Agrarverhältnisse3, S. 82 (MWG I/6).
und königliche oder Amtssitze mit Marktprivilegien der Kö[91]nige.
88
[91] Gemeint sind v.a. Städte in Mesopotamien, zu deren Privilegien – nach Weber. Agrarverhältnisse3, S. 73 (MWG I/6) – u. a. ein besonders großzügiges Fremdenrecht zur Förderung des Handels gehörte.
Aber in der Zeit der Herrschaft der Großkönigreiche fehlt ihnen Autonomie, Gemeindeverfassung und ständisch privilegiertes Bürgertum. In Ägypten bestand im Mittleren Reich Amtsfeudalität, im Neuen Reich bureaukratische Schreiberverwaltung.
89
Das „Mittlere Reich“ ist die Zeit der 11. Dynastie (2. Teil) bis zur 14. Dynastie, ca. 2040–1650 v. Chr.; darauf folgen die „Zweite Zwischenzeit“ der 15. bis 17. Dynastie, 1650–1551 v. Chr. und das „Neue Reich“, die Zeit der 18.–20. Dynastie. 1551–1080 v. Chr. Die angegebenen exakten Datierungen entsprechen heutigen chronologischen Rekonstruktionen. Weber hat in: Agrarverhältnisse3, S. 84–86 (MWG I/6) das Mittlere Reich der 12./13. Dynastie auf die Wende vom 3. zum 2. Jahrtausend v. Chr. datiert, den Beginn des „Neuen Reichs“ mit der 18. Dynastie in der Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. angesetzt. Er führt ebd. aus, daß im Neuen Reich eine auf dem Einsatz leibeigener Schreiber beruhende Zentralverwaltung die Verwaltung durch mit Grundherrschaften ausgestattete Gauvorsteher (Nomarchen), die sich faktisch zu einem Feudaladel entwickelt hätten, abgelöst habe.
Die „Stadtprivilegien“ waren Verleihungen an die feudalen oder präbendalen Inhaber der Amtsgewalt
90
Nach seiner späteren Definition in: WuG1, S. 136 (MWG I/23), versteht Weber unter Präbende die „individuell[e], aber nicht erblich[e]“ Vergabe von Pfründen. Den Unterschied zwischen der an ein Amt geknüpften, erwerb- und veräußerbaren „Pfründe“ und dem auf einer persönlichen Beziehung beruhenden, unveräußerbaren „Lehen“, das in der Entwicklung des europäischen Mittelalters faktisch, wenn auch nicht rechtlich erblich wurde, hat Weber ausführlich in WuG1, S. 727 (MWG I/22-4), erörtert. Er betont auch wiederholt den Unterschied zwischen der Herstellung von Treuebeziehungen aufgrund der Präbendalisierung im Orient und der Feudalisierung im Okzident, u. a. in: Hinduismus, MWG I/20, S. 140 f.
in den betreffenden Orten (wie die alten Bischofsprivilegien in Deutschland),
91
Gemeint ist die von den ottonischen und salischen Kaisern vorgenommene Ausstattung von Bischöfen mit Immunitäten (Gerichtshoheit, Forst-, Zoll-, Münz- und Marktrechte), die die Grundlage bischöflicher Stadtherrschaft bildeten.
nicht aber zugunsten einer autonomen Bürgerschaft. Wenigstens bisher sind nicht einmal Ansätze eines „Stadtpatriziats“ nachweisbar. In Mesopotamien und Syrien, vor allem Phönizien, findet sich dagegen in der Frühzeit das typische Stadtkönigtum der See- und Karawanenhandelsplätze, teils geistlichen, teils aber (und meist) weltlichen Charakters,
92
Die wichtigsten phönikischen Städte Tyros, Sidon, Byblos und Akko werden in den Amarna-Briefen (vgl. unten, Anm. 93) erwähnt. Über die inneren Verhältnisse seit dem Ende der ägyptischen Herrschaft zu Beginn des 12. Jahrhunderts v. Chr. ist wenig bekannt. Quellen setzten erst wieder für die Zeit seit dem 10. Jahrhundert v. Chr. ein. Am besten ist man über das Königtum in Tyros durch die Königsliste bei Josephus, Contra Apionem 1, 18, 116–127, sowie die Berichte jüdischer Quellen über die Beziehungen von [92]König Hieram I. (969–936 v. Chr.) zu David und Salomo unterrichtet (2. Samuel 5, 11; 1. Könige 5, 15–26; 1. Könige 9, 10–14 und 27; Josephus, Contra Apionem 1, 17, 106–115; Josephus, Antiquitates ludaicae 8, 5, 141–149). Für eine sakrale Legitimierung des Königtums in Tyros spricht Hesekiel 28, 2 und 28, 9.
und dann die ebenso typische aufsteigende Macht [92]patrizischer Geschlechter im „Stadthaus“ („bitu“ in den Tell-el-Amarna-Tafeln) in der Zeit der Wagenkämpfe.
93
Die Tell-el-Amarna-Tafeln sind nach dem Fundort benannt. Sie wurden 1887 in (Tell-)EI-Amarna (moderner arabischer Name), der mittelägyptischen Ruinenstätte am Ort der Residenz Echnatons, gefunden. Sie enthalten auf Tontafeln in babylonisch-assyrischer Keilschrift die Korrespondenzen vorderasiatischer Könige und (von Ägypten abhängiger) Fürsten bzw. von Statthaltern des Pharaos mit den Pharaonen Amenophis III. (1402–1364 v. Chr.) und Amenophis IV. Echnaton (1364–1348 v. Chr.) und stellen damit die wichtigste Quelle für Palästina und Syrien vor der israelitischen Landnahme dar. Editionen in Transkription und mit deutscher Übersetzung von Winckler, Hugo, Die Thontafeln von Tell-el-Amarna (Keilinschriftliche Bibliothek, Band 5). – Berlin: Reuther & Reichard 1896, und Knudtzon, J[ørgen] A., Die EI-Amarna-Tafeln (Vorderasiatische Bibliothek). – Leipzig: J. C. Hinrichs 1907–1915. Statthalter aus dem syrisch-palästinensischen Raum wendeten sich immer wieder mit Hilfeersuchen an den Pharao, da sie mit ihren Kräften die Kontrolle über die Städte nicht mehr bewahren konnten. Ein militärisch gesichertes „Stadthaus“ (bitu) als Sitz einer vom Statthalter des Pharao unabhängigen Stadtregierung ist aus Tyros bekannt; Knudtzon, Nr. 89, Zeile 48–51 (Band 1, S. 425) mit den Erläuterungen (Band 2, S. 1180); dazu die ausführlicheren Bemerkungen Webers in: Judentum I, S. 68 f. (MWG I/21). – Der Einsatz von Streitwagen in der Kriegführung war seit der Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. in den vorderorientalischen Kulturen gebräuchlich, vgl. auch oben, S. 77 mit Anm. 42a und 43a.
Der kanaanäische Städtebund war eine Einung der wagenkämpfenden stadtsässigen Ritterschaft, welche die Bauern in Schuldknechtschaft und Clientel hält;
94
Weber erschließt die sozialen Machtstrukturen in den kanaanitischen Städten aus den Angaben in Richter 4–5 über den (von den Kanaanitern mit Streitwagen ausgetragenen) Kampf mit den Israeliten (vgl. oben, S. 77 mit Anm. 43), wie aus seinen genaueren Ausführungen in: Agrarverhältnisse3, S. 92 f. (MWG I/6) deutlich wird.
wie in der Frühzeit der hellenischen Polis. Ähnlich offenbar in Mesopotamien, wo der „Patrizier“, d. h. der grundbesitzende, ökonomisch wehrfähige Vollbürger vom Bauern geschieden ist, Immunitäten und Freiheiten der Hauptstädte vom König ver[A 642]brieft sind.
95
Gemeint sein könnte u. a., daß der neuassyrische Herrscher Sargon II. (722–704 v. Chr.) sich der Erneuerung der Privilegien (Steuerbefreiung) für Assur und Harran bzw. seiner Fürsorge für Städte wie Babylon, Sippar und Nippur rühmt; Texte in: Die Keilschrifttexte Sargons. Nach den Papierabklatschen und Originalen neu hg. von Hugo Winckler, Band 1. – Leipzig: Eduard Pfeiffer 1889, S. 98, 147, 159 und öfter (hinfort: Keilschrifttexte Sargons); sowie das rechtliche Sicherheiten (Schutz vor Verschleppung und Versklavung, Schutz von Fremden) garantierende Privileg für Babylon, das dessen Bewohner bei dem Assyrerkönig Assurbanipal (669–ca. 627 v. Chr.) und dessen Mitregenten Schamasch-schum-ukin in einem Brief einklagten; Text in: Winckler, Hugo, Altorientalische Forschungen, Band 6. – Leipzig: Eduard Pfeiffer 1897, S. 469–473; vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, S. 73 (MWG I/6).
Aber mit steigender Macht des Militärkönigtums schwand [93]das auch hier. Politisch autonome Städte, ein Bürgerstand wie im Okzident finden sich in Mesopotamien [WuG1 525]später so wenig wie städtisches Sonderrecht neben dem königlichen Gesetz. Nur die Phöniker behielten den Stadtstaat mit der Herrschaft des mit seinem Kapital am Handel beteiligten grundsässigen Patriziats. Die Münzen mit der Ära der ‘am
u
[93]A: cam
Zor, ‘am
a
A: cam
Karthechdeschoth in Tyros und Karthago deuten schwerlich auf einen herrschenden „Demos“, und sollte es doch der Fall sein, so aus später Zeit.
96
[93] Datierungen nach der Ära des Volkes (‘m) in Karthago (punisch: Qartḥadascht) bzw. Tyros (phönikisch: Ṣur) stammen aus hellenistischer Zeit. Einschlägig sind Inschriften (zu Karthago: Corpus Inscriptionum Semiticarum, pars 1, tomus 1, 2. – Paris: E Reipublicae Typographeo 1883, Nr. 270 (S. 346), Nr. 271 (S. 346 f.), Nr. 290 (S. 359 f.) und Nr. 291 (S. 360 f.); zu Tyros: ebd., Nr. 7 (S. 29–32)), nicht Münzen. – Wie aus der Parallelstelle in: Judentum I, S. 87, Anm. 31 (MWG I/21) hervorgeht, bezieht sich Weber auf eine zeitgenössische Diskussion über vermeintliche Entsprechungen zwischen quasi-demokratischen Strukturen bei Juden und Phönikiern, für die u. a. die ähnlichen Bezeichnungen für „Volk“ bezüglich des am-haarez („Volk des Landes“), der Vollbürger im vorexilischen Judentum, einerseits, des Demos in Tyros, Sidon und Karthago im 3./2. Jahrhundert v. Chr. andererseits, als Indiz galten; vgl. Slousch, Nahum, Representative Government among the Hebrews and Phoenicians, in: Jewish Quarterly Review, n.s., vol. 4, 1913/14, S. 303–310.
In Israel wurde Juda ein Stadtstaat: aber die Sekenim (Ältesten), die in der Frühzeit als Häupter der patrizischen Sippen in den Städten die Verwaltung leiteten, traten unter der Königsherrschaft zurück; die Gibborim (Ritter) wurden königliche Gefolgsleute und Soldaten, und gerade in den großen Städten regierten, im Gegensatz zum Lande, die königlichen Sarim (Beamten).
97
Zu den sekenim und sarim vgl. oben, S. 87 f.; daß unter den gibborim im Regelfall nicht alle Wehrfähigen, sondern nur die „ökonomisch kraft ihres ererbten Besitzes zur vollwertigen Selbstequipierung fähigen“ Sippen zu verstehen sind, begründet Weber in: Judentum I, S. 71 f. (MWG I/21).
Erst nach dem Exil taucht die „Gemeinde“ (kahal)
b
A: (kabel)
oder „Genossenschaft“ (cheber) auf konfessioneller Grundlage als Institution auf, aber unter der Herrschaft der Priestergeschlechter.
98
Mit der von Esra und Nehemia durchgeführten Reorganisation der (Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr.) aus dem babylonischen Exil nach Judäa zurückgekehrten Juden war eine strikte Abgrenzung von allen Gruppen (wie den Samaritanern) verbunden, die sich nicht an das jüdische Gesetz mit seinen Ritualvorschriften und dem Verbot von Mischehen mit Nichtjuden hielten; vgl. die ausführlicheren Darlegungen Webers in: Judentum I, S. 133 (MWG I/21) und Judentum VI, S. 576 f. (MWG I/21).
Immerhin finden sich hier, am Mittelmeerrande und am Euphrat, erstmalig wirkliche Analogien der antiken Polis; etwa in dem Stadi[94]um, in welchem Rom sich zur Zeit der Rezeption der Gens Claudia
99
[94] Die gens Claudia ist nach römischer Tradition unter ihrem Ahnherrn Atta Clausus aus dem Sabinerland kurz nach Gründung der Republik, um 504 v. Chr., nach Rom eingewandert und dort sogleich in den Kreis des Patriciats aufgenommen worden; Livius 2, 16, 4 f.; 4, 14, 3; Dionysios von Halikarnaß, Antiquitates Romanae 5, 40, 3–5; Plutarch, Publicola 21,2–6; Sueton, Tiberius 1.
befand. Immer herrscht ein stadtsässiges Patriziat, dessen Macht auf primär im Handel erworbenen und sekundär in Grundbesitz und persönlichen Schuldsklaven und in Sklaven angelegten Geldvermögen, militärisch auf kriegerischer Ausbildung im Ritterkampf ruhte, oft untereinander in Fehde, dagegen interlokal verbreitet und verbündet, mit einem König als primus inter pares, oder mit Schofeten oder Sekenim – wie der römische Adel mit Konsuln
100
Die römische Tradition führte die Einrichtung des Consulats, des Jahresamts zweier gleichberechtigter Magistrate als Träger der höchsten Staatsgewalt einschließlich des militärischen Kommandos, auf den Anfang der Republik zurück (Livius 2, 1, 1).
– an der Spitze
101
Das Buch der Richter faßt unter schofetim sowohl militärische Führer, die Israel aus höchster Not erretteten, wie auch Richter im engeren Sinne, Weber stellt die militärische Führungsfunktion heraus. Eine ausführlichere Darlegung seiner Position, auch gegenüber den Forschungskontroversen in der alttestamentlichen Wissenschaft seiner Zeit, findet sich in: Judentum II, S. 354 ff. (MWG I/21). – Als Richter (Schofeten, Sufeten) werden auch Obermagistrate in phönikischen Städten wie Tyros (vorübergehend Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr.; Josephus, Contra Apionem 1, 21, 157) und namentlich in Karthago bezeichnet; auf die karthagischen Magistrate, die meistens zu zweit im Amt waren, paßt am besten die Parallele zum römischen Consulat; vgl. Livius 30, 7, 5.
und bedroht durch die Tyrannis von charismatischen Kriegshelden, welche sich auf geworbene Leibwachen (Abimelech, Jephthah, David) stützen.
102
Zu Abimelech vgl. oben, S. 78 mit Anm. 51; Jephthah hatte zunächst als Bandenführer außerhalb des Landes gelebt, wurde dann zum Kampf gegen die Ammoniter zurückgerufen und zum Richter bestellt (Richter 11). Zu den Söldnertrupps vgl. Richter 9, 4 (Abimelech); Richter 11, 3 (Jephthah); 1. Samuel 22, 2; 2. Samuel 23, 8–39 und 1. Chronik 11, 10–12, 40 (David). Nachdem Davids Erfolge im Kampf mit den Philistern (Goliath-Legende) zur Rivalität mit König Saul geführt hatten, begab sich David als Führer eines Söldnertrupps in die Dienste eines Philisterkönigs (1. Samuel 27, 2); nach seiner Wahl zum König von Israel und Juda eroberte er Jerusalem mit seinem Söldneraufgebot (2. Samuel 5, 6 f.); ein Teil der fremden Söldner („Krethi und Plethi“) bildete hinfort die Leibwache Davids (2. Samuel 8, 18; 2. Samuel 15, 18; 2. Samuel 20, 7).
Dies Stadium ist vor der hellenistischen Zeit nirgends, oder doch nie dauernd, überschritten.
Es herrschte offenbar auch in den Städten der arabischen Küste zur Zeit Muhammeds und blieb in den islamischen Städten bestehen, wo nicht, wie in den eigentlichen Großstaaten, die Autonomie der Städte und ihr Patriziat völlig vernichtet wurde. Sehr vielfach scheint freilich unter islamischer Herrschaft der antik-orientalische [95]Zustand fortbestanden zu haben. Es findet [A 643]sich dann ein labiles Autonomieverhältnis der Stadtgeschlechter gegenüber den fürstlichen Beamten. Der auf Teilnahme an den städtischen Erwerbschancen ruhende, meist in Grundbesitz und Sklaven angelegte Reichtum der stadtsässigen Geschlechter war dabei Träger ihrer Machtstellung, mit welcher die Fürsten und ihre Beamten auch ohne alle formalrechtliche Anerkennung hier für die Durchführbarkeit ihrer Anordnungen oft ebenso rechnen mußten
c
[95]A: mußten,
wie der chinesische Taotai mit der Obstruktion der Sippenältesten der Dörfer und der Kaufmannskorporationen und anderer Berufsverbände der Städte.
103
[95] Vgl. oben, S. 88, sowie die Ausführungen Webers in: Konfuzianismus, MWG I/19, S. 259, 265 und 326.
Die „Stadt“ aber war dabei im allgemeinen keineswegs notwendig zu einem in irgendeinem Sinn selbständigen Verband zusammengeschlossen. Oft das Gegenteil. Nehmen wir ein Beispiel. Die arabischen Städte, etwa Mekka, zeigen noch im Mittelalter und bis an die Schwelle der Gegenwart das typische Bild einer Geschlechtersiedelung. Die Stadt Mekka war, wie Snouck Hurgronjes
d
A: Hargronjes
anschauliche Darstellung zeigt,
104
Snouck Hurgronje, Mekka, ist eine Geschichte der Stadt vom 7. bis zum 19. Jahrhundert.
umgeben von den „Bilad“: grundherrlichem
e
A: grundherrlichen
, von Bauern, Klienten und im Schutzverhältnis stehenden Beduinen besetzten Bodenbesitz der einzelnen „Dewi“
f
A: „Dewis“
, der von Ali abstammenden hasanidischen
g
A: husianidischen
und anderen adligen Sippen.
105
Ali ibn Abi Talib (um 600–24.1.661) war der vierte Kalif (seit 656). Er war der Vetter und Schwiegersohn des Propheten Mohammed, mit dessen Tochter Fatima er verheiratet war. Sein Sohn Hasan (625–669) wurde der fünfte Kalif im Jahre 661, nachdem sein Vater einem Attentat erlegen war. Er dankte bereits ein halbes Jahr später zugunsten des Gegenkalifen Muawija aus der Dynastie der Umayyaden ab.
Die Bilad
h
A: Bilads
lagen im Gemenge. „Dewi“ war jede Sippe, von der ein Ahn einmal „Scherif“ war.
106
Nach Snouck Hurgronje, Mekka, S. 112, ist die Bezeichnung „Dewi“ im 14. Jahrhundert aufgekommen.
Der Scherif seinerseits
107
Gemeint ist das aus dem Kreis der Scherifenfamilien (die als Nachkommen Mohammeds galten) bestimmte Stadthaupt von Mekka, der „Groß-Scherif“.
gehörte seit 1200 durchweg der alidischen
i
A: atidischen
Familie Katadas
j
A: Kahasas
108
Katada hatte seine Herrschaft über Mekka zwischen 1201 und 1203 begründet; Snouck Hurgronje, Mekka, S. 73 f.
an, sollte nach dem offiziellen Recht vom Statthalter [96]des Khalifen (der oft ein Unfreier, unter Harun al Raschid einmal ein Berbersklave war)
109
[96] Nach Snouck Hurgronje, Mekka, S. 42, ernannte Harun al Raschid (Kalif von 786 bis 809) einen „freigelassenenen Berbersklaven“ zum Gouverneur von Mekka.
eingesetzt werden, wurde aber tatsächlich aus der qualifizierten Familie durch Wahl der in Mekka ansässigen Häupter der Dewi
k
[96]A: Diras
bestimmt. Deshalb und weil der Wohnsitz in Mekka Gelegenheit zur Teilnahme an der Ausbeutung der Pilger bot, wohnten die Sippenhäupter (Emire) in der Stadt. Zwischen ihnen bestanden jeweils „Verbindungen“, d. h. Einverständnisse über die Wahrung des Friedens und den Teilungsschlüssel für jene Gewinnchancen.
110
Webers Skizze der auf den Abmachungen („Verbindungen“) der führenden Familien mit dem Großscherif beruhenden Besitz- und Machtverhältnisse stützt sich auf Snouck Hurgronje, Mekka, S. 112–118.
Aber diese Verbindungen waren jederzeit kündbar, und ihre Aufsagung bedeutete den Beginn der Fehde außerhalb wie innerhalb der Stadt, zu welcher sie sich ihrer Sklaventruppen bedienten. [WuG1 526]Die jeweils Unterlegenen hatten die Stadt zu meiden, doch galt, infolge der trotzdem bestehenden Interessengemeinschaft der feindlichen Geschlechter gegenüber den Außenstehenden, die bei Strafe allgemeiner Empörung auch der eigenen Anhänger festgehaltene Courtoisie: die Güter und [A 644]das Leben der Familien und die Klienten der Verbannten zu schonen. In der Stadt Mekka bestanden in der Neuzeit als offizielle Autoritäten: 1. nur auf dem Papier der von den Türken eingerichtete kollegiale Verwaltungsrat (Medschlis),
111
Das Gremium gab es seit 1869; Snouck Hurgronje, Mekka, S. 171 f.
– 2. als eine effektive Autorität: der türkische Gouverneur;
l
A: Gouverneur:
er vertrat jetzt die Stelle des „Schutzherrn“ (früher meist: der Herrscher von Ägypten),
112
Seit ca. 1840 residierte in Mekka ein Gouverneur der Hohen Pforte anstelle eines Repräsentanten des ägyptischen Vizekönigs; Snouck Hurgronje, Mekka, S. 161–163.
– 3. die 4 Kadis der orthodoxen Riten, stets vornehme Mekkaner, der vornehmste (schafiitische)
m
A: (schofiitische)
jahrhundertelang aus einer Familie, vom Scherif entweder ernannt oder vom Schutzherrn vorgeschlagen,
113
Gemeint sind die Vertreter der vier sunnitischen Rechtsschulen. Die in Mekka vorherrschende schafiitische Schule war von Asch-Schafii (767–820) gegründet worden, der in Bagdad und zuletzt in Ägypten gelehrt hatte.
– 4. der Scherif, zugleich Haupt der städtischen Adelskorporation, – 5. die Zünfte, vor allem die Fremdenführer, daneben der Fleischer, Getreide[97]händler und andere, – 6. die Stadtviertel mit ihren Ältesten.
114
[97] Entweder ist die Formulierung, die die „Fremdenführer“ zu den „Zünften“ zu zählen scheint, mißverständlich oder der Text ist verderbt. Gemeint sind wohl die Vorsteher der Fremdenkolonien, die neben denjenigen der Zünfte und der Stadtviertel standen, wie aus Snouck Hurgronje, Mekka, S. 187, hervorgeht: „Dann kamen die verschiedenen Zünfte mit den von ihren Mitgliedern gewählten Zunftmeistern, die Fremdenkolonien, die sofern sie etwas bedeuteten, auch ihre eigenen Häupter hatten, die Stadtviertel, deren Pöbel je ein geschlossenes Ganze unter Führung eines ,Schech des Viertels‘ bildete; kurz die ganze Stadt zerfiel in Korporationen […]“. Unter den Zünften spielten die der Fleischer und der Getreidehändler eine herausragende Rolle; Snouck Hurgronje, Mekka, S. 46.
Diese Autoritäten konkurrierten mannigfach miteinander ohne feste Kompetenzen. Eine klagende Prozeßpartei suchte
n
[97]A: sucht
sich die Autorität aus, welche ihr am günstigsten und deren Macht gegenüber dem Verklagten am durchgreifendsten schien. Der Statthalter konnte die Anrufung des mit ihm in allen Sachen, wo geistliches Recht involviert war, konkurrierenden Kadi nicht hindern. Der Scherif galt dem Einheimischen als die eigentliche Autorität; auf seine Gutwilligkeit war der Gouverneur speziell bei allem, was die Beduinen und die Pilgerkarawanen anging, schlechthin angewiesen, und die Korporation des Adels war hier wie in anderen arabischen Gebieten speziell in den Städten ausschlaggebend.
115
Die Konkurrenz zwischen den Autoritäten schildert Snouck Hurgronje, Mekka, S. 182–186.
Eine an okzidentale Verhältnisse erinnernde Entwicklung zeigt sich darin, daß im 9. Jahrhundert, beim Kampf der Tuluniden und Saffariden in Mekka, die Stellungnahme der reichsten Zünfte: der Fleischer- und der
o
Fehlt in A; der sinngemäß ergänzt.
Getreidehändlerzunft, ausschlaggebend wurde,
116
Die Tuluniden, benannt nach Ahmad ibn Tulun (835–884), einem Offizier türkischer Herkunft, der als Gouverneur des Kalifen dessen Oberherrschaft abgeschüttelt hatte, regierten 868–905 in Ägypten. Yaqub as-Saffar hatte zur gleichen Zeit (867–897) eine ebenfalls vom Kalifat in Bagdad unabhängige Herrschaft in Sistan (im heutigen südlichen Afghanistan) errichtet; die Saffariden-Dynastie herrschte (seit Ende des 9. Jahrhunderts auch im größten Teil des Iran) bis 911. Angesichts der Schwäche des Kalifats kam es, wie Snouck Hurgronje, Mekka, S. 45 f., darstellt, bei Pilgerfahrten (u. a. im Jahre 883) zu Zusammenstößen zwischen Repräsentanten der Tuluniden und der Saffariden, die jeweils den Vorrang beanspruchten.
während noch zu Muhammeds Zeit unbedingt nur die Stellungnahme der vornehmen koreischitischen Geschlechter
117
Der Stamm der Koreischiten stellte die sozial und wirtschaftlich führenden Familien Mekkas. Mohammed, der aus einem bedeutungslos gewordenen Zweig dieser Familie stammte, stieß auf ihren erbitterten Widerstand. Der Sieg des Islam bedeutete das Ende ihrer politischen Vorherrschaft.
militärisch und politisch in Βe[98]tracht gekommen wäre. Aber ein Zunftregiment ist nie entstanden; die aus den Gewinstanteilen der stadtsässigen Geschlechter gespeisten Sklaventruppen haben jenen wohl immer wieder die ausschlaggebende Stellung gesichert, ähnlich wie auch im Okzident im Mittelalter die faktische Macht in den italienischen Städten immer wieder in die Hände der ritterlichen Geschlechter als der
p
[98]A: die
Träger der militärischen Macht zu gleiten die Tendenz hatte. Jeglicher, die Stadt zu einer korporativen Einheit zusammenschließende Verband fehlte in Mekka, und darin liegt der charakteristische Unter[A 645]schied gegen die synoikisierten Poleis des Altertums sowohl wie das
q
A: des
„commune“ schon des frühen italienischen Mittelalters. Aber im übrigen haben wir allen Anlaß,
r
In A folgt: uns
diese arabischen Zustände – wenn man die vorigen spezifisch islamischen Züge fortläßt oder ins Christliche transponiert – als durchaus und für die Zeit vor der Entstehung des Gemeindeverbandes als so gut wie völlig typisch auch für andere, speziell die okzidentalen Seehandelsstädte anzusehen.
Soweit die gesicherte Kenntnis asiatischer und orientalischer Siedelungen, welche ökonomischen Stadtcharakter trugen, reicht, war jedenfalls der normale Zustand der: daß nur die Geschlechtersippen und eventuell neben ihnen die Berufsverbände, nicht aber Stadtbürgerschaften als solche, Träger eines Verbandshandelns
s
A: Verbandhandelns
sind. Natürlich sind die Übergänge auch hier flüssige. Aber gerade die allergrößten, Hunderttausende und zuweilen Millionen von Einwohnern umfassenden
t
A: umfassende
, Siedelungszentren zeigen diese Erscheinung. Im mittelalterlichen byzantinischen Konstantinopel sind die Vertreter der Stadtviertel, die zugleich (wie noch in Siena die Pferderennen)
118
[98] Vgl. oben, S. 81.
die Zirkusrennen finanzierten, die Träger der Parteiungen:
119
Weber impliziert hier, daß die „Zirkusparteien“, d. h. die professionellen Betreiber von Rennställen und Organisatoren der Wagenrennen samt ihren Anhängerschaften (die – wie auch in den anderen großen Städten des Römischen Reiches – nach den Farben ihrer Vereinsabzeichen als die „Blauen“, „Grünen“, „Roten“ und „Weißen“ bezeichnet wurden), mit der politisch-militärischen Organisation der Stadtviertel Konstantinopels zusammenhängen. Diese These findet sich in der zeitgenössischen Forschung bei K[urtz], E., [deutsches Resümee von:] Th. Uspenskij, Die Parteien des Zirkus und die Demen in Konstanti[99]nopel. Viz. Vremennik I (1894) 1–16, in: Byzantinische Zeitschrift, Band 4, 1895, S. 208 f.; Bury, J[ohn] B., Appendix 10 in seiner Ausgabe von Gibbon, Edward, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, vol. 4, 4. ed. – London: Methuen [1911], S. 531 f. Die Organisation der Zirkusparteien findet sich noch in mittelbyzantinischer Zeit (6.– 12. Jahrhundert); dazu Wilken, [Friedrich], Über die Partheyen der Rennbahn, vornehmlich im Byzantinischen Kaiserthum, in: Abhandlungen der historisch-philologischen Klasse der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1827, S. 217–243, hier S. 234 ff.
der Nika-Aufstand unter Justinian entstammte die[99]ser lokalen Spaltung der Stadt.
120
Der Aufstand ist benannt nach dem Zirkusaufruf, „nika“ = „siege!“, der zugleich zum Schlachtruf des im Hippodrom beginnenden Aufstands des Jahres 532 wurde. Nach Strafmaßnahmen des Stadtpräfekten wegen vorausgegangener Zuschauerausschreitungen forderten die dominierenden Zirkusparteien der Blauen und Grünen, die im Regelfall heftig rivalisierten, hier gemeinsam die Freilassung von verurteilten Anhängern beider Seiten. Als dies abgelehnt wurde, kam es zu einem gewaltigen Aufstand über mehrere Tage (13. bis 18. Januar), der sich schließlich gegen den Kaiser Justinian selbst richtete. Dessen Feldherr Belisar schlug ihn mit seinen Truppen brutal nieder. Die Brandstiftungen der Aufrührer zerstörten große Teile der Stadt, die Niederwerfung des Aufstands durch Belisar soll über 30 000 Todesopfer gekostet haben. Eine Zusammenstellung der Quellen in Übersetzung bietet Unger, Friedrich W., Quellen der byzantinischen Kirchengeschichte, Band 1 (Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance, Band 12). – Wien: Braumüller 1878, S. 82–86; vgl. auch die Analyse der Quellen bei Bury, J[ohn] B., The Nika Riot, in: Journal of Hellenic Studies, vol. 17, 1897, S. 92–119. Eine berühmte Schilderung der Ereignisse findet sich in Kapitel 40 von Gibbons „History of the Decline and Fall of the Roman Empire“.
Auch in dem Konstantinopel des islamischen Mittelalters – also bis in das 19. Jahrhundert – finden sich neben den rein militärischen Verbänden der Janitscharen
121
Die Janitscharen waren die im 14. Jahrhundert gebildete Kerntruppe der osmanischen Sultane. Sie rekrutierten sich aus in den christlichen Balkanprovinzen ausgehobenen und dann islamisch erzogenen Jugendlichen, die zum lebenslangen Dienst verpflichtet wurden. Weil sich die Janitscharen zu einem eigenständigen Machtfaktor im Staate entwickelt hatten, wurde die Truppe 1826 im Zuge der Heeresreform aufgelöst.
und der Sipahi
u
[99]A: Sipotis
122
„Sipahi“ ist die mit Landbesitz als Pfründen ausgestattete Reiterei im seldschukischen und osmanischen Reich; vgl. WuG1, S. 729 (MWG I/22-4).
und den religiösen Organisationen der Ulema
v
A: Ulemas ; vgl. Anm. 123.
und der Derwische
123
Ulema oder ulama (arab.: Gelehrte: Singular: „alim“) sind die Vertreter der theologischen Gelehrsamkeit und der Rechtsprechung im Islam. Derwische sind Angehörige von Orden mit strengen Lebensregeln, die seit dem 12. Jahrhundert aus der islamischen Mystik (Sufismus) hervorgegangen sind. Ihr besonderes Kennzeichen sind die ekstatischen, mit Musik und Tanz verbundenen Riten.
nur Kaufmannsgilden und -zünfte als Vertreter bürgerlicher Interessen, aber keine Stadtvertretung. Das war schon in dem spätbyzantinischen Alexandrien insofern ähnlich, als neben den [WuG1 527]konkurrierenden Gewalten des auf die sehr handfesten [100]Mönche gestützten Patriarchen und des auf die kleine Garnison gestützten Statthalters offenbar nur Milizen der einzelnen Stadtviertel existierten, innerhalb derer
w
[100]A: denen
die Zirkusparteien der rivalisierenden „Grünen“ und „Blauen“ die führenden Organisationen darstellten.
124
[100] Gemeint sind die Unruhen nach der Übernahme des Patriarchats durch Kyrill im Jahre 412. Der Patriarch terrorisierte die alexandrinischen Juden und ging gegen den kaiserlichen Präfekten, der zu intervenieren versuchte, mit der Unterstützung fanatischer Mönche vor, die schließlich nur durch den Einsatz der Stadtmilizen bzw. Zirkusparteien (zu deren Benennung nach Vereinsfarben vgl. oben, S. 98, Anm. 119) aus der Stadt vertrieben werden konnten; vgl. dazu sowie zu einigen späteren Vorfällen, in die die Zirkusparteien involviert waren, Geizer, Matthias, Studien zur byzantinischen Verwaltung Ägyptens (Leipziger Historische Abhandlungen, Heft 13). – Leipzig: Quelle & Meyer 1909, S. 17–19. – Die Zeitangabe „spätbyzantinisch“ – die auf das Byzantinische Reich bezogen die Zeit des 13.-15. Jahrhunderts bezeichnet – ist mißverständlich, da die byzantinische Herrschaft über Alexandria mit der Einnahme der Stadt durch die Araber 642 beendet wurde.

II. Die Stadt des Okzidents.

Im auffallendsten Gegensatz namentlich zu den asiatischen Zuständen stand nun die Stadt des mittelalterlichen Okzidents, und zwar ganz speziell die Stadt des Gebiets nördlich der Alpen da, wo sie in idealtypischer Reinheit entwickelt war. Sie war ein [A 646]Marktort
a
A: Marktort,
wie die asiatische und orientalische Stadt, Sitz von Handel und Gewerbe
b
A: Gewerbe,
wie jene, Festung wie jene. Kaufmannsgilden und Handwerkerzünfte fanden sich hier wie dort, und daß diese autonome Satzungen für ihre Mitglieder schufen, war durch die ganze Welt, nur gradweise verschieden, verbreitet. Ebenso enthielt die antike wie die mittelalterliche Stadt des Okzidents – in letzterer allerdings mit einigen später zu machenden Vorbehalten
1
Siehe unten, S. 230 f.
– in sich Fronhöfe
2
„Fronhof“ meint im eigentlichen Sinne, d. h. bezogen auf die frühmittelalterliche Grundherrschaft, den vom Grundherrn selbst bewirtschafteten Herrenhof innerhalb eines Fronhofverbandes (Villikation). Ihm waren Bauern zugeordnet, die Frondienste verrichten mußten.
und Sitze von Geschlechtern mit außerstädtischem grundherrlichen und daneben oft mit großem städtischen Bodenbesitz, der aus den Erträgnissen der Teilnahme der Geschlechter an den
c
in A folgt: städtischen
Gewinnchan[101]cen der Stadt vergrößert wurde. Ebenso kannte die okzidentale Stadt des Mittelalters überwiegend Schutzherren und Beamte eines politischen Herrn, welche in ihren Mauern Befugnisse verschiedenen Umfangs ausübten. Ebenso wich hier, wie fast in der ganzen Welt, das Recht, welches für Hausgrundstücke galt, von dem des landwirtschaftlichen Bodens natürlich irgendwie ab. Aber wenigstens für die mittelalterliche Stadt des Okzidents war der Unterschied des Bodenrechts ein, von Übergangserscheinungen abgesehen, kaum je fehlendes Essentiale: prinzipiell frei veräußerliches, ganz zinsfreies oder nur mit festem Zins belastetes vererbliches Bodeneigentum in der Stadt, in der mannigfachsten Weise grundherrliches oder der Dorf- oder Markgemeinde
d
[101]A: Marktgemeinde ; vgl. Anm. 3.
3
[101] Da im Text von „gebundenem Bauernland“ die Rede ist, meint Weber offensichtlich „Markgemeinde“ und nicht, wie im überlieferten Text, „Marktgemeinde“. Er ging von der Vorstellung einer kollektiven Landnahme germanischer Bauern aus, die als „Markgenossen“ ihr Land als Gemeineigentum behandelten und genossenschaftlich nutzten. Für seine auf Meitzen zurückgehende Vorstellung vgl. Weber, Altgermanische Sozialverfassung, hier speziell S. 464 (MWG I/6).
gegenüber oder nach beiden Richtungen gebundenes Bauernland draußen. Das war in Asien und in der Antike nicht in gleicher Regelmäßigkeit der Fall. Diesem immerhin nur relativen Gegensatz des Bodenrechts entsprach aber ein absoluter Gegensatz der persönlichen Rechtslage.
Überall, im frühen Mittelalter, der Antike, dem vorderasiatischen und dem ferneren Osten war die Stadt eine durch Zuzug und Zusammenfluß von außen entstandene und, bei den sanitären Verhältnissen der Unterschichten, nur durch fortwährend neuen Zustrom vom Lande sich erhaltende Zusammensiedelung. Überall enthält sie daher Elemente gänzlich verschiedener ständischer Stellung. Examinierte Amtsanwärter und Mandarinen neben den als Banausen verachteten Illiteraten und den (wenigen) unreinen Berufen in Ostasien, alle Arten von Kasten in Indien, sippenmäßig organisierte Geschlechtergenossen neben landlosen Handwerkern in Vorderasien und der Antike, Freigelassene, Hörige und Sklaven neben adeligen Grundherren [A 647]und deren Hofbeamten und Dienstleuten, Ministerialen oder Soldkriegern, Priestern und Mönchen in der frühmittelalterlichen Stadt. Herrenhöfe aller Art konnten in der Stadt liegen oder auch das Stadtgebiet als Ganzes zur Grundherrschaft [102]eines Herrn gehören, innerhalb der Stadt selbst Reparatur und Bewachung der Mauern einer Schicht von Burgmannen oder anderen durch Burglehen
4
[102] Mit dem Begriff „Burglehen“ (feudum castrense) werden Nutzungsrechte an Gütern (in manchen Fällen auch an der Burg selbst) bezeichnet, mit welchen ein Stadtherr seine Burgmannen für ihre Schutz- und Wachdienste belehnte.
oder andere Rechte Privilegierten anvertraut sein. Die schärfsten ständischen Unterschiede gliederten [WuG1 528]namentlich die Stadtinsassen der mittelländischen Antike. In geringem Maße aber auch noch die des frühen Mittelalters und ebenso Rußlands bis an die Schwelle der Gegenwart, auch noch nach der Aufhebung der Leibeigenschaft: der aus Dörfern stammende Stadtinsasse war dem Dorfe schollenpflichtig und konnte vom Mir durch Entziehung des Passes zur Rückkehr genötigt werden.
5
Die Aufhebung der Leibeigenschaft erfolgte 1861. Ein von der Gemeinde auszustellender Paß wurde weiterhin benötigt, um den Heimatbezirk verlassen zu können; vgl. Weber, Rußlands Lage, MWG I/10, S. 199 mit Erläuterung, sowie Simkhowitsch, „Mir“ (wie oben, S. 87, Anm. 77), S. 725.
Freilich weist die sonstige, außerstädtische, ständische Schichtung innerhalb der Stadt fast überall gewisse Modifikationen auf. In Indien so, daß die Entstehung bestimmter spezifisch städtischer Verrichtungen auch die Bildung von Kasten zur Folge haben mußte, welche also der Tatsache, wenn auch nicht dem Recht nach, den Städten spezifisch waren. In Vorderasien, der Antike, dem frühen Mittelalter und in Rußland vor der Leibeigenenbefreiung vor allem so: daß die breiten Schichten der stadtsässigen Unfreien oder Hörigen in der Stadt faktisch, wenn auch zunächst nicht rechtlich, ihrem Herrn nur einen Zins zahlten, im übrigen aber eine der Tatsache nach ökonomisch selbständige Kleinbürgerklasse darstellten bzw. diese mit den rechtlich freien Kleinbürgern gemeinsam bildeten. Der Umstand, daß die Stadt ein Markt war, mit relativ ständiger Gelegenheit durch Handel oder Handwerk Geld zu verdienen, veranlaßte eben zahlreiche Herren, ihre Sklaven und Hörigen nicht im eigenen Haus oder Betrieb als Arbeitskräfte, sondern als Rentenfonds auszunützen, sie also als Handwerker oder Kleinhändler anzulernen und dann, eventuell (so in der Antike) mit Betriebsmitteln ausgestattet, gegen Leibzins in der Stadt dem Erwerb nachgehen zu lassen. Bei öffentlichen Bauten Athens finden wir daher Sklaven und Freie in der gleichen Akkordgruppe gegen Lohn engagiert.
6
Weber bezieht sich hier auf die detaillierten Abrechnungen der Bauarbeiten am Erechtheion (dem Neubau des Heiligtums der Athena und des Erechtheus auf der Akro[103]polis) aus den Jahren 409–407 v. Chr., die zeigen, daß für die (zumeist spezialisierten) Handwerker die Löhne (nach Akkordleistung, in anderen Fällen pro Tag) ohne Unterschiede bezüglich des Status als Freie oder Sklaven gezahlt wurden. Seine hier formulierte Annahme, es habe sich um selbständig arbeitende Sklaven gehandelt, die ihren Herren nur eine feste Abgabe zahlen mußten, ist jedoch nicht zwingend. Wie Weber selbst in: Agrarverhältnisse3, S. 117 f. (MWG I/6), festgestellt hatte, könnte der Lohn auch an die Besitzer gezahlt worden sein. Die Inschriften sind publiziert in: Corpus Inscriptionum Atticarum, vol. 1: Inscriptiones Atticae Euclidis anno vetustiores, ed. Adolphus Kirchhoff. – Berlin: Georg Reimer 1873, Nr. 321 und 324, und vol. 4, 1: Supplementa, S. 75 und 149; eine deutsche Übersetzung findet sich bei Huch, Gregor, Die Organisation der öffentlichen Arbeit im griechischen Altertume. – Frankenstein: Franz Huch 1903 [= 1. Teil der Diss. Leipzig 1901].
Freie und unfreie, als [103]Institoren
7
Ein Institor ist ein vom Eigentümer eingesetzter Verwalter eines Gewerbe- oder Handelsbetriebes, der nach römischem Recht für den Eigentümer verbindliche Geschäfte tätigen konnte.
des Herrn oder mit „merx peculiaris“
8
Handelsware (merx), die mittels eines peculium (d. h. eines einem Gewaltunterworfenen von seinem Herrn zur Ausübung eigener Geschäftstätigkeit überlassenen Sondervermögens) erworben wurde.
faktisch ganz selbständig schaltende Kleinbürger stehen im Gewerbe und Kleinhandel der Römerzeit nebeneinander, gehören den gleichen Mysteriengemeinden an.
9
Mysterienkulte versprachen den in ihre geheimen Riten Eingeweihten Erlösung und Heil in einer jenseitigen Welt. Solche Kulte orientalischer Provenienz (v.a. Attis-Kybele, Isis-Osiris und Mithras) fanden seit der späten Republik im Römischen Reich gerade bei den Unterschichten, einschließlich der Sklaven, große Resonanz; vgl. u. a. Liebenam, W[ilhelm], Zur Geschichte und Organisation des römischen Vereinswesens. Drei Untersuchungen. – Leipzig: B. G. Teubner 1890, v.a. S. 173 und 295 f. (hinfort: Liebenam, Vereinswesen); Cumont, Franz, Die Mysterien des Mithra. Ein Beitrag zur Religionsgeschichte der römischen Kaiserzeit, autorisierte deutsche Ausgabe von Georg Gehrich. – Leipzig: B. G. Teubner 1903, S. 51–62; Schweitzer, Albert, Geschichte der Paulinischen Forschung von der Reformation bis auf die Gegenwart. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1911, S. 141–184.
Die Chance, sich frei[A 648]kaufen zu können, steigerte die ökonomische Leistung speziell der unfreien Kleinbürger, und es ist daher kein Zufall, daß in der Antike und in Rußland gerade in den Händen von Freigelassenen sich ein großer Teil der ersten, durch rationalen Dauerbetrieb gewerblicher oder kommerzieller Art erworbenen Vermögen ansammelte. Die okzidentale Stadt war so schon in der Antike wie in Rußland
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Beispiele von solchen Aufsteigern sind v.a. aus Ivanovo (vgl. oben, S. 60, Anm. 3) im 18. und 19. Jahrhundert bekannt; der Ort gehörte bis 1861 zum Besitz der Grafen Scheremetjeff; vgl. Schulze-Gävernitz, Gerhart v[on], Volkswirtschaftliche Studien aus Rußland. – Leipzig: Duncker & Humblot 1899, S. 24 f. Da die ökonomischen Aktivitäten v.a. in den „Gewerbedörfern“ stattfanden, ist Webers Aussage, „die Stadt“ sei der Ort des Aufstiegs aus der Unfreiheit, für die russischen Verhältnisse problematisch; vgl. unten, Anm. 11.
ein Ort des Auf[104]stiegs aus der Unfreiheit in die Freiheit durch das Mittel geldwirtschaftlichen Erwerbs. Noch wesentlich stärker nun gilt das gleiche für die mittelalterliche Stadt, zumal die Binnenstadt, und zwar je länger desto mehr. Denn hier verfolgte, im Unterschied von fast allen andern uns bekannten Entwicklungen, die Bürgerschaft der Städte in aller Regel ganz bewußt eine darauf gerichtete Ständepolitik. Bei reichlichem Erwerbsspielraum bestand in der Frühzeit dieser Städte ein gemeinsames Interesse ihrer Insassen an der Ausnutzung derselben zwecks Erweiterung der Absatz- und Erwerbschancen jedes einzelnen durch Erleichterung des Zuzugs von außen und deshalb auch ein solidarisches Interesse daran, daß nicht jeder soeben in der Stadt wohlhabend gewordene Hörige von seinem Herrn – wie es von seiten schlesischer Adeligen noch im 18., von russischen noch im 19. Jahrhundert mehrfach geschehen ist – etwa zu Hausknechts- oder Stalldiensten requiriert wurde, sei es auch nur, um so ein Loskaufsgeld von ihm zu erpressen.
11
[104] Nach dem bis 1807 in Schlesien geltenden Recht der Erbuntertänigkeit mußte derjenige Untertan, der eine Stellung außerhalb seines Heimatdorfes antreten wollte, seinem Grundherrn für die Erlaubnis ein jährliches Schutzgeld zahlen; wer auf Dauer an einen anderen Ort übersiedeln und damit aus dem Untertanenverband seines Geburtsorts ausscheiden wollte, hatte (nach einem preußischen Edikt von 1748) ein Loskaufgeld in Höhe von 10 % seines Vermögens zu zahlen; mit einem Edikt von 1799 wurde die Schutzgeldzahlung nur noch für wenige Fälle zugelassen; vgl. Knapp, G[eorg] F. und Kern, A[rthur], Die ländliche Verfassung Niederschlesiens, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Neue Folge, 19. Jg., 1895, S. 69–93, hier S. 87; Dessmann, Günter, Geschichte der schlesischen Agrarverfassung (Abhandlungen aus dem staatswissenschaftlichen Seminar zu Strassburg, Heft 19). – Strassburg: Karl J. Trübner 1904, S. 108–113 und 119–128. Lukrativ waren diese Regelungen vor allem für Grundherren in den niederschlesischen Gebirgsregionen, wegen der relativ fortgeschrittenen wirtschaftlichen Entwicklung (Leinenindustrie), der Bevölkerungsdichte und der Häufigkeit des Ortswechsels. – Das (auf das 15. Jahrhundert zurückgehende) System der Leibeigenschaft ist in Rußland im 17. und 18. Jahrhundert weiter ausgebaut worden; es gab einerseits Zehntausende von Fällen, in denen sich Leibeigene ihren Herren entzogen (und entsprechend eine Vielzahl von Erlassen, die die Flucht unterbinden sollten), andererseits die Möglichkeit, daß Leibeigene die Verpflichtung zu Arbeitsdiensten durch die Zahlung einer Geldrente (obrok) an den Herrn ablösten. Viele, so für andere Tätigkeiten freigesetzte Leibeigene (zumal in den Gewerbedörfern, vgl. oben, S. 60, Anm. 3) haben es zu erheblichem Wohlstand gebracht. Sie konnten sich durch eine hohe Ablösesumme (die, je nach Gewerbe und Gebiet schwankend, bis zum Fünfundzwanzigfachen des jährlichen obrok betragen konnte) freikaufen. Die Initiative dazu ist oft von den Leibeigenen selbst ausgegangen. Eine tatsächliche Rückholung zu Frondiensten dürfte dagegen im Regelfall nicht lukrativ gewesen sein. – Auf welche konkreten Beispiele des Verhaltens schlesischer bzw. russischer Adliger sich Weber hier bezieht, konnte nicht ermittelt werden.
Die Stadt[105]bürgerschaft usurpierte daher – und dies war die eine große, der Sache nach revolutionäre Neuerung der mittelalterlich-okzidentalen gegenüber allen anderen Städten – die Durchbrechung des Herrenrechts. In den mittel- und nordeuropäischen
12
[105] Hier und im folgenden meint „nordeuropäisch“ bzw. „Nordeuropa“ anscheinend pauschal „nördlich der Alpen“, jedenfalls nicht Nordeuropa im Sinne von Skandinavien.
Städten entstand der bekannte Grundsatz: „Stadtluft macht frei“,
13
Diese berühmte, nach Rechtssprichwort klingende Formel ist nicht Quellensprache, sondern von der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts geprägt worden, zuerst in der Fassung „die Luft macht frei“ (Gaupp, Ernst Th., Deutsche Stadtrechte des Mittelalters, mit rechtsgeschichtlichen Erläuterungen, Band 1. – Breslau: Josef Max 1851, S. XXXIX); vgl. Brunner, Heinrich, Luft macht frei. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung, in: Festgabe der Berliner juristischen Fakultät für Otto Gierke zum Doktor-Jubiläum 21. August 1910, Band 1: Staatsrecht, Verwaltungsrecht, Kirchenrecht, Lehenrecht. – Breslau: Μ. & H. Marcus 1910, S. 1–46 (hinfort: Brunner, Luft), der auf die Ableitung aus dem älteren Prinzip, „Luft macht eigen“, – d. h. unterstellt den Zuwanderer dem Grund- bzw. Stadtherrn, in dessen Gebiet er sich begibt – hinweist.
– d. h. nach einer verschieden großen, stets aber relativ kurzen Frist verlor der Herr eines Sklaven oder Hörigen das Recht, ihn als Gewaltunterworfenen in Anspruch zu nehmen.
14
Zur Verbreitung des Prinzips in England, Frankreich, Holland, Flandern und Deutschland vgl. Hegel, Städte (wie oben, S. 76, Anm. 39), Band 1, S. 58 f. und 159 f.; Band 2, S. 250, 416, 427 und 507 f.; sowie Brunner, Luft; zum Erlöschen der Herrenrechte meistens nach Jahr und Tag (mitunter auch nach kürzerer Frist) vgl. Rietschel, Siegfried, Die Städtepolitik Heinrichs des Löwen, in: Historische Zeitschrift, Band 102, 1909, S. 237–276, hier S. 267–273.
Der Satz ist in sehr verschiedenem Grade durchgedrungen. Sehr oft mußten sich andererseits Städte zu dem Versprechen bequemen, Unfreie nicht aufzunehmen,
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Verbote, Zuwanderer aufzunehmen, sind im 13. Jahrhundert sowohl durch Reichsgesetzgebung als auch in landesherrlichen Privilegien für einzelne Städte erfolgt; Beispiele finden sich bei Gengler, Heinrich G., Deutsche Stadtrechts-Alterthümer. – Erlangen: Andreas Deichert 1882, S. 428–431; Schütze, Paul, Die Entstehung des Rechtssatzes: Stadtluft macht frei (Historische Studien, Heft 36). – Berlin: E. Ebering 1903, S. 91–96.
und mit Engerwerden des Nahrungsspielraums ist diese Schranke ihnen auch oft willkommen gewesen. Allein als Regel setzte jener Grundsatz sich dennoch durch. Die ständischen Unterschiede schwanden also in der Stadt, wenigstens soweit sie Verschiedenheit von gewöhnlicher Freiheit und Unfreiheit bedeuteten. Andererseits entwickelte sich innerhalb [A 649]zahlreicher, ur[WuG1 529]sprünglich auf politischer Gleichstellung der Ansiedler untereinander und freier Wahl der Stadtbeamten ruhender Stadtansiedelungen im europäischen Norden vielfach eine Honoratiorenschicht: die ständische [106]Differenzierung der kraft ihrer ökonomischen Unabhängigkeit und Macht die Ämter monopolisierenden Ratsgeschlechter gegen die andern Bürger. Und ferner finden wir in zahlreichen, besonders südlichen, aber auch nördlichen reichen Städten (auch deutschen) von Anfang an – wie in der Antike – das Nebeneinander von „Reitern“, Leuten, die einen Stall halten (einen „Rennstall“ würden wir heute sagen, denn an die Turnierzwecke ist dabei gedacht), den „Constaffeln“,
16
[106] Als Constofeln oder Constaffler (von mlat.: comestabulus, Stallmeister) wurden u. a. in Straßburg, Hagenau und Zürich die nicht in Zünften organisierten Bürger der Oberschicht bezeichnet, die mindestens ein Pferd unterhielten, mit dem sie Botendienste verrichten bzw. sich im Kriegsfall an der Verteidigung der Stadt beteiligen konnten. Seit dem 15. Jahrhundert wurde der Begriff zur Kennzeichnung des Patriziats in den genannten Städten verwendet. Vgl. zu Straßburg: Schmoller, Gustav, Strassburg zur Zeit der Zunftkämpfe und die Reform seiner Verfassung und Verwaltung im XV. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker, Band 11). – Strassburg: Karl J. Trübner 1875, S. 14–17 (hinfort: Schmoller, Strassburg); zu Straßburg und Zürich: Hegel, Carl, Zur Stadtverfassung, in: Die Chroniken der oberrheinischen Städte. Straßburg, Band 2 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, Band 9). – Leipzig: S. Hirzel 1871, S. 951–966, hier S. 961 ff.
als einem spezifischen Stadtadel und den gemeinen Bürgern, also: in ständischer Scheidung. Dem aber steht nun eine andere Entwicklung gegenüber, welche die ständische Gemeinsamkeit der Stadtbürger als solchen, galten sie nun als Adel oder Nichtadel, gegenüber dem Adel außerhalb der Stadt steigerte
e
[106]A: steigerten
. Mindestens in Nordeuropa wurde gegen Ende des Mittelalters die Adelsqualität des stadtsässigen, am Erwerb beteiligten und – was vor allem geltend gemacht wurde
17
D.h. von seiten des Landadels, der die Aufnahme von Handwerkern in den Rat (in Deutschland allgemein im 15. Jahrhundert, in einigen Fällen aber schon früher) zum Anlaß der im folgenden Text skizzierten Abgrenzungstendenzen nahm.
– mit den Zünften im Stadtregiment zusammensitzenden Patriziats von seiten des ritterlichen Landadels nicht mehr anerkannt, dem Patriziat also Turnier- und Stiftsfähigkeit, Konnubium und Lebensfähigkeit abgesprochen (die letztere in Deutschland mit den nur zeitweiligen Ausnahmen der privilegierten Reichsstadtbürger).
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Stiftsfähigkeit bedeutete die Möglichkeit, einem Domkapitel anzugehören bzw. in ein Stift aufgenommen werden zu können, dessen Plätze dem Adel vorbehalten waren. Die Anforderungen hinsichtlich der Zahl der nachzuweisenden adligen Ahnen wurden seit dem Spätmittelalter durchweg erhöht; die Kriterien unterschieden sich jedoch weiterhin von Stift zu Stift erheblich: vgl. Rauch, Karl, Stiftsmäßigkeit und Stiftsfähigkeit in ihrer be[107]grifflichen Abgrenzung, in: Festschrift Heinrich Brunner zum siebzigsten Geburtstag. – Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1910, S. 737–760. Adlige Abstammung wurde auch für die Zulassung bei von der Ritterschaft veranstalteten Turnieren gefordert. Einzelne patrizische Familien der Reichsstädte gehörten jedoch weiterhin der Ritterschaft an bzw. verfügten über Ritterlehen; vgl. zu der Abgrenzung zwischen Patriziern und Rittern, zumal seit dem 16. Jahrhundert, Roth von Schreckenstein, C[arl] H., Das Patriziat in den deutschen Städten, besonders Reichsstädten, als Beitrag zur Geschichte der deutschen Städte und des deutschen Adels. – Tübingen: H. Laupp 1856, v.a. S. 509–550.
Von diesen beiden Tendenzen [107]zu einer relativen ständischen Nivellierung und umgekehrt zu einer stärkeren Differenzierung in der Stadt haben im allgemeinen die letzteren das Übergewicht behalten. Am Ende des Mittelalters und bei Beginn der Neuzeit werden fast alle Städte, italienische, englische und französische ebenso wie deutsche, soweit sie nicht – wie in Italien – monarchische Stadtstaaten geworden waren, durch einen Ratspatriziat oder eine Bürgerkorporation beherrscht, welche nach außen exklusiv war, nach innen eine Honoratiorenherrschaft bedeutete, selbst dort, wo aus der Zeit des Zunftregiments die Pflicht für diese Honoratioren, formell einer Zunft zuzugehören, noch fortbestand.
Die Abschneidung der ständischen Zusammenhänge nach außen hin zum außerstädtischen Adel wurde nur in den Stadtkorporationen Nordeuropas ziemlich rein durchgeführt, während im Süden, zumal in Italien, umgekehrt mit aufsteigender Macht [A 650]der Städte fast aller Adel stadtsässig wurde, wie wir dies wesentlich verstärkt auch in der Antike finden, wo die Stadt ja ursprünglich gerade als Sitz des Adels entstand. Antike und, in geringerem Maß, südeuropäisch-mittelalterliche Städte bilden hierin also gewissermaßen Übergangsstadien von der asiatischen zur nordeuropäischen Stadt.
Zu diesen Unterschieden tritt nun aber als entscheidend hinzu die Qualität der antiken sowohl wie der typischen mittelalterlichen Stadt als eines anstaltsmäßig vergesellschafteten, mit besonderen und charakteristischen Organen ausgestatteten Verbandes von „Bürgern“, welche in dieser ihrer Qualität einem nur ihnen zugänglichen gemeinsamen Recht unterstehen, also ständische „Rechtsgenossen“ sind. Diese Eigenschaft als einer ständisch gesonderten „Polis“ oder „Commune“ war, soviel bekannt, in allen anderen Rechtsgebieten, außer den mittelländischen und okzidentalen, nur in den Anfängen vorhanden. Am ehesten wohl noch in Mesopotamien, Phönizien und in Palästina in der Zeit der Kämpfe der israeli[108]tischen Eidgenossen mit dem kanaanäischen Stadtadel
19
[108] D.h. in der Zeit des Debora-Liedes, also wahrscheinlich im späten 12. Jahrhundert v. Chr.; vgl. oben, S. 77, Anm. 43. Einschlägig sind auch die späteren Darstellungen der Kämpfe der israelitischen Stämme gegen die Kanaaniter, bei denen sich die Israeliten auf die Eroberung der Gebirgsregionen konzentrierten, da die Kanaaniter mit ihren Streitwagen in den Ebenen militärisch überlegen waren; Richter 1, 19; Josua 17, 15 ff.
und vielleicht noch in manchen Seestädten anderer Gebiete und Zeiten. So existierte in den Städten der von Cruickshank und nach ihm von Post geschilderten Fanti-Neger der Goldküste
20
Weber nimmt hier Bezug auf die Darstellung der Struktur der Städte der Fanti an der Goldküste (heute: Ghana) bei Cruickshank, Gold Coast, Band 1, S. 242–251 (= Goldküste, S. 110–115) und Post, Afrikanische Jurisprudenz, Band 1, S. 214 f.
ein „Rat“ unter dem Vorsitz eines Stadtkönigs als primus inter pares, dessen Mitglieder 1. die „Kabossiere“
f
[108]A: „Kaboffiere“ ; vgl. Anm. 21.
,
21
„Kaboffiere“ (wie im überlieferten Text) ist offensichtlich ein Versehen. Bei Cruickshank, Gold Coast, Band 1, S. 244 heißt es „cabboceer“, in der deutschen Übersetzung, Goldküste, S. 111, mit „Kabossir“ wiedergegeben. So auch bei Post, Afrikanische Jurisprudenz, Band 1, S. 214.
: die Häupter der durch Reichtum und ständische Lebensführung (Gastlichkeit und Aufwand) ausgezeichneten Geschlechter, 2. die gewählten Obmänner der als militärische Verbände mit Wahl der Obmänner und mit Ältesten organisierten, gegeneinander ganz selbständigen, oft genug in Fehde miteinander liegenden Stadtviertel, 3. die erblichen Polizeiamtmänner (Pynine) der Stadtviertel bildeten und in dessen Hand Gericht und Verwaltung lagen. Ähnliche Vorstufen [WuG1 530]der Polis- oder Communekonstitution dürften sich in Asien und Afrika mehrfach gefunden haben. Aber von einem ständischen „Stadtbürgerrecht“ verlautet nichts.
Dagegen war die vollentwickelte antike und mittelalterliche Stadt vor allem ein als Verbrüderung konstituierter oder so gedeuteter Verband, dem daher auch das entsprechende religiöse Symbol: ein Verbandskult der Bürger als solcher, also ein Stadtgott oder Stadtheiliger, der für die Bürger als solcher da ist, nicht zu fehlen pflegt. Ein solcher fehlt zwar auch in [A 651]China nicht (oft ein apotheosierter Mandarin).
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Zu Stadtgöttern wurden oft verstorbene Mandarine erhoben, die sich zu Lebzeiten um die von ihnen verwaltete Stadt verdient gemacht hatten; Grube, Wilhelm, Religion und Kultus der Chinesen. – Leipzig: Rudolf Haupt 1910, S. 126.
Aber er behielt dort den Charakter eines Funktionsgottes im Pantheon.
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Die Gesamtheit der Götter einer Religion.
Der Verband der Stadtgemein[109]de im Okzident als solcher hatte ferner: Besitz, über den ihre Organe verfügten. Wenn dagegen der berühmte Streit der Aliden mit der Gemeinde über die „Gärten von Fadak“ – der erste ökonomische Anlaß der Abspaltung der Schia – ein Streit über Geschlechts- oder Gemeindeeigentum war, so war die „Gemeinde“, in deren Namen die Vertreter der Khalifen jenen Grundbesitz in Anspruch nahmen,
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[109] „Schia“ bedeutete ursprünglich „Partei“, wurde dann aber fast ausschließlich zur Kennzeichnung der Aliden, der Familie des Schwiegersohns des Propheten Mohammed und vierten Kalifen Ali ibn Abi Talib, und ihrer Anhänger verwendet (die allein Nachkommen Alis als rechtmäßige Nachfolger des Propheten anerkannten). Die Aliden erhoben Anspruch auf die „Gärten von Fadak“ in Mekka, die sie als Familienbesitz ansahen, während ihre Gegner darauf bestanden, daß der Prophet sie nur als Oberhaupt der religiösen Gemeinde verwaltet habe; Snouck Hurgronje, Mekka, S. 32–34.
die religiöse Gemeinschaft des Islam, nicht eine politische „Gemeinde“ von Mekka, welche gar nicht existierte. Allmenden von städtischen Siedelungen mögen anderwärts ebenso existiert haben
g
[109]A: haben,
wie für Dorfgemeinden. Ebenso gab es spezifisch städtische Steuerquellen der Fürsten. Aber ein Finanzwesen einer Stadtgemeinde nach Art der antiken oder mittelalterlichen Stadt ist von anderwärts nicht bekannt, höchstens Ansätze dazu mag es gegeben haben.
Für die gemeinsamen Eigentümlichkeiten der mittelländischen Städte im Unterschied zu den
h
A: zum Unterschied der
asiatischen war zunächst und vor allem das Fehlen der magisch-animistischen Kasten- und Sippengebundenheit der freien Stadtinsassen mit ihren Tabuierungen grundlegend. In China war es die exogame und endophratrische Sippe,
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Gemeint sein dürfte, daß für die Mitglieder der eine Kultgenossenschaft bildenden chinesischen Sippen (so ist wohl das ungewöhnliche „endophratisch“ zu verstehen) ein Heiratsverbot untereinander bestand.
in Indien seit dem Siege der Patrimonialkönige und Brahmanen
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Zur zeitlichen und sachlichen Einordnung vgl. oben, S. 90 mit Anm. 86.
überdies noch die endogame und tabuistisch exklusive Kaste,
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Weber definiert Kasten in: Hinduismus, nach dem Bestehen von Endogamieregeln, d. h. Heirat der Kastenmitglieder nur untereinander (MWG I/20, S. 91), und von Tabuschranken, die die Tischgemeinschaft zwischen Angehörigen verschiedener Kasten ausschließen (MWG I/20, S. 94 f. und 102–105).
welche jeglichen Zusammentritt zu einer auf allgemeiner sakraler und bürgerlicher Rechtsgleichheit, Konnubium, Tischgemeinschaft, Solidarität nach außen, ruhenden Stadtbürgervergesellschaftung hinderten, in Indien infolge des tabuistischen [110]Kastenabschlusses noch weit stärker als in China, – wie denn, auch infolgedessen, Indien eine, rechtlich angesehen, zu 90% landsässige Bevölkerung gegenüber der immerhin weit größeren Bedeutung der Städte in China aufwies. Die Insassen einer indischen Stadt haben als solche gar keine Möglichkeit gemeinsamer Kultmahle, die chinesischen infolge ihrer Sippenorganisation und der alles überwiegenden Bedeutung des Ahnenkults keinen Anlaß dazu. Soweit, daß auch die private Speisegemeinschaft ganz ausgeschlossen ist, gehen allerdings nur tabuistisch gebundene Völker wie die Inder und (in weitbegrenztem Umfang) die Juden. Bei den Indern wirkt schon jeder Blick eines Kastenfremden in die Küche verunreinigend. Aber noch [A 652]in der Antike waren die sakralen Handlungen der Sippe für Nichtsippengenossen ebenso schlechthin unzugänglich wie der chinesische Ahnenkult. Demgegenüber war schon für die antike Polis nach der Überlieferung eine Komponente des (realen oder fiktiven) Akts der „Zusammenhausung“ (Synoikismos) der Ersatz der für die Kultmahle der eingemeindeten Verbände dienenden Einzelprytaneen durch das ursprünglich für jede Polis unentbehrliche Prytaneion der Stadt,
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[110] In einer Reihe von Fällen ist ein Synoikismos tatsächlich mit der Übersiedlung der Bevölkerung in ein neues städtisches Zentrum verbunden gewesen, so u.a. bei den von Weber in: Agrarverhältnisse3, S. 123 (MWG I/6) genannten Beispielen von Mantineia (6. oder 5. Jahrhundert v. Chr.), Rhodos (408/407 v. Chr.), Megalopolis (368/367 v. Chr.), Kos (366/365 v. Chr.) sowie – mit Einschränkungen – Elis (um 470 v. Chr.). Die hier im Text angesprochene Überlieferung (Thukydides 2, 15; Plutarch, Theseus 24) bezieht sich auf den nicht mit Umsiedlung verbundenen attischen Synoikismos unter dem legendären König Theseus: die neue staatliche Einheit zeigt sich darin, daß an die Stelle der jeweiligen prytaneia (Amtshäuser) der ursprünglichen (zwölf) Einzelstädte nun das eine prytaneion der neu konstituierten Polis getreten ist; vgl. Kuhn, Städte (wie oben, S. 74, Anm. 33), S. 161–164.
des Symbols der Tischgemeinschaft der Stadtbürgersippen als Folge von deren Verbrüderung.
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Historisch einschlägig ist das gemeinsame Mahl der Magistrate bzw. der Ratsherren, später auch unter Einbeziehung besonderer Ehrengäste der Polis; vgl. Schöll, R[udolf], Die Speisung im Prytaneion zu Athen, in: Hermes, Band 6, 1872, S. 14–54; für Webers nachdrücklichen Hinweis auf den symbolischen Zusammenschluß der führenden Familien gibt die Tradition über eine solche tägliche, prytaneion genannte, Zusammenkunft im alten Eleusis (Plutarch, Moralia 667 D) einen gewissen Anhaltspunkt.
Freilich lag der antiken Polis offiziell zunächst die Gliederung in Sippen und ihnen übergeordneten[,] rein personalen und oft (mindestens der Fiktion nach) auf Abstammungsgemeinschaft ruhenden, je einen nach außen wiederum streng exklusiven Kultverband [111]bildenden[,] Gemeinschaften zugrunde. Die antiken Städte waren in der, praktisch keineswegs bedeutungslosen, Anschauung ihrer Zugehörigen zunächst gewillkürte Vergesellschaftungen und Konföderationen von Personenverbänden teils primär sippenhaften, teils, wie wahrscheinlich die Phratrien, primär militärischen Charakters, die dann in den späteren Einteilungen der Städte nach verwaltungstechnischen Gesichtspunkten schematisiert wurden. Daher waren die Städte der Antike sakral exklusiv nicht nur nach außen, sondern auch nach innen, gegen jeden, der keiner der konföderierten Sippen zugehörte: den Plebejer; und eben [WuG1 531]deshalb blieben sie eben immerhin doch auch in sich selbst in zunächst weitgehend exklusive Kultverbände gegliedert. In diesem Charakter als adliger Sippenkonföderation nun
i
[111]A: nun,
glichen den antiken Städten noch ziemlich weitgehend auch die südeuropäischen Städte im frühen Mittelalter, vor allem Seestädte, aber nicht nur solche. Innerhalb ihrer Mauern hatte jede adlige Sippe ihre eigene Festung für sich oder auch gemeinsam mit andern, in welchem Fall deren Benutzung (wie in Siena)
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[111] Genossenschaften verwandter und befreundeter Familien zur gemeinsamen Nutzung von Wehrtürmen gab es im 12. und 13. Jahrhundert außer in Siena in zahlreichen anderen Städten, u. a. in Florenz, Bologna und Lucca; vgl. Davidsohn, Robert, Forschungen zur älteren Geschichte von Florenz. – Berlin: Ernst S. Mittler 1896, S. 121–123; Santini, P[ietro], Società delle Torri in Firenze, in: Archivio storico italiano, tomo 20, 1887, S. 25–58 und 178–204. Warum Weber hier speziell die – bei Richter, Luise Μ., Siena (Berühmte Kunststätten, Nr. 9). – Leipzig und Berlin: E. A. Seemann 1901, S. 12, und Chłędowski, Casimir, Siena, Band 1. – Berlin: Bruno Cassirer 1905, S. 66 f., kurz erwähnten – Turmgenossenschaften in Siena hervorhebt, muß offenbleiben. In den einschlägigen Statutensammlungen von Siena (z. B. Il Constituto del Comune di Siena volgarizzato nel MCCCIX–MCCCX. – Siena 1903; Zdekauer, Lodovico, Il Constituto del Comune di Siena dell’ anno 1262. – Milano: Arnaldo Forni 1897) finden sich zwar Regelungen, die die Wehrtürme bzw. Turmgenossenschaften betreffen, jedoch nicht unmittelbar die von Weber angesprochenen Modalitäten der gemeinsamen Nutzung.
eingehend geregelt war, die Geschlechterfehden wüteten in der Stadt mindestens ebenso heftig wie draußen, und manche der ältesten Stadteinteilungen (z. B. in „alberghi“)
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In dieser Bezeichnung für die befestigten Wohnquartiere der Adligen und ihrer Dienerschaften klingt noch die ältere Bedeutung im Sinne von „Heerlager“ an.
waren vermutlich solche in feudale Machtbezirke. Dagegen fehlte – und dies war höchst wichtig – hier jeder noch in der Antike vorhandene Rest von sakraler Exklusivität der Sippen gegeneinander und nach außen: eine Folge des historisch denkwürdigen, von Paulus im Galaterbrief mit [112]Recht in den Vordergrund gerückten Vorgangs in Antiochien, wo Petrus mit den unbeschnittenen Brüdern [A 653](rituelle) Speisegemeinschaft pflegte.
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[112] Paulus polemisiert (Galater 2, 11 ff.) heftig gegen Petrus, weil dieser bei seinem Aufenthalt in der Gemeinde in Antiochia seine zunächst mit unbeschnittenen Heidenchristen praktizierte Tischgemeinschaft unter dem Eindruck von Forderungen, die jüdischen Reinheitsgebote müßten für Judenchristen weiterhin gelten, wieder aufgegeben hatte. Weber legt hier den Nachdruck auf die mit der erstmaligen Durchbrechung der jüdischen Tabus erzielte welthistorische Weichenstellung (vgl. in diesem Sinne Bousset, Wilhelm, Der Brief an die Galater, in: Weiß, Johannes (Hg.), Die Schriften des Neuen Testaments neu übersetzt und für die Gegenwart erklärt, Band 2: Die Briefe. Die johanneischen Schriften, 2., verbesserte und vermehrte Aufl. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1908, S. 30); ausführlicher hat Weber diesen Gesichtspunkt in: Hinduismus, MWG I/20, S. 96 f., sowie WuG1, S. 247 f. (MWG I/22-2), dargelegt; vgl. auch die Einleitung, oben, S. 23.
Diese rituelle Exklusivität hatte sich schon in den antiken Städten bis zu völligem Schwinden abgeschwächt. Die sippenlose Plebs setzte die rituelle Gleichstellung im Prinzip durch. In den mittelalterlichen, zumal in den mittel- und nordeuropäischen Städten bestand diese Abschwächung von Anfang an, und verloren die Sippen sehr bald alle Bedeutung als Konstituenzien der Stadt. Diese wurde eine Konföderation der einzelnen Bürger (Hausväter), so daß auch die Einbezogenheit des Stadtbürgers in außerstädtische Gemeinschaften hier praktisch jede Bedeutung gegenüber der Stadtgemeinde einbüßte. Schon die antike Polis wurde so in der Vorstellung ihrer Bürger zunehmend eine anstaltsmäßige „Gemeinde“. Endgültig entstand der „Gemeinde“-Begriff in der Antike im Gegensatz zum „Staat“ allerdings erst durch ihre Eingliederung in den hellenistischen oder römischen Großstaat, welche ihr auf der anderen Seite die politische Selbständigkeit nahm. Die mittelalterliche Stadt dagegen war ein „commune“ von Anfang ihres Bestehens an, einerlei, wieweit man sich dabei den Rechtsbegriff der „Korporation“ als solchen sofort zum klaren Bewußtsein brachte.
Im Okzident fehlten eben die Tabuschranken des indisch-äquatorialen Gebiets und die totemistischen, ahnenkultischen und kastenmäßigen magischen Klammern der Sippenverbände, welche in Asien die Verbrüderung zu einer einheitlichen Körperschaft hemmten. Der konsequente Totemismus und die kasuistische Durchführung der Sippenexogamie sind gerade dort und sicherlich als ziemlich späte Produkte entstanden, wo es zu großen politisch-militärischen und vor allem städtischen Verbandsbildungen nie [113]kam. Die antiken Religionen kennen höchstens Spuren davon, sei es nun als „Reste“ oder auch als verkümmerte „Ansätze“.
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[113] Die kollektive Form des Totemismus, bei der ein Stamm oder Clan eine Tier- oder Pflanzenart verehrt (von der er seinen Ursprung herleitet), geht im Regelfall einher mit einem Heiratsverbot für die Mitglieder der Totem-Gruppe untereinander, d. h. mit Exogamie. Diese Regel ist von McLennan, J[ohn] F., The Worship of Animals and Plants, in: Fortnightly Review, n.s., vol. 6, 1869, S. 407–427 und 562–582 sowie ebd., vol. 7, 1870, S. 194–216, festgestellt worden. In der Forschung des späteren 19. Jahrhunderts gab es eine ausgedehnte Diskussion darüber, ob das an rezenten Stämmen, zumal in Nordamerika und Australien, beobachtete Phänomen als eine universale Stufe der Entwicklung von Religion und Gesellschaft zu gelten habe, von der sich entsprechende Spuren auch in der Überlieferung weiter fortgeschrittener historischer Gesellschaften erhalten hätten. Entsprechende Annahmen sind für die antiken Araber und Juden (Robertson Smith, W[illiam], Animal Worship and Animal Tribes among the Arabs and in the Old Testament, in: Journal of Philology, vol. 9, 1880, S. 75–100; ders., Die Religion der Semiten. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1899, v.a. S. 96–101) sowie für die Griechen (Reinach, Salomon, Cultes, Mythes et Religions, 2. éd., revue et corrigée, tome 1. – Paris: Ernest Leroux 1908, S. 9–29) vorgebracht worden. Die Gegenposition ist zumal von Frazer, J[ames] G., Totemism and Exogamy. A Treatise on Certain Early Forms of Superstition and Society, 4 vols. – London: Macmillan 1910 (hinfort: Frazer, Totemism), vertreten worden. Frazer bestritt, daß sich Totemismus in Europa und im größten Teil Asiens verifizieren lasse; die große Ausnahme in Asien stelle Indien dar; ebd., vol. 2, S. 218–353 und vol. 4, S. 12–14; vgl. Reuterskiöld, Edgar, Der Totemismus, in: Archiv für Religionswissenschaft, Band 15, 1912, S. 1–23, sowie Weber, WuG1, S. 201 f. (MWG I/22-1) und 247 (MWG I/22-2).
Die Gründe dafür lassen sich, soweit sie nicht intern religiös waren, nur unbestimmt vermuten. Das überseeische Reislaufen und Seeräuberleben der Frühzeit, die militärischen Aventiuren und massenhaften binnenländischen und überseeischen Kolonialgründungen, welche unvermeidlich intime Dauerverbände zwischen gänzlich Stamm- oder doch Sippenfremden stifteten, sprengten offenbar ebenso unvermeidlich die Festigkeit jener sippenexklusiven[,] religiösen und magischen[,] Bande. Und mochte man sie auch in der Antike überall, der Tradition gemäß, künstlich durch Einteilung der neugegründeten Ge[A 654]meinden in gentilicische Verbände und Phratrien wieder herstellen, – nicht der Gentilverband, sondern der Militärverband der Polis war jetzt doch die grundlegende Einheit. Die jahrhundertelangen Wanderungen erobernder Kriegsverbände der Germanen vor und in der Völkerwanderungszeit, ihr Reislaufen und ihre Aventiurenzüge unter selbstgewählten Führern waren ebensoviele Hemmungen gegen das Aufkommen tabuistischer und totemistischer Bindungen. Mochte man auch bei ihnen die Siedelung, wie überliefert wird,
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Caesar, De bello Gallico 6, 22, 2.
tunlichst nach realen oder fiktiven [114]Sippen vornehmen, – der Ding- und Militärverband der Hundertschaft,
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[114] In der zeitgenössischen rechtshistorischen Lehre galt die ,Hundertschaft‘ unter Berufung auf Tacitus, Germania 6 und 12, als uraltes Gliederungsprinzip der Germanen für Gerichtsversammlungen und Heeresaufgebote, das sich auch in späteren germanischen, zumal fränkischen, angelsächsischen und skandinavischen Institutionen wiederzufinden schien. Es bestand allerdings keine Einigkeit darüber, ob die Hundertschaft einen territorialen Verband von 100 Hufen umfaßte oder ob damit das Aufgebot von entweder genau 100 oder einer unbestimmten, größeren Zahl von Heermannen, für deren Siedlungsraum dann ,Hufe‘ als Bezeichnung eingeführt wurde, gemeint war; vgl. Schwerin, Claudius von, Die altgermanische Hundertschaft (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, Heft 90). – Breslau: Μ. & H. Marcus 1907, S. 3–53. Für Weber ist die Hundertschaft das Einteilungsprinzip für „eine Siedlungsgemeinschaft von Kriegern“ (vgl. unten, S. 188).
die Hufenverfassung
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Nach der Theorie von Meitzen, August, Siedelung und Agrarwesen der Westgermanen und Ostgermanen, der Kelten, Römer, Finnen und Slawen, Band 1. – Berlin: Wilhelm Hertz 1895, S. 33–173; ders., „Hufe“, in: HdStW3, Band 5, S. 488–498, ist die germanische Hufenverfassung ein System, bei dem alle vollberechtigten Mitglieder der Dorfgemeinschaft über gleiche Nutzungsrechte bzw. gleichen Besitz an Ackerland, Hofstätten, Gartenland und Allmende verfügen.
als Grundlage der Lastenumlegung, später die Beziehung zum Fürsten: Gefolgschaft und Vasallentum blieben das Entscheidende, nicht irgendwelche, vielleicht gerade infolge jener Umstände niemals zur Entwicklung gelangten, magischen Bande der Sippe. Und das Christentum, [WuG1 532]welches nun die Religion dieser in allen ihren Traditionen tief erschütterten Völker wurde und wohl gerade infolge der Schwäche oder des Fehlens der magischen und tabuistischen Schranken bei ihnen dazu werden konnte, entwertete und zerbrach alle solche Sippenbande in ihrer religiösen Bedeutsamkeit endgültig. Die oft recht bedeutende Rolle, welche die kirchliche Gemeinde bei der verwaltungstechnischen Einrichtung der mittelalterlichen Städte gespielt hat, ist nur eines von vielen Symptomen für das starke Mitspielen dieser, die Sippenbande auflösenden und dadurch für die Bildung der mittelalterlichen Stadt grundlegend wichtigen Eigenschaften der christlichen Religion. Der Islam hat die Landsmannschaften der arabischen Stämme und die Sippenbande, wie die ganze Geschichte der inneren Konflikte des älteren Khalifats zeigt, nicht wirklich überwunden, weil er zunächst eine Religion eines erobernden, nach Stämmen und Sippen gegliederten Heeres blieb.
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Gemeint ist die Frühphase des Islam bis zum Ende des in Damaskus ansässigen Kalifats der Umayyaden (661–750), dessen Niedergang auf die Konflikte innerhalb der [115]arabischen Stämme, die zugleich die Heeresabteilungen bildeten, und die Probleme mit der Integration der vom Heer ausgeschlossenen Nicht-Araber zurückzuführen ist; dazu Wellhausen, J[ulius], Das arabische Reich und sein Sturz. – Berlin: Georg Reimer 1902.
[115]Machen wir uns die praktischen Unterschiede nochmals ganz klar. Die Stadt war zwar überall in der Welt in starkem Maß Zusammensiedelung von bisher Ortsfremden. Der chinesische wie der mesopotamische und ägyptische und gelegentlich sogar noch der hellenistische Kriegsfürst legt die Stadt an und verlegt sie wieder, siedelt nicht nur darin an, wer sich ihm freiwillig bietet, sondern raubt nach Bedarf und Möglichkeit das Menschenmaterial zusammen. Am stärksten in Mesopotamien, wo die Zwangssiedler zunächst den Kanal zu graben haben, der [A 655]die Entstehung der Stadt in der Wüste ermöglicht. Weil er dabei mit seinem Amtsapparat und seiner Beamtenverwaltung ihr absoluter Herr bleibt, entsteht entweder gar kein Gemeindeverband oder nur dürftige Ansätze eines solchen. Die Zusammengesiedelten bleiben oft konnubial getrennte Sonderstämme. Oder, wo dies nicht der Fall ist, bleiben die Zuzügler Mitglieder ihrer bisherigen Orts- und Sippenverbände. Nicht nur der chinesische Stadtinsasse gehörte normalerweise zu seiner ländlichen Heimatsgemeinde, sondern auch breite Schichten der nicht hellenischen Bevölkerung des hellenistischen Orients, wie ja noch die neutestamentliche Legende die Geburt des Nazareners in Bethlehem damit motiviert, daß die Sippe des Vaters dort, in der deutschen Übersetzung des Heliand gesprochen: ihr „Hantgemal“
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„Heliand“ ist der aus dem 19. Jahrhundert stammende Titel für ein um 830/840 im Auftrag Kaiser Ludwigs des Frommen entstandenes altsächsisches Bibelepos. Der unbekannte Verfasser stellte entsprechend den Wertvorstellungen des neubekehrten sächsischen Adels Christus in Analogie zu einem germanischen König (mit den Jüngern als adliger Gefolgschaft) dar. Heyne, Moritz (Hg.), Hêliand nebst den Bruchstücken der altsächsischen Genesis (Bibliothek der ältesten deutschen Literatur-Denkmäler, Band 2: Altniederdeutsche Denkmäler, Teil 1), 4. Aufl. – Paderborn; Ferdinand Schöningh 1905. – „Hantgemal“ (von altsächsisch „hand-mahal“, ebd., S. 10, Zeile 346) bezeichnet die Hausmarke, im (von Weber hier, wie schon Agrarverhältnisse3, S. 109 (MWG I/6), verwendeten) übertragenen Sinne dasjenige Gut einer Adelssippe, das sich im gemeinsamen Eigentum aller Sippengenossen befindet, deren Adelsqualität sich davon herleitet.
gehabt habe, also – meint die Legende – auch dort zu schätzen
k
[115]A: schützen
gewesen sei.
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Der Lukas 2, 1–7, unterstellte Census ist so sicherlich unhistorisch.
Die Lage des in die russischen Städte zu[116]wandernden Bauern war bis vor kurzem
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[116] Gemeint sind die Verhältnisse vor der Agrarreform Stolypins 1906–1911, mit der das Ausscheiden aus dem Verband der Bauerngemeinde möglich wurde.
keine andere: sie behielten ihr Recht auf Land sowohl wie ihre Pflicht, auf Verlangen der Dorfgemeinde dort an den Lasten teilzunehmen, in ihrem Heimatort. Es entstand also kein Stadtbürgerrecht, sondern nur ein Lasten- und Privilegienverband der jeweils Stadtsässigen. Auf Sippenverbänden ruhte auch der hebräische
l
[116]A: hellenische
Synoikismos: Die Rekonstitution der Polis Jerusalem durch Esra und Nehemia läßt die Überlieferung sippschaftsweise, und zwar durch Zusammensiedelung von Delegationen jeder politisch vollberechtigten landsässigen Sippe erfolgen.
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Nach der Eroberung des neubabylonischen Reiches durch die Perser erhielten die nach Babylonien verschleppten Juden die Erlaubnis zur Rückkehr in ihre Heimat (538 v. Chr.), die jedoch nur langsam in Gang kam. Eine politische Reorganisation in Jerusalem begann mit dem (vom persischen König autorisierten) Gesetzeslehrer Esra (wahrscheinlich ab 458 v. Chr.; es gibt allerdings auch spätere Datierungen, die sein Wirken nach Nehemia bzw. für das frühe 4. Jahrhundert v. Chr. ansetzen) und dann mit dem als persischer Statthalter eingesetzten Nehemia (ab 445 v. Chr.). Man betrieb den Wiederaufbau der Stadtmauer, wobei den einzelnen Familienverbänden jeweils die Arbeit an einem Abschnitt übertragen wurde (Nehemia 3, 1–32). Unter Nehemia wurde die Einwohnerzahl der Stadt erhöht, indem neben den führenden Familien zehn Prozent der Landbevölkerung in Jerusalem angesiedelt wurden (Nehemia 11, 1).
Nur die sippenlose und politisch rechtlose Plebs wird nach Ortsangehörigkeit gegliedert.
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Die Liste der aus dem Exil Heimgekehrten (Esra 2 bzw. Nehemia 7, 5–72) führt neben den Geschlechterverbänden jeweils auch die Ortsverbände auf. Daß es sich um eine (auf vorexilische Verhältnisse zurückgehende) Differenzierung zwischen Grundbesitzern einerseits und von den politischen Rechten ausgeschlossenen Besitzlosen andererseits handelt, betont Meyer, Eduard, Die Entstehung des Judenthums. Eine historische Untersuchung. – Halle: Max Niemeyer 1896, S. 152 f. (hinfort: Meyer, Entstehung).
Auch in der antiken Polis war zwar der Einzelne Bürger, aber ursprünglich immerhin nur als Glied seiner Sippe. Jeder hellenische und römische Synoikismos und jede kolonisatorische Eroberung verlief in der Frühantike mindestens der Fiktion nach ähnlich wie die Neukonstituierung von Jerusalem, und selbst die Demokratie konnte an dem Schema der Zusammensetzung der Bürgerschaft durch Sippen (gentes), aus diesen zusammengesetzten Phratrien und durch diese gebildeten Phylen, lauter rein personalen kultischen Verbänden also, zunächst nicht rütteln, sondern diese tatsächlich vom gesippten Adel beherrschten Verbände nur durch indirekte Mittel politisch [117]unschädlich zu machen suchen. Einen Kultmittelpunkt seiner Sippe (Ζεὺς Ἑϱϰεῖoς)
m
[117]A: ἑϱϰαῖοϛ)
mußte in Athen nachweisen können, wer amtsfähig für die legitimen Ämter sein wollte.
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[117] Bewerber um ein Amt mußten u. a. nachweisen, daß sie über eine Kultstätte des Zeus Herkeios, des Schutzgottes des Hauses, verfügten. Diese Regel – deren Bedeutung sich nicht eindeutig klären läßt – ist überliefert durch Aristoteles, Athenaion politeia 55, 3.
Daß Städte [A 656]durch Zusammensiedelung Einheimischer mit Stammfremden entstehen, wußte auch die römische Legende sehr gut;
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Gemeint sind die Traditionen über den Zusammenschluß von flüchtigen Trojanern und Ureinwohnern (die dann gemeinsam die Latiner bildeten) zur Gründung von Lavinium (Livius 1, 1–2) und Rom (Sallust, De coniuratione Catilinae 6, 1–3) bzw. über die Gründung Roms mit Albanern, Latinern, Hirten sowie Flüchtlingen unterschiedlichster Herkunft (Livius 1, 6, 3 und 1, 8, 5 f.; Plutarch, Romulus 9, 3).
sie werden dann durch rituale Akte zu einer religiösen Gemeinde mit einem eigenen Gemeindeherd und einem Gott als Gemeindeheiligen auf der Burg verbrüdert, aber dabei in gentes, curiae (= Phratrien), tribus (= Phylen) gegliedert. Diese für jede antike Stadt ursprünglich selbstverständliche [WuG1 533]Zusammensetzung wurde sehr früh – wie schon die runden Zahlen der Verbände (aus 3, 30 oder 12 gebildet)
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Die römische Bürgerschaft soll ursprünglich in drei gentilizische Tribus und diese in je zehn Curien gegliedert gewesen sein; Mommsen, Staatsrecht, Band 3,1, S. 89–112; für Athen wurde eine Einteilung in vier Phylen mit je drei Phratrien, von denen jede wiederum aus 30 Geschlechtern (und jedes Geschlecht aus dreißig Männern) zusammengesetzt gewesen sein soll, angenommen; Aristoteles, Athenaion politeia, Fragment 2 (= 385 Rose); zur Dreiteilung der vier Phylen ebd. 8, 3 und 21, 3.
zeigen – rein künstlich zum Zweck der Lastenumlegung hergestellt. Immerhin blieb die Zugehörigkeit Kennzeichen des zur Teilnahme am Kult und allen denjenigen Ämtern, welche der Qualifikation zum Verkehr mit den Göttern, in Rom der „auspicia“,
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In Rom durften wichtige Staatshandlungen nur vorgenommen werden, nachdem die Magistrate zuvor durch Beobachtung des Vogelflugs (auspicium) die Zustimmung der Götter eingeholt hatten.
bedurften, berechtigten Vollbürgers. Sie war eben rituell unentbehrlich. Denn ein legitimer Verband mußte auf der rituellen Grundlage der überlieferten, rituell gerichteten Verbandsformen: Sippe, Wehrverband (Phratrie), politischer Stammesverband (Phyle) beruhen oder dies doch fingieren. – Das war nun bei den mittelalterlichen Stadtgründungen namentlich des Nordens durchaus anders. Der Bürger trat wenigstens bei Neuschöpfungen als Einzelner in die [118]Bürgerschaft ein. Als Einzelner schwur er den Bürgereid. Die persönliche Zugehörigkeit zum örtlichen Verband der Stadt, und nicht die Sippe oder der Stamm, garantierte ihm seine persönliche Rechtsstellung als Bürger. Die Stadtgründung schloß auch hier oft nicht nur ursprünglich orts-[,] sondern eventuell auch stammfremde Händler mit ein. Jedenfalls bei Neugründungen kraft Privilegs für Zuwanderer. – In geringerem Maß natürlich bei der Umwandlung alter Ansiedelungen in Stadtgemeinden. Dann natürlich traten z. B. nicht etwa die in Köln erwähnten, aus dem ganzen Umkreis des Okzidents von Rom bis Polen stammenden Kaufleute
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[118] Eine Zusammenstellung der Herkunftsorte der in Köln ansässigen Kaufleute gibt Keussen, Hermann, Die Entwicklung der älteren Kölner Verfassung und ihre topographische Grundlage, in: Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst, Jg. 28, 1909, S. 465–520, hier S. 476, der in diesem Zusammenhang auch anführt, daß in der Bürgerliste von St. Martin aus dem 12. Jahrhundert ein Pole und mehrere Römer nachgewiesen sind. Keussens Angaben werden von Beyerle, Entstehung, S. 37, übernommen.
in die dortige städtische Schwurgemeinschaft ein, deren Gründung vielmehr gerade von den einheimischen besitzenden Schichten ausging.
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Zur Kölner „conjuratio“ vgl. unten, S. 125.
Aber auch solche Einbürgerungen ganz Fremder kamen vor. Eine prinzipielle, den asiatischen Gastvolksverhältnissen entsprechende Sonderstellung innerhalb der mittelalterlichen Städte nahmen hier höchst charakteristischerweise nur die Juden ein. Denn obwohl z. B. in oberrheinischen Urkunden der Bischof hervorhebt, daß er „um des größeren Glanzes der Stadt willen“ Juden herbeigerufen habe,
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Gemeint ist Bischof Rüdiger von Speyer, der im Jahre 1084 Juden, die sich in seiner Stadt niederlassen wollten, mit bestimmten Rechten ausstattete. Das Zitat stützt sich auf den bei Hegel, Entstehung, S. 113, Anm. 2, wiedergegebenen Satz aus der Urkunde von 1084: „Cum ex Spirensi villa urbem facerem, putavi milies amplificare honorem loci nostri, si et Judeos colligerem“. Die Urkunde ist ediert in: Urkundenbuch zur Geschichte der Bischöfe zu Speyer, hg. von Franz X. Remling, Band 1: Ältere Urkunden. – Mainz: Kirchheim & Schott 1852, Nr. 57 (S. 57 f.) (hinfort: Urkundenbuch Speyer); der Text findet sich auch in: Regesten zur Geschichte der Juden im fränkischen und deutschen Reiche bis zum Jahre 1273, bearbeitet unter Mitwirkung von Albert Dresdner und Ludwig Lewinski von Julius Aronius. – Berlin: Leonhard Simion 1902, Nr. 168 (S. 69–71).
und obwohl die Juden in den Kölner Schreinsurkunden [A 657]als Grundbesitzer im Gemenge mit Christen auftraten,
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Schreinsurkunden sind die nach ihrer Verwahrung in dem Schrein der jeweiligen Kirche benannten Beurkundungen von Liegenschaftsgeschäften. Nach den aus dem 12. Jahrhundert überlieferten Kölner Verzeichnissen wohnte die überwiegende Mehrzahl aller eindeutig als Juden zu identifizierenden Personen im Judenviertel, das zum Gebiet der Laurenzpfarre gehörte; für andere Pfarrbezirke sind nur wenige Juden bezeugt; Köl[119]ner Schreinsurkunden des zwölften Jahrhunderts. Quellen zur Rechts- und Wirthschaftsgeschichte der Stadt Köln, hg. von Robert Hoeniger, 3 Bände (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Band 1). – Bonn: Eduard Weber 1884–1894; vgl. Hegel, Entstehung, S. 115. Während die jüdischen Grundbesitzer zunächst gemeinsam mit den christlichen in den Schreinskarten verzeichnet waren, wurde seit der Mitte des 12. Jahrhunderts eine Kennzeichnung des jüdischen Besitzes eingeführt und schließlich ein eigenes Judenschreinsbuch angelegt; vgl. Lau, Friedrich, Entwicklung der kommunalen Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln bis zum Jahre 1396 (Preis-Schriften der Mevissen-Stiftung, Band 1). – Bonn: H. Behrendt 1898, S. 177 f. (hinfort: Lau, Entwicklung).
hinderte [119]schon der dem Okzident fremde rituelle Ausschluß der konnubialen und die tatsächliche Behinderung der Tischgemeinschaft der Juden mit Nichtjuden, vor allem aber: das Fehlen der Abendmahlsgemeinschaft, die Verbrüderung. Auch die mittelalterliche Stadt war ein Kultverband. Die Stadtkirche, der Stadtheilige, die Teilnahme der Bürger am Abendmahl, die offiziellen kirchlichen Feiern der Stadt verstanden sich von selbst. Aber das Christentum hatte der Sippe jegliche rituelle Bedeutung genommen. Die Christengemeinde war ihrem innersten Wesen nach ein konfessioneller Verband der gläubigen Einzelnen, nicht ein ritueller Verband von Sippen. Daher blieben die Juden von Anfang an außerhalb des Bürgerverbands. Wenn so auch die Stadt des Mittelalters des kultischen Bandes bedurfte und zu ihren Konstituierungen oft (vielleicht: immer) kirchliche Parochien gehörten, so war sie dennoch, wie die antike Stadt auch, eine weltliche Gründung. Nicht als kirchliche Verbände wirkten die Parochien mit und nicht durch ihre kirchlichen Vertreter, sondern neben der rein weltlichen städtischen Schöffenbank waren es die Laienvorstände der kirchlichen Parochialgemeinden und eventuell die Gilden der Kaufleute, welche auf seiten der Bürger die formalrechtlich entscheidenden Akte vornahmen
n
[119]A: vornehmen
. Kirchengemeindliche Vollwertigkeit statt der, wie in der Antike, rituell vollwertigen Sippe war Voraussetzung der Qualifikation zum Bürger. Der Unterschied gegen asiatische Verhältnisse war im Anfang der Entwicklung noch kein grundsätzlicher. Der dem Ortsheiligen des Mittelalters entsprechende Lokalgott und die rituelle Gemeinschaft der Vollbürger war als unumgänglicher Bestandteil jeder Stadt den vorderasiatischen Städten der Antike bekannt. Aber die [120]Verpflanzungspolitik der Menschen erobernden Großkönige
51
[120] Die Umsiedlung unterworfener Bevölkerungsgruppen ist als Mittel der Herrschaftssicherung v.a. von den neuassyrischen Königen Tiglatpileser III. (744–727 v. Chr.) und Sargon II. (722–704 v. Chr.) praktiziert worden. So hat Sargon nach der Zerstörung Samarias, der Hauptstadt des jüdischen Nordstaats (Israel) 722 v. Chr., die Deportation von Teilen der Bevölkerung nach Mesopotamien und Medien (bei gleichzeitiger Ansiedlung babylonischer und syrischer Bevölkerungsgruppen in Samarien) verfügt (2. Könige 17; Keilschrifttexte Sargons (wie oben, S. 92, Anm. 95), S. 5 und 101). Nachdem der neubabylonische König Nebukadnezar II. (605–562 v. Chr.) 605 v. Chr. auch das Südreich (Juda) unter seine Herrschaft gebracht hatte, wurden, v.a. nach der Einnahme bzw. Zerstörung Jerusalems 597 und 587 (oder 586) v. Chr., die Führungsschicht sowie der Großteil der Bevölkerung in das „babylonische Exil“ verschleppt (2. Könige 24–25; Jeremia 52, 28–30).
hat das offenbar durchbrochen und die Stadt zu einem reinen Verwaltungsbezirk gemacht, in welchem alle Insassen ohne Unterschied der Stammes- und rituellen Zusammengehörigkeit die gleichen Lebenschancen hatten. Dies geht aus den Schicksalen der ins Exil verschleppten Juden hervor: nur die staatlichen Ämter, welche Schriftbildung und offenbar auch rituelle Qualifikation erforderten, scheinen ihnen verschlossen gewesen zu sein.
52
Wie sich diese Feststellung Webers jedoch zu den Geschichten im Buch Daniel verhält, muß offenbleiben. Danach erhielten Daniel und seine drei Gefährten am Hofe Nebukadnezars eine Ausbildung in chaldäischer (babylonischer) Sprache und Schrift, wurden trotz ihrer Weigerung, die (für Juden) unreinen Speisen von der Hoftafel zu essen, weiter gefördert, in den Hofdienst und schließlich sogar in hohe Ämter übernommen (Daniel 1 und 2, 48 f.). – Die meisten der nach Babylonien deportierten Juden lebten in Ortschaften, in denen sie Häuser bauen und Gärten anlegen konnten (Jeremia 29, 4–7; Hesekiel 3, 15); ein Teil von ihnen hat es anscheinend in der Zeit des Exils zu beachtlichem Wohlstand gebracht (Esra 1, 6; 2, 68 f.; Nehemia 7, 70 f.); vgl. auch Klamroth, Erich, Die jüdischen Exulanten in Babylonien (Beiträge zur Wissenschaft vom Alten Testament, Heft 10). – Leipzig: J. C. Hinrichs 1912, S. 41–45. Auf den Wohlstand von in Babylonien angesiedelten Juden deutet, daß sie offensichtlich zu den Geschäftspartnern eines Bank- und Handelshauses in Nippur zählten, dessen Archiv allerdings erst aus der Zeit der persischen Herrschaft im 5. Jahrhundert v. Chr. stammt; zugänglich in den Editionen von: Hilprecht, H[ermann] V., Clay, A[lbert] T, Business Documents of Murashû Sons of Nippur. Dated in the Reign of Artaxerxes I. (464–424 B.C.) (The Babylonien Expedition of the University of Pennsylvania, Series A: Cuneiform Texts, vol, 9). – Philadelphia: Department of Archaeology and Palaeontology of the University of Pennsylvania 1898, und Clay, Albert T., Business Documents of Muraschû Sons of Nippur. Dated in the Reign of Darius II. (424–404 B.C.) (The Babylonian Expedition of the University of Pennsylvania, Series A: Cuneiform Texts, vol. 10). – Philadelphia: Department of Archaeology and Palaeontology of the University of Pennsylvania 1904. Vgl. Weber, Judentum VI, S. 566 f. (MWG I/21).
„Gemeindebeamte“ [WuG1 534]gab es in den Städten offenbar nicht. Die einzelnen Fremdstämmigen hatten, wie die exilierten Juden, ihre Ältesten und Priester, waren also [A 658]„Gaststämme“. In Israel vor dem Exil standen die [121]Metöken (gerim) außerhalb der rituellen Gemeinschaft (sie waren ursprünglich unbeschnitten) und zu ihnen gehörten fast alle Handwerker.
53
[121] Gerim sind nach alttestamentlichem Recht diejenigen Fremden, die ein dauerndes Wohnrecht genießen und im Vergleich zu anderen Ausländern privilegiert sind, jedoch von der Gemeinde der Vollbürger ausgeschlossen bleiben; Bertholet, Alfred, Die Stellung der Israeliten und der Juden zu den Fremden. – Freiburg i. B. und Leipzig: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1896, S. 1 f. Die Parallele zu den griechischen Metoiken hebt Meyer, Entstehung (wie oben, S. 116, Anm. 42), S. 227–231, hervor. Weber hat seine (problematische) These, bei den gerim habe es sich um Verbände (mit ritueller Sonderstellung) von Handwerkern und Kaufleuten gehandelt, eingehend in: Judentum I, S. 83–94 (MWG I/21), dargelegt.
Sie waren also Gaststämme wie in Indien. In Indien war die rituelle Verbrüderung der Stadtinsassen durch das Kastentabu ausgeschlossen. In China gehörte zu jeder Stadt ein Stadtgott (oft ein kultisch verehrter früherer Mandarin der Stadt). Bei allen asiatischen, auch den vorderasiatischen, Städten fehlte aber die Gemeinde oder war nur in Ansätzen vorhanden und stets nur als Verband von Sippen, der über die Stadt hinausreicht. Die konfessionelle Gemeinde der Juden aber nach dem Exil war rein theokratisch regiert.
Die Stadt des Okzidents, in speziellem Sinn aber die mittelalterliche, mit der wir uns vorerst allein befassen wollen, war nicht nur ökonomisch Sitz des Handels und Gewerbes, politisch (normalerweise) Festung und eventuell Garnisonort, administrativ ein Gerichtsbezirk, und im übrigen eine schwurgemeinschaftliche Verbrüderung. In der Antike galt als ihr Symbol das gemeinsame Mahl
o
[121]A: die gemeinsame Wahl ; vgl. Anm. 54.
der Prytanen
p
A: Prytaneen
.
54
Vgl. zur Textverbesserung unten, S. 179, und Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 94, wo jeweils vom „gemeinsamen Mahl“ der Prytanen die Rede ist, sowie zur Sache oben, S. 110, Anm. 29.
Im Mittelalter war sie ein beschworenes „commune“ und galt als „Korporation“ im Rechtssinne. Zwar galt dies nicht sofort. Noch 1313 konnten – worauf Hatschek hinweist – englische Städte keine „franchise“ erwerben, weil sie, modern gesprochen, keine „Rechtspersönlichkeit“ hatten, und erst unter Eduard I. erscheinen Städte als Korporationen.
55
Hatschek, Verfassungsgeschichte, S. 113, stellt den Zusammenhang zwischen der Möglichkeit des Erwerbs von „franchise“ (Stadtfreiheiten und -privilegien, wie z. B. Markt- und Gerichtsrechte) durch eine Stadt und der Entwicklung eines Korporationsbegriffs heraus. Ebd., S. 269, führt er nach Präzedenzien aus den Zeiten Edwards I. (1272–1307) und Edwards II. (1307–1327) einen Beleg aus dem 19. Regierungsjahr Edwards III. (1327–1377) für die deutliche Anerkennung des Korporationscharakters von Städten an. Webers Formulierung ist deshalb auf Edward III., nicht auf Edward I. zu beziehen.
Die Bürgerschaften der ent[122]stehenden Städte wurden überall, nicht nur in England, rechtlich von der politischen Gewalt, den Stadtherren, zunächst als eine Art von passivem leiturgischen Zweckverband behandelt, dessen durch Anteil am städtischen Grundbesitz qualifizierte Glieder spezifische Lasten und Pflichten und spezifische Privilegien genossen: Marktmonopole und Stapelrechte, Gewerbeprivilegien und Gewerbebannrechte, Anteilnahme am Stadtgericht, militärische und steuerliche Sonderstellung. Und überdies stellte sich der ökonomisch wichtigste Teil all dieser Privilegien dabei formalrechtlich zunächst meist gar nicht als ein Erwerb eines Verbandes der Bürgerschaft, sondern als ein solcher des politischen oder grundherrlichen Stadtherrn ein. Er, nicht der Bürger, erwirbt formell jene wichtigen Rechte, die tatsächlich den Bürgern direkt ökonomisch – ihm, dem Stadtherrn, aber indirekt finanziell, durch Abgaben der Bürger – zugute kommen. Denn sie sind z. B. in Deutschland [A 659]in den ältesten Fällen Privilegien des Königs an einen Bischof,
56
[122] Vgl. zum sachlichen und zeitlichen Zusammenhang oben, S. 91, Anm. 91.
auf Grund deren dieser nun seinerseits seine stadtsässigen Untertanen als privilegiert behandeln durfte und behandelte. Zuweilen – so im angelsächsischen England – galt die Zulassung zur Ansiedelung am Markt als ein exklusives Privileg der benachbarten Grundherrn für ihre und nur ihre Hörigen, deren Erwerb sie ihrerseits besteuerten.
57
Darauf weist Hatschek, Verfassungsgeschichte, S. 106, hin.
Das Stadtgericht war entweder Königsgericht
q
[122]A: Königgericht
oder herrschaftliches Gericht, die Schöffen und andere Funktionäre nicht Repräsentanten der Bürger, sondern, auch wo die Bürger sie wählten, Beamte des Herrn, das Stadtrecht für diese Funktionäre des Herrn maßgebendes Statut des letzteren. Die „universitas civium“, von der überall sehr bald geredet wird,
58
Die Kategorie universitas civium wird seit dem 12. Jahrhundert in Deutschland häufig in Urkunden verwendet, bezeichnet aber zunächst nur die Gesamtheit der Bürger im Gegensatz zu Einzelpersonen und impliziert noch nicht die Anerkennung einer Stadtgemeinde als Körperschaft im rechtlichen Sinne; vgl. Gierke, Otto, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Band 2: Geschichte des deutschen Körperschaftsbegriffs. – Berlin: Weidmann 1873, S. 591–598.
war also zunächst heteronom und heterokephal, teils
r
A: teils,
sowohl anderen politischen als (häufig) grundherrlichen Verbänden eingegliedert. Allein dies blieb nicht so. Die Stadt wurde eine, wenn auch in verschiedenem Maße, autonome [123]und autokephale anstaltsmäßige Vergesellschaftung,
59
[123] Unter einer „anstaltsmäßigen Vergesellschaftung“ versteht Weber, WuG1, S. 615 (MWG I/22-1), einen autonomen politischen Gebietsverband, der am Ende des Prozesses der „Monopolisierung der legitimen Gewaltsamkeit“ steht. Einem solchen Verband waren die Verbandsmitglieder und die Personen, die sich nur zeitweise auf seinem Herrschaftsgebiet aufhielten, zwangsunterworfen.
eine aktive „Gebietskörperschaft“, die städtischen Beamten gänzlich oder teilweise Organe dieser Anstalt. Für jene Entwicklung der mittelalterlichen Städte war nun aber allerdings wichtig, daß von Anfang an die privilegierte Stellung der Bürger als ein Recht auch des Einzelnen unter ihnen im Verkehr mit Dritten galt. Dies war eine Konsequenz nicht nur der dem Mittelalter ebenso wie der Antike ursprünglich eigenen personalrechtlichen Auffassung der Unterstellung unter ein gemeinsames „objektives“ Recht als eines „subjektiven“ Rechts, einer ständischen Qualität also der Betroffenen, sondern speziell im Mittelalter – wie namentlich Beyerle mit Recht hervorhebt
60
Gemeint ist Beyerle, Entstehung, S. 8, 18 und öfter.
eine Konsequenz
s
[123] Fehlt in A; eine Konsequenz sinngemäß ergänzt.
der in der germanischen Gerichtsverfassung noch nicht abgestorbenen Auffas[WuG1 535]sung jedes Rechtsgenossen als eines „Dinggenossen“[,] und das heißt eben: als eines aktiven Teilhabers an der Dinggemeinde, in welcher er
t
Fehlt in A; er sinngemäß ergänzt.
das dem Bürger zukommende objektive Recht als Urteiler im Gericht selbst mitschafft – eine Institution, von der und deren Folgen für die Rechtsbildung wir früher gesprochen haben.
61
Der Verweis läßt sich innerhalb des vorliegenden Textes nicht auflösen; in der Sache zielt er vermutlich auf die Ausführungen zur Dinggenossenschaft, wie sie in WuG1, S. 409–411 (MWG I/22-3), vorliegen.
Dies Recht fehlte den Gerichtseingesessenen in dem weitaus größten Teil der Städte der ganzen Welt. Nur in Israel finden sich Spuren davon.
62
So bei der Mitwirkung des Volkes neben den Ältesten und den königlichen Beamten beim Prozeß gegen den Propheten Jeremia (Jeremia 26). Vgl. dazu Weber, Judentum II, S. 357 (MWG I/21).
Wir werden bald sehen,
63
Dieser Verweis geht nicht auf.
wodurch diese Sonderstellung bedingt war. Entscheidend war für die Entwicklung der mittelalterlichen Stadt zum Verband aber, daß die Bürger in einer Zeit, als ihre ökonomischen Interessen zur anstaltsmäßigen Ver[A 660]gesellschaftung drängten, einerseits daran nicht durch magische oder religiöse Schranken gehindert [124]waren, und daß andererseits auch keine rationale Verwaltung eines politischen Verbandes über ihnen stand. Denn wo auch nur einer von diesen Umständen vorlag, wie in Asien, da haben selbst sehr starke gemeinsame ökonomische Interessen die Stadtinsassen nicht zu mehr als nur transitorischem Zusammenschluß befähigt. Die Entstehung des autonomen und autokephalen
a
[124] In A folgt: mittelalterlichen
Stadtverbandes aber im Mittelalter mit seinem verwaltenden Rat und einem
b
A: ihrem
„Konsul“ oder „Major“
c
A: „Majer“
oder „Bürgermeister“ an der Spitze ist ein Vorgang, der sich von aller nicht nur asiatischen, sondern auch antiken Stadtentwicklung wesenhaft unterscheidet. In der Polis war, wie später noch zu erörtern,
64
[124] Siehe unten, S. 188 f.
die spezifisch städtische Verfassung zunächst, und zwar am meisten da, wo die Polis ihre charakteristischsten Züge entfaltete, eine Umbildung der Gewalt einerseits des Stadtkönigs, andererseits der Sippenältesten zu einer Honoratiorenherrschaft der voll wehrhaften „Geschlechter“. Gerade in denjenigen mittelalterlichen Städten dagegen, welche den spezifischen Typus der Zeit repräsentierten, war dies durchaus anders. Man muß freilich bei der Analyse des Vorgangs die formalrechtlich und die soziologisch und politisch entscheidenden Vorgänge auseinanderhalten, was bei dem Kampf der „Städtetheorien“ nicht immer geschehen ist.
65
Weber spielt auf zeitgenössische Auseinandersetzungen über Entstehungsursachen und rechtliche Grundlagen der mittelalterlichen Städte an. Vgl. dazu die Einleitung (mit bibliographischen Nachweisen), oben, S. 27 ff.
Formalrechtlich wurde die Korporation der Bürger als solche und ihre Behörden durch (wirkliche oder fiktive) Privilegien der politischen und eventuell auch der grundherrlichen Gewalten „legitim“ konstituiert. Diesem formalrechtlichen Schema entsprach der faktische Hergang allerdings teilweise. Aber oft und zwar gerade in den wichtigsten Fällen handelte es sich um etwas ganz anderes: eine, formalrechtlich angesehen, revolutionäre Usurpation. Freilich nicht überall. Man kann zwischen originärer und abgeleiteter Entstehung des mittelalterlichen Stadtverbandes unterscheiden. Bei originärer Entstehung war der Bürgerverband das Ergebnis einer politischen Vergesellschaftung der Bürger trotz der [125]und gegen die „legitimen“ Gewalten, richtiger: einer ganzen Serie von solchen Vorgängen. Die formalrechtlich entscheidende Bestätigung dieses Zustandes durch die legitimen Gewalten trat dann später – übrigens nicht einmal immer – hinzu. Abgeleitet entstand der Bürgerverband durch eine vertragsmäßige oder oktroyierte Satzung eines mehr oder minder weiten oder begrenzten Rechtes [A 661]der Autonomie und Autokephalie seitens des Stadtgründers oder seiner Nachfolger, besonders häufig bei der Neugründung von Städten zugunsten der Neusiedler und deren Rechtsnachfolger. Die originäre Usurpierung durch einen akuten Vergesellschaftungsakt, eine Eidverbrüderung (Conjuratio), der Bürger war namentlich in den großen und alten Städten, wie etwa Genua
66
[125] In Genua ist der erste Zusammenschluß der Bürger für 1099 belegt; Hegel, Karl, Geschichte der Städteverfassung von Italien seit der Zeit der römischen Herrschaft bis zum Ausgang des 12. Jahrhunderts, Band 2. – Leipzig: B. G. Teubner 1847, S. 178 (hinfort: Hegel, Geschichte).
und Köln[,] das Primäre. Im ganzen war eine Kombination von Hergängen der einen und der anderen Art die Regel. Die urkundlichen Quellen der Stadtgeschichte aber, welche naturgemäß die legitime Kontinuität stärker erscheinen lassen als sie war, erwähnen diese usurpatorischen Verbrüderungen regelmäßig gar nicht; es ist jedenfalls Zufall, wenn ihr Hergang urkundlich überliefert wird, so daß die abgeleitete Entstehung den wirklichen Tatsachen gegenüber wenigstens in schon bestehenden Städten sicherlich zu häufig erscheint. Von der Kölner „conjuratio“ von 1112 spricht eine einzige lakonische Notiz.
67
Gemeint ist der Eintrag in den Annales Colonienses maximi zum Jahr 1112: „Coniuratio Coloniae facta est pro libertate.“ Der Text ist ediert in: MGH, Scriptorum tomus 17, ed. Georgius H. Pertz. – Hannover: Hahn 1861, S. 749; dazu Hegel, Städte (wie oben, S. 76, Anm. 39), Band 2, S. 326, und Beyerle, Entstehung, S. 54 ff.
Rein formal mögen etwa in Köln die Schöffenbank der Altstadt und die Parochialvertretungen,
68
Nach Beyerle, Entstehung, S. 13, und Hegel, Städte, Band 2, S. 326, waren die Einwohner Kölns zu diesem Zeitpunkt nach dem Territorialprinzip in sieben Teilgemeinden eingeteilt, die deckungsgleich mit den Kirchspielen (Parochien) waren.
nament[WuG1 536]lich die der Martinsvorstadt als der Neusiedelung der „mercatores“, bei beurkundeten Akten ausschließlich in Aktion getreten sein, weil sie eben anerkannt „legitime“ Gewalten waren. Und die Gegner, die Stadtherren, pflegten bei den Auseinandersetzungen natürlich ebenfalls formale Legitimitätsfragen, etwa (in Köln): daß Schöffen vorhanden seien, die den [126]Eid nicht geleistet haben,
69
[126] Es geht um die Beschwerde des Kölner Erzbischofs Konrad von Hochstaden im Jahr 1258. Dieser beklagte sich, daß die Stadt nicht mehr ausschließlich von Schöffen regiert wurde, die dem Bischof Treue geschworen hatten (scabini iurati), sondern daß die Bürger einen Rat gewählt hatten, dessen Mitglieder diesen Eid nicht geleistet hatten. Diese Ratsherren werden allerdings nicht als „Schöffen“ bezeichnet, wie dies Weber hier tut; vgl. Hegel, Städte, Band 2, S. 336 f., der auch die Passage aus der einschlägigen Quelle – dem Text des Schiedsspruchs, in: Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, hg. von Leonard Ennen und Gottfried Eckertz, Band 2. – Köln: Du Mont-Schauberg 1863, Nr. 384 (S. 380–400), hier Artikel 43 auf S. 385 – wiedergibt.
und ähnliches vorzuschieben. Denn in dergleichen äußerten sich ja die usurpatorischen Neuerungen formal. Aber die gegen die Stadtautonomie gerichteten Erlasse der staufischen
d
[126]A: stauffischen
Kaiser sprechen eine andere Sprache: sie verbieten nicht nur diese und jene formalrechtlichen Einzelerscheinungen, sondern eben: die „conjurationes“.
70
Das Verbot von coniurationes findet sich in der „Constitutio Pacis“ Friedrichs I. von 1158 (MGH, Legum sectio 4: Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, tomus 1, ed. Ludewicus Weiland. – Hannover: Hahn 1893, Nr. 176, S. 245–247, § 6); in einer Trier betreffenden Urkunde des gleichen Kaisers aus dem Jahre 1161 (Urkundenbuch zur Geschichte der, jetzt die Preussischen Regierungsbezirke Coblenz und Trier bildenden mittelrheinischen Territorien, hg. von Heinrich Beyer, Band 1: Von den ältesten Zeiten bis zum Jahre 1169. – Coblenz: J. Hölscher 1860, Nr. 627, S. 687–689); in der „Sententia contra communiones civium“ Heinrichs (VII.) von 1231; Text in: MGH, Legum sectio 4: Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, tomus 2, ed. Ludewicus Weiland. – Hannover: Hahn 1896, Nr. 299, S. 413 f.); in der Sache auch im „Edictum contra communia civium et societates artificum“ Kaiser Friedrichs II. von 1232 (ebd., Nr. 156, S. 191–194) sowie wiederum explizit in dessen Untersagung der Gründung eines Stadtrats in Worms aus dem gleichen Jahr (Urkundenbuch der Stadt Worms, hg. durch Heinrich Boos, Band 1: 627–1300. – Berlin: Weidmann 1886, Nr. 155, S. 116 f. (hinfort: Urkundenbuch Worms)).
Und es spricht hinlänglich für die Art der bei jenen Umwälzungen faktisch treibenden Gewalten, daß in Köln noch weit später die Richerzeche (Gilde der Reichen) – vom Legitimitätsstandpunkt aus ein rein privater Klub besonders wohlhabender Bürger – nicht etwa nur, wie selbstverständlich, die Mitgliedschaft in diesem Klub, sondern: das davon rechtlich ganz unabhängige Bürgerrecht zu erteilen sich mit Erfolg die Kompetenz zuschreiben durfte. Auch die Mehrzahl der größeren französischen Städte sind in einer im Prinzip ähnlichen Art durch eidliche Bürgerverbrüderungen zu ihrer Stadtverfassung gelangt.
71
Weber stützt sich wahrscheinlich auf Holtzmann, Robert, Französische Verfassungsgeschichte von der Mitte des neunten Jahrhunderts bis zur Revolution (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, hg. von G[eorg] von Below und F[riedrich] Meinecke, Abteilung 3: Verfassung, Recht, Wirtschaft). – München und Berlin: R. Oldenbourg 1910, S. 170–172 (hinfort: Holtzmann, Verfassungsgeschichte).
[127][A 662]Die eigentliche Heimat der conjurationes war aber offenbar Italien. Hier wurde die Stadtverfassung in der weit überwiegenden Mehrzahl aller Fälle originär durch conjuratio ins Leben gerufen. Und hier kann man daher auch – trotz aller Dunkelheit der Quellen – am ehesten den soziologischen Sinn der Stadteinung ermitteln. Ihre allgemeine Voraussetzung war die dem Okzident charakteristische teils feudale, teils präbendale Appropriation der Herrschaftsgewalten. Man hat sich die Zustände in den Städten vor der conjuratio zwar im einzelnen untereinander sehr verschieden, im ganzen aber als ziemlich ähnlich der eigentümlichen Anarchie der Stadt Mekka zu denken, welche eben deshalb oben etwas näher geschildert wurde.
72
[127] Siehe oben, S. 95 ff.
Massenhafte Herrschaftsansprüche stehen, einander kreuzend, nebeneinander. Bischofsgewalten mit grundherrlichem und politischem Inhalt, viskontile und andere appropriierte politische Amtsgewalten, teils auf Privileg[,] teils auf Usurpation beruhend, große stadtsässige Lehensträger oder freigewordene Ministerialen des Königs oder der Bischöfe (capitanei)
e
[127]A: (capitani)
, landsässige oder stadtsässige Untervasallen (valvassores)
f
A: (valvasalles)
der capitanei
g
A: capitani
,
73
Valvassor ist wohl abgeleitet von vassus vassorum, „Vasall von Vasallen“. In den italienischen Quellen des 11. Jahrhunderts werden innerhalb der Ritterschaft die valvassores majores oder capitanei von den valvassores minores oder einfach valvassores unterschieden. Webers Annahme einer ursprünglichen Unterordnung der valvassores unter die capitanei geht zurück auf Hegel, Geschichte (wie oben, S. 125, Anm. 66), Band 2, S. 144.
allodialer Geschlechterbesitz
74
Allodialer Besitz steht nicht unter einem Obereigentum.
verschiedensten Ursprunges, massenhafte Burgenbesitzer in eigenem und fremdem Namen, als privilegierte Stände mit starker Klientel von hörigen und freien Schutzbefohlenen, berufliche Einigungen der stadtsässigen Erwerbsklassen, hofrechtliche, lehenrechtliche, landrechtliche, kirchliche Gerichtsgewalten stehen
h
Fehlt in A; stehen sinngemäß ergänzt.
nebeneinander. Zeitweilige Verträge – ganz entsprechend den „Verbindungen“ der mekkanischen Geschlechter
75
Dazu Webers Ausführungen oben, S. 96.
– unterbrachen die Fehden der wehrhaften Interessenten innerhalb und außerhalb der städtischen Mauern. Der offizielle [128]legitime Stadtherr war entweder ein kaiserlicher Lehensmann oder, und meist[,] der Bischof, und dieser letztere hatte vermöge der Kombination weltlicher und geistlicher Machtmittel am meisten Chance, eine wirksame Herrschaftsgewalt durchzusetzen. Zu einem konkreten Zweck und meist auf Zeit oder bis auf weiteres, also kündbar, wurde nun auch jene conjuratio geschlossen, welche als „Compagna
i
[128]A: „Compagne
communis“ (oder unter einem ähnlichen Namen) den politischen Verband der späteren „Stadt“ vorbereitet.
76
[128] Die „compagna communis“ in Genua war eine durch Eid beschworene, seit 1099 periodisch erneuerte Verbindung der Stadtbürger zum gegenseitigen Schutz ihrer Rechte; sie umfaßte zunächst die den Fernhandel tragenden Gruppen, dann aber bald wohl die gesamte waffenfähige Bürgerschaft und usurpierte schließlich die Militär-, Gerichts- und Finanzhoheit; vgl. Heyck, Eduard, Genua und seine Marine im Zeitalter der Kreuzzüge. Beiträge zur Verfassungs- und zur Kriegs-Geschichte. – Innsbruck: Wagner 1886, S. 21–33; Sieveking, Heinrich, Genueser Finanzwesen mit besonderer Berücksichtigung der Casa Di S. Giorgio, Band 1: Genueser Finanzwesen vom 12. bis 14. Jahrhundert (Volkswirtschaftliche Abhandlungen der Badischen Hochschulen, Band 1, Heft 3). – Freiburg i. B. [u. a.]: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1898, S. 14–21 (hinfort: Sieveking, Finanzwesen). Weber definiert sie an anderer Stelle (Konfuzianismus, MWG I/19, S. 149, und Wirtschaftsgeschichte, S. 205 (MWG, Abt. III)) als Militärverband.
Zunächst finden sich noch gelegentlich deren mehrere innerhalb der gleichen Mauern; aber dauernde Bedeutung erlangen allerdings nur der eidliche Verband der „ganzen“ Gemeinde, das heißt: aller derjenigen Gewalten, welche in dem betreffenden Augenblick [A 663]militärische Macht innerhalb der Mauern innehatten oder beanspruchten und in der Lage waren, sie zu behaupten. In Genua wurde dieser Verband zunächst von 4 zu 4 Jahren erneuert.
77
Nach Hegel, Geschichte, Band 2, S. 178 f., geschah dies von 1102 bis 1122 alle vier Jahre.
Gegen wen er sich richtete[,] war sehr verschieden. In Mailand schlossen ihn 980 die wehrhaften Stadtinsassen gegen den Bischof,
78
Darüber handelt Hegel, Geschichte, Band 2, S. 99 f.
in Genua scheint anfangs der Bischof mit den viskontilen Familien, welchen die weltlichen Herrenrechte (später als reine Zinsan[WuG1 537]sprüche fortbestehend) appropriiert waren, ihm angehört zu haben,
79
Diese Vermutung findet sich bei Sieveking, Finanzwesen (wie oben, Anm. 76), S. 10-14.
während die spätere Compagna
k
A: Compagne
communis allerdings hier wie anderwärts sich unter anderem auch gegen die Machtansprüche des Bischofs und der [129]Visconti
80
[129] Der Titel vicecomites für die Stellvertreter von Grafen wurde bei Familien, die diese Funktion wie erbliche Lehen wahrnahmen, zum Familiennamen, so bei den Visconti in Mailand und Pisa; Hegel, Geschichte, Band 2, S. 185 f.
richtete. Das positive Ziel der Eidverbrüderung aber war zunächst die Verbindung der ortsangesessenen Grundbesitzer zu Schutz und Trutz, zu friedlicher Streitschlichtung untereinander
l
[129]A: untereinander,
und zur Sicherung einer den Interessen der Stadtinsassen entsprechenden Rechtspflege, ferner aber die Monopolisierung der ökonomischen Chancen, welche die Stadt ihren Insassen darbot: nur der Eidgenosse wurde zur Teilnahme am Handel der Stadtbürger[,] in Genua
m
A: Genua,
z. B. zur Teilnahme an der Kapitalanlage in Form der Kommenda im Überseehandel, zugelassen;
81
Nach Weber, Handelsgesellschaften, S. 25, Anm. 1 (MWG I/1), waren die Angehörigen der Genueser „Compagna communis“ eidlich verpflichtet, solche Geschäfte nur mit Mitgliedern der Vereinigung einzugehen.
sodann die Fixierung der Pflichten gegen den Stadtherrn: feste Pauschalsummen oder hohe Zinsen statt willkürlicher Besteuerung; und endlich die militärischen Organisationen zum Zweck der Erweiterung des politischen und ökonomischen Machtgebiets der Kommune nach außen. Kaum sind die Konjurationen entstanden, so beginnen demgemäß auch schon die Kriege der Kommunen gegeneinander, die zu Anfang des 11. Jahrhunderts bereits eine chronische Erscheinung sind.
82
Dazu gehörten die Kämpfe zwischen Mailand und Lodi bzw. zwischen Pisa und Lucca; Hegel, Geschichte, Band 2, S. 134.
Nach innen erzwang die Eidverbrüderung den Beitritt der Masse der Bürgerschaft; die stadtsässigen, adligen und Patrizierfamilien, welche die Verbrüderung stifteten, nahmen dann die Gesamtheit der durch Grundbesitz qualifizierten Einwohner in Eid; wer ihn nicht leistete, mußte weichen. Irgendeine formale Änderung der bisherigen Amtsorganisation trat zunächst keineswegs immer ein. Bischof oder weltlicher Stadtherr behielten sehr oft ihre Stellung an der Spitze des Stadtbezirks, und verwalteten ihn nach wie vor durch ihre Ministerialen; nur das Vorhandensein der Bürgerversammlung ließ die große Umwälzung fühlbar werden. Aber das blieb nicht so. In den letzten Jahrzehnten des 11. Jahrhun[130]derts traten überall die „consules“ auf,
83
[130] Seit den 1080er Jahren sind in Lucca und Pisa, seit den 1090er Jahren in Asti und Mailand, seit Anfang des 12. Jahrhunderts in einer weiteren Zahl von Städten consules, d. h. ein Magistratskollegium, nachweisbar: vgl. Mayer, Ernst, Italienische Verfassungsgeschichte von der Gothenzeit bis zur Zunftherrschaft, Band 2. – Leipzig: A. Deichert 1909, S. 537–543 (hinfort: Mayer, Verfassungsgeschichte).
jährlich ge[A 664]wählt, offiziell durch die Gesamtheit der Bürger, oder durch ein von ihnen gewähltes, in Wahrheit wohl immer das Wahlrecht usurpierendes Honoratiorengremium, dessen Zusammensetzung nur durch Akklamation bestätigt wurde, als Wahlmännerkolleg, stets mehrere, oft ein Dutzend und mehr. Die Konsuln, besoldete und mit Sportelrechten ausgestattete Beamte, rissen in Vollendung der revolutionären Usurpation, die ganze oder den Hauptteil der Gerichtsbarkeit und den Oberbefehl im Kriege an sich und verwalteten alle Angelegenheiten der Kommune. Hervorgegangen scheinen sie in der ersten Zeit meist oder doch sehr oft aus den vornehmen richterlichen Beamten der bischöflichen oder herrschaftlichen Kurie; nur daß jetzt durch die eidverbrüderte Bürgerschaft oder deren Vertretung die Wahl an die Stelle der Ernennung durch den Stadtherrn trat. Sie streng kontrollierend stand ihnen zur Seite ein Kollegium von „Sapientes“, oft die „Credenza“
84
Sapientes“ bedeutet die „weisesten und (rechts-)gelehrten Leute“. Indem sie auf die „credenza“ = „credentia“, d. h. das Geheimnis oder Vertrauen der Consuln, vereidigt werden, bilden sie deren Rat; Hegel, Geschichte (wie oben, S. 125, Anm. 66), Band 2, S. 212 ff.
genannt, gebildet teils aus den alten Schöffen, teils aus Honoratioren, welche die Konsuln selbst oder ein
n
[130]A: im
Wahlkollegium dazu bestimmten; der Sache nach waren es einfach die Häupter der militärisch und ökonomisch mächtigsten Familien, welche unter sich diese Stellungen verteilten. Die erste Bildung der Schwurverbrüderung wahrte noch die ständische Scheidung der verschiedenen Kategorien von capitanei
o
A: capitani
(Hauptvasallen), Untervasallen, Ministerialen, Burgherren (castellani) und cives meliores,
85
Wörtlich: die „besseren Bürger“. Bezeichnung für die Mitglieder der wohlhabendsten und vornehmsten Familien der Städte.
d. h. der ökonomisch Wehrfähigen; die Ämter und der Rat wurden unter sie proportional verteilt. Aber sehr bald schon trat der im Effekt gegen den Lehensverband als solchen sich wendende Charakter der Bewegung beherrschend hervor. Die [131]Konsuln durften keine Lehen von einem Herrn nehmen, sich nicht als Vasallen kommendieren. Und eine der ersten, gewaltsam oder durch erzwungene oder erkaufte Privilegien der Kaiser und Bischöfe durchgesetzten, politischen Errungenschaften
p
[131]A: durchgesetzte politische Errungenschaft
war die Schleifung der kaiserlichen, bischöflichen und stadtherrlichen Burgen innerhalb der Stadt, ihre Verlegung vor die Stadtmauer (so besonders in Privilegien der salischen Kaiser) und die Durchsetzung des Grundsatzes, daß innerhalb eines bestimmten Bezirks um die Stadt Burgen nicht gebaut werden und daß der Kaiser und andere Stadtherren ein Recht, in der Stadt sich einzuquartieren, nicht besitzen sollten.
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[131] Den Verzicht auf die Anlage einer Pfalz und auf Einquartierung hat Heinrich IV. 1081 der Stadt Lucca garantiert; vgl. Pawiński, Adolf, Zur Entstehungsgeschichte des Consulats in den Comunen Nord- und Mittel-Italiens. XI.–XII. Jahrhundert. – Göttingen: Dieterich 1867 [Diss. Göttingen], S. 29 (hinfort: Pawiński, Entstehungsgeschichte); Meyer von Knonau, Gerold, Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Heinrich IV, und Heinrich V., 3. Band: 1077 (Schluß) bis 1084 (Jahrbücher der Deutschen Geschichte). – Leipzig: Duncker & Humblot 1900, S. 394 und 398. – Cremona und Mantua konnten 1114 bzw. 1116 aufgrund von Privilegien Heinrichs V. die Pfalzen innerhalb ihres Stadtgebietes zerstören; vgl. Hegel, Geschichte, Band 2, S. 136; Handloike, Max, Die lombardischen Städte unter der Herrschaft der Bischöfe und die Entstehung der Communen. – Berlin: W. Weber 1883, S. 23 f. – Die kaiserliche Burg in Bologna wurde Anfang des 12. Jahrhunderts geschleift; vgl. Hessel, Alfred, Geschichte der Stadt Bologna von 1116 bis 1280 (Historische Studien, Heft 76). – Berlin: Emil Ebering 1910, S. 52 f.
Die rechtliche [WuG1 538]Errungenschaft aber war die Schaffung einer besonderen städtischen Prozedur, unter Ausschaltung der irrationalen Beweis[A 665]mittel, namentlich des Zweikampfes (so in zahlreichen Privilegien des 11. Jahrhunderts)
87
So in den Privilegien Heinrichs IV. für Lucca und Pisa 1081; vgl. Pawiński, Entstehungsgeschichte, S. 30.
– das gleiche also, womit das englische und französische Königtum den Interessen der Bürger entgegenkam – ferner das Verbot, Stadtbürger vor äußerstädtische Gerichte zu ziehen[,] und die Kodifikation eines besonderen rationalen Rechtes für die Stadtbürger, welches das Gericht der Konsuln anzuwenden hatte
q
A: hatten
. So war aus dem zunächst von Fall zu Fall oder kurzfristig geschlossenen, rein personalen Eidverband ein dauernder politischer Verband geworden, dessen Zugehörige Rechtsgenossen eines besonderen ständischen Rechtes der Stadtbürger waren. Dies Recht aber bedeutete formal eine Austilgung des alten Personalitätsprinzips des Rechts, material aber eine [132]Sprengung der Lehensverbände und des ständischen Patrimonialismus. Zwar noch nicht zugunsten des eigentlichen gebietskörperschaftlichen „Anstaltsprinzipes“. Das Bürgerrecht war ein ständisches Recht
r
[132] In A folgt: der Mitglieder
der bürgerlichen Schwurgemeindegenossen. Ihm
s
A: Ihnen
unterstand man kraft Zugehörigkeit zum Stande der Stadtbürger oder der von ihnen abhängigen Hintersassen. Noch im 16. Jahrhundert war da, wo die Herrschaft der adligen Geschlechter in den Städten aufrecht stand, in den meisten niederländischen Gemeinden z. B., die Vertretung in den Provinzial- und Generalständen keine Vertretung der Stadt als solcher, sondern eine solche des stadtsässigen Adels; das tritt darin hervor, daß neben der Vertretung dieser Geschlechter sehr häufig noch eine Vertretung der Zünfte oder anderer nicht adliger ständischer Schichten aus
t
A: und
der gleichen Stadt sich fand, welche gesondert stimmte und mit der Vertretung der Geschlechter ihrer Stadt keineswegs zu einer gemeinsamen Stadtrepräsentation vereinigt war. In Italien fehlte diese spezielle Erscheinung. Aber im Prinzip war die Lage oft ähnlich. Der stadtsässige Adel sollte zwar, normalerweise wenigstens, aus dem Lehensverband gelöst sein (was aber keineswegs immer wirklich der Fall war), hatte aber neben seinen Stadthäusern Burgen und grundherrliche Besitzungen auswärts, war also neben seiner Teilhaberschaft am Kommunalverband noch als Herr oder Genosse in andere politische Verbände eingegliedert. In der ersten Zeit der italienischen Kommunen lag das Stadtregiment faktisch durchaus in den Händen ritterlich lebender Geschlechter, ganz einerlei ob formal die Vergesellschaftung ein anderes vorsah und ob gelegentlich auch tatsäch[A 666]lich die nicht adligen Bürger einen vorübergehenden Anteil am Regiment durchsetzten. Die militärische Bedeutung des ritterlichen Adels überwog. Im Norden, speziell in Deutschland spielten in noch stärkerem Maß als im Süden die alten Schöffengeschlechter
88
[132] Dies sind Familien, aus denen sich die Mitglieder des städtischen Gerichts rekrutierten. Die Schöffen (scabini) hatten die Aufgabe, unter dem Vorsitz des Richters (Schultheiß oder Vogt) Urteile zu fällen.
eine entscheidende Rolle, behielten oft zunächst die Verwaltung der Stadt auch formell oder doch in ungeschiedener Personalunion in der Hand. Und je nach der Machtlage erzwangen [133]auch die bisherigen Träger der stadtherrlichen, namentlich der bischöflichen, Verwaltung
a
[133]A: Verwaltung,
einen Anteil: die Ministerialen. Besonders da, wo die Usurpation gegenüber dem Stadtherrn nicht unbedingt durchdrang – und das war meist der Fall – setzte dieser, also meist der Bischof, eine Teilnahme für Ministerialen am städtischen
b
A: ständischen
Rat durch. In großen Städten wie Köln und Magdeburg hatte der Bischof seine Verwaltung ganz oder teilweise durch freie bürgerliche Schöffen geführt, welche nun aus beeideten Beamten des Bischofs beeidigte Vertreter der Kommunen zu werden die Tendenz zeigten, immer aber dabei die Repräsentanten der conjuratio sich beigesellten oder mit ihnen sich in die Verwaltung teilten. Neben die vom Grafen ernannten Schöffen der flandrischen, brabanter und der niederländischen Städte begannen im 13. Jahrhundert Ratsmänner oder Geschworene (jurati – schon der Name
c
A: Namen
zeigt die usurpatorische Entstehung aus einer conjuratio an) oder „Bürgermeister“ aus der Bürgerschaft für die Zwecke der Verwaltung zu treten, meist in gesonderten Kollegien, zuweilen mit ihnen zusammentretend. Sie waren Vertreter der zur Einung verbundenen Bürger, in Holland noch später als Korporation der „Vroedschap“ fortbestehend.
89
[133] Nach Hegel, Städte (wie oben, S. 76, Anm. 39), Band 2, S. 267–271, monopolisierte die „vroedschap“, der Zusammenschluß der mächtigsten Familien (der „Weisen“), in den holländischen Städten im 14. und 15. Jahrhundert die politischen Rechte der Bürgerschaft.
Überall hat man sich die Verhältnisse in der ersten Zeit als sehr schwankend und gerade die entscheiden[WuG1 539]den Punkte der faktischen Machtverteilung sehr wenig formal geregelt vorzustellen. Die persönlichen Beziehungen und Einflüsse und die Personalunion mannigfacher Funktionen taten das Entscheidende; eine formelle Sonderung einer „Stadtverwaltung“ in unserem heutigen Sinn, eigene Bureaus und Rathäuser, fehlte
d
A: fehlten
. Wie in Italien durchweg die Bürgerschaft sich im Dom versammelte, die leitenden Komitees oder auch Bürger aber vermutlich zunächst in Privathäusern und in Klublokalen, so war es auch in Köln
e
A: Rom ; vgl. Anm. 90.
.
90
Weber bezieht sich, wie aus dem folgenden hervorgeht, nicht auf Rom, wie es im überlieferten Text heißt, sondern auf Köln.
Namentlich das letztere scheint sicher. In der Zeit der Usurpation war offenbar in Köln das [134]„Haus der Reichen“ (domus divitum) mit dem „Haus der Bürger“ (domus civium)
f
[134]A: civiam)
[,] also dem [A 667]Sitz der Verwaltung[,] ebenso in „Lokalunion“, wie, nach Beyerles sicher richtiger Darlegung,
91
[134] Weber rekurriert auf Beyerle, Entstehung, S. 63 (Lokalunion von domus civium und domus divitum) und S. 64 (weitgehende Personalunion zwischen Richerzeche und Schöffen).
die Führer des Klubs der Richerzeche mit den Inhabern der Schöffenstühle und anderer maßgebender Ämter in einer weitgehenden Personalunion gewesen und geblieben sein müssen. Ein stadtsässiges Rittertum von der Bedeutung des italienischen gab es hier nicht. In England und Frankreich spielten die Kaufmannsgilden die führende Rolle. In Paris waren die Vorstände der Wassergilde auch formal als Vertreter der Bürgerschaft anerkannt.
92
Die Mitglieder der Wassergilde heißen in den Quellen mercatores aquae bzw. „marchands de l’eau“. Es handelt sich um den Zusammenschluß der Händler, die über das Schiffahrtsprivileg auf der Seine und das Handelsmonopol in der Stadt verfügten. Zu ihrer Stellung als Stadtregierung vgl. (aus der von Weber wahrscheinlich benutzten Literatur) Hegel, Städte (wie oben, S. 76, Anm. 39), Band 2, S. 86–109; Goldschmidt, L[evin], Handbuch des Handelsrechts, 1. Band: Geschichtlich-literärische Einleitung und die Grundlehren, 1. Abtheilung: Universalgeschichte des Handelsrechts, 1. Lieferung, 3. Aufl. – Stuttgart: Ferdinand Enke 1891, S. 217 und 221; Holtzmann, Verfassungsgeschichte (wie oben, S. 126, Anm, 71), S. 171 und 284. Vgl. außerdem Gallion, Wilhelm, Der Ursprung der Zünfte in Paris. – Diss. Freiburg im Breisgau 1910, S. 19–25 (in erweiterter Fassung erschienen als Heft 24 der Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte, hg. von Georg von Below [u. a.] – Berlin und Leipzig: Walther Rothschild 1910).
Die Entstehung der Stadtgemeinden ist aber auch in Frankreich bei den meisten großen und alten Städten durchaus in der
g
A: die
Regel wohl durch Usurpation seitens der Verbände der Bürger, der Kaufleute und stadtsässigen Rentner entweder mit den stadtsässigen Rittern – so im Süden – oder mit den confraternitates und Zünften der Handwerker – so im Norden des Landes – vor sich gegangen.
93
Weber folgt Holtzmann, Verfassungsgeschichte, S. 171: „Diese Zünfte und Gilden [wie die Pariser Wassergilde und die Kaufmannsgilde von Lyon] verteidigten in erster Linie das Interesse ihres Standes, das aber häufig genug mit demjenigen der Stadt zusammenfiel. Ihre Mitwirkung zeigt sich namentlich bei den kommunalen Kämpfen des Nordens. Doch sind die Vereinigungen dieser zumeist hörigen Kreise keineswegs die einzigen, die bei der Entstehung der Städte mitgewirkt haben. Im Süden und Osten Frankreichs spielten vielmehr eine ähnliche Rolle die Verbände, welche die Bürgerlichen sowohl wie die kleinen Adligen untereinander geschlossen hatten“.
[135]Ohne mit der „conjuratio“ identisch zu sein, haben bei der Entstehung diese
h
[135] Zu ergänzen wäre: Verbrüderungen
doch, speziell im Norden, in andern Einungen, eine bedeutende Rolle gespielt. Die Schwurbrüderschaften des germanischen Nordens weisen, entsprechend der noch geringern Entwicklung des Rittertums[,] ganz besonders archaische Züge auf, die den südeuropäischen Ländern im ganzen fehlten. Die Schwurbrüderschaften konnten für den Zweck der politischen Vergesellschaftung und Usurpation von Macht gegenüber den Stadtherrn neu geschaffen werden. Aber es konnte die Bewegung auch an die im Norden und in England massenhaft entstandenen Schutzgilden anknüpfen.
94
[135] Die Gilden in England, Dänemark, Schweden, Norwegen, der Normandie und Nordfrankreich, Flandern und Brabant, Holland und Zeeland sowie (Nordwest-)Deutschland behandelt ausführlich Hegel, Städte (wie oben, S. 76, Anm. 39).
Diese waren keineswegs primär zum Zweck der Einflußnahme auf politische Verhältnisse geschaffen worden. Sie ersetzten vielmehr ihren Mitgliedern zunächst das, was ihnen in der frühmittelalterlichen Stadt besonders häufig abging: den Anhalt an einer Sippe und deren Garantie. Wie diese dem Versippten, so gewährten sie ihm Hilfe bei persönlicher Verletzung oder Bedrohung und oft auch in ökonomischer Not, schlossen Streit und Fehde zwischen den Verbrüderten aus, und machten deren friedliche Schlichtung zu ihrer Aufgabe, übernahmen für den Genossen die Wehrgeldpflicht (in einem englischen Fall)
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Wergeld (so die üblichere Schreibweise) ist die vom Täter oder seinen Verwandten zu zahlende Entschädigungs- bzw. Bußsumme an die Angehörigen bzw. den Leibherrn eines getöteten Mannes. Zum Eintreten von Gilden in die Wergeldpflicht im Recht der angelsächsischen Zeit vgl. Hegel, Städte, Band 1, S. 20–24, sowie S. 32 f. zu der entsprechenden Regelung im Statut der Cambridger Gilde aus dem 11. Jahrhundert, auf die auch Ehrenberg, Richard, „Gilden“, in: HdStW3, Band 5, S. 11–13, hier S. 12 (hinfort: Ehrenberg, Gilden), verweist. Webers Feststellung: „in einem englischen Fall“ bezieht sich vermutlich hierauf.
und sorgten für seine Geselligkeitsbedürfnisse durch Pflege der noch aus heidnischer Zeit stammenden periodischen Gelage (ursprünglich Kultakte), ferner für sein Begräbnis unter Beteiligung der Brüderschaft, garantierten sein Seelenheil durch gute Werke, verschafften ihm auf gemeinsame Kosten Ablässe [A 668]und die Gunst mächtiger Heiliger und suchten im übrigen natürlich gegebenenfalls gemeinsame, auch ökonomische, Interessen zu vertreten. Während die nordfranzösischen Stadteinungen vorwiegend als beschworene Friedenseinun[136]gen ohne die sonstigen Gildenattribute ins Leben traten,
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[136] Weber adaptiert vermutlich das Ergebnis von Hegels Untersuchung über die Kommune in Nordfrankreich; vgl. Hegel, Städte, Band 2, S. 23–76, hier vor allem S. 40: „Diese aus religiösem Bedürfnisse hervorgegangene Friedenseinigung [scil. die Kommune von Amiens 1021] hat nichts mit dem Begriff einer Gilde zu schaffen“.
hatten die englischen und nordischen Stadteinungen regelmäßig Gildecharakter. In England war die Handelsgilde mit dem Monopol des Kleinverkaufs innerhalb der Stadt die typische Form der Stadteinung. Die deutschen Händlergilden waren der Mehrzahl nach spezialisiert nach Branchen (so die meist mächtige Gewandschneidergilde, die Krämergilde u. a.). Von da aus ist dann die Gilde als Organisationsform auf den Fernhandel übertragen worden, – eine Funktion, die uns hier nichts angeht.
Die Städte sind nicht, wie man vielfach geglaubt hat, „aus den Gilden entstanden“, sondern – in aller Regel – umgekehrt die Gilden in den Städten. Die Gilden haben ferner auch nur zum kleinen Teil (namentlich im Norden, speziell in England, als „summa
i
[136]A: „summae
convivia“) die Herrschaft in den Städten erlangt;
97
Webers Stellungnahme gegen die „Gildentheorie“ folgt anscheinend Ehrenberg, Gilden, S. 12: „Alle diese späteren Gilden sind in Städten entstanden. Dagegen ist die von Wilda aufgestellte, von Gierke, Nitzsch und anderen aus- und umgebildete sog. ,Gildetheorie‘ für die Entstehung der Stadtgemeinden, wonach letztere aus Gilden hervorgegangen sein sollen, durch die neuesten Forschungen von Hegel, Groß und von Below beseitigt worden“. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Gilde im Altnordischen ist Opfer oder Trinkgelage (lat. convivium); Hegel, Städte, Band 1, S. 149. „Sehr alte herrschende Gilden (summa convivia)“ führt Ehrenberg, Gilden, S. 12, für Schleswig und Canterbury an.
die Regel war vielmehr, daß zunächst die mit den Gilden keineswegs identischen „Ge[WuG1 540]schlechter“ in den Städten die Herrschaft an sich zogen. Denn die Gilden waren auch nicht mit der conjuratio, der Stadteinung, identisch.
Die Gilden waren endlich niemals die einzigen Arten von Einung in den Städten. Neben ihnen standen einerseits die in ihrer beruflichen Zusammensetzung uneinheitlichen religiösen Einungen, andrerseits aber rein ökonomische, beruflich gegliederte Einungen: Zünfte. Die religiöse Einungsbewegung, die Schaffung von „confratemitates“, ging das ganze Mittelalter hindurch neben den politischen, den gildenmäßigen und den berufsständischen Einungen her und kreuzte sich mit ihnen in mannigfachster Art. Sie spielten namentlich bei den Handwerkern eine bedeutende, mit der Zeit wech[137]selnde Rolle. Daß zufällig die älteste urkundlich nachweisbare
k
[137]A: nachweisbar
eigentliche fraternitas von Handwerkern
l
A: Handwerkern,
in Deutschland: die der Bettziechenweber in Köln (1180),
98
[137] Die Bruderschaft der Bettziechen(=Bettüberzüge)-Weber ist schon für 1149 urkundlich nachgewiesen; dazu Hegel, Entstehung, S. 120. Edition der Urkunde in: Loesch, Heinrich von, Die Kölner Zunfturkunden. Nebst anderen Kölner Gewerbeurkunden bis zum Jahre 1500, Band 1: Allgemeiner Teil (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, Band 22). – Bonn: Eduard Weber 1907, Nr. 10 (S. 25 f.); Übersetzung in: Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, hg. von Leonard Ennen und Gottfried Eckertz, Band 1. – Köln: DuMont-Schauberg 1860, S. 329 f. – Webers Datierung auf 1180 beruht anscheinend auf einer Verwechslung mit dem ersten urkundlichen Nachweis der Richerzeche (Hegel, Entstehung, S. 122; Beyerle, Entstehung, S. 62–65).
jünger ist als die entsprechende gewerbliche Einung, beweist an sich zwar nicht, daß zeitlich die berufliche Einung, richtiger: der spezifisch berufliche Zweck der Einung, überall der frühere und ursprüngliche gewesen sei. Allerdings scheint dies aber bei den gewerblichen Zünften die Regel gewesen zu sein, und dies erklärt sich vermutlich daraus, daß die Einungen der freien Handwerker[,] [A 669]wenigstens außerhalb Italiens, ihr erstes Vorbild an der grundherrschaftlichen Einteilung der abgabepflichtigen Handwerker in Abteilungen mit
m
A: nur
Meistern
n
A: Meister
an der Spitze
99
Weber nimmt hier – möglicherweise im Anschluß an Keutgen, F[riedrich], Aemter und Zünfte. Zur Entstehung des Zunftwesens. – Jena: Gustav Fischer 1903 – eine vermittelnde Position gegenüber Kontroversen in der zeitgenössischen Forschung ein. Die Annahme der Verfechter der „hofrechtlichen Theorie“, die Zünfte seien hervorgegangen aus Verbänden unfreier Fronhofshandwerker, die einem Meister unterstanden hätten, ist v.a. von Below bekämpft worden, der eine Entstehung der Zünfte aus freien Einungen freier Handwerker vertreten hat; vgl. den Überblick über die Forschungsdiskussion bei Stieda, Wilh[elm], „Zunftwesen“, in: HdStW3, Band 8, S. 1088–1111, hier S. 1089–1093.
fanden. Aber in andern Fällen bildete wohl auch die fraternitas den Ausgangspunkt der späteren beruflichen Einung. Wie noch in der letzten Generation die Entstehung jüdischer Arbeitergewerkschaften in Rußland mit dem Ankauf des dringendsten Bedarfsartikels für einen religiös vollwertigen Juden: einer Thorarolle, zu beginnen pflegte
o
A: pflegten
,
100
Weber stützt sich vermutlich auf die Arbeit von Rabinowitsch, Sara, Die Organisationen des jüdischen Proletariats in Russland (Volkswirtschaftliche Abhandlungen der Badischen Hochschulen, Band 7, 2. Ergänzungsband). – Karlsruhe: G. Braun 1903, die über die Bedeutung der Thorarolle bei den Zusammenschlüssen der Handwerker und Arbeiter schreibt: „Ebenso wurde es jedem mehr oder weniger wohlhabenden Juden zur Gewissenspflicht gemacht, auf seine Kosten seine eigene Thorarolle der Gemeindesynagoge zu stiften; eine Pflicht, welche bis in die Gegenwart hinein von allergrösster Bedeutung für [138]die Entstehung der jüdischen Handwerkerorganisationen und Brüderschaften ist“ (S. 9); ferner S. 63 f.: „Ein besonders krasser Fall der Willkür der Meister innerhalb der Chewra [= Zunft] veranlasste im Jahre 1897 die endgiltige Absonderung der Gesellen von der gemeinsamen Chewra. Sie gründeten alsdann eine eigene Organisation ganz und gar nach dem Muster der alten. Es ist dieselbe Anschaffung einer Thorarolle, mit der die Chewra ihre Tätigkeit beginnt“.
so pflegten auch zahlreiche, der [138]Sache nach berufliche Verbände gesellige und religiöse Interessen an die Spitze zu stellen oder doch, wenn sie ausgesprochene Berufseinungen waren, religiöse Anerkennung zu suchen, wie dies auch die meisten Gilden und überhaupt alle Einungen im Laufe des Mittelalters in der Regel getan haben. Das war keineswegs nur ein Schleier für massive materielle Interessen. Daß z. B. die ältesten Konflikte der späteren Gesellenverbände nicht über Arbeitsbedingungen, sondern über religiöse Etikettenfragen (Rangfolge bei Prozessionen und ähnliches)
101
In Colmar haben 1495 die Bäckergesellen unter Protest die Stadt verlassen, weil sie ihren angestammten Platz in der Fronleichnamsprozession – unmittelbar hinter dem Allerheiligsten – mit anderen Gesellenverbänden teilen sollten; der daraus folgende Konflikt zwischen den Bäckergesellen und dem Rat der Stadt wurde vor verschiedenen Instanzen ausgetragen und führte zu einem zehn Jahre andauernden Streik der Colmarer Bäckergesellen. Der Fall wird geschildert bei Schanz, Georg, Zur Geschichte der deutschen Gesellen-Verbände. Mit 55 bisher unveröffentlichten Documenten aus der Zeit des 14.–17. Jahrhunderts. – Leipzig: Duncker & Humblot 1877, S. 78–89.
entstanden, zeigt vielmehr, wie stark religiös bedingt auch damals die soziale Bewertung des sippenlosen Bürgers war. Nur tritt gerade dabei sofort auch das, worauf es hier ankommt, der ungeheure Gegensatz gegen jeden tabuistischen kastenartigen Abschluß hervor, welcher die Verbrüderung zu einer Gemeinde ausgeschlossen hätte. Im ganzen standen diese religiösen und geselligen Bruderschaften, einerlei ob sie im Einzelfall die älteren oder die jüngeren waren, oft nur in faktisch annähernder Personalunion mit den offiziellen Berufsverbänden – Kaufmannsgilden und Handwerkerzünften –, von denen späterhin noch die Rede sein muß.
102
Siehe unten, S. 199 f.
Diese ihrerseits wieder waren weder, wie man wohl geglaubt hat,
103
Weber spielt hier erneut auf die Diskussion um die Gildentheorie an. Mit seiner ablehnenden Argumentation liegt er auf einer Linie mit Below, Georg von, Die Bedeutung der Gilden für die Entstehung der deutschen Stadtverfassung, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 3. Folge, Band 3, 1892, S. 56–68, hier S. 65 ff.
immer Abspaltungen aus einer ursprünglich einheitlichen Bürgergilde – das kam vor, aber andrerseits waren z. B. Handwerkereinungen zum Teil wesentlich älter als die ältesten con[139]jurationes. Noch waren sie umgekehrt ihre Vorläufer – denn sie finden sich in der ganzen Welt, auch wo nie eine Bürgergemeinde entstanden ist. Sondern alle diese Einungen wirkten in der Regel wesentlich indirekt: durch jene Erleichterung des Zusammenschlusses der Bürger, welche aus der Gewöhnung an die Wahrnehmung gemeinsamer Interessen durch freie Einungen überhaupt entstehen mußte: durch Beispiel und Personalunion der führenden Stellung in den Händen der in der Leitung solcher Schwurverbände erfahrenen und durch sie sozial einflußreichen Persönlichkeiten. [A 670]In jedem Fall war es an sich das Natürliche, und der weitere Verlauf bestätigt es, daß auch im Norden überall die reichen, an der Selbständigkeit der Verkehrspolitik interessierten Bürger es waren, welche außer den adligen Geschlechtern an der Schaffung der conjuratio aktiv partizipierten, das Geld hergaben, die Bewegung in Gang hielten und die mit den Geschlechtern gemeinsam die Masse der übrigen in Eid und Pflicht nahmen; eben davon war offenbar das Recht der Bürgerrechts[WuG1 541]verleihung durch die Richerzeche ein Rest.
104
[139] Das Privileg der Kölner Richerzeche, das Bürgerrecht verleihen zu dürfen, erwähnt Beyerle, Entstehung, S. 64. Belegt ist dies allerdings erst durch eine Urkunde aus dem Jahre 1372, als ihr diese Funktion wieder entzogen wurde; vgl. Lau, Entwicklung (wie oben, S. 119, Anm. 50), S. 87, sowie zu den Forschungskontroversen über die Genese dieses Rechts Below, Georg von, Die Kölner Richerzeche, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Band 1, 1889, S. 443–448.
Wo überhaupt außer den Geschlechtern auch Verbände von erwerbenden Bürgern an der Bewegung beteiligt waren, kamen dafür von allen Einungen allerdings meist nur die Gilden der Kaufleute für die Stadteinung in Betracht. Noch unter Eduard II. wurde in England von den damals gegen die Kaufmannschaft aufsässigen Kleinbürgern geklagt: daß die „potentes“ Gehorsamseide von den ärmeren Bürgern, speziell auch den Zünften, verlangten
p
[139]A: verlangen
und kraft dieser usurpierten Macht Steuern auferlegten.
105
Potentes“ sind die einflußreichen und mächtigen Mitglieder der Bürgergemeinde. Bei Hatschek, Verfassungsgeschichte, S. 267, wird eine Klage der Bürger von Gloucester über eigenmächtige Steuererhebung durch die „potentes“ aus der Zeit Eduards I. (nicht Eduards II., wie es bei Weber heißt) angeführt; weitere Belege bei Colby, Charles W., The Growth of Oligarchy in English Towns, in: English Historical Review, vol. 5, 1890, S. 633–653, hier S. 644 f.
Ähnlich hat sich der Vorgang sicher bei den meisten originär-usurpatorischen Stadtverbrüderungen abgespielt. Nachdem nun die sukzessiven Usurpa[140]tionen in einigen großen Städten Erfolg gehabt hatten, beeilten sich aus „Konkurrenzrücksichten“ diejenigen politischen Grundherren, welche neue Städte gründeten oder bestehenden neue Stadtprivilegien verliehen, einen allerdings sehr verschieden großen Teil jener Errungenschaften ihren Bürgern freiwillig und ohne erst die Entstehung einer formalen Einung abzuwarten, zuzusichern, so daß die Erfolge der Einungen die Tendenz hatten, sich universell zu verbreiten. Dies wurde namentlich dadurch befördert, daß die Siedlungsunternehmer oder auch die Siedlungsreflektanten, wo immer sie, durch Vermögensbesitz und soziales Ansehen, dem Stadtgründer gegenüber das nötige Gewicht dazu hatten, sich die Gewährung eines bestimmten Stadtrechtes, z. B. die Freiburger das Kölner, zahlreiche süddeutsche Bürgerschaften das Freiburger, östliche Städte das Magdeburger[,] in Bausch und Bogen kompetieren ließen und nun bei Streitigkeiten die Stadt, deren Recht gewährt worden war, als kompetent für die Auslegung des letzteren angerufen wurde.
106
[140] Nach der Freiburger Stiftungsurkunde von 1120 (vgl. die nächste Anm.) ließen sich die Bürger die Anwendung des altgemeinen Kaufmannsrechts zugestehen („kompetieren“), wobei im Zweifelsfall die Anlehnung an Kölner Recht erfolgen sollte; vgl. Keutgen, F[riedrich], Untersuchungen über den Ursprung der deutschen Stadtverfassung. – Leipzig: Duncker & Humblot 1895, S. 215 f. – Wenn bei einer Stadtgründung das Recht einer bestimmten Stadt übernommen worden war, erbaten die Gerichte der „Tochterstädte“ in Zweifelsfällen Gutachten und gegebenenfalls auch Urteile von den Gerichten der „Mutterstadt“: der Bedarf ergab sich im Falle des (über Brandenburg und Kursachsen bis nach Schlesien, Böhmen und Polen verbreiteten) Magdeburger Rechts auch daraus, daß dieses nicht aufgezeichnet war.
Auf je wohlhabendere Siedler der Stadtgründer reflektierte, desto erheblichere Konzessionen mußte er machen. Die 24 conjuratores
q
[140]A: conjuratio
fori in Freiburg z. B., denen Berthold von Zähringen die Erhaltung der Freiheiten der Bürger der [A 671]neuen Stadt angelobt, spielen hier etwa die Rolle der „Richerzeche“ in Köln, sind persönlich weitgehend privilegiert und haben als „consules“ der Gemeinde zuerst das Stadtregiment in der Hand.
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Zur Gründung eines Marktortes (forum) auf seinem Eigengut Freiburg im Breisgau rief der Herzog von Zähringen angesehene Kaufleute zusammen. In der von beiden Seiten beschworenen Vereinbarung (coniuratio) wurden den als conjuratores fori bezeichneten 24 Gründern Grundstücke zugewiesen, Privilegien wie die Befreiung von Zöllen und Steuern zugestanden und zugleich festgelegt, daß sie als Ratsherren (consules) fungieren sollten; vgl. Hegel, Entstehung, S. 38 f. und 174. Die Edition der Stiftungsurkunde fin[141]det sich bei Keutgen, F[riedrich], Urkunden zur Städtischen Verfassungsgeschichte (Below, G[eorg] von und Keutgen, F[riedrich], Ausgewählte Urkunden zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Band 1). – Berlin: Emil Felber 1899, S. 117 f. (hinfort: Keutgen, Urkunden). Aufgrund einer komplizierten Überlieferungslage finden sich in der zeitgenössischen Literatur unterschiedliche Rekonstruktionen des Gründungsdatums bzw. divergierende Identifizierungen des Stadtgründers; vgl. nur Hegel, Entstehung, S. 38–40; ders., Geschichte (wie oben, S. 125, Anm. 66), Band 2, S. 407–409; Heyck, Eduard, Geschichte der Herzoge von Zähringen. – Freiburg i. B.: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1891, S. 583–589, die sich für eine Gründung durch Konrad von Zähringen im Jahre 1120 entscheiden. Andere Annahmen beziehen sich auf Berthold II. (gestorben 1111) bzw. Berthold III. (gestorben 1122), den Bruder Konrads. Weber legt sich nur auf „Berthold“ fest; die Analogie zur Richerzeche übernimmt er wohl von Gothein, Eberhard, Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes und der angrenzenden Landschaften, Band 1: Städte- und Gewerbegeschichte. – Straßburg: Karl J. Trübner 1892, S. 92 f. (hinfort: Gothein, Wirtschaftsgeschichte), der seinerseits von einer Gründung durch Berthold III. um 1110 spricht.
[141]Zu den durch Verleihung bei der Gründung und Privilegierung der Städte durch Fürsten und Grundherrn verbreiteten Errungenschaften aber gehört vor allem überall: daß die Bürgerschaft als eine „Gemeinde“ mit eigenem Verwaltungsorgan, in Deutschland dem „Rat“[,] an der Spitze konstituiert wurde. Der „Rat“ vor allem gilt in Deutschland als ein notwendiges Freiheitsrecht der Stadt, und die Bürger beanspruchten, ihn autonom zu besetzen. Zwar ist dies keineswegs kampflos durchgesetzt worden. Noch Friedrich II. hat 1232 alle Räte und Bürgermeister, die ohne Konsens der Bischöfe von den Bürgern eingesetzt waren, verboten,
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Kaiser Friedrich II. verfügte 1232 mit dem „Edictum contra communia civium et societates artificum“ (zur Edition der Urkunde vgl. oben, S. 126, Anm. 70), daß die Bürger der Bischofsstädte nur mit Zustimmung ihres bischöflichen Stadtherrn einen Rat einsetzen und wählen durften; Heusler, Andreas, Verfassungsgeschichte der Stadt Basel im Mittelalter. – Basel: Bahnmaier (C. Detloff) 1860, S. 168 ff. (hinfort: Heusler, Verfassungsgeschichte), und Hegel, Entstehung, S. 177.
und der Bischof von Worms setzte für sich und seinen Stellvertreter den Vorsitz im Rat und das Ernennungsrecht der Ratsmitglieder durch.
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Dies setzte 1233 der Wormser Bischof Heinrich (aus dem Geschlecht der Grafen von Saarbrücken) durch, der zuvor zusammen mit anderen Bischöfen und Fürsten das Edikt Friedrichs II. (vgl. vorherige Anm.) erwirkt hatte; Hegel, Entstehung, S. 177 f. Die Urkunde ist ediert in: Urkundenbuch Worms (wie oben, S. 126, Anm. 70), Band 1, Nr. 163, S. 122 f.
In Straßburg war die Ministerialenverwaltung des Bischofs Ende des 12. Jahrhunderts durch einen aus Ratsmännern der Bürger und [142]5 Ministerialen zusammengesetzten Rat ersetzt,
110
[142] Weber folgt Hegel, Entstehung, S. 178. Dieser verweist darauf, daß aus den Namen der Unterzeichner eines Beschlusses der Straßburger Bürgerschaft aus der Zeit des Bischofs Konrad von Hüneburg (1190–1202) geschlossen werden kann, daß es sich bei fünf der insgesamt zwölf Ratsmitglieder um Ministeriale handelte; Urkundenbuch der Stadt Strassburg, Band 1: Urkunden und Stadtrechte bis zum Jahr 1266, bearbeitet von Wilhelm Wiegand (Urkunden und Akten der Stadt Strassburg, 1. Abtheilung). – Strassburg: Karl J. Trübner 1879, Nr. 144 (S. 119).
und in Basel setzte der Bischof durch, daß der, wie Hegel annimmt, vom Kaiser selbst zugelassene Rat der Bürger vom Kaiser wieder verboten wurde.
111
Friedrich II. hat dies 1218 auf Ersuchen des Basler Bischofs Heinrich von Thun verfügt, der sich darüber beschwert hatte, daß der Rat ohne seine Zustimmung etabliert worden sei. Die Feststellung, daß der König (Friedrich II. wurde erst 1220 zum Kaiser gekrönt) damit ein Privileg widerrief, das er selbst den Bastern eingeräumt hatte, hat Hegel, Entstehung, S. 181 f., aus dem Text der Urkunde (Urkundenbuch der Stadt Basel, Band 1, bearbeitet durch Rudolf Wackernagel und Rudolf Thommen. – Basel: C. Detloff 1890, Nr. 92, S. 61–63) erschlossen.
In zahlreichen süddeutschen Städten aber blieb der herrschaftlich ernannte oder doch herrschaftlich bestätigte Schultheiß
112
Ein vom Stadtherrn eingesetzter Amtsträger, der den Vorsitz im Stadtgericht innehat und die stadtherrlichen Rechte wahrnimmt.
lange Zeit der eigentliche Chef der Stadt, und die Bürgerschaft konnte dieser Kontrolle nur ledig werden, indem sie das Amt käuflich erwarb. Allein fast überall finden wir dort, daß neben dem Schultheiß in den Urkunden der Stadt zunehmend der „Bürgermeister“ hervortritt und schließlich meist den Vorrang gewinnt. Er aber war dort im Gegensatz zum Schultheiß in aller Regel ein Vertreter der Bürgereinung, also ein ursprünglich usurpatorisch entstandener und nicht ein ursprünglich herrschaftlicher Beamter. Freilich aber war, entsprechend der andersartigen sozialen Zusammensetzung sehr vieler deutscher Städte, dieser im 14. Jahrhundert aufsteigende „Bürgermeister“ oft schon nicht mehr ein Vertreter der „Geschlechter“, also den „consules“ Italiens entsprechend, – diesen entsprachen vielmehr die scabini non jurati
r
[142]A: scalini non juratis ; vgl. Anm. 113.
,
113
Weber bezieht sich vermutlich auf den Kölner Konflikt von 1258 und meint die von der Bürgerschaft gewählten Ratsherren. In der einschlägigen Urkunde (oben, S. 126, Anm. 69) werden die Schöffen, die auf den Erzbischof vereidigt waren (scabini iurati), den Ratsherren als einem Gremium von non iurati gegenübergestellt. Da Weber oben, S. 125 f., von „Schöffen […], die den Eid nicht geleistet haben“, spricht, wollte er hier augenscheinlich scabini non jurati schreiben.
die consules und ähnliche Vertreter der Frühzeit in den großen Städten [WuG1 542]– sondern viel[143]mehr ein Vertrauensmann der Berufseinung, gehörte also hier einem späteren Entwicklungsstadium an.
[A 672]Die aktive Mitgliedschaft im Bürgerverband
s
[143]A: des Bürgerverbandes
war zunächst überall an städtischen Grundbesitz geknüpft, der erblich und veräußerlich, fronfrei, zinsfrei oder nur mit festem Zins belastet, dagegen für städtische Zwecke schoßpflichtig
114
[143] „Schoß“ ist die im mittelniederdeutschen Sprachraum übliche Bezeichnung für (Vermögens-)Steuer: „schoßpflichtig“ bedeutet demnach steuerpflichtig.
– diese Pflicht wurde in Deutschland geradezu Merkmal des bürgerlichen Grundbesitzes – besessen wurde. Später traten andere schoßpflichtige Vermögensstücke, vor allem Geld oder Geldstoffbesitz daneben. Ursprünglich war überall der nicht mit jener Art von Grundbesitz angesessene Stadtinsasse nur Schutzgenosse der Stadt, mochte im übrigen seine ständische Stellung sein welche immer. Die Berechtigung zur Teilnahme an den städtischen Ämtern und am Rat hat Wandlungen durchgemacht. Und zwar in verschiedenem Sinne. Wir wenden uns dem nunmehr zu.
115
Der Verweis geht auf die Darlegungen des nächsten Kapitels, unten, S. 145 ff.
Es erübrigt vorher nur noch, vorläufig ganz allgemein, die Frage zu stellen: worauf denn nun es letztlich beruhte, daß im Gegensatz zu Asien die Städteentwicklung im Mittelmeerbecken und dann in Europa einsetzte. Darauf ist insofern bereits eine Antwort gegeben,
116
Gemeint sind die Ausführungen zu Asien, oben, S. 85 ff.
als die
t
In A folgt: Hemmung der
Entstehung einer Stadtverbrüderung, einer städtischen Gemeinde also, durch die magische Verklammerung der Sippen und, in Indien, der Kasten gehemmt war. Die Sippen waren in China Träger der entscheidend wichtigen religiösen Angelegenheiten: des Ahnenkults, und deshalb unzerbrechlich; die Kasten in Indien aber waren Träger spezifischer Lebensführung, an deren Innehaltung das Heil bei der Wiedergeburt hing und die daher gegeneinander rituell exklusiv waren. Aber wenn dies Hindernis in Indien in der Tat absolut war, so die Sippengebundenheit in China und vollends in Vorderasien doch nur relativ. Und in der Tat tritt gerade für diese Gebiete etwas ganz anderes hinzu: der Unterschied der Militärverfassung, vor allem: ihrer
u
A: ihre
ökonomisch-soziologischen Unterlagen. Die Notwendigkeit der Stromregulierung und Bewässerungspolitik hatte in Vorderasien (einschließlich Ägyptens) und (in [144]nicht ganz so starkem, aber doch entscheidendem Maß) auch in China eine königliche Bureaukratie entstehen lassen
117
[144] Seine Annahme, daß schon in frühester Zeit in Mesopotamien und Ägypten die Erfordernisse der Stromregulierung den Aufbau einer bürokratischen Organisation zur Folge hatten, hat Weber in: Agrarverhältnisse3, S. 73 und 81 (MWG I/6), dargelegt. Zur Parallele in China vgl. seine Bemerkungen in: Konfuzianismus, MWG I/19, S. 185 f.
– zunächst reine Baubureaukratie, von der aus dann aber die Bureaukratisierung der gesamten Verwaltung sich durchsetzte –, welche den König befähigte, mit Hilfe des Personals und der Einnahmen, die sie ihm verschafften, die Heeresverwaltung in eigene, bureaukratische Bewirtschaftung zu nehmen: [A 673]der „Offizier“ und der „Soldat“, die ausgehobene, aus Magazinen ausgerüstete und verpflegte Armee wurde hier die Grundlage der militärischen Macht. Die Trennung des Soldaten von den Kriegsmitteln und die militärische Wehrlosigkeit der Untertanen war die Folge. Auf diesem Boden konnte keine politische, der Königsmacht gegenüber
v
[144]A: gegenüber,
selbständige Bürgergemeinde erwachsen. Denn der Bürger war der Nichtmilitär. Ganz anders im Okzident. Hier erhielt sich, bis in die Zeit der römischen Kaiser, das Prinzip der Selbstequipierung der Heere, mochten sie nun bäuerlicher Heerbann, Ritterheer oder Bürgermilizen sein. Das aber bedeutete die militärische Eigenständigkeit des einzelnen Heerfolgepflichtigen. In einem Heer mit Selbstequipierung gilt der – schon in Chlodwigs Stellung zu seinem Heerbann
118
Hier bezieht sich Weber vermutlich auf eine von Gregor von Tours (2, 27) überlieferte Episode aus der Geschichte des Frankenkönigs Chlodwig I. (481–511), der nach dem Sieg über Syagrius, den letzten Repräsentanten Roms, im Jahre 486 nicht frei über die Kriegsbeute verfügen konnte, sondern die Mitspracherechte seiner Gefolgsleute beachten mußte. Der Text findet sich in: MGH, Scriptorum Rerum Merovingicarum tomus 1: Gregorii Turonensis Opera, pars 1: Historia Francorum, ed. W[ilhelm] Arndt et Br[uno] Krusch. – Hannover: Hahn 1885, S. 88 f.; deutsche Übersetzung: Zehn Bücher Fränkischer Geschichte von Bischof Gregorius von Tours, übersetzt von Wilhelm von Giesebrecht, Band 1, 4., vollkommen neubearbeitete Aufl. von Siegmund Hellmann (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, 2, Gesamtausgabe, Band 8). – Leipzig: Dyk 1911, S. 100–103.
sich äußernde – Grundsatz: daß der Herr sehr weitgehend auf den guten Willen der Heeresteilnehmer angewiesen ist, auf deren Obödienz seine politische Macht ganz und gar beruht. Er ist jedem einzelnen von ihnen, auch kleinen Gruppen gegenüber, [145]der Mächtigere. Aber allen oder größeren Verbänden einer Vielzahl von ihnen gegenüber, wenn solche entstehen, ist er machtlos. Es fehlt dem Herren dann der bureaukratische, ihm blind gehorchende, weil ganz von ihm abhängige Zwangsapparat, um ohne Einvernehmen mit den militärisch und ökonomisch eigenständigen Honoratioren, aus deren Reihen er ja seine eigenen Verwaltungsorgane: seine Würdenträger und Lokalbeamten rekrutieren muß, seinen Willen durchzusetzen, sobald die in Anspruch genommenen Schichten sich zusammenschließen. Solche Verbände aber bildeten sich stets, sobald der Herr mit neuen ökonomischen Forderungen, Forderungen von Geldzahlungen zumal, an [WuG1 543]die eigenständig wehrhaften Heerfolgepflichtigen herantrat. Die Entstehung der „Stände“ im Okzident, und nur hier, erklärt sich daraus. Ebenso aber die Entstehung der korporativen und der autonomen Stadtgemeinden. Die Finanzmacht der Stadtinsassen nötigte den Herren, sich im Bedarfsfall an sie zu wenden und mit ihnen zu paktieren. Aber Finanzmacht hatten auch die Gilden in China und Indien und die „Geldleute“ Babylons.
119
[145] Gemeint sind vermutlich die sowohl (Natural-)Abgaben für den Herrscher eintreibenden als auch eigene Handelsaktivitäten verfolgenden „Bankiers“ im Reich Hammurabis (1728–1686 v. Chr.); vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, S. 79 (MWG I/6), sowie Thurnwald, Richard, Staat und Wirtschaft in Babylon zu Hammurabis Zeit, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 3. Folge, Band 26, 1903, S. 644–675.
Das legte dem König, um sie nicht zu verscheuchen, auch dort gewisse Rücksichten auf. Aber es befähigte die Stadtinsassen, und waren sie noch so reich, nicht, sich zusammenzuschließen und militärisch dem Stadtherren Widerpart zu halten. Alle conjurationes und Einungen des Okzidents aber, von der frühen [A 674]Antike angefangen, waren Zusammenschlüsse der wehrhaften Schichten der Städte. Das war das positiv Entscheidende.

III. Die Geschlechterstadt im Mittelalter und in der Antike.

Da an der conjuratio in aller Regel alle Grundbesitzer der Stadt, nicht nur die führenden Honoratioren beteiligt waren, so galt offiziell meist die Bürgerversammlung, in Italien „parlamentum“ ge[146]nannt, als das höchste und souveräne Organ der Kommune.
1
[146] Zur Verwendung von parlamentum (im Sinne von „Besprechung“, worauf Weber gleich unten im Text anspielt) als Bezeichnung für die Bürgerversammlung in Genua und anderen Städten Italiens vgl. Hegel, Geschichte (wie oben, S. 125, Anm. 66), Band 2, S. 217.
Daran ist formal oft festgehalten worden. Faktisch haben gerade in der ersten Zeit naturgemäß meist die Honoratioren gänzlich das Heft in der Hand gehabt. Sehr bald war oder wurde die Qualifikation zur Teilnahme an Ämtern und Rat auch formell einer begrenzten Zahl von „Geschlechtern“ vorbehalten. Nicht selten galten sie von Anfang an als allein ratsfähig, ohne daß dies besonders festgelegt worden wäre. Wo dies anfangs nicht der Fall war, entwickelte es sich, wie namentlich in England deutlich zu beobachten ist, ganz naturgemäß daraus, daß, der bekannten Regel entsprechend, nur die ökonomisch Abkömmlichen an den Bürgerversammlungen regelmäßig teilnahmen und, vor allem, sich über den Gang der Geschäfte näher besprachen.
2
Es muß offenbleiben, ob der Verweis auf die „bekannte Regel“ eine Anspielung auf zeitgenössische Literatur impliziert oder nicht vielmehr auf evidente Sachverhalte verweist, wie sie Weber später, in: WuG1, S. 170 (MWG I/23), in seinen Ausführungen zu den „Honoratioren“ festgestellt hat. Es heißt dort, deren Fähigkeit, „für die Politik leben zu können, ohne von ihr leben zu müssen“, setze ein bestimmtes Maß der „,Abkömmlichkeit‘ aus den eignen privaten Geschäften“ voraus und „jede unmittelbare Demokratie“ neige dazu, „zur ,Honoratiorenverwaltung‘ überzugehen“. Warum sich die Entwicklung zur Dominanz der Honoratioren in den Bürgerversammlungen gerade in England zeigen soll, ist nicht ersichtlich. Nach dem Kontext wäre eher ein Bezug auf Italien oder Deutschland zu erwarten; vgl. den Hinweis auf die norddeutschen Städte in WuG1, S. 171 (MWG I/23). Ein Textverderbnis kann insofern nicht ausgeschlossen werden.
Denn überall wurde zunächst die Mitwirkung bei den Verwaltungsgeschäften der Stadt als eine Last empfunden, welche nur erfüllt wurde, soweit eine öffentliche Pflicht dazu bestand. Im frühen Mittelalter hatte der Bürger zu den drei ordentlichen „Dingen“ des Jahres zu erscheinen.
3
Beim frühmittelalterlichen „Ding“ (ahd.: Zeitpunkt der Volksversammlung) versammelten sich die Rechtsgenossen unter dem Vorsitz eines Richters. Man unterschied zwischen „echten“, „ungebotenen“ Dingen, die zu feststehenden Terminen stattfanden (seit der Gerichtsreform Karls des Großen nur noch dreimal jährlich), und „gebotenen“ Dingen, nach Bedarf einberufenen Gerichtsversammlungen. Zum „echten“ Ding hatten alle Freien zu erscheinen, zum „gebotenen“ Ding nur die Schöffen.
Von den ungebotenen Dingen blieb fort, wer nicht direkt politisch interessiert war. Vor allem die Leitung der Geschäfte fiel ganz naturgemäß den durch Besitz und – nicht zu vergessen – durch auf dem Besitz beruhende ökonomische Wehrfähigkeit und eigene militärische Macht Angesehenen zu. Da[147]her hat, wie die späteren Nachrichten über den Verlauf der italienischen parlamenta beweisen,
4
[147] Vgl. die Bemerkungen bei Hegel, Geschichte (wie oben, S. 125, Anm. 66), Band 2, S. 249, daß die „ungeordnete Volksversammlung“ in der Regel nur dazu diente, „große Staatsreformen oder gewaltsame Maßregeln aller Art im Sinne einer herrschenden Partei durchzusetzen“; vgl. noch unten, S. 228 mit Anm. 105, zur üblichen Legitimierung einer Signorie durch die Volksversammlung.
diese Massenversammlung nur ganz ausnahmsweise etwas anderes bedeutet als ein Publikum, welches durch Akklamation die Vorschläge der Honoratioren genehmigte oder auch dagegen tumultierte, nie aber, soviel für dieses Frühstadium bekannt, die Wahlen oder die Maßregeln der Stadtverwaltung wirklich dauernd entscheidend bestimmte. Die ökonomisch von den Honoratioren Abhängigen bildeten oft die [A 675]Mehrheit. Dem entspricht es, daß später der Aufstieg des außerhalb der Honoratioren stehenden „popolo“ zur Macht überall mit der
a
[147]A: durch die
Verdrängung der allgemeinen tumultuarischen Bürgerversammlungen
b
A: Bürgerversammlungen,
zugunsten einer durch Repräsentanten oder durch einen allmählich fest umschriebenen Kreis von qualifizierten Bürgern gebildeten engeren Versammlung parallel ging, ebenso wie andererseits wieder der Beginn der Tyrannis und der Sturz des Popolo durch die Einberufung der alten Parlamente, vor denen noch Savonarola die Florentiner warnte, bezeichnet wurde.
5
Im Juli 1495 agitierte der Dominikaner Girolamo Savonarola erfolgreich für die Abschaffung der Institution der „Parlamenta“, die wiederholt in der florentinischen Geschichte als leicht manipulierbares Instrument eingesetzt worden waren, um Regimewechsel herbeizuführen, so 1434 bei der faktischen Machtergreifung Cosimo de Medicis. Savonarola befürchtete deshalb, daß auf dem gleichen Weg die 1494 nach dem Sturz der Medici eingeführte republikanische Verfassung wieder aufgehoben werden könnte. Vgl. Villari, Pasquale, Geschichte Girolamo Savonarola's und seiner Zeit. Nach neuen Quellen dargestellt, unter Mitwirkung des Verfassers aus dem Italienischen übers. von Moritz Berduschek, Band 1. – Leipzig: F. A. Brockhaus 1868, S. 220–222; Ranke, Leopold, von, Savonarola und die florentinische Republik gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, in: ders., Sämmtliche Werke, Band 40/41: Historisch-biographische Studien. – Leipzig: Duncker & Humblot 1877, S. 181–357, hier S. 245 f. Die Predigt vom 28. Juli 1495 ist in moderner Edition zugänglich in: Savonarola, Girolamo, Prediche sopra i Salmi, vol. 2, a cura di Vincenzo Romano (Edizione nazionale delle Opere di Girolamo Savonarola). – Roma: Belardetti 1974, S. 152–181. Neuere deutsche Übersetzung in: Savonarola, [Girolamo], Predigten und Schriften, hg. von Mario Ferrara. – Salzburg: Otto Müller 1957, S. 166–169.
[WuG1 544]Der Tatsache, wenn auch oft nicht dem formalen Rechte nach, entstand
c
A: entstand,
jedenfalls die Stadt als ein von einem verschieden weiten [148]Kreise von Honoratioren, von deren Eigenart später zu reden ist,
6
[148] Falls sich der Verweis nicht auf die gleich folgenden Ausführungen bezieht, geht er im vorliegenden Text nicht auf, auch wenn die „Honoratioren“ hier – ebenso wie an zahlreichen Stellen in WuG1 – des öfteren noch erwähnt werden.
geleiteter ständischer Verband oder wurde bald dazu. Entweder nun entwickelte sich diese faktische Honoratiorenherrschaft zu einer fest geregelten rechtlichen Monopolisierung der Stadtherrschaft durch die Honoratioren, oder umgekehrt: deren Herrschaft wurde durch eine Serie weiter folgender neuer Revolutionen geschwächt oder ganz beseitigt. Jene Honoratioren, welche die Stadtverwaltung monopolisierten, pflegt man als „die Geschlechter“, die Periode ihres verwaltenden Einflusses als die der „Geschlechterherrschaft“ zu bezeichnen. Diese „Geschlechter“ waren in ihrem Charakter nichts Einheitliches. Gemeinsam war ihnen allen: daß ihre soziale Machtstellung auf Grundbesitz und auf einem nicht dem eigenen Gewerbebetrieb entstammenden Einkommen ruhte. Aber im übrigen konnten sie ziemlich verschiedenen Charakter haben. Im Mittelalter nun war ein Merkmal der äußeren Lebensführung in spezifischem Maße ständebildend: die ritterliche Lebensführung. Sie gab die Turnierfähigkeit, die Lebensfähigkeit
d
[148]A: Lebensfähigkeit,
und alle Attribute ständischer Gleichordnung mit dem außerstädtischen Ritterstand überhaupt. Mindestens für Italien, aber in der Mehrzahl aller Fälle auch im Norden rechnete man nur diejenigen Schichten in den Städten zu den „Geschlechtern“, welchen dies Merkmal eignete. Sofern nicht etwas anderes im Einzelfall gesagt ist, wollen wir daher – bei Anerkennung der Flüssigkeit der Übergänge – auch im nachstehenden a potiori stets an dies Merkmal denken, wenn von den „Geschlechtern“ die Rede ist. Die Geschlechterherrschaft hat in einigen extremen Fällen zu einer spezifischen Stadtadelsentwicklung geführt, insbesondere da, wo nach antiker Art Überseepolitik von [A 676]Handelsstädten die Entwicklung bestimmte. Das klassische Beispiel dafür ist Venedig.
Die Entwicklung
e
e–e (bis S. 162: zerrissenen Stadt.) Petitdruck in A.
Venedigs war zunächst bestimmt durch die Fortsetzung jener mit steigendem leiturgischen Charakter der spätrömischen und byzantinischen Staatswirtschaft steigenden Lokalisierung auch der Heeresrekrutierung, welche seit der Zeit Hadrians [149]im Gange war.
7
[149] Seit der Zeit Hadrians (römischer Kaiser 117–138) rekrutierten die Legionen ihre Mannschaften aus den Provinzen, in denen sie stationiert waren. Hinzu kam die steigende Bedeutung der numeri genannten Provinzialmilizen; vgl. Mommsen, Theodor, Die Conscriptionsordnung der römischen Kaiserzeit, sowie: Die römischen Provinzialmilizen, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 6 (= Historische Schriften, Band 3). – Berlin: Weidmann 1910, S. 20–117 und 145–155; ferner für eine kurze Zusammenfassung des Sachverhalts Kornemann, Ernst, Die römische Kaiserzeit, in: Gercke, Alfred und Norden, Eduard (Hg.), Einleitung in die Altertumswissenschaft, Band 3. – Leipzig und Berlin: B. G. Teubner 1912, S. 205–296, hier S. 217.
Die Soldaten der lokalen Garnisonen wurden zunehmend der örtlichen Bevölkerung entnommen, praktisch: von den Possessoren aus ihren Kolonen gestellt.
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D.h., aus den Hintersassen (coloni) der Großgrundbesitzer (possessores).
Unter dem Dux standen als Kommandanten des Numerus die Tribunen.
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Dux bezeichnet den Provinzkommandeur, numerus die aus der einheimischen Bevölkerung ausgehobene Truppeneinheit, die von einem tribunus numeri befehligt wurde.
Auch ihre Gestellung war formell eine leiturgische Last, faktisch aber zugleich ein Recht der örtlichen Possessorengeschlechter, denen sie entnommen wurden, und wie überall wurde diese Würde faktisch in bestimmten Geschlechtern erblich, während der Dux bis in das 8. Jahrhundert von Byzanz aus ernannt wurde. Diese tribunizischen Geschlechter: Kriegsadel also, waren der Kern der ältesten Stadtgeschlechter,
10
Weber folgt bei seiner Darstellung des Aufstiegs der ortsansässigen Geschlechter auf Kosten der von Byzanz entsandten Provinzkommandeure wahrscheinlich Kretschmayr, Heinrich, Geschichte von Venedig, Band 1: Bis zum Tode Enrico Dandolos (Allgemeine Staatengeschichte, hg. von Karl Lamprecht, 1. Abteilung: Geschichte der europäischen Staaten, Werk 35). – Gotha: Friedrich A. Perthes 1905, S. 39–42 (hinfort: Kretschmayr, Venedig); vgl. ferner Lenel, Entstehung, S. 114 f.; Hegel, Geschichte (wie oben, S. 125, Anm. 66), Band 2, S. 251 f. Hartmann, L[udo] Μ., Die wirtschaftlichen Anfänge Venedigs, in: Vierteljahrschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte, Band 2, 1904, S. 434–442.
Mit dem Schrumpfen der Geldwirtschaft und der zunehmenden Militarisierung des byzantinischen Reiches trat die Gewalt des tribunizischen Adels gänzlich an die Stelle der römischen Kurien und Defensoren.
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D.h. anstelle der Stadträte (Kurien) und der (von der kaiserlichen Regierung eingesetzten) obersten Zivilbeamten der Städte (defensores plebis). Zu Fortbestand und schließlich Niedergang dieser Institutionen im Italien unter byzantinischer Herrschaft vgl. Hegel, Geschichte, Band 1, S. 126–138; Hartmann, Ludo Μ., Untersuchungen zur Geschichte der byzantinischen Verwaltung in Italien (540–750). – Leipzig: Hirzel 1889, S. 45–47.
Die erste Revolution, welche in Venedig zum Beginn der Stadtbildung führte, richtete sich wie in ganz Italien im Jahre 726 gegen die damalige bilderstürmerische Regierung und ihre Beamten und trug als dauernde Errungenschaft [150]die Wahl des Dux durch tribunizischen Adel und Klerus ein.
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[150] Im Jahr 726 erließ der byzantinische Kaiser Leon III. (717–741) ein Gesetz, mit dem die Anbetung und Verehrung der Bilder Christi und der Heiligen verboten wurde. Dagegen erhob sich in Italien unter der Führung von Papst Gregor II. heftiger Widerstand, der in Venedig zur Wahl eines einheimischen Dux führte; Kretschmayr, Venedig, S. 45 f.
Alsbald aber begann ein drei Jahrhunderte dauerndes Ringen des Dogen, der seine Stellung zu einem erblichen patrimonialfürstlichen Stadtkönigtum zu entwickeln suchte, mit seinen Gegnern: dem Adel und dem Patriarchen, welcher seinerseits gegen die „eigenkirchlichen“ Tendenzen des Dogen interessiert war.
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Die Dogen setzten die Bischöfe auf venezianischem Gebiet ein und konnten darüber in Konflikt mit dem Patriarchen von Grado geraten; zu einem entsprechenden Streit (um 876/877) vgl. Kretschmayr, Venedig, S. 99.
Gestützt wurde der Doge von den Kaiserhöfen des Ostens und Westens.
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D.h. von den byzantinischen Kaisern einerseits, den fränkischen und ottonischen Kaisern andererseits.
Die Annahme des Sohnes zum Mitregenten, in welche, ganz nach der antiken Tradition, sich die Erblichkeit zu kleiden suchte, wurde von Byzanz begünstigt. Die Mitgift der deutschen Kaisertochter Waldrada
15
Waldrada von Tuszien war eine Nichte (nicht Tochter) des deutschen Kaisers Otto I.; Kretschmayr, Venedig, S. 113.
verschaffte dem letzten Candianen
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Gemeint ist Pietro Candiano (Petrus Candianus) IV. (Doge 959–976). Er heiratete Waldrada 968 oder 969, nachdem er sich von seiner ersten Frau getrennt und sie gezwungen hatte, in ein Kloster einzutreten. 976 fiel er einer Adelsverschwörung zum Opfer. Vitalis, einer seiner Brüder, bekleidete vom September 978 bis November 979 das Amt des Dogen; er war der letzte aus dem Haus der Candianen in diesem Amt; Kretschmayr, Venedig, S. 113–119.
noch einmal die Mittel, die fremdländische Gefolgschaft und vor allem: die Leibgarde, auf welche seit 811 die Dogenherrschaft gestützt wurde, zu vermehren.
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Kretschmayr, Venedig, S. 114, betont, daß es Pietro Candiano IV. mit Hilfe der finanziellen Mittel seiner Frau gelang, eine verläßliche Leibgarde aufzubauen. 811 wurde der Regierungssitz Venetiens auf die Inselgruppe des Rialto verlegt. Mit Agnellus Parteciacus (811–827) beginnt die kontinuierliche Reihe venezianischer Dogen. Es konnte nicht ermittelt werden, warum Weber einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen diesem Datum und der Rolle von Leibgarden der Dogen herstellt. Auf eine kroatische Leibgarde hat sich der Doge Petrus Trandenicus (836–864) gestützt; Kretschmayr, Venedig, S. 93.
Der durchaus stadtkönigliche patrimoniale Charakter der Dogenherrschaft jener Zeit tritt plastisch in allen Einzelzügen hervor: der Doge war Großgrundherr und Großhändler, er monopolisierte (auch aus politischen Gründen) die Briefpost zwischen Orient und Okzident, die über Venedig ging, ebenso seit 960 den Skla[151]venhandel anläßlich der kirchlichen Zensuren gegen diesen.
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[151] Das von Pietro Candiano IV. aufgrund kirchlicher Monita 960 durchgesetzte Verbot betraf nur privaten Sklavenhandel; es verschaffte damit dem Dogat das Monopol auf den Sklavenhandel; gleichzeitig wurde die private Briefbeförderung vom Westen nach Byzanz durch ein staatliches Postmonopol ersetzt; Kretschmayr, Venedig, S. 110 f.
Er setzte Patriarchen, Äbte, Priester trotz kirchlicher Proteste ein und ab. Er war Gerichtsherr, freilich innerhalb der Schranken des dinggenossenschaftlichen Prinzips,
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Das „dinggenossenschaftliche Prinzip“ im Sinne einer „Gewaltenteilung“ zwischen denjenigen, die das Urteil fällen, und der Gesamtheit der Gemeinde hat Weber ausführlicher in: WuG1, S. 410 (MWG I/22-3), erläutert: „Wir wollen den Zustand […], daß die Gemeinde der Rechtsgenossen an der Rechtsfindung zwar beteiligt ist, die Gemeinde aber die Rechtsfindung nicht souverän beherrscht, sondern nur den Urteilsvorschlag der charismatischen oder amtlichen Träger des Rechtswissens akzeptieren oder verwerfen, also auch, zumal durch besondere Mittel, wie die Urteilsschelte, beeinflussen kann – die ,dinggenossenschaftliche‘ Rechtsfindung nennen.“ Zur Rolle von Doge, Adel und Volk bei der Rechtsprechung in Venedig vgl. Lenel, Walter, Die Epochen der älteren venezianischen Geschichte, in: Historische Zeitschrift, Band 104, 1910, S. 237–277, hier S. 245 f. (hinfort: Lenel, Epochen).
welches unter fränkischem Einfluß auch hier durchdrang,
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Nach der Eroberung des Langobardenreichs erstreckte sich die fränkische Herrschaft bis nach Istrien und Venetien. Nachdem sich Venetien zwischenzeitlich (805–807) fränkischer Hoheit unterstellt hatte und Pippin, der fränkische Unterkönig in Italien, 811 einen Angriff auf Venetien unternommen hatte, erkannte Karl der Große im Vertrag von Aachen (812) die byzantinische Oberhoheit über Venetien an. Einen fränkischen Einfluß auf die Rechtsentwicklung in Venedig hat Roberti, Melchiorre, Le magistrature giudiziarie veneziane e i loro capitolari fino al 1300, vol. 1. – Padova: Tipografia editrice del seminario 1906, S. 41–44, angenommen; vgl. dagegen Lenel, Epochen, S. 245, Anm. 1.
ernannte den Richter und hob strittige Urteile auf. [WuG1 545]Die Verwaltung führte er teils durch Hausbeamte und Vasallen, teils unter Zuhilfenahme der Kirche. Das letztere besonders innerhalb der auswärtigen Ansiedlungen der Venezianer. Nicht nur durch Mitregentenernennung, sondern in einem Falle auch testamentarisch verfügte er über die Herrschaft wie über sein Hausvermögen, welches vom öffentlichen Gut nicht geschieden war.
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Pietro Orseolo II. (991–1009) hatte ein weitgehend unbeschränktes Dogentum praktiziert und nacheinander seine Söhne zu Mitregenten erhoben; in seinem Testament „bestellte er den Staat Venedig wie sein Haus; er wies aus seinen Reichtümern dem ihm ,untertänigen venezianischen Volke‘ die Zinsen eines unantastbaren Kapitals von 1250 Pfunden für Zwecke des Gemeinwesens zu […]“; Kretschmayr, Venedig, S. 127.
Er stellte im wesentlichen aus eigenen Mitteln die Flottenrüstung und hielt Soldtruppen und verfügte über die Fronleistungen der Handwerker an das Palatium,
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Der Dogenpalast.
die er zuweilen willkürlich steigerte. Eine solche Steigerung, letzten Endes bedingt offenbar durch steigende [152]Bedürfnisse der Außenpolitik, gab 1032 den äußeren Anlaß zu einer siegreichen Revolte, und diese bot der niemals verstummten Adelsopposition die Mittel, die Macht des Dogen zunehmend zu brechen.
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[152] Gemeint ist der Sturz Pietro Barbolanos, wahrscheinlich im Jahre 1031. Kretschmayr, Venedig, S. 148, schreibt dazu: „Wir vernehmen nur, dass er vielen nicht gefallen, den Handwerkern unbillige Fronverpflichtungen für das Palatium anbefohlen habe […]“.
Wie überall unter den Verhältnissen der militärischen [A 677]Selbstequipierung, war der Doge allen einzelnen andern Geschlechtern (oder auch Gruppen von ihnen) weit überlegen, nicht aber dem
f
[152]A: im
Verband aller. Und ein solcher entschied, damals wie heute, sobald der Doge mit finanziellen Ansprüchen an die Geschlechter herantrat. Unter zunächst ziemlich demokratischen Rechtsformen begann nunmehr die Herrschaft der auf dem Rialto ansässigen Stadtadelsgeschlechter.
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Nachdem im Jahre 811 der Regierungssitz Venedigs auf den Rialto (rivus altus) verlegt worden war, siedelten sich dort die alten Familien an. Rivus altus (tiefer Kanal oder auch hohes Ufer) war ursprünglich die Bezeichnung für die Inselgruppe rechts und links des Kanals; Kretschmayr, Venedig, S. 84 f.
Der Anfang, das „erste Grundgesetz der Republik“, wie man es wohl genannt hat,
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Weber bezieht sich wohl auf Kretschmayr, Venedig, S. 148, der die Verordnung vom Sommer 1032, daß der gewählte Doge keinen Mitregenten mehr ernennen (und damit den Nachfolger bestimmen) dürfe, als das „erste Staatsgrundgesetz der Republik“ bezeichnet. Ob die von Kretschmayr selbst verwendeten Anführungszeichen allein der Hervorhebung dienen oder auf ein Zitat seinerseits deuten, muß offenbleiben.
war das Verbot der Mitregentenernennung, welches der Erblichkeit vorbeugte (wie in Rom).
26
Zum Vergleich mit dem Übergang vom Königtum zur Republik in Rom siehe unten, S. 189.
Alles andere besorgten dann die Wahlkapitulationen, durch welche der Doge – nach einer „ständestaatlichen“ Zwischenperiode, welche Rechte und Lasten zwischen ihm und dem Kommune ähnlich verteilte, wie anderwärts zwischen Landesherrn und Landschaft – formell zu einem streng kontrollierten, von hemmendem Zeremoniell umgebenen, besoldeten Beamten, sozial also zu einem primus inter pares der Adelskorporation herabgedrückt wurde. Man hat mit Recht beobachtet (Lenel),
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Gemeint ist Lenel, Entstehung, S. 124–128.
daß die Machtstellung des Dogen, wie sie durch seine Außenbeziehungen gestützt worden war, auch von der auswärtigen Politik her eingeschränkt wurde, auf deren Führung der Rat der Sapientes (1141 nachgewie[153]sen)
28
[153] Die erste urkundliche Erwähnung von sapientes 1141 führt Lenel, Entstehung, S. 124, an. Die förmliche Bezeichnung dieses Adelsgremiums als Rat begegnet erst seit 1187; Lenel, ebd., S. 129–133.
die Hand legte. Schärfer als bisher darf aber hervorgehoben werden, daß es hier ebenso wie anderwärts vor allem die Finanzbedürfnisse der kriegerischen Kolonial- und Handelspolitik waren, welche die Heranziehung des Patriziats zur Verwaltung unumgänglich machten, ebenso wie später auf dem Festland die Finanzbedürfnisse der geldwirtschaftlich geführten fürstlichen Kriege die steigende Macht der Stände begründeten. Das Chrysobullon
29
Ein Privileg byzantinischer Kaiser, benannt nach dem goldenen kreisrunden Siegel.
des Kaisers Alexios bedeutete das Ende der griechischen Handelsherrschaft und die Entstehung des Handelsmonopols der Venezianer im Osten gegen Übernahme des Seeschutzes und häufiger Gewährung von Finanzhilfe für das Ostreich.
30
Das Privileg (des Kaisers Alexios Komnenos von 1082) gewährte den Venezianern Zoll- und Abgabenfreiheit im Byzantinischen Reich und unterstellte die dort tätigen venezianischen Händler der Gerichtsbarkeit des Dogen; Kretschmayr, Venedig, S. 163.
Ein etwa steigender Teil des staatlichen, kirchlichen und privaten Vermögens der Venetianer wurde im griechischen Reiche rententragend im Handel, in Ergasterien aller Art, in Staatspachten und auch in Bodenbesitz angelegt. Die zu ihrem Schutz entfaltete Kriegsmacht Venedigs führte zur Teilnahme an dem Eroberungskrieg der Lateiner und zur
g
[153]A: nach
Gewinnung der berühmten „Drei Achtel“ (quarta pars et dimidia) des lateinischen Reiches.
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Nach der Eroberung von Konstantinopel 1204 durch ein Kreuzfahrerheer, das von Venedig massiv unterstützt worden war, erhielt Venedig bei der Aufteilung der Einflußsphären im byzantinischen Reich und der Einrichtung eines lateinischen Kaisertums in Konstantinopel (1204–1261) durch den Vertrag vom März 1204 drei Achtel des Landes zugesprochen; der Titel des Dogen wurde um die Formel „quartae et dimidiae partis totius Romaniae imperii dominator“ erweitert; Kretschmayr, Venedig, S. 318 f. und 339.
Nach den Ordnungen Dandolos wurde aller Kolonialerwerb rechtlich sorgsam als zugunsten des Kommune und seiner Beamten, nicht aber des Dogen[,] gemacht
h
A: gemacht,
behandelt, dessen Ohnmacht damit besiegelt war.
32
Es handelt sich um die Wahlkapitulation (promissiones), die der Doge Enrico Dandolo vor seiner Wahl 1192 beschwören mußte. Darin wurde u. a. festgelegt, daß der Doge ohne die Zustimmung des Großen Rates nicht über Staatsbesitz, unter den auch die Kolonien fielen, verfügen durfte; Kretschmayr, Venedig, S. 340 f.; vgl. auch Schmeidler, Bernhard, Der dux und das comune Venetiarum von 1141–1229. Beiträge zur Verfassungsgeschichte Venedigs vornehmlich im 12. Jahrhundert (Historische Studien, Heft 35). – Berlin: E. Ebering 1902, S. 78–87 (hinfort: Schmeidler, Dux).
Staats[154]schulden und dauernde Geldausgaben des Kommune waren die selbstverständliche Begleiterscheinung dieser Außenpolitik. Diese Finanzbedürfnisse konnten wiederum nur durch Mittel des Patriziats gedeckt werden, das hieß aber: desjenigen Teils des alten tribunizischen, zweifellos durch neuen Adel verstärkten, Grundherrenstandes, welcher durch seine Stadtsässigkeit befähigt war, in der typischen Art: durch Hergabe von Kommenda- und anderem Erwerbs-Kapital am Handel und an den anderen Gelegenheiten ertragbringender Vermögensanlage teilzunehmen.
33
[154] Die Formen des Seedarlehensgeschäfts in Venedig erläutert Kretschmayr, Venedig, S. 351 f.
In seinen Händen konzentrierte sich geldwirtschaftliche Vermögensbildung und politische Macht. Daher entstand parallel mit der Depossedierung des Dogen auch die Monopolisierung aller politischen Macht durch die vom Patriziat beherrschte Stadt Venedig im Gegensatz zu dem politisch zunehmend entrechteten Lande. Die Placita des Dogen waren
i
[154]A: war
nominell bis in das 12. Jahrhundert aus dem ganzen Dukat von den (ursprünglich: tribunizischen) Honoratioren beschickt worden.
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Nachweislich seit dem Ende des 9. Jahrhunderts trat im Dogenpalast das publicum placitum zu Zwecken der Verwaltung und Rechtsprechung zusammen. Dieser vom Dogen einberufenen und geleiteten Versammlung gehörten Vertreter der Geistlichkeit, der weltlichen Obrigkeit und des Volkes aus dem gesamten venezianischen Herrschaftsgebiet an; Kretschmayr, Venedig, S. 191–197.
Aber mit der Entstehung des 1143 zuerst urkundlich erscheinenden „commune Venetiarum“ hörte das tatsächlich auf, und der Rat und die von den Cives gewählten Sapientes, denen der Doge den Eid leistete, scheinen seitdem durchaus dem auf dem Rialto ansässigen Großgrundbesitz, welcher an überseeischer Kapital[A 678]verwertung ökonomisch interessiert war, angehört zu haben.
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Nach Kretschmayr, Venedig, S. 328, umfaßte das seit 1143 bezeugte „Comune Veneciarum“ nur die auf dem Rialto ansässigen „alten ratsfähigen Geschlechter“ aus dem „kaufmännischen und grundbesitzenden Patriziat“ und „keineswegs die gesamte einheimische Bewohnerschaft auch nur von Rialto und noch weniger des Dogates“.
Die fast überall in den Geschlechterstädten bestehende Scheidung eines „großen“, beschließenden, und eines „kleinen“, verwaltenden, Rates der Honoratioren findet sich 1187.
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Zur Differenzierung in Venedig zwischen dem Kleinen Rat (consilium minus) mit 6 Mitgliedern und dem Großen Rat (consilium maius) seit dem späten 12. Jahrhundert vgl. Lenel, Entstehung, S. 131–133, und Kretschmayr, Venedig, S. 330 f.
Die faktische Ausschaltung [155]der Bürgerversammlung aller Grundbesitzer, deren Akklamation offiziell bis in das 14. Jahrhundert fortbestand, die Nominierung des Dogen durch ein aus den Nobiles gebildetes enges Wahlmännerkollegium und die tatsächliche Beschränkung der Auslese der Be[WuG1 546]amten auf die als ratsfähig geltenden Familien bis zur formellen Schließung ihrer Liste (1297–1315 durchgeführt: das später sogen[annte] Goldene Buch) waren nur Fortsetzungen dieser in ihren Einzelheiten hier nicht interessierenden Entwicklung.
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[155] Die Abschließung des Großen Rats begann mit einem Gesetz von 1297. Sie wurde in der Folgezeit weiter fortgeführt und endgültig 1315 mit der Aufstellung einer exklusiven Liste der ratsfähigen Familien (seit 1506 das „goldene Buch“ genannt) vollzogen. Weber folgt offensichtlich Zwiedineck-Südenhorst, Hans v[on], Venedig als Weltmacht und Weltstadt (Monographien zur Weltgeschichte, Band 8), 2. Aufl. – Bielefeld und Leipzig: Velhagen & Klasing 1906, S. 47.
Die gewaltige ökonomische Übermacht der an den überseeischen politischen und Erwerbschancen beteiligten Geschlechter erleichterte diesen Prozeß der Monopolisierung der Macht in ihren Händen. Verfassungs- und Verwaltungstechnik Venedigs sind berühmt wegen der Durchführung einer patrimonialstaatlichen Tyrannis des Stadtadels über ein weites Land- und Seegebiet bei strengster gegenseitiger Kontrolle der Adelsfamilien untereinander. Ihre Disziplin wurde nicht erschüttert, weil sie, wie die Spartiaten,
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Der Vergleich Venedig–Sparta war seit der Renaissance topisch. Die Parallelisierung bezüglich der inneren Disziplinierung findet sich u. a. bei Meyer, Altertum, Band 2, S. 563. Weber nimmt den Vergleich unten, S. 214, wieder auf.
die gesamten Machtmittel zusammenhielten unter so strenger Wahrung des Amtsgeheimnisses wie nirgends sonst. Diese Möglichkeit war zunächst bedingt durch die jedem Mitglied des an gewaltigen Monopolgewinnen interessierten Verbandes täglich vor Augen liegende Solidarität der Interessen nach außen und innen, welche die Einfügung des einzelnen in die Kollektivtyrannis erzwang. Technisch durchgeführt aber wurde sie: 1. durch die konkurrierende Gewaltenteilung mittelst konkurrierender Amtsgewalten in den Zentralbehörden; die verschiedenen Kollegien der Spezialverwaltung, fast alle zugleich mit gerichtlichen und Verwaltungsbefugnissen versehen, konkurrierten in der Kompetenz weitgehend miteinander; – 2. durch die arbeitsteilige Gewaltenteilung zwischen den stets dem Adel entnommenen Beamten im Herrschaftsgebiete: gerichtliche, militärische und Finanzverwaltung waren stets in den Händen ver[156]schiedener Beamter; – 3. durch die Kurzfristigkeit aller Ämter und ein missatisches Kontrollsystem;
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[156] Gemeint ist die Überwachung nachgeordneter Amtsträger durch (reisende) Beauftragte der Zentrale; Weber hat die Kategorie in WuG1, S. 704 (MWG I/22-4), mit Bezug auf die karolingischen Königsboten (missi dominici) und die umherreisenden englischen Richter erläutert.
– 4. seit dem 14. Jahrhundert durch den politischen Inquisitionshof des „Rates der Zehn“: einer Untersuchungskommission ursprünglich für einen einzelnen Verschwörungsfall, die aber zu einer ständigen Behörde für politische Delikte wurde und schließlich das gesamte politische und persönliche Verhalten der Nobili überwachte,
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Der „Rat der Zehn“ war angesichts einer Verschwörung im Jahre 1310 als Untersuchungskommission eingesetzt worden, entwickelte sich dann aber zu einer ständigen Überwachungsbehörde; vgl. Leo, Heinrich, Geschichte der italienischen Staaten, 3. Theil: Vom Jahre 1268 bis 1492 (Geschichte der europäischen Staaten, hg. von A[rnold] H. Heeren und F[riedrich] A. Ukert). – Hamburg: Friedrich Perthes 1829, S. 66 f.; Hopf, Karl, Der Rath der Zehn und die Staatsinquisition, in: Historisches Taschenbuch, hg. von Friedrich von Raumer, 4. Folge, 6. Jahrgang. – Leipzig: F. A. Brockhaus 1865, S. 1–151, hier S. 58 ff.; zur Entwicklung seiner Vollmachten vgl. ferner Ranke, Leopold von, Zur Venezianischen Geschichte (Sämmtliche Werke, Band 42). – Leipzig: Duncker & Humblot 1878, S. 45 ff. (hinfort: Ranke, Geschichte).
nicht selten Beschlüsse des großen Rates kassierte, kurz eine Art von tribunizischer Gewalt
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Zu Webers Vorstellung von der tribunizischen Gewalt in Rom siehe unten, S. 209–212.
in Händen hatte, deren Handhabung in einem schleunigen und geheimen Verfahren ihre Autorität an die erste Stelle in der Gemeinde rückte. Als furchtbar galt sie nur dem Adel, dagegen war sie die bei weitem populärste Behörde bei den von der politischen Macht ausgeschlossenen Untertanen, für welche sie das einzige, aber sehr wirksame Mittel erfolgreicher Beschwerde gegen die adligen Beamten darbot, weit wirksamer als der römische Repetundenprozeß.
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Seit 149 v. Chr. gab es gesetzliche Regelungen, aufgrund derer Magistrate (nach Ablauf ihrer Amtszeit) bzw. Senatoren in Fällen von erpresserischer Ausbeutung de pecuniis repetundis, d. h. wegen zurückzufordernder Gelder, vor einem ständigen Gerichtshof verklagt werden konnten (auch von den Betroffenen, selbst wenn sie keine römischen Bürger waren). An den Mißständen in der Provinzialverwaltung hat dies in republikanischer Zeit insgesamt wenig geändert, da der Ausgang dieser Verfahren zumeist von innenpolitischen Gesichtspunkten bzw. Kräfteverhältnissen abhing. Im Principat fielen Repetundenprozesse in die Gerichtsbarkeit des Senats.
Mit dieser, einen besonders reinen und extremen Fall der geschlechterstädtischen Entwicklung bildenden Monopolisierung aller Gewalt über das große, zunehmend auch auf dem italienischen [157]Festland sich ausdehnende und militärisch zunehmend durch Söldner behauptete Machtgebiet
j
[157]A: Machtbereich
zugunsten des Kommune und innerhalb seiner
k
A: ihrer
zugunsten des Patriziats ging nun von Anfang an eine andere Erscheinung parallel. Die steigenden Ausgaben der Gemeinde, welche die Abhängigkeit von dem Geldgeberpatriziat begründeten, entstanden außer durch Truppensold, Flotten- und Kriegsmaterialersatz auch durch eine tiefgreifende Änderung der Verwaltung. Ein dem Okzident eigentümlicher Helfer war nämlich dem Patriziat in seinen Kämpfen gegen den Dogen in der [A 679]erstarkenden kirchlichen Bureaukratie entstanden. Die Schwächung der Dogengewalt ging nicht zufällig gleichzeitig mit der Trennung von Staat und Kirche infolge des Investiturstreites vor sich,
43
[157] Seine weitgehenden Rechte bei der Wahl der Bischöfe und Äbte verlor der Doge im späten 12. Jahrhundert; vgl. Kretschmayr, Venedig, S. 338 f.; Schmeidler, Dux (wie oben, S. 153, Anm. 32), S. 67–69.
wie ja die italienischen Städte durchweg von diesem Zerbrechen einer der bisher festesten[,] aus dem Eigenkirchenrecht
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Nach dem Eigenkirchenrecht des Frühmittelalters behielt ein Grundherr nicht nur das Eigentum und die Nutzungsrechte an Besitz und Leuten der auf seinem Boden errichteten Kirche, sondern konnte auch die Geistlichen bestellen.
stammenden Stützen
l
A: Stütze
der patrimonialen und feudalen Gewalten Vorteile zogen. Die Ausschaltung der noch bis in das 12. Jahrhundert durch Pachtung der Verwaltung der auswärtigen Kolonien direkt den weltlichen Machtapparat ersetzenden und ersparenden Kirchen und Klöster aus der Verwaltung,
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Venezianische Kolonien im östlichen Mittelmeerraum (u. a. in Tyros und Akko) wurden bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts nicht von Magistraten aus der Mutterstadt, sondern durch die Kirche verwaltet; Kretschmayr, Venedig, S. 365–368; Schmeidler, Dux, S. 40–53.
wie sie die Folge ihrer Loslösung von der politischen Gewalt sein mußte, nötigte zur Schaffung eines besoldeten Laienbeamtentums zunächst für die auswärtigen Kolonien. Auch diese Entwicklung fand in Dandolos Zeit
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Gemeint ist die Regierungszeit von Enrico Dandolo, Doge 1192–1205.
ihren vorläufigen Abschluß. Das System der kurzfristigen Ämter, bedingt einerseits durch politische Rücksichten, aber auch durch den Wunsch, die Ämter im Turnus möglichst vielen zufallen zu lassen, die Beschränkung auf den Kreis der adligen Familien, die unbureaukratische, streng kollegiale Verwaltung der regierenden Hauptstadt selbst. [158]dies alles waren Schranken der Entwicklung eines rein berufsmäßigen Beamtentums, wie sie aus ihrem Charakter als Honoratiorenherrschaft folgen mußten.
In dieser Hinsicht verlief die Entwicklung in den übrigen italienischen Kommunen schon zur Zeit der Geschlechterherrschaft wesentlich anders. In Venedig gelang die dauernde Monopolisierung und Abschließung der Stadtadelszunft nach außen: die Aufnahme neuer Familien unter die zur Teilnahme am großen Rat Berechtigten erfolgte nur auf Beschluß der Adelskorporation auf Grund politischer Verdienste und hörte später ganz auf. Und ferner gelang im Zusammenhang damit die gänzliche Unterdrückung aller Fehden zwischen den Mitgliedern des Stadtadels, welche sich durch die ständige gemeinsame Gefährdetheit von selbst verboten. In [WuG1 547]den anderen Kommunen war in der Zeit der Geschlechterherrschaft davon keine Rede: die Orientierung an der überseeischen Monopolstellung war nirgends so eindeutig und als Grundlage der ganzen Existenz des Adels so für jeden einzelnen eindringlich wie in Venedig in der entscheidenden Zeit. Die Folge der überall sonst wütenden Kämpfe innerhalb des Stadtpatriziats aber war, daß eine gewisse Rücksichtnahme auf die übrigen Honoratiorenschichten sich dem Adel auch in der Zeit ungebrochener Herrschaft auferlegte. Und ferner schlossen die Geschlechterfehden und das tiefe Mißtrauen der großen Sippen gegeneinander auch die Schaffung einer rationalen Verwaltung nach Art der venetianischcn aus. Fast überall standen Jahrhunderte hindurch mehrere mit Bodenbesitz und Klientelanhang besonders begüterte Familien einander gegenüber, von denen jede[,] mit zahlreichen anderen minder Begüterten verbündet[,] die anderen und deren Verbündete von den Ämtern und Erwerbschancen der Stadtverwaltung ausschließen und wenn möglich ganz zu vertreiben suchte. Ähnlich wie in Mekka
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[158] Siehe oben, S. 96.
war fast ständig ein Teil des Adels für amtsunfähig erklärt, verbannt, im Gegensatz zu der arabischen Courtoisie
m
[158]A: Courteoisie
oft auch geächtet und seine Güter unter Sequester,
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Das heißt, unter treuhänderische Verwaltung gestellt.
bis ein Umschwung der politischen Lage [159]den Herrschenden das gleiche Schicksal brachte.
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[159] Besonders gilt dies für die Verhältnisse im Florenz des 13. Jahrhunderts; die klassische Darstellung ist Machiavellis „Florentinische Geschichte“; grundlegend für die moderne Forschung ist Davidsohn, Robert, Geschichte von Florenz, 4 Bände (in 3). – Berlin: Ernst S. Mittler 1896–1912, hier Band 2,1 (hinfort: Davidsohn, Florenz).
Interlokale Interessengemeinschaften ergaben sich von selbst. Die Parteibildung der Guelfen und Ghibellinen war allerdings zum Teil reichspolitisch und sozial bedingt: die Ghibellinen waren in der großen Mehrzahl der Fälle die alten Kronvasallenfamilien oder wurden von ihnen geführt. Zum anderen und dauernden Teile aber waren sie durch Interessengegensätze zwischen konkurrierenden Städten und vor allem innerhalb dieser zwischen den interlokal organisierten Adelsparteien geschaffen.
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Die italienischen Anhänger der staufischen Kaiser nannten sich Ghibellinen. Der Name ist hergelleitet von der – im Zentrum der staufischen Stammgüter in Schwaben gelegenen – Burg Waiblingen. Den Ghibellinen standen als Vertreter der Städtefreiheit bzw. Anhänger des Papsttums die Guelfen gegenüber, benannt nach den Welfen als Gegenspieler der Staufer. Die Bezeichnungen kamen vermutlich um 1215 in Florenz auf, zu einer Zeit, in der die Macht der Welfen (nach dem Scheitern des Italienzugs Ottos IV., der sich 1209 zum Kaiser hatte krönen lassen, bzw. nach der Erhebung des Staufers Friedrichs II., des Königs von Sizilien, zum deutschen König 1212) definitiv gebrochen war. Seit den 1240er Jahren bestimmten die Konflikte zwischen Guelfen und Ghibellinen das politische Leben in zahlreichen nord- und mittelitalienischen Kommunen; dabei spielte für die Auseinandersetzungen innerhalb der jeweiligen Führungsschichten schon bald die ursprüngliche Parteinahme für Staufer oder Welfen bzw. Kaiser und Papst nur noch eine geringe Rolle; vgl. Davidsohn, Robert, Forschungen zur Geschichte von Florenz, 4. Teil: 13. und 14. Jahrhundert. – Berlin: Ernst S. Mittler 1908, S. 29–67.
Diese Organisationen, vor allem die der guelfischen Partei, waren feste Verbände mit Statuten und Kriegsmatrikeln, welche für den Fall des Aufgebots den [A 680]Ritterschaften der einzelnen Städte die Stellung bestimmter Kontingente auferlegten,
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Ein Beispiel für solche Abmachungen sind die Vereinbarungen über ein gemeinsames Aufgebot der Guelfenstädte gegen den Italienzug Ludwigs des Bayern 1327; vgl. Davidsohn, Florenz (wie oben, Anm. 49), Band 3, S. 800, und die Dokumente bei Ficker, Julius (Hg.), Urkunden zur Geschichte des Roemerzuges Kaiser Ludwig des Baiern und der italienischen Verhaeltnisse seiner Zeit. – Innsbruck: Wagner 1865, S. 31 ff.
ganz wie etwa die deutschen Römerzugsmatrikeln.
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Für die Romzüge der deutschen Könige wurden von Fall zu Falt Listen über die von den Fürsten, Grafen und Städten zu stellenden Truppen bzw. zu erbringenden Geldleistungen aufgestellt.
Allein wenn in militärischer Hinsicht die Leistung der trainierten Ritterschaft entscheidend war, so konnten doch für die Finanzierung der Kämpfe schon in der Geschlechterzeit die nicht ritterlichen Bürger nicht entbehrt werden. Ihre Interessen an einer rationalen Rechts[160]pflege auf der einen Seite und die Eifersucht der Adelsparteien gegeneinander auf der andern schufen nun die Italien und einigen angrenzenden Gebieten eigentümliche Entwicklung eines sozusagen im Umherziehen fungierenden vornehmen Berufsbeamtentums: des Podestats, der die anfängliche Verwaltung durch die dem Ortsadel entnommenen, formell gewählten, faktisch durch wenige Familien monopolisierten und umstrittenen „Consules“ ersetzte.
Gerade die Zeit der schweren Kämpfe der Kommunen mit den staufischen Kaisern,
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[160] Gemeint sind v.a. Friedrichs I. Kämpfe mit Crema und Mailand (1160–1162) und mit dem Lombardenbund (seit 1167, erst 1183 mit dem Friedensschluß von Piacenza und Konstanz beigelegt) sowie der Krieg Friedrichs II. gegen die feindlichen Lombardenstädte (1236–1238).
welche die Notwendigkeit inneren Zusammenschlusses und finanzieller Anspannung besonders steigerte, sah das Entstehen dieser Institution. Die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts war ihre Blütezeit. Der Podesta war weit überwiegend ein aus einer fremden Gemeinde berufener, kurzfristig mit der höchsten Gerichtsgewalt bekleideter, vornehmlich fest und infolgedessen im Vergleich mit den Consules hoch besoldeter Wahlbeamter, ganz überwiegend ein Adeliger, aber mit Vorliebe ein solcher mit juristischer Universitätsbildung. Seine Wahl lag entweder in den Händen der Räte oder, wie in Italien für alle Wahlen typisch, eines eigens dafür bestimmten Honoratiorenausschusses. Über die Berufung wurde oft mit seiner Heimatgemeinde, welche sie zu genehmigen hatte, zuweilen auch direkt um Bezeichnung der Person ersucht wurde, verhandelt. Die Gewährung war ein politisch freundlicher, die Absage ein unfreundlicher Akt. Zuweilen fand geradezu ein Podestaaustausch statt. Die Berufenen selbst verlangten nicht selten die Stellung von Geiseln für gute Behandlung, feilschten um Bedingungen wie ein moderner Professor, lehnten bei nicht verlockenden Angeboten ab. Der Berufene hatte ein rittermäßiges Gefolge und vor allem seine Hilfskräfte, nicht nur das Subalternpersonal, sondern oft auch Rechtsgelehrte, Beigeordnete und Vertreter, oft einen ganzen Stab, selbst zu bestreiten und mitzubringen. Seine wesentliche Aufgabe war, gemäß dem Zweck der Berufung, die Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, vor allem des Friedens in der Stadt, daneben oft das Militärkommando, immer aber: die Rechtspflege. Alles unter der Kontrolle des Rates. Auf die Ge[161]setzgebung war sein Einfluß überall ziemlich beschränkt. Nicht nur die Person des Podesta wurde in aller Regel grundsätzlich gewechselt, sondern anscheinend absichtsvoll auch der Bezugsort. Auf der andern Seite legten die entsendenden Kommunen, wie es scheint, Wert darauf, ihre Bürger in möglichst vielen Stellungen auswärts amtieren zu sehen, – wie Hanauer mit Recht vermutet,
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[161] Weber referiert Hanauer, Berufspodestat, S. 396–399 und 412.
teils aus politischen Gründen, teils auch aus ökonomischen: die in der Fremde hohe Bezahlung bildete eine wertvolle Pfründenchance des einheimischen Adels. Die wichtigsten Seiten des Instituts lagen in folgenden Richtungen: einmal in der Entstehung dieses vornehmen Berufsbeamtentums überhaupt.
55
Hanauer, Berufspodestat, S. 395, weist jedoch darauf hin, daß man nicht von einem Berufsbeamtentum im modernen Sinne sprechen könne und daß auch die Berufsmäßigkeit kein generelles Phänomen gewesen sei.
Hanauer weist für das 4. Jahrzehnt [WuG1 548]des 13. Jahrhunderts allein für 16 von 60 Städten 70 Personen nach, die 2, 20 die ein halbes Dutzend und mehr Podestate bekleidet hatten, und die Ausfüllung eines Lebens mit solchen war nicht selten. In den hundert Jahren seiner Hauptblüte rechnet er in den etwa 60 Kommunen 5400 zu besetzende Podestate.
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Hanauer, Berufspodestat, S. 426, errechnete die Zahlen für die Jahre 1190 bis 1280.
Und andererseits gab es Adelsfamilien, welche stets erneut Kandidaten dafür stellten. Dazu trat aber noch die bedeutende Zahl der notwendigen rechtsgebildeten Hilfskräfte. Zu dieser Einschulung eines Teils des Adels für die Verwertbarkeit in einer streng sachlichen, von der öffentlichen Meinung [A 681]des Amtsortes naturgemäß besonders scharf kontrollierten Verwaltung trat aber das zweite wichtige Moment. Damit die Rechtspflege durch die fremdbürtigen Podesta möglich sei, mußte das anzuwendende Recht kodifiziert, rational gestaltet und interlokal ausgeglichen sein. Wie anderwärts die Interessen der Fürsten und Beamten an deren interlokaler Verwertbarkeit, so trug also hier dies Institut zur rationalen Kodifikation des Rechtes und speziell zur Ausbreitung des römischen Rechtes bei.
Der Podesta in seiner typischen Gestaltung war eine in der Hauptsache auf die Mittelmeergebiete beschränkte Erscheinung. Einzelne Parallelen finden sich auch im Norden. So in Regensburg (1334) die Ausschließung der Einheimischen vom Bürgermeisteramt und die Berufung eines auswärtigen Ritters, welchem dann 100 [162]Jahre lang lauter auswärtige Bürgermeister im Amt folgten: eine Epoche relativ weitgehender innerer Ruhe der vorher durch Geschlechterfehden und Kämpfe mit vertriebenen Adligen zerrissenen Stadt.
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[162] Mitglieder der Familie Auer hatten seit Mitte des 13. Jahrhunderts wiederholt das Bürgermeisteramt für längere Zeit bekleidet. Befürchtungen, daß die Auer dieses Amt für sich monopolisieren wollten, führten seit den 1320er Jahren zu heftigen Auseinandersetzungen innerhalb des Stadtpatriziats, die 1334 in den Sturz des Bürgermeisters Friedrich Auer und die Flucht der Auer und ihrer Gefolgsleute aus der Stadt mündeten; vgl. Arnold, Wilhelm, Verfassungsgeschichte der deutschen Freistädte. Im Anschluß an die Verfassungsgeschichte der Stadt Worms, Band 2. – Gotha: Friedrich A. Perthes 1854, S. 396–399 (hinfort: Arnold, Verfassungsgeschichte). Danach beschloß der Rat, daß innerhalb der nächsten zehn Jahre kein Einheimischer in Regensburg Bürgermeister werden dürfe; Regensburger Urkundenbuch, Band 1: Urkunden der Stadt bis zum Jahre 1350 (Monumenta Boica, Band 53). – München: Parcus 1912, S. 410. Zu der mit der Einsetzung auswärtiger Ritter gegebenen Parallele zum Podestat vgl. Langoth, J[ohann], Skizze einer Entwicklungsgeschichte der freistädtischen Verfassung Regensburgs im Mittelalter, 1. Hälfte: Von Carl dem Großen bis zur Vertreibung der Auer und der Einsetzung fremder Bürgermeister (Programm Gymnasium Regensburg 1866. Beilage). – Stadtamhof: Mayr 1866, S. 13. Das Statut aus dem Jahr 1334 wurde immer wieder verlängert; bis 1429 bekleideten Ritter aus bayerischen Adelsgeschlechtern das Bürgermeisteramt; Gumpelzhaimer, Christian G., Regensburg’s Geschichte, Sagen und Merkwürdigkeiten von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten, in einem Abriß aus den besten Chroniken, Geschichtsbüchern, und Urkunden-Sammlungen, 1. Abtheilung: Vom Ursprunge Regensburgs bis 1486. – Regensburg: Fridrich Pustet 1830, S. 429 (hinfort: Gumpelzhaimer, Regensburg’s Geschichte).
e
[162] e (ab S. 148: Die Entwicklung)e Petitdruck in A.
Wenn in Venedig die Stadtadelsbildung aus einer ausgeprägten Honoratiorenherrschaft ohne wesentlichen Bruch hervorwuchs und in den übrigen italienischen Kommunen die Geschlechterherrschaft an der Spitze der Entwicklung stand, so vollzog sich die Entwicklung eines geschlossenen Stadtpatriziats im Norden teilweise auf abweichender Basis und auch aus ziemlich entgegengesetzten Motiven. Ein in typischer Art extremer Fall ist die Entwicklung der englischen Stadtoligarchie. Maßgebend für die Art der Entwicklung der Stadtverfassung war hier die Macht des Königtums. Diese stand zwar gegenüber den Städten keineswegs von Anfang an so fest wie später. Nicht einmal nach der normannischen Eroberung. Wilhelm der Eroberer hat nach der Schlacht bei Hastings
58
Am 14. Oktober 1066 besiegte er den angelsächsischen König Harold II.
den Versuch einer gewaltsamen Eroberung von London nicht durchgeführt, sondern, wissend, daß der Besitz dieser Stadt seit langem über die Kro[163]ne Englands entschied, durch Vertrag die Huldigung der Bürger erlangt. Denn obwohl in der Stadt unter den Angelsachsen der Bischof und der vom König ernannte „Portreeve“ die legitimen Autoritäten waren, an welche sich denn auch die Charter des Eroberers wendet,
59
[163] Der von Wilhelm dem Eroberer nach seinem Regierungsantritt ausgestellte Freiheitsbrief nennt als Adressaten den Bischof, den „portreeve“ (Stadtvorsteher) und alle „burghers“ von London; Text in: Stubbs, William (Hg.), Select Charters and Other Illustrations of English Constitutional History from the Earliest Times to the Reign of Edward the First, 4. ed. – Oxford: Clarendon Press 1881, S. 82f. (hinfort: Stubbs, Charters); vgl. auch Hegel, Städte (wie oben, S. 76, Anm. 39), Band 1, S. 59, und Gneist, Rudolf, Die Stadtverwaltung der City von London (Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge, hg. von Rud[olph] Virchow und Fr[anz] v[on] Holtzendorff, 2. Serie, Heft 25). – Berlin: C. G. Lüderitz 1867, S. 8 (hinfort: Gneist, Stadtverwaltung).
wog die Stimme des Londoner Patriziats bei fast jeder angelsächsischen Königswahl entscheidend mit. Die Auffassung der Bürger ging sogar dahin, daß die englische Königswürde ohne ihre freie Zustimmung nicht die Herrschaft über ihre Stadt in sich schließe, und noch in der Zeit Stephans gaben sie in der Tat den Ausschlag.
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Gemeint ist Stephan von Blois (König von 1135 bis 1154), der sich mit der Unterstützung der Bürger von London, der Bischöfe und einiger Barone gegen die von Heinrich I. eingesetzte Thronerbin Mathilde durchsetzte und den Thron usurpierte. Auf die Beteiligung der Londoner Bürgerschaft an der Königsproklamation weist Hatschek, Verfassungsgeschichte, S. 198, hin – allerdings mit einer anderen zeitlichen Einordnung, wenn er betont, daß dieser Anspruch „schon seit der Zeit Stephans“ mit Erfolg vorgebracht worden sei.
Aber schon der Eroberer hatte nach der Huldigung sich seinen Tower in London gebaut. Die Stadt blieb seitdem ebenso wie andere Städte dem König im Prinzip nach dessen Ermessen schatzungspflichtig.
[A 682]Die militärische Bedeutung der Städte sank in der Normannenzeit infolge der Vereinheitlichung des Reiches, des Aufhörens der Bedrohung von außen her und des Aufstiegs der großen landgesessenen Barone. Die Feudalherren bauten jetzt ihre befestigten Schlösser außerhalb der Städte. Damit begann hier die, wie wir später sehen werden,
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Siehe unten, S. 234 f., 270 f. und 274 f.
für den außeritalienischen Okzident charakteristische Scheidung der feudalen Militärgewalten vom Bürgertum. Ganz im Gegensatz zu den italienischen Städten haben die englischen damals die Herrschaft über das platte Land, welche sie vorher oft in Gestalt ausgedehnter Stadtmarken besessen zu haben scheinen, so gut wie ganz eingebüßt. Sie wurden wesentlich ökonomisch [164]orientierte Körperschaften. Hier wie überall begannen die Barone ihrerseits Städte zu gründen, unter Gewährung von Privilegien höchst verschiedenen Umfangs. Nirgends aber hören wir von gewaltsamen Kämpfen der Stadtbürgerschaft gegen den König oder andere Stadtherren. Nichts von Usurpationen, durch welche die Burg des Königs oder anderer Stadtherren gewaltsam gebrochen oder jener
n
[164] Fehlt in A; jener sinngemäß ergänzt.
, wie in Italien, genötigt worden [WuG1 549]wäre, sie aus der Stadt zu verlegen.
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[164] Vgl. oben, S. 131 mit Anm. 86.
Nichts davon, daß im Kampf gegen ihn ein Bürgerheer geschaffen, gewaltsam eine eigene Gerichtsbarkeit von gewählten Beamten an Stelle der ernannten königlichen Richter und ein eigenes kodifiziertes Recht ins Leben gerufen worden wäre. Gewiß sind kraft königlicher Verleihung auch in England besondere Stadtgerichte entstanden, welche das Privileg hatten, dem Stadtbürger ein rationales Prozeßverfahren ohne Zweikampf zu gewähren und welche andererseits für sich die Neuerungen der Königsprozesse, namentlich die Jury, ablehnten.
63
Die Einsetzung von Juries aus lokalen Grundbesitzern bei Zivil- und Strafprozessen erfolgte im Zusammenhang mit der Ausdehnung der – von Reiserichtern und Sheriffs repräsentierten-königlichen Gerichtsbarkeit unter Heinrich II. (1154–1189). Im Strafprozeß besaß aber der Beschuldigte in bestimmten Fällen weiterhin die Möglichkeit, zwischen der Entscheidung durch Jury-Spruch oder durch Gottesurteil bzw. Zweikampf zu wählen; vgl. Hatschek, Verfassungsgeschichte, S. 16 f. und 123–126. Die Städte konnten sich in ihren Freiheitsurkunden das Recht auf eigene Gerichte bestätigen lassen. Bei der Ausübung dieser Gerichtsbarkeit stand ihnen dann frei, sowohl vom Jury-Verfahren abzusehen als auch den Zweikampf als Mittel der Entscheidungsfindung aufzuheben; vgl. Hatschek, ebd., S. 108.
Aber die Rechtsschöpfung selbst blieb ausschließlich in den Händen des Königs und der königlichen Gerichte. Die gerichtliche Sonderstellung der Stadt gewährte ihr der König, um sie gegenüber der Macht des Feudaladels auf seiner Seite zu haben: insofern profitierten auch sie von den typischen Kämpfen innerhalb des Feudalismus. Wichtiger aber als diese gerichtlichen Privilegien war die – und dies zeigt die überragende Stellung des Königs – fiskalische Verwaltungsautonomie der Städte, welche sie allmählich zu gewinnen wußten. Vom Standpunkt der Könige aus war die Stadt bis auf die Tudorzeit
64
Bis zum Regierungsantritt von König Heinrich VII. im Jahre 1485.
vor allem Besteuerungsobjekt. Die Bürgerprivilegien: die „gratia emendi et [165]vendendi“
65
[165] Die gratia emendi et vendendi (das Recht zu kaufen und zu verkaufen) ermöglichte den Bürgern, selbständig Märkte abzuhalten.
und die Verkehrsmonopole hatten als Korrelat die spezifische [A 683]bürgerliche Steuerpflicht. Die Steuern aber wurden verpachtet, und die vermögendsten königlichen Beamten waren neben den reichen Bürgern naturgemäß die wichtigsten Pachtreflektanten. Zunehmend gelang es den Bürgern, ihre Konkurrenten aus dem Felde zu schlagen und von dem König die eigene Einhebung der Steuern gegen Pauschalsummen zu erpachten („firma burgi“),
66
Der Begriff ist abgeleitet von der in den Rechtsbüchern als „feefarm“ oder „feodifirma“ bezeichneten Pachtung der Gefälle auf ewige Zeiten; vgl. Hatschek, Verfassungsgeschichte, S. 109 f.; Hegel, Städte (wie oben, S. 76, Anm. 39), Band 1, S. 60.
durch Sonderzahlungen und Geschenke sich weitere Privilegien, vor allem die eigene Wahl des Sheriffs,
67
Der Sheriff war schon vor der Eroberung Englands durch die Normannen 1066 königlicher Amtsträger, dessen Hauptaufgabe in der Leitung und Kontrolle der Grafschaftsgerichte bestand. Im 12. Jahrhundert entwickelte sich das Sheriffsamt zum wichtigsten Bindeglied zwischen der Krone und den Grafschaften bzw. Städten. Durch Privileg Heinrichs I. erhielten die Bürger von London ca. 1130 das Recht zur Wahl des Sheriffs; vgl. Hegel, Städte, Band 1, S. 59–61; Hatschek, Verfassungsgeschichte, S. 110, sowie den Text der Urkunde bei Stubbs, Charters (wie oben, S. 163, Anm. 59), S. 107–109.
zu sichern. Trotz der, wie wir sehen werden,
68
Siehe unten, S. 191–195.
ausgeprägt seigneurialen Interessenten, welche wir vielfach in der Stadtbürgerschaft finden, waren doch rein ökonomische und finanzwirtschaftliche Interessen für die Stadtkonstitution ausschlaggebend. Die conjuratio der kontinentalen Stadtbürger findet sich freilich auch in englischen Städten. Aber sie nahm hier ganz typisch die Form der Bildung einer monopolistischen Gilde an. Nicht überall. In London z. B. fehlte sie. Aber in zahlreichen anderen Städten wurde die Gilde als Garantin der fiskalischen Leistungen der Stadt
o
[165]A: Stadt,
die entscheidende Einung in der Stadt. Oft erteilte sie, ganz wie die Richerzeche in Köln, das Bürgerrecht.
69
Als Beispiele für eine „eigentümliche Verschmelzung von Gilderecht und Bürgerrecht“ nennt Hegel, Städte, Band 1, S. 87–100 (das Zitat S. 87), Leicester, Preston und Worcester. Zu den im folgenden von Weber gemachten Einschränkungen zur Rolle der Gilden in den Stadtverfassungen vgl. Gross, Charles, Gilda Mercatoria. Ein Beitrag zur Geschichte der englischen Städteverfassung. – Göttingen: Deuerlich 1883 (hinfort: Gross, Gilda Mercatoria).
In Mediatstädten war meist sie es, welche eine eigene Gerichtsbarkeit über ihre Genossen, aber als Gildegenossen, nicht als [166]Stadtbürger, erlangte.
70
[166] Mediatstädte gehen auf Gründungen durch große Grundherrn zurück, sie waren somit nicht unmittelbar der Krone unterstellt. Die Anlage von Mediatstädten diente in England u. a. der Binnenkolonisation und der Grenzsicherung gegen Wales; Gneist, Verfassungsgeschichte (wie oben, S. 76, Anm. 39), S. 124 f., und Hatschek, Verfassungsgeschichte, S. 113–115. Zur Rolle der Gilden in den Mediatstädten vgl. Gross, Gilda Mercatoria, S. 79 f.
Fast überall war sie faktisch, wenn auch nicht rechtlich, der die Stadt regierende Verband. Denn Bürger war nach wie vor, wer die dem König geschuldeten Bürgerlasten (Schutz-, Wach- und Gerichtsdienst- und Schatzungspflicht) mit den Bürgern teilte. Keineswegs nur Ortsansässige waren Bürger. Im Gegenteil gehörte in aller Regel gerade die benachbarte Grundbesitzerschaft, die gentry, dem Bürgerverband an. Speziell die Londoner Gemeinde hatte im 12. Jahrhundert fast alle großen Adligen,
p
[166]A: adligen
Bischöfe und Beamten des Landes zu Mitgliedern, weil alle in London, am Sitz des Königs und der Behörden, mit Stadthäusern ansässig waren: eine sowohl als Parallele wie, noch mehr, durch die hier höchst plastische Abweichung von den Verhältnissen der römischen Republik charakteristische Erscheinung. Wer nicht imstande war, an den Lasten der Steuergarantie der Bürgerschaft teilzunehmen, sondern die königlichen Steuern von Fall zu Fall zahlte, also insbesondere die Unvermögenden, schloß sich damit aus dem Kreise der Aktivbürger aus. Alle Privilegien der Stadt beruhten auf königlicher und grundherrlicher Verleihung, die freilich eigenmächtig interpretiert wurde. Das war [A 684]zwar in Italien ebenfalls sehr oft der Fall. Aber die Entwicklung verlief in England gegenüber der italienischen darin gänzlich heterogen: daß die Städte zu privilegierten Korporationen innerhalb des Ständestaats wurden – nachdem nämlich der Korporationsbegriff vom englischen Recht überhaupt rezipiert worden war
71
Die Entwicklung der englischen Korporationstheorie schildert Hatschek, Julius, Englisches Staatsrecht mit Berücksichtigung der für Schottland und Irland geltenden Sonderheiten, 1. Band: Die Verfassung; 2. Band: Die Verwaltung (Handbuch des Oeffentlichen Rechts der Gegenwart in Monographien, Band 4,2, 4,1 und 2). – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1905/06, hier Band 1, S. 41–66 (hinfort: Hatschek, Staatsrecht).
–, deren Organe bestimmte einzelne Rechte, abgeleitet aus Erwerb kraft besonderen Rechtstitels, in Händen hatten, genau so wie andere einzelne Rechte einzelnen Baronen oder Handelskorporationen durch Privileg appropriiert waren. [WuG1 550]Von einer privi[167]legierten „company“ zu einer Gilde und zur Stadtkorporation war der Übergang flüssig.
72
[167] Die „companies“ haben sich aus den Gilden heraus entwickelt: Ende des 14. Jahrhunderts war ihnen in London vorübergehend anstelle der Stadtbezirke die Wahl des Gemeinderats übertragen worden; Hegel, Städte (wie oben, S. 76, Anm. 39), Band 1, S. 78 f.
Die ständische Sonderrechtsstellung der Bürger setzte sich also aus Privilegienbündeln zusammen, die sie innerhalb des ständischen, halb feudalen, halb patrimonialen Reichsverbandes erworben hatten. Nicht aber flossen sie aus der Zugehörigkeit zu einem mit politischer Herrschaft
q
[167] Zu ergänzen wäre: ausgestatteten,
vergesellschafteten, nach außen selbständigen Verbande.
73
Webers Argumentation folgt Hatschek, Staatsrecht, Band 1, S. 35–37, der die englische Pflichtgenossenschaft von der deutschen freien Genossenschaft abhebt. Das Charakteristische der englischen Genossenschaften war, daß sie vom Staat auferlegte Pflichten (Steuern, Verteidigung) zu erfüllen hatten, ohne Satzungsautonomie oder das Recht auf Erhebung eigener Steuern zu erlangen. Sie konnten sich zwar Sonderrechte vom König erkaufen, doch machte sie dies noch nicht zu einem „nach außen selbständigen Verbande“ im Sinne der deutschen Genossenschaftstheorie.
In großen Zügen verlief also die Entwicklung so: daß die Städte zunächst von den Königen mit leiturgischen Pflichten, nur: anderen als denen der Dörfer, belastete Zwangsverbände waren, dann in den massenhaften[,] ökonomisch
r
A: ökonomischen
und ständisch
s
A: ständischen
privilegierten Neugründungen der Könige und Grundherren prinzipielle Gleichheit der Rechte aller auf Grund spezieller Privilegien mit Stadtgrundbesitz ansässigen Bürger mit einer begrenzten Autonomie herrschte, und daß weiterhin die zunächst privaten Gilden als Garanten der Finanzleistungen zugelassen und durch königliche Privilegien anerkannt und schließlich die Stadt mit Korporationsrecht belieben wurde. Eine Kommune im kontinentalen Sinne war London. Hier hatte Heinrich I. die eigene Wahl des Sheriffs zugestanden,
74
Zum Privileg von ca. 1130 vgl. oben, S. 165 mit Anm. 67.
und hier findet sich seit Ende des 12. Jahrhunderts, von König Johann anerkannt, die Kommune als Bürgerverband,
75
Die Bürger von London schlossen sich 1191 zu einem eidlich beschworenen Bund zusammen, der von dem Regenten Johann (noch nicht: „König Johann“), dem Bruder des (sich auf dem Kreuzzug befindenden) Königs Richard (Löwenherz), anerkannt wurde; Hegel, Städte, Band 1, S. 73.
unter dem, ebenso wie der Sheriff, gewählten Mayor und den „Skivini“ (Schöffen): diese letzteren seit Anfang des 13. Jahrhunderts
t
A: Jahrhunderts,
mit einer gleich großen Zahl von gewählten [168]Councillors zum Rat vereinigt.
76
[168] Am Ende – nicht am Anfang – des 13. Jahrhunderts, nämlich während der Regierung von Edward I. (1272–1307), begegnet in den Quellen erstmals ein jährlich gewählter Gemeinderat. Dieser Rat stand aber neben den anderen von Weber angeführten Institutionen. Nicht die „Skivini“ (Schöffen), sondern die Aldermen, d. h. die Vorsteher der 24 Stadtbezirke (wards), bildeten neben dem Mayor und dem Rat das dritte Organ der Bürgerschaft. Dazu Hegel, Städte, Band 1, S. 75 und 78.
Die Pachtung des Sheriffsamts für Middlesex durch die Kommune begründete deren Herrschaft über die Umlandbezirke.
77
Mit dem Privileg Heinrichs I. für London aus der Zeit um 1130 (vgl. oben, S. 165, Anm. 67) war der Stadt zugleich gegen die Zahlung von 300 Pfund jährlich das Sheriffsamt für die Grafschaft Middlesex verpachtet worden; Hegel, Städte, Band 1, S. 59; Gneist, Verfassungsgeschichte (wie oben, S. 76, Anm. 39), S. 124.
Seit dem 14. Jahrhundert führt der Bürgermeister von London den Titel Lord.
78
Gemeint ist „Lord Mayor“. Es ist nicht eindeutig belegt, seit wann das Stadtoberhaupt von London diesen Ehrentitel führte. Die in älterer Literatur vertretene Annahme, dies gehe auf ein Privileg aus dem Jahre 1354 zurück, das der City of London gestattete, dem Mayor ein goldenes Zepter auch in Gegenwart des Königs vorantragen zu lassen, wird als höchst unwahrscheinlich verworfen von Sharpe, Reginald R., London and the Kingdom. A history derived mainly from the archives at Guildhall in the custody of the Corporation of the City of London, vol. 1. – London: Longmans, Green 1894, S. 196 f. (hinfort: Sharpe, London). Gesichert ist die Verwendung des Titels erst für die Zeit nach 1540; vgl. Gomme, George L., The Governance of London. Studies on the place occupied by London in English institutions. – London: T. Fisher Unwin 1907, S. 164, Anm. 1.
Die Masse der übrigen Städte aber waren oder richtiger wurden nach zeitweisen Ansätzen zu politischer Gemeindebildung einfache Zwangsverbände mit bestimmten spezifischen Privilegien [A 685]und fest geregelten korporativen Autonomierechten. Die Entwicklung der Zunftverfassung wird erst später zu erörtern sein,
79
Siehe unten, S. 194 f., zur Londoner Zunftverfassung.
schon hier aber kann festgestellt werden:
a
[168]A: werden;
an dem Grundcharakter der Stellung der Städte änderte auch sie nichts. Der König war es, der den Streit zwischen zünftiger und honoratiorenmäßiger Stadtverfassung schlichtete. Ihm blieben die Städte pflichtig, die Schatzung zu gewähren, bis die ständische Entwicklung im Parlament kollektive Garantien gegen willkürliche Besteuerung schuf, welche keine einzelne Stadt und auch nicht die Städte gemeinsam aus eigener Kraft zu erringen vermocht hatten. Das aktive Stadtbürgerrecht aber blieb ein erbliches, durch Einkaufen in bestimmte Verbände erwerbbares Recht von Korporationsmitgliedern. Der Unterschied gegen die Entwicklung auf dem Kontinent war, obwohl teilweise nur graduell, dennoch infolge des engli[169]schen Korporationsrechtes von großer prinzipieller Bedeutung: der gebielskörperschaftliche Gemeindebegriff entstand in England nicht.
Der Grund dieser Sonderentwicklung lag in der niemals gebrochenen und nach der Thronbesteigung der Tudors immer weiter steigenden Macht der königlichen Verwaltung,
80
[169] Den Ausbau der englischen Zentralverwaltung seit 1485 behandelt Hatschek, Verfassungsgeschichte, S. 407 ff.
auf der die politische Einheit des Landes und die Einheit der Rechtsbildung beruhte. Die königliche Verwaltung war zwar ständisch scharf kontrolliert und stets angewiesen auf die Mitwirkung der Honoratioren. Aber eben dies hatte die Folge, daß die ökonomischen und politischen Interessenten
b
[169]A: Interessen
sich nicht an
c
In A folgt: Interessen
der einzelnen geschlossenen Stadtgemeinde, sondern durchaus an der Zentralverwaltung orientierten, von dort her ökonomische Gewinnchancen und soziale Vorteile, Monopolgarantien und Abhilfe gegen Verletzung der eigenen Privilegien erwarteten. Die Könige, finanziell und für die Führung der Verwaltung ganz von den privilegierten Schichten abhängig, fürchteten diese. Aber ihre politischen Mittel orientierten sich ebenfalls an der zentralen Parlamentsherrschaft. Sie suchten ganz wesentlich nur im Interesse ihrer Parlamentswahlpolitik die Stadtverfassung und die personale Zusammensetzung der städtischen Räte zu beeinflussen, stützten daher die Honoratiorenoligarchie. Die Stadthonoratioren ihrerseits hatten von der Zentralverwaltung und nur von ihr die Garantie ihrer Monopolstellung gegenüber den nicht privilegierten Schichten zu gewärtigen. In Ermangelung eines eigenen [WuG1 551]bureaukratischen Apparats waren die Könige gerade [A 686]wegen des Zentralismus auf die Mitwirkung der Honoratioren angewiesen. Es ist in England vorwiegend der negative Grund: die – trotz ihrer relativ hohen rein technischen Entwicklung – Unfähigkeit der feudalen Verwaltung, eine wirklich dauernde Beherrschung des Landes ohne stete Stütze der ökonomisch mächtigen Honoratioren zu behaupten, welche die Macht der Bürger mehr
d
Fehlt in A; mehr sinngemäß ergänzt.
begründete
e
A: begründeten,
als deren eigene militärische Kraft. Denn die eigene Militärmacht der großen Mehrzahl der englischen Städte war im Mittelalter relativ [170]unbedeutend gewesen. Die Finanzmacht der Stadtbürger war um so größer. Aber sie kam innerhalb des ständischen Zusammenschlusses der „Commons“ kollektiv im Parlament, als Stand der privilegierten Stadtinteressenten zur Geltung,
81
[170] Mit „Commons“ wurden die Vertreter der Grafschaften, Cities (Bischofsstädte) und Boroughs (Stadtgemeinden) im englischen Parlament bezeichnet; die Vereinigung der Grafschaftsritter mit den Bürgern bei gleichzeitiger Abgrenzung von den Baronen (Lords) fand 1340–1343 statt. Seit 1451 nannte man diesen Zusammenschluß „House of Commons“.
und um dieses drehte sich daher jedes über die Ausnutzung der wirtschaftlichen Vorteile des lokalen Monopols hinausreichende Interesse. Hier zuerst findet sich also ein interlokaler, nationaler
f
[170]A: nationaler,
Bürgerstand. Die steigende Macht des Bürgertums innerhalb der königlichen Friedensrichterverwaltung
82
Weber behandelt die Rolle der englischen Friedensrichter, die eine Vielzahl judikativer und administrativer Funktionen ausüben, als spezifische Art von Honoratiorenverwaltung ausführlich in WuG1, S. 715–719 (MWG I/22-4).
und im Parlament, also seine Macht im ständischen Honoratiorenstaat hinderte das Entstehen einer starken politischen Selbständigkeitsbewegung der einzelnen Kommunen als solcher: – nicht die lokalen, sondern die interlokalen Interessen wurden Grundlage der politischen Einigung des Bürgertums – und begünstigte auch den bürgerlich-kaufmännischen Charakter der englischen Stadtoligarchie. Die Städte Englands zeigen daher bis etwa in das 13. Jahrhundert eine der deutschen ähnliche Entwicklung. Von da an aber findet sich ihre zunehmende Einmündung in eine Herrschaft der „Gentry“, welche niemals wieder gebrochen worden ist, im Gegensatz zu der mindestens relativen Demokratie der kontinentalen Städte. Die Ämter, vor allem das des Alderman,
83
Städtischer Magistrat, in der City of London Vorsteher eines Stadtviertels; vgl. oben, S. 168 mit Anm. 76.
ursprünglich auf jährlicher Wahl beruhend, wurden zum erheblichen Teil lebenslänglich und sehr häufig faktisch durch Kooptation oder durch Patronage benachbarter Grundherren besetzt. Die Verwaltung der Könige aber stützte aus den angegebenen Gründen diese Entwicklung, ähnlich wie die antike römische Verwaltung die Oligarchie der Grundaristokratie in den abhängigen Städten stützte.
Wiederum anders als in England einerseits, in Italien andrerseits lagen die Bedingungen der Entwicklung auf dem nordeuropäischen Kontinent. Hier hatte die Entwicklung des [A 687]Patriziats zwar teilweise [171]an die schon bei der Entstehung des Bürgerverbandes bestehenden ständischen und ökonomischen Unterschiede angeknüpft. Auch bei Neugründungsstädten war dies der Fall. Die 24 conjuratores fori in Freiburg waren von Anfang an in Steuersachen privilegiert und zu consules berufen.
84
[171] Vgl. oben, S. 140 mit Anm. 107.
Aber in den meisten Neugründungsstädten, auch vielen der von Natur zur Plutokratie der Kaufleute neigenden Seestädte des Nordens, ist die formelle Abgrenzung der Ratsfähigkeit erst allmählich erfolgt, meist in der typischen Art, daß das sehr häufige Vorschlagsrecht des einmal amtierenden Rates oder die faktische Gewöhnung daran, die Ansicht der amtierenden Räte über ihre Nachfolger zu befolgen oder einfach deren soziales Gewicht bei der Ratswahl in Verbindung mit dem sachlichen Bedürfnis: geschäftserfahrene Männer im Rate zu behalten, zur faktischen Ergänzung des Rates durch Kooptation führte und damit die Ratskollegien einem festen Kreis privilegierter Familien auslieferte. Es ist erinnerlich, wie leicht selbst unter modernen Verhältnissen sich ähnliches ereignen kann: die Ergänzung des Hamburger Senates befand sich trotz des Wahlrechts der Bürgerschaft in der letzten Zeit gelegentlich auf dem Wege zu einer ähnlichen Entwicklung.
85
Mit der Hamburger Verfassung von 1860, die in der revidierten Fassung von 1880 bis 1921 in Kraft blieb, war zwar die Wahl der Senatoren durch die Bürgerschaft (das Stadtparlament) anstelle der Selbstergänzung des Senats eingeführt worden, doch übten die auf Lebenszeit gewählten Senatoren weiterhin einen maßgeblichen Einfluß auf die Ergänzung ihres Gremiums aus. Im Falle einer Wahl wurde ein Ausschuß aus je vier Vertrauensleuten des Senats und der Bürgerschaft eingesetzt. Diese Kommission stellte eine Liste mit vier Kandidaten auf; zur Nomination waren jeweils mindestens fünf Stimmen erforderlich. Die Viererliste wurde dem Senat vorgelegt, der wiederum zwei Namen strich. Über die verbliebenen zwei Kandidaten für den Senatorensitz stimmte dann die Bürgerschaft ab. Die Regelung findet sich in Artikel 9 der Verfassung von 1880; Text in: Deutsche Staatsgrundgesetze in diplomatisch genauem Abdrucke, hg. von Karl Binding, Heft 10: Verfassungs-Urkunden für die freien und Hansestädte Lübeck, Bremen und Hamburg. – Leipzig: Wilhelm Engelmann 1897, S. 7–9.
Die Einzelheiten können hier nicht verfolgt werden. Überall jedenfalls machten sich jene Tendenzen geltend, und nur das Maß, in welchem sie auch formell rechtlich sich ausprägten, war verschieden.
Die Geschlechter, welche die Ratsfähigkeit monopolisierten, konnten diese überall solange leicht behaupten, als ein starker Interessengegensatz gegen die ausgeschlossenen Bürger nicht bestand. Sobald dagegen Konflikte mit den In[WuG1 552]teressen der Außenstehenden entstanden oder deren durch Reichtum und Bildung wach[172]sendes Selbstgefühl und ihre Abkömmlichkeit für Verwaltungsgeschäfte so stark stiegen, daß sie den Ausschluß von der Macht ideell nicht mehr ertrugen, lag die Möglichkeit neuer Revolutionen nahe. Deren Träger waren abermals beschworene Einigungen von Bürgern. Hinter diesen aber standen oder mit ihnen direkt identisch waren: die Zünfte. Dabei hat man sich zunächst zu hüten, den Ausdruck „Zunft“ vornehmlich oder gar ausschließlich mit „Handwerkerzunft“ zu identifizieren. Keineswegs ist die Bewegung gegen die Geschlechter in der ersten Zeit in erster Linie eine solche der Handwerkerschaft. Erst im weiteren Verlauf der Entwicklung traten, wie [A 688]zu erörtern sein wird,
86
[172] Siehe unten, S. 205–208 und 262.
die Handwerker in der Bewegung selbständig hervor, in der ersten Zeit waren sie fast überall geführt von den nicht handwerkerlichen Zünften. Der höchst verschiedene Erfolg der Zunftrevolutionen konnte, wie wir sehen werden,
87
Siehe unten, S. 194 und 199–206.
im äußersten Fall dazu führen, daß der Rat aus den Zünften allein zusammengesetzt und die Vollbürgerqualität ausschließlich an Zunftmitgliedschaft gebunden wurde.
Erst dieser Aufstieg der Zünfte bedeutete (in der Regel) praktisch die Erringung der Herrschaft oder doch einer Teilnahme an der Herrschaft von seiten „bürgerlicher“ Klassen im ökonomischen Sinne des Wortes. Wo die Zunftherrschaft in irgendeinem Umfang durchgedrungen ist, fiel die Zeit, in welcher dies geschah, regelmäßig mit der Epoche der höchsten Machtentfaltung der Stadt nach außen und ihrer größten politischen Selbständigkeit nach innen zusammen.
Es fällt nun die Ähnlichkeit dieser „demokratischen“ Entwicklung mit dem Schicksal der antiken Städte ins Auge, deren meiste eine ähnliche Epoche des Emporwachsens als Adelsstädte, beginnend etwa mit dem 7. Jahrhundert v. Chr., und des raschen Aufstiegs zur politischen und ökonomischen Macht, verbunden mit der Entwicklung der Demokratie oder doch der
g
[172]A: die
Tendenz dazu, durchlebt haben. Diese Ähnlichkeiten sind vorhanden, obwohl die antike Polis auf der Grundlage einer durchaus anderen Vergangenheit entstand. Wir haben zunächst die antike Geschlechterstadt mit der mittelalterlichen zu vergleichen.
[173]Die mykenische Kultur im griechischen Mutterland setzte, mindestens in Tiryns und Mykene selbst, ein patrimoniales Fronkönigtum orientalischen Charakters, wenn auch weit kleinerer Dimensionen, voraus. Ohne Anspannung der Fronarbeit der Untertanen sind diese bis in die klassische Zeit beispiellosen Bauten nicht denkbar.
88
[173] Als „mykenische“ Kultur wird die Periode der späten Bronzezeit auf dem griechischen Festland (ca. 1600–1200 v. Chr.) bezeichnet. Ihr Kennzeichen sind die großen Burg- und Palastanlagen in Mykene und Tiryns (in der Argolis, im Nordwesten der Peloponnes), deren Ausgrabung durch Schliemann und Dörpfeld 1876 bzw. 1884/85 begann. Den Einsatz von Fronarbeit durch ein quasi-orientalisches Königtum betonen Meyer, Altertum, Band 2, S. 167; Busolt, Georg, Griechische Geschichte bis zur Schlacht bei Chaeroneia (Handbücher der Alten Geschichte, 2. Serie, 1. Abteilung), 4 Bände (in 3), 2. Aufl. – Gotha: Friedrich A. Perthes 1893–1904, hier Band 1, S. 6 (hinfort: Busolt, Geschichte), sowie Pöhlmann, Robert, Aus dem hellenischen Mittelalter, in: ders., Aus Altertum und Gegenwart. Gesammelte Abhandlungen. – München: C. H. Beck 1895, S. 149–194, hier S. 168–174 (hinfort: Pöhlmann, Mittelalter).
An den Rändern des damaligen hellenischen Kulturkreises nach dem Orient zu (Kypros) scheint sogar eine Verwaltung bestanden zu haben, welche ein eigenes Schriftsystem ganz nach ägyptischer Art zu Rechnungen und Listenführung verwendete, also eine patrimonial-bureaukratische Magazinverwaltung gewesen sein muß,
89
Seit den 1870er Jahren war eine auf cyprischen Monumenten und Münzlegenden gefundene Silbenschrift entziffert, deren – nicht zu dem griechischen Lautbestand passendes – System auf orientalischen Ursprung deutete. Webers Hinweis auf die Bedürfnisse einer bürokratischen Palastverwaltung paßt jedoch viel besser auf die seit 1900 in den Überresten des Palastes von Knossos auf Kreta gefundenen Tontäfelchen in den sogenannten Linearschriften A und B. Eine erste umfassende Darstellung gab der Ausgräber: Evans, Arthur J., Scripta Minoa. The written documents of Minoan Crete with special reference to the archives of Knossos, vol. 1: The Hieroglyphic and Primitive Linear Classes. – Oxford: Clarendon Press 1909. (Die Entzifferung, bisher nur von Linear B, ist nach weiteren Funden erst 1953 gelungen).
– während später die Verwaltung noch der klassischen Zeit in Athen beinahe ganz mündlich und schriftlos war. Spurlos ist nun später, wie jenes Schriftsystem, so auch diese Fronkultur verschwunden. Die Ilias
90
Die homerische Ilias gestaltet einen Ausschnitt von wenigen Tagen aus der Schlußphase der zehnjährigen Belagerung von Troja (Ilion) durch die Achaier (Griechen); im Mittelpunkt steht der Streit zwischen Agamemnon und Achill.
kennt [A 689]im Schiffskatalog Erbkönige, welche über größere Gebiete herrschen, deren jedes mehrere, zuweilen zahlreiche später als Städte bekannte Orte umfaßt,
91
Der Einschub Ilias 2, 484 ff. zählt die Anführer der diversen griechischen Kontingente auf. Daß es sich bei den Herkunftsorten noch nicht um Poleis gehandelt habe, ist schon in der Antike (Strabo 8, 3, 2 = C 337) festgestellt worden.
die wohl sämtlich als Burgen gedacht sind und von denen ein Herrscher wie Aga[174]memnon dem Achilleus einige zu Lehen zu geben bereit ist.
92
[174] Ilias 9, 149.
Neben dem König standen in Troja die vom Kriegsdienst durch Alter befreiten Greise aus adligen Häusern als Berater. Als Kriegskönig gilt dort Hektor, während Priamos selbst zu Vertragsschlüssen herbeigeholt werden muß.
93
Ilias 3, 250 ff.
Ein Schriftstück, vielleicht aber nur in Symbolen, wird nur ein einziges Mal erwähnt.
94
Ilias 6, 169.
Sonst schließen alle Verhältnisse eine Fronverwaltung und ein Patrimonialkönigtum völlig aus. Das Königtum ist gentilcharismatisch. Aber auch dem stadtfremden Aeneas kann die Hoffnung zugeschrieben werden, wenn er den Achilleus töte, das Amt des Priamos zu erhalten.
95
Aeneas, dem Führer der Dardaner auf Seiten der Trojaner, wurden Ambitionen auf die trojanische Königswürde unterstellt; Ilias 20, 176 ff., vgl. Ilias 20, 307 f.
Denn das Königtum gilt als amtsartige „Würde“, nicht als Besitz. Der König ist Heerführer und am Gericht gemeinsam mit den Adligen beteiligt, Vertreter den Göttern und Menschen gegenüber, mit Königsland
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Die Vorstellung war, daß das Krongut von der ursprünglichen Verteilung des Landes durch Los ausgenommen worden war; es hieß deshalb nicht kleros, sondern temenos (Ilias 6, 194 und öfter).
ausgestattet, hat aber, namentlich in der Odyssee,
97
Die homerische Odyssee schildert die zehnjährigen Irrfahrten und die Heimkehr des Odysseus nach dem Ende des trojanischen Krieges.
eine wesentlich nur [WuG1 553]häuptlingsartige, auf persönlichem Einfluß, nicht auf geregelter Autorität beruhende Gewalt; auch die Kriegsfahrt, fast stets eine Seefahrt, hat für die adligen Geschlechter mehr den Charakter gefolgschaftlicher Aventiure als eines Aufgebots: Die Genossen des Odysseus heißen ebenso Hetairoi wie die spätere mazedonische Königsgefolgschaft.
98
Im makedonischen Königreich wurde die Bezeichnung „Hetairoi“ (Gefährten) für die den König ständig (auch im Kampf) begleitenden Aristokraten zumal unter Alexander dem Großen zu einem offiziellen, die Zugehörigkeit zum Hof bezeichnenden Titel.
Die langjährige Abwesenheit des Königs gilt keineswegs als Quelle ernster Unzuträglichkeiten; in Ithaka
99
Ithaka ist eine der ionischen Inseln vor der Westküste Griechenlands; in der Odyssee die Heimat des Odysseus, in die dieser nach zwanzigjähriger Abwesenheit zurückkehrt.
ist ein König inzwischen gar nicht vorhanden. Sein Haus hat Odysseus dem Mentor
100
Mentor heißt der gleichaltrige Freund des Odysseus, dem dieser die Aufsicht über sein Haus übertrug; Odyssee 2, 224 ff.
befohlen, der mit der Königswürde nichts zu schaffen hat. Das Heer ist ein Ritterheer, Einzelkämpfe [175]entscheiden die Schlacht. Das Fußvolk tritt ganz zurück. In einigen Teilen der homerischen Gedichte tritt der städtische politische Markt hervor: wenn Ismaros „Polis“ heißt, so könnte das „Burg“ bedeuten;
h
[175]A: bedeuten:
aber es ist jedenfalls die Burg nicht eines einzelnen, sondern der Kikonen.
101
[175] Odyssee 9, 39 ff. Ismaros, die polis der Kikonen, eines thrakischen Stammes, wurde von Odysseus auf seiner Heimfahrt zerstört.
Auf dem Schilde des Achilleus aber sitzen die Ältesten – der durch Besitz und Wehrhaftigkeit
i
A: Wehrhofmacht
hervorragenden Honoratiorensippen – auf dem Markt und sprechen Recht; das Volk begleitet als Gerichtsumstand die Parteireden mit Beifall.
102
Der von dem Gott Hephaistos gefertigte, reich verzierte Schild des Achills zeigte auch eine Gerichtsszene; Ilias 18, 496 ff.
Die Beschwerde des Telemachos wird auf dem Markt Gegenstand einer vom Herold geregelten Diskussion unter den wehrhaften Honoratioren.
103
Telemachos, Sohn des Odysseus, beschwert sich über die Freier seiner Mutter Penelope, die den Besitz der vermeintlichen Witwe verprassen; Odyssee 2, 1–257.
Die Adligen einschließlich der Könige sind dabei, [A 690]wie die Umstände ergeben, Grundherren und Schiffsbesitzer, welche zu Wagen in den Kampf ziehen. Aber nur wer in der Polis ansässig ist, hat Anteil an der Gewalt. Daß König Laertes sich auf sein Landgut zurückgezogen hat, bedeutet, daß er im Altenteil sitzt.
104
Odyssee 24, 205 ff. Laertes ist der Vater des Odysseus.
Wie bei den Germanen schließen sich die Söhne der Honoratiorengeschlechter als Gefolgschaft (Hetairoi) den Aventiuren eines Helden – in der Odyssee: des Königssohns
105
Nachdem Telemachos’ Appell an die Volksversammlung (vgl. oben, Anm. 103) ergebnislos geblieben war, brach er auf der Suche nach Unterstützung gemeinsam mit seinen Gefährten zu einer Reise auf die Peloponnes auf; Odyssee 2, 401 ff.
– an. Der Adel schreibt sich bei den Phäaken das Recht zu, das Volk zu den Kosten von Gastgeschenken heranzuziehen.
106
Den Geschenken der „Könige" an Odysseus (Odyssee 8, 386 ff.) folgt eine Umlage auf das Volk (Odyssee 13, 14); Weber, Agrarverhältnisse3, S. 98 (MWG I/6); Meyer, Altertum, Band 2, S. 319; ders., „Finanzen II. Geschichte der Finanzen, Griechische Finanzen“, in: HdStW2, Band 3, S. 936–949, hier S. 937 (hinfort: Meyer, Finanzen).
Daß alle Landbewohner als Hintersassen oder Knechte der stadtsässigen Adligen angesehen würden, ist nirgends gesagt, obwohl freie Bauern nie erwähnt werden. Die Behandlung der Figur des Thersites beweist jedenfalls, daß auch der gemeine – d. h. der nicht zu Wagen in den Kampf ziehende – Heerespflichtige es gelegentlich wagt, gegen die Herren zu [176]reden; nur gilt das als Frechheit.
107
[176] Thersites will sich mit der Kritik an der Habgier des Agamemnon zum Sprecher des Volkes machen, wird jedoch unter dem Beifall des Heeres von Odysseus mit dem Zepter gezüchtigt; Ilias 2, 211–269.
Auch der König aber tut Hausarbeiten, zimmert sein Bett, gräbt den Garten.
108
So Odysseus; Odyssee 15, 320 ff.; 23, 189 ff. und 18, 365 ff.; vgl. Pöhlmann, Mittelalter (wie oben, S. 173, Anm. 88), S. 191.
Seine Kriegsgefährten sitzen selbst am Ruder. Die gekauften Sklaven andererseits dürfen hoffen, zu einem „kleros“ zu gelangen: der später in Rom so scharfe Unterschied zwischen den Kaufsklaven und den mit Land beliehenen Klienten gilt also noch nicht.
109
Gemeint ist der „Sauhirt“ Eumaios, der von der Zuweisung eines Landloses (kleros) durch den Herrn spricht; Odyssee 14, 63; Weber, Agrarverhältnisse3, S. 98 und 99 (MWG I/6), Anm. 2. – Zu den Zuteilungen von Land an die Klienten in Rom vgl. unten, S. 278.
Die Beziehungen sind patriarchal, Eigenwirtschaft deckt allen normalen Bedarf. Die eigenen Schiffe dienen dem Seeraub, der Handel ist Passivhandel, dessen aktive Träger damals noch die Phöniker sind. Zweierlei wichtige Erscheinungen sind außer dem „Markt“ und der Stadtsässigkeit des Adels vorhanden: einmal der später das ganze Leben beherrschende „Agon“: er entstand naturgemäß aus dem ritterlichen Ehrbegriff und der militärischen Schulung der Jugend auf den Übungsplätzen. Äußerlich organisiert findet er sich vor allem beim Totenkult der Kriegshelden (Patroklos).
110
Zu Ehren des gefallenen Patroklos, des Freundes Achills, wurde eine große Totenfeier mit Wettkämpfen veranstaltet; Ilias 23.
Er beherrscht schon damals die Lebensführung des Adels. Dann: die bei aller Deisidämonie
111
Griech.: Furcht vor den Göttern.
gänzlich ungebundene Beziehung zu den Göttern, deren dichterische Behandlung Platon später so peinlich anmutet.
112
V.a. Platon, Politeia 363d, 364d, 377d, 378d, 381d, 383a–c, 390b–c und Nomoi 906d–e.
Diese Respektlosigkeit der Heidengesellschaft konnte nur im Gefolge von Wanderungen, namentlich Überseewanderungen, in Gebieten entstehen, in welchen sie nicht mit alten Tempeln und an Gräbern zu leben hatten. Während die Adelsreiterei der historischen Geschlechterpolis den homerischen Gedichten fehlt, scheint auffallenderweise der später disziplinierte, in Reih und Glied gebannte, Hoplitenkampf erwähnt zu sein:
113
Schlachtreihen (phalagges, stiches) werden an zahlreichen Stellen der Ilias (z. B. 2, 558; 4, 90; 4, 281; 5, 591; 6, 6; 11, 90) erwähnt.
ein Beweis, [A 691]wie [177]stark verschiedene Zeiten in den Dichtungen ihre Spuren hinterließen. –
Die historische Zeit kennt, bis zur Entwicklung der Tyrannis, außerhalb Spartas und weniger anderer Beispiele (Kyrene) das gentilcharismatische Königtum nur in Resten oder in der Erinnerung (dies in vielen Städten von Hellas und in Etrurien, Latium und Rom), und zwar stets als Königtum über eine einzelne Polis, auch damals gentilcharismatisch, mit sakralen Befugnissen, aber im übrigen, mit Ausnahme [WuG1 554]von Sparta und der römischen Überlieferung, nur mit Ehrenvorrechten gegenüber dem zuweilen ebenfalls als „Könige“ bezeichneten Adel ausgestattet. Das Beispiel Kyrenes zeigt, daß der König die Quelle seiner Macht: seinen Hort, auch hier dem Zwischenhandel, sei es durch Eigenhandel, sei es durch entgeltliche Kontrolle und Schutz, verdankte.
114
[177] Vgl. oben, S. 81 f. mit Anm. 62.
Vermutlich hat der Ritterkampf mit seiner militärischen Selbständigkeit der, eigene Wagen und Gefolgschaften haltenden und eigene Schiffe besitzenden, Adelsgeschlechter das Monopol des Königs gebrochen, nachdem auch die großen orientalischen Reiche, mit denen sie in Beziehungen standen, sowohl die ägyptische wie die hethitische Macht,
115
Das Hethiterreich hatte sich im 2. Jahrtausend v. Chr. von seinem Kerngebiet Anatolien bis nach Mesopotamien und Syrien ausgedehnt; nach einem militärischen Konflikt mit den Ägyptern kam es 1270 v. Chr. zu einer Abgrenzung der Interessensphären in Syrien. Das Hethiterreich zerfiel gegen Ende des 13. Jahrhunderts v. Chr. Der Niedergang der ägyptischen Macht trat im 12. Jahrhundert v. Chr. ein, als man sich nur mit großen Mühen gegen den Ansturm der „Seevölker“ verteidigen konnte.
zerfallen und andere große Königsherrschaften, wie das Lyderreich,
116
Die Expansion des Lyderreiches, auch auf die griechisch besiedelten Teile des westlichen Kleinasiens, begann unter König Gyges (ca. 685–ca. 652 v. Chr.).
noch nicht entstanden, der Monopolhandel und der Fronstaat der orientalischen Könige also, dem die mykenische Kultur im kleinen entsprach, zusammengebrochen waren. Dieser Zusammenbruch der ökonomischen Grundlage der Königsmacht hat vermutlich auch die sog. dorische Wanderung ermöglicht.
117
Als „dorische Wanderung“ wird das Eindringen von Stämmen aus dem albanisch-dalmatinischen Raum bezeichnet, die sich vor allem auf der Peloponnes niederließen. Nach der zu Webers Zeit vorherrschenden Meinung – vgl. Meyer, Altertum, Band 2, S. 263–265 – setzte dies den Niedergang der mykenischen Kultur voraus.
Es begannen nunmehr die Wanderungen der seekriegerischen Ritterschaft nach der kleinasiatischen Küste, auf welcher Homer helleni[178]sche Ansiedlungen noch nicht kennt und an welcher damals starke politische Verbände nicht existierten. Und es begann zugleich damit der Aktivhandel der Hellenen.
Die beginnende historische Kunde zeigt uns die typische Geschlechterstadt der Antike. Sie war durchweg Küstenstadt: bis in die Zeit Alexanders und der Samniterkriege
118
[178] Alexander der Große war 336–323 v. Chr. makedonischer König. Roms Kriege (nach der Tradition: vier) mit den Samniten des Hochapennin fallen in das späte 4. und frühe 3. Jahrhundert v. Chr.
gab es keine Polis weiter als eine Tagereise vom Meer. Außerhalb des Bereiches der Polis gab es nur das Wohnen in Dörfern (ϰῶμαι) mit labilen politischen Verbindungen von „Stämmen“ (ἒϑνη).
119
In: Agrarverhältnisse1, S. 123 (MWG I/6), führt Weber das Beispiel der Aitoler an (Thukydides 3, 94, 4),
Eine Polis, die aus eigenem Antrieb oder von Feinden aufgelöst wird, wird in Dörfer „dioikisiert“.
120
Bekannte Beispiele für das in den Quellen so bezeichnete „Auseinandersiedeln“ (dioikizein), die auch Weber, Agrarverhältnisse3, S. 171 (MWG I/6), erwähnt, sind Mantineia und Patrai (beide auf der Peloponnes gelegen). Sparta erzwang 385 v. Chr. die Aufgabe der Stadt Mantineia und die Rücksiedlung der Bevölkerung auf die Dörfer; Xenophon, Hellenika 5, 2, 6; Polybios 4, 27, 6. Patrai soll nach einer Niederlage gegen die Gallier 279 v. Chr. weitgehend von den Einwohnern verlassen worden sein; Pausanias 7, 18, 6.
Als reale oder fiktive Grundlage der Stadt galt dagegen der Vorgang des „Synoikismos“: [A 692]die auf Geheiß des Königs oder nach Vereinbarung vollzogene „Zusammensiedlung“ der Geschlechter in oder an eine befestigte Burg. Ein solcher Vorgang war auch im Mittelalter nicht ganz unbekannt: so in dem von Gothein geschilderten Synoikismos von Aquila und etwa bei der Gründung von Alessandria.
121
Gothein, Culturentwicklung, S. 162–242, behandelt ausführlich die Gründung von Aquila (in den Abruzzen) unter Friedrich II. im 13. Jahrhundert; S. 164 verweist er auf die Parallele – in der Sache wie im Begriff (incasamento) – zum antiken Synoikismos. Derselbe Vergleich findet sich, bezogen auf die Gründung der (nach Papst Alexander III., dem Gegenspieler Kaiser Friedrichs I. benannten) Stadt Alessandria durch den lombardischen Städtebund 1168, bei Gothein, Wirtschaftsgeschichte (wie oben, S. 141, Anm. 107), S. 63 und auch bei Burckhardt, Kulturgeschichte (wie oben, S. 80, Anm. 57), Band 1, S. 71.
Aber sein wesentlicher Gehalt war in der Antike spezifischer ausgeprägt als im Mittelalter. Nicht unbedingt wesentlich daran war die dauernde reale Zusammensiedlung: wie die mittelalterlichen Geschlechter, so blieben auch die antiken zum Teil [179](so in Elis)
122
[179] Elis wurde als Hauptort der gleichnamigen Küstenlandschaft in der nordwestlichen Peloponnes erst 471 v. Chr. gegründet; Diodor 11, 54, 1; Strabo 8, 3, 2 (= C 336). Die Vorliebe des Adels für ein Leben auf den Landgütern erwähnt noch Polybios 4, 73, 5 ff. Den Synoikismos von Elis hat Weber mehrfach in: Agrarverhältnisse3, S. 108, 112 und 123 (MWG I/6), angeführt.
auf ihren Landburgen sitzen oder besaßen wenigstens – und das war die Regel – Landhäuser neben ihrem städtischen Sitz. So war Dekeleia eine Geschlechterburg; nach Geschlechterburgen hießen viele attische Dörfer und war ein Teil der römischen Tribus benannt.
123
Zu Dekeleia vgl. unten, S. 181, ferner Weber, Agrarverhältnisse3, S. 109 (MWG I/6); zur Namensgebung für athenische Demen nach Adelsfamilien Aristoteles, Athenaion politeia 21, 5; zur Benennung der 16 (bzw. 17) älteren Landtribus in Rom nach den dort ansässigen Geschlechtern (die Weber schon in: Agrarverhältnisse3, S. 145, 150 und 152 (MWG I/6), anführt), vgl. Mommsen, Staatsrecht, Band 3,1, S. 166 ff. Der (vom Quellenbefund nicht unmittelbar gedeckte) Schluß auf die Burgen folgt aus Webers spezifischer Grundannahme über die Stadtentstehung; vgl. die Einleitung, oben, S. 16.
Das Gebiet von Teos war in „Türme“ geteilt.
124
Teos ist eine Hafenstadt im westlichen Kleinasien. Zur Einteilung nach „Türmen“ vgl. Busolt, Georg, Staats- und Rechtsaltertümer, in: ders.; Bauer, Adolf und Müller, Iwan, Die griechischen Staats-, Kriegs- und Privataltertümer (Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft, Band 4,1). – Nördlingen: C. H. Beck 1887, S. 3–222, hier S. 24 (hinfort: Busolt, Staats- und Rechtsaltertümer), der eine Parallele zu den attischen Demen zieht, sowie Meyer, Altertum, Band 2, S. 307 und 311, der von „Adelsburgen“ spricht.
Der Schwerpunkt der Macht des Adels freilich lag trotzdem in der Stadt. Die politischen und ökonomischen Herren des Landes: Grundherren, Geldgeber des Handels und Gläubiger der Bauern, waren „Astoi“,
125
Von Weber wird die Bezeichnung „astoi“ (griech.: Städter, Bürger) – wie schon in: Agrarverhältnisse3, S. 106, 109 und 153 (MWG I/6) – speziell für den stadtsässigen Adel verwendet. Er bezieht sich hier wohl auf Solon, fr. 3, 6 (Diehl); vgl. Busolt, Staats- und Rechtsaltertümer, S. 105; Meyer, Altertum, Band 2, S. 642, Anm. 1.
stadtsässige Geschlechter, und der faktische Einsiedelungsprozeß des Landadels in die Städte schritt immer weiter fort. In klassischer Zeit waren die Geschlechterburgen draußen gebrochen. Die Nekropolen der Geschlechter lagen von jeher in den Städten. Das Wesentliche aber an der Konstituierung der Polis war nach der Anschauung die Verbrüderung der Geschlechter zu einer kultischen Gemeinschaft: der Ersatz der Prytaneen der einzelnen Geschlechter durch das gemeinsame Prytaneion der Stadt, in welchem die Prytanen ihre gemeinsamen Mahle abhielten.
126
Vgl. zur Hervorhebung dieses Punktes in der Überlieferung oben, S. 110 mit Anm. 29.
Sie bedeutete in der Antike nicht nur, wie im Mittelalter, daß die conjuratio der Bürger, wo sie zur commune wird, auch einen Stadt[180]heiligen annimmt. Sondern sie bedeutete wesentlich mehr: die Entstehung einer neuen lokalen Speise- und Kultgemeinschaft. Es fehlte die gemeinsame Kirche, innerhalb derer
k
[180]A: deren
im Mittelalter alle einzelnen schon standen. Es gab zwar von jeher interlokal verehrte Götter neben den lokalen Gottheiten. Aber als festeste und für den Alltag wichtigste Form des Kults stand der im Mittelalter fehlende, nach außen überall exklusive Kult des einzelnen Geschlechts der Verbrüderung im Wege. Denn diese Kulte waren ganz ebenso streng auf die Zugehörigen beschränkt wie etwa in Indien. Nur daß die magische Tabuschranke fehlt, ermöglichte die Verbrüderung. Aber [WuG1 555]unverbrüchlich galt: daß von niemand sonst [A 693]als vom Geschlechtsgenossen die vom Geschlecht verehrten Geister Opfer annahmen. Und ebenso für alle anderen Verbände. Unter diesen, durch den Kultverband der Polis religiös verbrüderten Verbänden nun traten in der Frühzeit, aber bis tief in weit spätere Epochen hinein fortbestehend, die Phylen und Phratrien hervor, denen jeder angehören mußte[,] um Mitglied der Stadt zu sein. Von den Phratrien ist sicher anzunehmen, daß sie in die Vorzeit der Polis zurückreichen.
127
[180] Vgl. Ilias 9, 63 zur Bedeutung der Zugehörigkeit zu einer Phratrie (Bruderschaft) und dazu Meyer, Altertum, Band 2, S. 87 f.
Sie waren später wesentlich Kultverbände, hatten aber daneben, z. B. in Athen, die Kontrolle der Wehrhaftigkeit der Kinder und ihrer daraus folgenden Erbfähigkeit.
128
Die Phratrien entschieden über die Legitimität neugeborener Kinder und mit der endgültigen Aufnahme der jungen Männer in eine Phratrie auch über deren Bürgerrecht bzw. Wehrpflicht.
Sie müssen also ursprünglich Wehrverbände gewesen sein,
129
Anhaltspunkt in der Überlieferung ist die Gliederung des Heeres der Achaier vor Troja nach Phylen und Phratrien (Ilias 2, 362 f.). Die nach seinem Verständnis originäre Funktion der Phratrie als militärischer Verband hatte Weber schon in: Agrarverhältnisse3, S. 68, 97, 104 und 108 (MWG I/6), nachdrücklich hervorgehoben.
entsprechend dem uns schon bekannten „Männerhaus“,
130
Der Rückverweis läßt sich innerhalb des vorliegenden Textes nicht auflösen; vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 47. Weber hat sich (auch unter Verweis auf Schurtz, Heinrich, Altersklassen und Männerbünde. Eine Darstellung der Grundformen der Gesellschaft. – Berlin: Georg Reimer 1902) an zahlreichen Stellen des älteren Teils von WuG1 (S. 200, 205, 616 (MWG I/22-1), 415, 427 (MWG I/22-3) und 777 (MWG I/22-4)) sowie in: Hinduismus, MWG I/20, S. 128 f., auf das Männerhaus als einer nicht nur in der Antike, sondern auch in rezenten, „primitiven“ Gesellschaften anzutreffenden Institution bezogen.
dessen Name (Andreion) sich in den dorischen [181]Kriegerstaaten
131
[181] Als Prototypen „dorischer Kriegerstaaten“ gelten Sparta sowie die Städte auf Kreta. Die Bezeichnung des Männerhauses auf Kreta als andreion ist belegt durch Athenaios 143b sowie einen Volksbeschluß aus Gortyn (Kohler, Josef und Ziebarth, Erich, Das Stadtrecht von Gortyn und seine Beziehungen zum gemeingriechischen Rechte. – Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht 1912, S. 37 f., Nr. 7); mit dem Plural andreia wurden die Gemeinschaftsmahle bezeichnet, die ein Äquivalent zu den spartanischen Speisegenossenschaften darstellten (Aristoteles, Politik 1272a 2; Plutarch, Lykurg 12, 1); vgl. Meyer, Altertum, Band 2, S. 320 f.
und auch in Rom (curia = coviria)
132
Zu dieser – nicht unumstrittenen – Ableitung von curia vgl. Schwegler, A[lbert], Römische Geschichte, Band 1: Römische Geschichte im Zeitalter der Könige, 1. Abtheilung. – Tübingen: H. Laupp 1853, S. 496, Anm. 8; Herzog, Ernst, Geschichte und System der römischen Staatsverfassung, Band 1: Königszeit und Republik. – Leipzig: B. G. Teubner 1884, S. 96 mit Anm. 3; Kübler, [Bernhard], „Curia (3)“, in: RE, Band 4,2, 1901, Sp. 1815–1821, hier Sp. 1815.
für die Unterabteilungen der zur Polis verbrüderten Wehrgemeinde erhalten hat. Die Tischgemeinschaften
l
[181]A: Tischgemeinschaft
(syssitia) der Spartiaten, die Loslösung der wehrhaften Männer aus der Familie für die Dauer der vollen Wehrpflicht und die gemeinsame Kriegeraskese der Knaben
133
Den Tischgenossenschaften (syssitia, phiditia) gehörten jeweils durchschnittlich 15 Spartiaten an (Plutarch, Lykurg 12, 1); erwachsene Männer wohnten wahrscheinlich bis zum 30. Lebensjahr in Zeltgemeinschaften von Kriegern (ebd. 15, 4; 25, 1); die staatliche (Wehr-)Erziehung der Knaben in ständig zusammenlebenden Gruppen begann mit dem 8. Lebensjahr (ebd. 16, 4).
gehörten
m
A: gehörte
dort ganz dem allgemeinen Typus der Erziehung in den urwüchsigen Kriegerverbänden der Jungmannschaft an. Außerhalb einiger dorischer Verbände ist indessen dieser radikale militaristische Halbkommunismus der Wehrverbände in historischer Zeit nirgends entwickelt, und in Sparta selbst hat sich die spätere Schroffheit seiner Durchführung erst auf dem Boden der militärischen Expansion des spartanischen Demos, nach Vernichtung des Adels, im Interesse der Erhaltung der Disziplin und der ständischen Gleichheit aller Krieger entfaltet. In den normalen Phratrien anderer Städte waren dagegen die adligen Geschlechter (γένη, οἶϰοι) die allein im Besitz der Herrschaft befindlichen Honoratioren (wie die Demotionidenakten für das alte, in Dekeleia burgsässige Geschlecht ergeben):
134
Die „Demotionidenakten“ sind die inschriftlich überlieferten Beschlüsse (aus dem Jahr 396/395 v. Chr.) der attischen Phratrie der Demotionidai, die ihren kultischen Mittelpunkt in Dekeleia hatte; vgl. die Wiedergabe des Inhalts bei Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, Aristoteles und Athen, Band 2. – Berlin: Weidmann 1893, S. 259–279. Bei den [182]hiermit geregelten Verfahren zur Aufnahme in die Phratrie kam dem „Haus der Dekeleier“ eine besondere Funktion zu. Weber folgt (wie in: Agrarverhältnisse3, S. 115 (MWG I/6)) derjenigen Richtung der Forschung, die dies als Bezug auf ein „Geschlecht der Dekeleier“ verstand; vgl. Schoeffer, [Valerian] von, „Demotionidai“, in: RE, Band 5, 1, 1903, Sp. 194–202, besonders Sp. 199.
so wurden z. B. noch nach der Ordnung des [182]Drakon die „zehn Besten“, d. h. die durch Besitz Mächtigsten aus der Phratrie zur Vornahme der Blutsühne bestimmt.
135
Den Phratriegenossen fiel diese Aufgabe allerdings nur dann zu, wenn es keine Verwandten des Getöteten mehr gab. Drakons Gesetz zum Blutrecht (um 624 v. Chr.) ist 409/408 v. Chr. in Athen inschriftlich aufgezeichnet worden; Meyer, Altertum, Band 2, S. 315.
Die Phratrien werden in der späteren Stadtverfassung als Unterabteilungen der Phylen (in Rom: der alten drei personalen „Tribus“)
136
Vgl. oben, S. 117 mit Anm. 45.
behandelt, in welche die normale hellenische Stadt zerfiel. Der Name Phyle ist technisch mit der Polis verbunden; für den nicht städtisch organisierten „Stamm“ ist Ethnos, nicht Phyle, der Ausdruck. In historischer Zeit sind die Phylen überall [A 694]künstliche, für die Zwecke des Turnus in den öffentlichen Leistungen, bei Abstimmung und Ämterbesetzung, für die Heeresgliederung, die Verteilung von Erträgen des Staatsgutes, der Beute, des eroberten Landes (so bei der Aufteilung von Rhodos)
137
In Rhodos entsprach die Aufteilung in drei Städte der Gliederung nach den drei dorischen Phylen (Ilias 2, 655 und 668); vgl. Meyer, Altertum, Band 2, S. 255, 277 und 294, sowie Szanto, Emil, Die griechischen Phylen (Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Classe, Band 144, 1901, Nr. 5) – Wien: Carl Gerold's Sohn 1902, S. 9–12 (hinfort: Szanto, Phylen).
gebildete Abteilungen der Polis, natürlich dabei normalerweise Kultverbände[,] wie alle, auch die rein rational gebildeten, Abteilungen der Frühzeit es überall waren.
138
Webers Deutung der Phylen als rational konstituierte Verbände (und nicht als Relikte einer „Stammesorganisation“) folgt vor allem Meyer, Altertum, Band 2, S. 88 f. und 310–314; ders., Zur Rechtfertigung des zweiten Bandes meiner Geschichte des Alterthums, in: ders., Forschungen zur Alten Geschichte, Band 2: Zur Geschichte des fünften Jahrhunderts v. Chr. – Halle: Niemeyer 1899, S. 512–548, hier S. 529.
Künstlich gebildet waren auch die typischen drei Phylen der Dorer, wie schon der Name der dritten Phyle: „Pamphyler“, ganz entsprechend der römischen Tradition über die Tribus der „Luceres“, zeigt.
139
Der Name der dritten dorischen Phyle (nach Hylleis und Dymanes), Pamphyloi, ist von Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, Staat und Gesellschaft der Griechen, in: ders. und Niese, B[enedictus], Staat und Gesellschaft der Griechen und Römer (Die Kultur der Gegenwart, Teil 2, Abteilung 4,1). – Berlin und Leipzig: B. G. Teubner 1910, S. 1–207, hier S. 46 (hinfort: Wilamowitz, Staat), als „Allerweltsvolk“ gedeutet worden. Hinsichtlich der römischen Luceres bezieht sich Weber auf diejenige Version, die den (etruskischen) Na[183]men dieser Tribus nicht auf einen Stammvater, Lucumo (so Varro, De lingua Latina 5, 55), sondern auf lucus = Hain zurückführen und einen Zusammenhang mit dem von Romulus zur Anziehung von Fremden eingerichteten Asylort herstellen will; Plutarch, Romulus 20, 1.
Ursprünglich mögen die Phylen oft aus dem [183]Kompromiß einer schon ansässigen mit einer erobernd eindringenden neuen Kriegerschicht entstanden sein: daher vermutlich die beiden spartanischen Königsgeschlechter ungleichen Ranges, entsprechend der römischen Tradition von einem ursprünglichen Doppelkönigtum.
140
Für den Ursprung des eigenartigen Doppelkönigtums in Sparta, bei dem das Königshaus der Agiaden einen Ehrenvorrang gegenüber dem der Eurypontiden besaß (Herodot 6, 51), gibt es keine verläßlichen Anhaltspunkte. Die antike Überlieferung führt es auf eine Zwillingsgeburt im Königshaus der Frühzeit zurück (Herodot 6, 52). Weber folgt hier anscheinend der Annahme, das Doppelkönigtum gehe auf die spätere Eingliederung der vordorischen Gemeinde Amyklai in den spartanischen Staatsverband zurück; vgl. Schoeffer, [Valerian] von, „Basileus (1)“, in: RE, Band 3,1, 1897, Sp. 56–82, hier Sp. 63. – Nach Beendigung des durch den „Raub der Sabinerinnen“ ausgelösten Krieges übten in Rom Romulus und der Sabinerkönig Titus Tatius eine Doppelherrschaft aus (Cicero, De republica 2, 13; Dionysios von Halikarnaß, Antiquitates Romanae 2, 46, 2); die Namen zweier der drei alten Tribus, Titie(nse)s und Ramnes, werden in der römischen Tradition auf Titus Tatius bzw. Romulus zurückgeführt (Varro, De lingua Latina 5, 55).
In jedem Fall waren in historischer Zeit die Phylen nicht lokale, sondern reine Personalverbände, meist mit gentilcharismatisch erblichen, später mit gewählten, Vorständen: „Phylenkönigen“, an der Spitze. Den Phylen und Phratrien, Tribus und Kurien, gehörten als Aktiv- und Passivbürger alle an der Wehrmacht der Polis Beteiligten an. Aktivbürger, d. h. beteiligt an den Ämtern der Stadt, war aber nur das adlige Geschlecht. Die Bezeichnung für den Stadtbürger ist daher gelegentlich direkt identisch mit der Bedeutung „Geschlechtsgenosse“.
141
Zu Webers Verständnis der Bezeichnung astoi (Bürger) vgl. oben, S. 179 mit Anm. 125.
Die Zurechnung zu den adligen Geschlechtern hatte sich ursprünglich zweifellos hier wie sonst an die gentilcharismatische Gaufürstenwürde geknüpft, mit Aufkommen des Wagenkampfes und Burgenbaus aber offenbar an den Burgenbesitz. In der Polis unter dem Königtum wird die Entstehung von Neuadel ursprünglich ebenso leicht vonstatten gegangen sein wie im frühen Mittelalter der Aufstieg der ritterlich Leben[WuG1 556]den in den Kreis der Lehenbesitzer. Aber in historischer Zeit steht fest: Nur ein Mitglied der Geschlechter (Patricius, Eupatride) konnte als Priester oder Beamter gültig mit den Göttern der Polis durch Opfer oder Befragung der Vorzeichen (auspicia) verkehren. Aber das Ge[184]schlecht selbst hatte, seinem vorstädtischen Ursprung entsprechend, regelmäßig eigene, von denen der Polis abweichende Götter, und eigene, am Stammsitz lokalisierte Kulte. Andererseits gab es zwar neben den gentilcharismatisch von bestimmten Geschlechtern monopolisierten Priesterschaften [A 695]auch ein beamtetes Priestertum.
Aber es gab kein allgemeines priesterliches Monopol des Verkehrs mit den Göttern wie fast überall in Asien: der Stadtbeamte hat dazu die Befugnis. Und ebenso gab es, außer für einige wenige große interlokale Heiligtümer wie Delphoi, keine von der Polis unabhängige Priesterschaft. Die Priester wurden von der Polis bestellt, und auch über die delphischen Priestertümer verfügte nicht eine selbständig organisierte Hierokratie, sondern anfangs eine benachbarte Polis, nach deren Zerstörung im heiligen Kriege mehrere benachbarte[,] zu einer Amphiktyonie zusammengeschlossene[,] Gemeinden, welche eine sehr fühlbare Kontrolle ausübten.
142
[184] Das Apollonheiligtum und die Orakelstätte in Delphi unterstanden zunächst der phokischen Stadt Krisa. Eine Eidgenossenschaft (Amphiktyonie) verschiedener nord- und mittelgriechischer Stämme gewann um 590 v. Chr. durch den „Heiligen Krieg“, der mit der Zerstörung Krisas endete, die Kontrolle über das Heiligtum, das fortan von ihnen gemeinsam verwaltet wurde; vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, S. 111 (MWG I/6), sowie Bürgel, Heinrich, Die pylaeisch-delphische Amphiktyonie. – München: Theodor Ackermann 1877 und Meyer, Altertum, Band 2, S. 667–670; Busolt, Staats- und Rechtsaltertümer (wie oben, S. 179, Anm. 124), S. 58–61.
Die politische und ökonomische Machtstellung großer Tempel: – sie waren Grundherren, Besitzer von Ergasterien, Darlehengeber an Private und vor allem an Staaten, deren Kriegsschatz sie im Depot hatten, überhaupt Depositenkassen – änderte daran nichts,
n
[184]A: änderten daran nichts:
daß, wie wir schon früher sahen,
143
Der Rückverweis geht innerhalb des vorliegenden Textes nicht auf. Die politische Kontrolle über die Priesterschaften und Tempel in der Polis hat Weber – im Kontrast zu den theokratischen Strukturen des Orients – ausführlich in: Agrarverhältnisse3, v.a. S. 110 f. (MWG I/6), behandelt. Zu dem hier angesprochenen Sachverhalt paßt partiell auch die Bemerkung in WuG1, S. 443 (MWG I/22-3): „Dem antiken Recht, welchem die Tempelgüter seit der Säkularisation des Kults durch die Polis rechtlich als deren Besitz galten, war ein kirchlicher Anstaltsbesitz ganz fremd“.
auch im hellenischen Mutterlande und vollends in den Kolonien die Polis faktisch Herr über das Göttervermögen und die Priesterpfründen blieb oder vielmehr: immer mehr wurde. Das Endresultat war in Hellas die Versteigerung der Priesterstellen als [185]Form ihrer Besetzung.
144
[185] Der Verkauf von Priesterstellen ist vor allem aus hellenistischer Zeit aus Poleis auf den lonischen Inseln und an der kleinasiatischen Küste bezeugt; vgl. Stengel, Paul, Die griechischen Kultusaltertümer (Handbuch der klassischen Altertums-Wissenschaft, Band 5, 3), 2., vermehrte und verbesserte Aufl. – München: C. H. Beck 1898, S. 42 (hinfort: Stengel, Kultusaltertümer); Bischoff, E[rnst] F., Kauf und Verkauf von Priesterthümern bei den Griechen, in: Rheinisches Museum, Neue Folge, Band 54, 1899, S. 9–18; Otto, Walter, Kauf und Verkauf von Priestertümern bei den Griechen, in: Hermes, Band 44, 1909, S. 594–599 (mit der Annahme, die Praxis gehe auf eine „altgriechische Sitte“ zurück, S. 597 f.).
Offenbar ist die Kriegsadelsherrschaft für diese von der Demokratie vollendete Entwicklung entscheidend gewesen. Die Priestertümer, das heilige Recht und die magischen Normen aller Art waren seitdem Machtmittel in der Hand des Adels. Der Adel einer Polis war nicht unbedingt geschlossen, die Rezeption einzelner in die Stadt übersiedelnder Burgherrn nebst ihren Klienten (gens Claudia)
145
Zur Aufnahme der Gens Claudia vgl. oben, S. 94 mit Anm. 99, und unten, S. 278 mit Anm. 219. Weber schließt (wie aus Agrarverhältnisse3, S. 148 (MWG I/6), hervorgeht) aus der Tatsache, daß der Herkunftsort Regillum topographisch nicht weiter identifizierbar ist, daß es sich bei dieser polis (so Dionysios von Halikarnaß, Antiquitates Romanae 5, 40, 3; Appian, Basilika 12) um eine Burg gehandelt habe.
und Pairs-Schübe wie der der gentes minores in Rom,
146
Nach römischer Tradition hat der König Tarquinius Priscus die Zahl der Senatoren erhöht, so daß neben Senatoren aus älteren Geschlechtern (gentes maiores) solche aus jüngeren (gentes minores) standen (Cicero, De republica 2, 35; Livius 1, 35, 6), die jedoch ebenfalls als patricisch galten (Cicero, Ad familiares 9, 21, 2), was Webers Bild des Pairs-Schubs erklärt; vgl. Mommsen, Staatsrecht, Band 3,1, S. 30 f. und öfter; Kübler, [Bernhard], „Gens“, in: RE, Band 7, 1, 1910, Sp. 1176–1198, hier Sp. 1192 f.
kamen hier ebenso wie in Venedig vor, in der Frühzeit vermutlich häufiger als später. Der Adel war auch keine rein lokale, örtlich begrenzte Gemeinschaft. Attische Adlige wie Miltiades hatten noch in der klassischen Zeit große auswärtige Herrschaften inne,
147
Zur Herrschaft des Miltiades auf der Chersones vgl. oben, S. 69 mit Anm. 20.
und überall bestanden, ganz wie im Mittelalter, gerade innerhalb dieser Schichten interlokale Beziehungen. Ökonomisch war der Besitz des Adels naturgemäß vornehmlich grundherrlich. Die Leistungen von Sklaven, Hörigen, Klienten – wir werden von diesen Kategorien später zu sprechen haben
148
Siehe unten, S. 275–279.
– bildeten die Basis der Bedarfsdeckung. Auch nach Schwinden der alten Hörigkeit und Klientel blieben die Vermögen insofern bloß Immobiliarvermögen und landwirtschaftlich. Ganz wie diejenigen auch des babylonischen Patriziates: die Aufteilung des [A 696]Vermögens [186]des Generationen lang
o
[186]A: lang,
in den Urkunden am meisten hervortretenden babylonischen Handelshauses (Egibi) dort zeigt Stadt- und Landgrundstücke, Sklaven und Vieh als Hauptvermögensbestand.
149
[186] Das Geld-, Handels- und Pachtgeschäfte vielfältiger Art treibende Haus der Egibi nahm im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. eine führende Stellung ein; vgl. Merkel, Johannes, „Banken III. 1.: Die Banken im Altertum“, in: HdStW3, Band 2, S. 353–360, hier S. 353 f. Zu den Vermögensverhältnissen vgl. die Urkunden bei Kohler, J[osef] und Peiser, F[elix] E., Aus dem Babylonischen Rechtsleben, Band 4. – Leipzig: Eduard Pfeiffer 1898, S. 21–41.
Dennoch aber war in Hellas
p
A: Holland
ebenso wie in Babylon und im Mittelalter die Quelle der ökonomischen Macht des typischen Stadtadels
q
In A folgt: aber
die direkte oder indirekte Beteiligung am Handel und der Reederei, welche noch in der Spätzeit als standesgemäß galt und erst in Rom für die Senatoren gänzlich verboten wurde.
150
Eine lex Claudia von ca. 218 v. Chr. verbot Senatoren und Senatorensöhnen den Besitz von Seeschiffen, die mehr als die Eigenproduktion transportieren konnten; Livius 21, 63, 3 f.
Um dieser Gewinnchancen willen wurde hier wie im Orient und im Mittelalter die Stadtsässigkeit gesucht. Das daraus akkumulierte Vermögen wurde zur Bewucherung der an der politischen Macht nicht beteiligten landsässigen Bauern verwandt. Massenhafte Schuldknechtschaft und Akkumulation gerade des besten, Rente tragenden Bodens (der „πεδία“ in Attika) im Gegensatz zu den Berghängen (dem Sitz der „Diakrier“), welche, als rentelos, überall von Bauern besetzt waren, findet in den Händen der „Astoi“ statt.
151
Pedia kann sowohl „Ebenen“ wie „Ackerflächen“ bedeuten. Mit dem Singular pedion wird in Attika die zentrale Ebene bezeichnet, in der auch die Stadt Athen liegt, Diakria wird das Bergland im Nordosten Attikas genannt. Die Unterscheidung zwischen den (begüterten) Bewohnern der Ebene (pediakoi) und denjenigen des Berglandes (diakrioi) geht auf die Überlieferung über die Parteiungen in Athen am Vorabend der Machtergreifung des Peisistratos zurück (Herodot 1,59, 3; Aristoteles, Athenaion politeia 13, 4 f.; Aristoteles, Politik 1305a 23 f.); zu den astoi im Sinne von „Stadtadel“ vgl. oben, S. 179 mit Anm. 125.
Die grundherrliche Macht des Stadtadels entstammt also in starkem Maß städtischen Gewinnchancen. Die verschuldeten Bauern wurden als Teilbauern der Herren oder auch direkt in Fronarbeit verwendet, neben den alten primär aus Grund- und Leib herrschaft stammenden eigentlichen Hörigen. [WuG1 557]Allmählich beginnt die Kaufsklaverei Bedeutung zu gewinnen. Nirgends freilich, auch nicht im Rom des Patrizierstaates sind die freien Bauern verschwunden, so wenig wie im Mittelalter, wahrscheinlich sogar noch [187]weniger. Speziell die Tradition über die römischen Ständekämpfe zeigt, daß nicht eine universelle Grundherrlichkeit, sondern ganz andere[,] mit einer solchen nicht vereinbare[,] Gegensätze ihnen zugrunde lagen.
152
[187] Als Ständekämpfe werden die Auseinandersetzungen zwischen Patriciat und Plebs bezeichnet, als deren Beginn der Auszug der Plebs aus der Stadt 494 v. Chr. und als deren Ende die ebenfalls auf einen Auszug folgende Anerkennung der Gültigkeit der plebejischen Volksbeschlüsse im Jahre 287 v. Chr. – vgl. unten, S. 211 mit Anm. 43 – gilt. In diesen Konflikten ging es um Fragen der Schuldenregulierung, des Schuldrechts und der Ansiedlung auf neu erobertem Territorium, aber auch um die grundsätzliche politische und rechtliche Gleichstellung der Plebejer mit den Patriciern. Mit der Feststellung, daß die Landbevölkerung nicht ursprünglich einer „universellen Grundherrlichkeit“ untertan gewesen sei, wendet sich Weber (wie in: Altgermanische Sozialverfassung, S. 469, und Agrarverhältnisse3, S. 141–143 (MWG I/6)) gegen die entsprechende These von Neumann, Karl J., Die Grundherrschaft der Römischen Republik, die Bauernbefreiung und die Entstehung der Servianischen Verfassung. Rede zur Feier des Geburtstages S[eine]r Majestät des Kaisers am 27. Januar 1900. – Strassburg: J. H. Heitz 1900.
Wer nicht der stadtsässigen[,] versippten und militärisch trainierten Kriegerschaft angehörte, also vor allem der freie Landsasse: Agroikos, Perioikios, Plebejus war durch seinen Ausschluß von aller politischen Macht, vor allem auch von der aktiven Teilnahme an der nicht durch feste Regeln gebundenen Rechtspflege, ferner
r
[187] Fehlt in A; ferner sinngemäß ergänzt.
durch die hieraus folgende Notwendigkeit, um Recht zu erhalten[,] Geschenke zu geben oder ein Klientelverhältnis zu einem Adligen einzugehen[,] und durch die Härte des Schuldrechts dem stadtsässigen Herren ökonomisch ausgeliefert. Dagegen war die faktische interlokale Freizügigkeit, einschließlich der Möglichkeit sich anzukaufen, für die Bauern der Geschlechterstadt offenbar, sehr im Gegensatz zur [A 697]späteren Hoplitenstadt und erst recht zur radikalen Demokratie, relativ groß, wie das Beispiel der Familie Hesiods beweist.
153
Der Vater des Hesiod (um 700 v. Chr.), ein Seemann aus dem aiolischen Kyme (an der nordwestlichen Küste Kleinasiens), konnte Landbesitz in Askra in Boiotien erwerben und sich dort als Bauer niederlassen; Hesiod, Erga 632 ff.
Die stadtsässigen freien Handwerker und die nicht adligen eigentlichen Händler andrerseits werden sich in ähnlicher Lage befunden haben, wie die „Muntmannen“ des Mittelalters. In Rom scheint der König, solange er etwas bedeutete, eine klientelartige Schutzherrschaft über sie gehabt zu haben, wie der Stadtherr des frühen Mittelalters auch. Gelegentlich finden sich Spuren leiturgischer Organisationen der Handwerker; die römischen mili[188]tärischen Handwerkerzenturien
154
[188] Die Handwerker wurden bei einem Feldzug zur Betreuung der Gerätschaften dienstverpflichtet. In den römischen Centuriatcomitien (der nach Maßgabe der ökonomischen und militärischen Leistungsfähigkeit gegliederten Volksversammlung) gab es zwei gesonderte Handwerkercenturien, die über ein (in Relation zu ihrem Vermögensstatus) privilegiertes Stimmrecht verfügten; Cicero, De republica 2, 39; Livius 1, 43, 3; Dionysios von Halikarnaß. Antiquitates Romanae 4, 17, 3.
haben vielleicht diesen Ursprung. Ob die Handwerker, wie regelmäßig in Asien und auch im vorexilischen Israel, als Gaststämme organisiert waren, entzieht sich unsrer Kenntnis:
155
Zu Webers Deutung der Stellung der gerim in Israel vgl. oben, S. 120f, mit Anm. 53, zu indischen Handwerkern in der Stellung eines „Paria-Volkes“ Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 62–64. Entsprechende, unbeweisbare, Vermutungen über Herkunft der römischen Handwerker aus anderen Völkern (Sabiner, Etrusker, Griechen) sind gelegentlich in der Forschung des 19. Jahrhunderts geäußert worden; vgl. Kornemann, [Ernst], „Collegium“, in: RE, Band 4,1, 1900, Sp. 380–480, hier Sp. 391 (hinfort: Kornemann, Collegium).
von ritueller Absonderung nach Art der indischen Kasten fehlt jedenfalls jede Spur.
Spezifisch im Gegensatz zum Mittelalter war also in der Gliederung der Geschlechterstadt zunächst rein äußerlich die stereotypierte Zahl der Phylen, Phratrien, Geschlechter.
156
Vgl. oben, S. 117 mit Anm. 45.
Daß sie primär militärische und sakrale Abteilungen bildeten, spricht sich darin aus. Diese Einteilungen erklären sich daraus: daß die antike Stadt primär eine Siedlungsgemeinschaft von Kriegern ist, in ähnlichem Sinn wie sich etwa die „Hundertschaft“ der Germanen daraus erklärt.
157
Zu dieser Erklärung der germanischen Hundertschaft vgl. oben, S. 114 mit Anm. 35.
Eben diese Grundlagen der antiken Stadt sind es, welche die Unterschiede der Struktur der Geschlechterstädte gegenüber den mittelalterlichen erklären, wie wir sehen werden.
158
Siehe unten, S. 283 f.
Daneben natürlich die Verschiedenheiten der Umweltbedingungen, unter denen sie entstanden: innerhalb großer patrimonialer Kontinentalreiche und im Gegensatz gegen deren politische Gewalten im Mittelalter, an der Seeküste in der Nachbarschaft von Bauern und Barbaren im Altertum, – aus Stadtkönigtümern hier, im Gegensatz gegen feudale oder bischöfliche Stadtherren dort. Trotz dieser Unterschiede aber traten, wo immer die politischen Bedingungen ähnliche waren, auch formal die Ähnlichkeiten des Hergangs deutlich hervor. Wir sahen,
159
Siehe oben, S. 150–152.
wie das venezianische Stadtfürstentum, wel[189]ches zeitweise zu eigentlichen Dynastien und zum Patrimonialismus gehört hatte, formal durch das Verbot der Ernennung von Mitregenten und schließlich durch die Verwandlung des Dogen in einen Vorsteher der Adelskorporation, also in ein bloßes Amt, verwandelt wurde. Dem entsprach äußerlich im Altertum die Entwicklung vom Stadtkönigtum zur Jahresmagistratur. Wenn man [A 698]an die Rolle denkt, welche der Interrex in Rom spielte,
160
[189] Ein interrex wurde in der römischen Republik bestellt, wenn durch den Ausfall beider Consuln die von ihnen vorzunehmenden Wahlen der Nachfolger im Amt nicht zustandegekommen waren. Der interrex wurde aus dem Kreise der patricischen Senatoren bestellt; nach fünf Tagen ernannte er einen Nachfolger; diese Prozedur wurde solange wiederholt, bis ein interrex die Wahlen durchführen konnte. Dem lag die Vorstellung zugrunde, daß bei einer Vakanz des Oberamtes die „Auspicien zu den Vätern (d. h. den Patriciern) zurückkehren“. Die Bezeichnung „Zwischenkönig“ verweist auf die Herkunft der Institution aus der Königszeit. Nach der Theorie Mommsens (unten, Anm. 162) trat beim Ableben des Königs regelmäßig ein Interregnum ein, so daß das Recht zur Ernennung des Nachfolgers in jedem Fall nicht beim König selbst, sondern bei einem interrex lag.
vor allem aber an jene Reste einstiger Nachfolger-
s
[189]A: Nachfolger
und Kollegenernennung, welche die Ernennung des Diktators
161
In einer militärischen Notlage konnte ein dictator als alleiniger, unumschränkter Befehlshaber für die Dauer von maximal sechs Monaten eingesetzt werden; die Bestellung wurde (ohne Wahl) durch einen Consul vorgenommen.
durch den Konsul, die Kandidatenzulassung und die Kreation des neuen Beamten durch den alten als Vorbedingung gültiger Einsetzung darstellen
t
A: spielt
, an die Beschränkung der römischen Gemeinde ursprünglich auf Gewährung der Akklamation, dann auf die Wahl nur zwischen den vom Magistrat vorgeschlagenen oder (später) zugelassenen Kandidaten, so tritt die ursprüngliche, von Mommsen
162
Mommsen, Römische Geschichte, Band 1, S. 76 und 250 f.; ders., Staatsrecht, Band 1, S. 212–221, und Band 3,1, S. 346 f.
stark betonte Bedeutung der Mitregentenernennung auch hier deutlich hervor. Der Übergang des hellenischen Stadtkönigtums zur Jahresmagistratur unter Kontrolle des Adels freilich [WuG1 558]weicht formal wesentlich stärker als der römische Hergang von der venezianischen Entwicklung ab, und andererseits zeigt die Entstehung der außervenezianischen Stadtverfassung im Mittelalter sehr bedeutende Abweichungen
u
A: Abweichung
vom venezianischen Typus.
Die entwickelte Adelsherrschaft setzte überall an Stelle des homerischen Rates der nicht mehr wehrhaften Alten den Rat der Honoratiorengeschlechter. Entweder direkt einen Rat der Ge[190]schlechtshäupter: so den patrizischen Senat der römischen Frühzeit, den spartanischen Rat der ,,γεϱῶχοι“, d. h. der Leute, denen Ehrengaben (ihrer Klienten) zukamen,
163
[190] Weber folgt hier anscheinend Wilamowitz, Staat (wie oben, S. 182, Anm. 139), S. 84, der die Bezeichnung gerontes für die Mitglieder des spartanischen Rats der Alten auf gerochoi im Sinne von „Empfängern von Ehrengaben“ zurückführt.
den alten attischen Prytanenrat, der von den Geschlechtern nach „Naukrarien“
164
Die Naukrarien (wörtlich etwa „Schiffbesorgschaften“) waren Untereinheiten der attischen Bürgerschaft (12 für jede der vier „alten“ Phylen), die für das Aufbringen von Umlagen und namentlich die Gestellung von Schiffen verantwortlich waren (Aristoteles, Athenaion politeia 8, 3). Nach Herodot 5, 71 nahmen um 630 v. Chr. die Prytanen der Naukrarien (gemeint ist vermutlich ein geschäftsführender Ausschuß aus den Vorstehern der Naukrarien) eine führende Stellung ein.
gewählt wurde: das Mittelalter kennt den entsprechenden Zustand ebenfalls, nur nicht in dieser, durch die sakrale Bedeutung des Geschlechts bedingten konsequenten Schematisierung. Oder den Rat der gewesenen Beamten, wie den späteren attischen Areiopag und den römischen Senat der historischen Zeit – Erscheinungen, für welche das Mittelalter nur sehr bescheidene Parallelen in Gestalt der Zuziehung der gewesenen Bürgermeister und Räte zu den Ratssitzungen kennt: der militärische und auch sakrale Charakter der Magistratur
a
[190]A: Magistration
in der Antike verlieh ihrer Bekleidung eine wesentlich nachhaltigere Bedeutung als die Ämter der mittelalterlichen Stadt es vermochten. Der Sache nach waren es hier wie dort stets wenige miteinander rivalisierende Geschlechter, – zuweilen aber, wie in Korinth unter den Bakchiaden,
165
Die Bakchiaden waren ein korinthisches Adelsgeschlecht, das nach der Ermordung des letzten Königs aus diesem Hause fast ein Jahrhundert lang (748–657 v. Chr.) gemeinsam die Herrschaft über Korinth ausübte, wobei im jährlichen Wechsel jeweils ein Mitglied des Familienverbands zum Staatsoberhaupt gewählt wurde.
ein einziges, – welche die Gewalt in Händen hatten und in den Ämtern abwechselten. Ganz wie im Mittelalter und in allen Honoratiorenherrschaften überhaupt zeichnete sich die Geschlechterpolis durch die sehr kleine Zahl ihrer Amtsträger aus. Wo, der Sache [A 699]nach, die Adelsherrschaft dauernd bestand, wie in Rom, blieb es dauernd dabei.
Die einmal entstandene Geschlechterherrschaft weist auch sonst im Mittelalter und Altertum ähnliche Züge auf: Geschlechterfehden, Verbannung und gewaltsame Wiederkehr hier wie dort, Kriege der stadtsässigen Ritterschaften der Städte gegeneinander [191](im Altertum z. B. der „lelantische Krieg“)
b
[191]A: „lelantische“ Krieg)
166
[191] Chalkis und Eretria (auf Euboia) führten, jeweils von einer Vielzahl von Verbündeten unterstützt (Thukydides 1, 15, 3), im späten 8. oder im 7. Jahrhundert v. Chr. eine große militärische Auseinandersetzung um den Besitz der zwischen ihnen gelegenen fruchtbaren Ebene (Lelantion pedion). Es war ein Kampf zwischen Ritterschaften, bei dem der Gebrauch von Wurfwaffen aufgrund eines Abkommens ausgeschlossen gewesen sein soll; Strabo 10, 1, 12–13 (= C 448 f.); Meyer, Altertum, Band 2, S. 539 f.; Busolt, Geschichte (wie oben, S. 173, Anm. 88), Band 1, S. 457.
ebenfalls. Vor allem galt hier wie dort: Das platte Land ist rechtlos. Die Städte der Antike wie des Mittelalters brachten, wo sie konnten, andere Städte in ihre Klientel: die Periökenstädte und später die durch Harmosten
167
Die Befehlshaber spartanischer Garnisonen in Perioikenstädten und seit dem Peloponnesischen Krieg auch in unterworfenen Städten außerhalb des spartanischen Staatsgebiets.
regierten Orte der Spartiaten
c
A: Spartiaden
, die zahlreichen Untertanengemeinden Athens und Roms finden ihre Parallele in der venezianischen Terra ferma
168
Die venezianischen Besitzungen auf dem Festland.
und den von Florenz, Genua und anderen Städten unterworfenen, durch Beamte
d
A: Beamten
verwalteten Städten.
Was ferner die ökonomische Struktur der Geschlechter selbst anlangt, so waren sie, wie wir sehen, im Altertum wie im Mittelalter vor allem: Rentner. In der Antike wie im Mittelalter entschied die vornehme, ritterliche Lebensführung über die Zugehörigkeit zu den Geschlechtern, nicht die Abstammung allein. Die mittelalterlichen Geschlechter umschlossen ehemalige Ministerialenfamilien und, namentlich in Italien, auch freie Vasallen und Ritter ganz ebenso wie solche freie Grundbesitzer, welche, zu Vermögen gekommen, zur ritterlichen Lebensweise übergegangen waren. In Deutschland wie in Italien hatte ein Teil der Geschlechter ihre Burgen außerhalb der Stadt, auf die sie sich bei den Kämpfen mit den Zünften zurückzogen und von denen aus sie oft lange Zeit hindurch die Städte, aus denen sie vertrieben worden waren, befehdeten. Das Geschlecht der Auer in Regensburg war in Deutschland wohl das bekannteste Beispiel dafür.
169
Die Auer hatten sich nach ihrer Vertreibung 1334 (vgl. oben, S. 162 mit Anm. 57) auf verschiedene Burgen (u. a. Stauf und Velburg) zurückgezogen; die Konflikte mit Regensburg hielten bis 1343 an; Gumpelzhaimer, Regensburg’s Geschichte (wie oben S. 162, Anm. 57), S. 339–354, passim; Arnold, Verfassungsgeschichte, Band 2 (wie oben, S. 162, Anm. 57), S. 399.
Diese ritterlich lebenden, im Lehens- oder Ministerialenverband stehenden Schichten waren die eigentlichen [192]„Magnaten“ und „Nobili“ im Sinne der italienischen Terminologie. Diejenigen Rittergeschlechter, welchen der eigene Burgenbesitz fehlte, waren es naturgemäß vorzugsweise, welche später, bei Eroberung des Stadtregiments durch die Zünfte, genötigt waren, in der Stadt zu bleiben, sich dem neuen Regiment zu fügen und ihm ihre Kriegsdienste gegen die Magnaten zur Verfügung zu stellen. Der weitere Entwicklungsprozeß konnte nach zwei Richtungen führen. Entweder dahin, daß Familien nicht ritter[A 700]licher Abkunft sich durch Ankauf von ritterlichem Besitz, [WuG1 559]oft von Burgen, und Verlegung ihres Wohnsitzes aus der Stadt in den Adel einführten, teils dahin, daß Adelsfamilicn in der Stadt von der Gelegenheitsbeteiligung am Handel mit Kapital zum eignen kaufmännischen Erwerb übergingen, also ihre Rentnerqualität aufgaben. Beides kommt vor. Im ganzen aber überwog die erste der beiden Tendenzen, weil sie die Linie des sozialen Aufstieges für das Geschlecht bedeutete. Bei Neugründungen von Städten durch politische und Grundherren kommt es im Mittelalter vor, daß gar keine ritterlichen Geschlechter in den Neusiedlungen sich finden, so daß sie – wie wir noch sehen werden
170
[192] Siehe unten, S. 275.
– geradezu ausgeschlossen wurden: dies vor allem[,] nachdem der Kampf der Zünfte gegen die Geschlechter begonnen hatte. Je mehr nach Osten und Norden, desto häufiger tritt, auf ökonomischem „Neuland“, diese Erscheinung auf. In Schweden sind die fremdbürtigen deutschen Kaufleute an der Gründung und dem Regiment der Städte mitbeteiligt.
171
Dies gilt v.a. für Stockholm und Wisby im 13. Jahrhundert; vgl. Hegel, Städte (wie oben, S. 76, Anm. 39), Band 1, S. 263–326.
Ebenso in Nowgorod
172
In Nowgorod bestand (bis 1494) eine Niederlassung („Kontor“) der Hanse. Die deutschen Kaufleute verwalteten ihr Quartier („Peterhof“) autonom. Die Stadt selbst verfügte über eine für russische Verhältnisse ungewöhnliche Selbstverwaltung; vgl. Winckler, Arthur, Die deutsche Hansa in Rußland. – Berlin: R. L. Prager 1886, S. 7–24. Webers Annahme einer Beteiligung der deutschen Kaufleute am Stadtregiment ist jedoch unzutreffend; ob sie gegebenenfalls auf Vermutungen in älterer Literatur zurückgeht, konnte nicht ermittelt werden.
und sehr oft im Osten. Hier ist „Patriziat“ und Kaufmannschaft wirklich, wenigstens in den Anfängen der Stadt, identisch. Wir werden die große Bedeutung dessen später erörtern.
173
Siehe unten, S. 238.
Aber in den alten Städten ist es anders. Die Tendenz zur Entwicklung des Rentnertums aber, als der eigentlich vornehmen, [193]die patrizischen Klubs führenden Schicht, war überall im Gange. Im Altertum findet sich ein eigentlich kaufmännischer Charakter des Patriziats ebenfalls namentlich auf Kolonialboden; etwa in Städten wie Epidamnos
e
[193]A: Epidemnos
.
174
[193] Epidamnos (in der Römerzeit: Dyrrhachium, heute: Durazzo bzw. albanisch Durrës) in Südillyrien war eine prosperierende Hafen- und Handelsstadt. Die Handelsaktivitäten seiner Führungsschicht wurden von einem besonderen Beamten (poletes) geleitet; Plutarch, Moralia 297F.
Die ökonomische Qualität des Patriziats war also flüssig, und nur der Schwerpunkt, zu dem hin sie gravitierte, kann festgestellt werden. Dieser aber ist: Rentnertum. Scharf zu betonen ist stets erneut: daß die Stadtsässigkeit der Geschlechter ihren ökonomischen Grund in den städtischen Erwerbschancen hatte, daß also in jedem Falle diese die Quelle waren, aus deren Ausnutzung die ökonomische Machtstellung der städtischen Geschlechter hervorging. Weder der antike Eupatride und Patrizier noch der mittelalterliche Patrizier war ein Kaufmann, auch kein Großkaufmann, wenn man den modernen Begriff eines ein Kontor leitenden Unternehmers zugrunde legt. Gewiß war er nicht selten an Unternehmungen beteiligt, aber dann als Schiffsbesitzer oder als Kommendator
f
A: Kommendatar ; vgl. Anm. 175.
175
Gemeint sein muß die Rolle als Darlehensgeber (commendator in der Terminologie des mittelalterlichen Seedarlehensgeschäfts), nicht als Darlehensnehmer (commendatarius).
oder Kommanditist, Darleiher auf Seegefahr, der die eigentliche Arbeit: die Seereise, die Abwicklung der Unternehmungen, anderen überläßt und [A 701]selbst nur an Risiko und Gewinn beteiligt, unter Umständen vielleicht als Gelegenheitshändler auch an der geistigen Leitung des Unternehmens mitwirkt. Alle wichtigen Geschäftsformen der Frühantike ebenso wie des frühen Mittelalters, vor allem die Kommenda und das Seedarlehen[,] sind auf die Existenz solcher Geldgeber zugeschnitten, welche ihren Besitz in lauter konkreten Einzelunternehmungen, deren jede gesondert abgerechnet wird, und zwar zur Verteilung des Risikos
g
A: Risiko
meist in zahlreichen[,] anlegten. Damit ist natürlich nicht geleugnet, daß zwischen dem Patriziat und dem eigentlichen persönlichen Handelsbetriebe alle denkbaren Übergänge sich
h
A: sind
finden. Der reisende Händler, welcher vom Kapitalisten Kommendageld zu Gelegenheitsunternehmungen erhielt, konnte sich in einen Chef eines großen [194]Hauses verwandeln, welches mit Kommanditkapital arbeitete und auswärtige Faktoren für sich arbeiten ließ;
i
[194]A: ließ,
Geldwechsel
k
In A folgt: trieben
und Bankgeschäfte, aber auch Reederei- und Großhandelsbetrieb konnten leicht für Rechnung eines persönlich ritterlich lebenden Patriziers betrieben werden, und auch der Übergang zwischen einem, sein jeweils brachliegendes Vermögen durch Kommendaanlage verwertenden und einem kontinuierlich als Unternehmer tätigen Kapitalbesitzer war naturgemäß flüssig. Dies ist gewiß ein sehr wichtiges und charakteristisches Entwicklungsmoment. Aber es ist erst Entwicklungsprodukt. Besonders oft erst in der Zeit der Zunftherrschaft, wo auch die Geschlechter, wollten sie an der Stadtverwaltung teilnehmen, sich in die Zünfte einschreiben lassen mußten und wo andererseits auch der nicht mehr als Unternehmer tätige Bürger in der Zunft blieb, trat diese Verwischung ein. Der Name scioperati für die großen Händlerzünfte in Italien bezeugt dies.
176
[194] „Scioperati“ (ital.: Müßiggänger) ist die Bezeichnung für die von ihren Handelsprofiten und Grundrenten lebenden Großhändler.
Vor allem war es typisch für die großen englischen Städte, namentlich London. Der Kampf der in den Zünften organisierten bürgerlichen Erwerbsstände um die [WuG1 560]Herrschaft über die Stadt äußerte sich hier in dem Gegensatz der Wahlen der Gemeindevertretung und der Beamten durch die lokalen Stadtviertel (wards) und deren Repräsentanten, bei denen die Machtstellung der grundgesessenen Geschlechter meist überwog, oder durch die Zünfte (liveries). Die zunehmende Macht der letzteren äußerte sich in der zunehmenden Abhängigkeit aller Stadtbürgerrechte von der Zugehörigkeit zu einem Berufsverbande. Schon Edward II. stellte dies für London als Grundsatz auf,
177
Der Erwerb des Londoner Bürgerrechts wurde an die Mitgliedschaft in einer der Zünfte geknüpft; Brentano, Lujo. Zur Geschichte der englischen Gewerkvereine (Die Arbeitergilden der Gegenwart, Band 1). – Leipzig: Duncker & Humblot 1871, S. 33 (hinfort: Brentano, Gewerkvereine).
und die bis 1351 herrschende Wahl des kommunalen
l
A: kommunen
[A 702]Council nach Stadtvierteln wurde zwar noch mehrfach (1383) gewaltsam wieder eingeführt, machte aber 1463 endgültig der Wahl nach Zünften Platz.
178
Nach Hegel, Städte (wie oben, S. 76, Anm. 39), Band 1, S. 79, und Brentano, Gewerkvereine, S. 33, wurde der Stadtrat seit 1376 nicht mehr von den 24 Stadtvierteln (wards) gewählt, sondern von den Zünften. Die Wahl nach Stadtvierteln wurde 1384 (nicht [195]1383) wieder eingeführt. Bei der Wahl zum Mayor 1384 kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der beiden Kandidaten; vgl. Sharpe, London (wie oben, S. 168, Anm. 78), S. 227 f. Aus dem Jahr 1463 ist kein Gesetz nachweisbar, das die Wahl des Londoner Stadtrates durch die Zünfte erlaubte. Die Kompetenzen der Zünfte wurden 1468 aber insofern ausgeweitet, als ihnen von König Edward IV. das Recht verliehen wurde, gemeinsam mit dem Stadtrat den Mayor und die Sheriffs zu wählen; Hegel, Städte, Band 1, S. 79.
Innerhalb der Zünfte aber, denen nun jeder [195]Bürger anzugehören hatte – auch König Edward III wurde Mitglied der linen armourers (in heutiger Sprache: merchant tailors)
179
Edward III. wurde Mitglied bei den Tuchhändlern bzw. Schneidermeistern, um das öffentliche Ansehen der Korporation zu heben und um ein Vorbild für Adel, Klerus und hochgestellte Bürger zu geben, sich ebenfalls in eine Zunft einschreiben zu lassen; vgl. Herbert, William, The History of the Twelve Great Livery Companies of London, vol. 1. – London: William Herbert 1834, S. 29; Brentano, Gewerkvereine, S. 44 f.
–, war die Bedeutung der wirklich aktiven Händler und Gewerbetreibenden immer weiter zurückgetreten zugunsten der Rentner. Die Zunftmitgliedschaft wurde zwar der Theorie nach durch Lehrzeit und Aufnahme, der Tatsache nach aber durch Erbschaft und Einkauf erworben,
180
In London war die Aufnahme in eine (siebenjährige) Lehre und nach deren Abschluß in die Zunft mit relativ geringen Gebühren verbunden; es gab aber auch die Möglichkeit des unmittelbaren Einkaufs gegen eine höhere Summe. Seit dem 14. Jahrhundert wurde die Aufnahme in ein Lehrverhältnis zunehmend restriktiv gehandhabt; dagegen erbten Söhne die Zunftmitgliedschaft des Vaters; Brentano, Gewerkvereine, S. 51 und 59 f.; Gneist, Stadtverwaltung (wie oben, S. 163, Anm. 59), S. 17–20.
und die Beziehung der Zünfte zu ihrem nominellen Betriebe schrumpfte mit wenigen Ausnahmen (z. B. der Goldschmiede)
181
Bei den Goldschmieden übte der Vorstand eine gewerbepolizeiliche Überwachung aus, während diese bei den meisten anderen Zünften faktisch nicht mehr stattfand; vgl. Gneist, Stadtverwaltung, S. 18 f.
auf Rudimente zusammen. Teils klafften innerhalb der Zünfte ökonomische und soziale Gegensätze, teils und meist waren sie ein reiner Wahlverband von Gentlemen für die Besetzung der Gemeindeämter.
Überall wurden also die Typen in der Realität untereinander immer wieder flüssig. Aber dies gilt für alle soziologischen Erscheinungen und darf die Feststellung des vorwiegend Typischen nicht hindern. Der typische Patrizier jedenfalls war dem Schwerpunkt nach kein Berufsunternehmer, sondern ein Rentner und Gelegenheitsunternehmer in der Antike ebenso wie im Mittelalter. Der Ausdruck „ehrsame Müßiggänger“ findet sich in den Statuten oberrheinischer Städte als die offizielle Bezeichnung der Mitglieder [196]der Herrenstuben im Gegensatz zu den Zünften.
182
[196] „Müßiggang“, d. h. standesgemäße Lebensführung, die die Tätigkeit in einem Gewerbe oder Handwerk ausschloß, wurde als Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der Vereinigung der patrizischen Geschlechter („Herrenstube“, „Trinkstube“ nach dem Versammlungsort außerhalb des Rathauses) u.a. in Basel verlangt; Heusler, Verfassungsgeschichte (wie oben, S. 141, Anm. 108), S. 255 f.; Gierke, Otto, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Band 1: Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft. – Berlin: Weidmann 1868, S. 342 f. „Müßiggänger“ als Bezeichnung für das Stadtpatriziat ist ferner u. a. für Rottweil (seit dem Ende des 14. Jahrhunderts) bezeugt; Urkundenbuch der Stadt Rottweil, Band 1, bearbeitet von Heinrich Günter (Württembergische Geschichtsquellen, Band 3). – Stuttgart: W. Kohlhammer 1896, Nr. 461, S. 184–187, hier S. 186, Z. 30.
Zu den Zünften und nicht zu den Geschlechtern gehörten in Florenz die großen Händler der arte di Calimala
183
„Arte di Calimala“ (ital.: Zunft des schlechten Weges). Die Zunft der Tuchgroßhändler wurde nach der engen Gasse genannt, in der sie ihre Geschäftssitze hatten; Davidsohn, Florenz (wie oben, S. 159, Anm. 49), Band 1, S. 670.
und die Bankiers.
Für die Antike versteht sich der Ausschluß des Unternehmertums aus den Geschlechtern erst recht von selbst. Nicht etwa, daß z. B. die römische Senatorenschaft keine „Kapitalisten“ in sich geschlossen hätte, darin lag der Gegensatz ganz und gar nicht. Als „Kapitalisten“ im Sinne von Geldgebern haben sowohl der frühantike, insbesondere der römische, alte Patriziat den Bauern gegenüber, wie die späteren senatorischen Geschlechter den politischen Untertanen gegenüber sich, wie wir sehen werden,
184
Siehe unten, S. 222, 263 f. und 276 f.
in größtem Umfang betätigt. Nur die Unternehmerstellung verbot eine mitunter rechtlich fixierte Standesetikette,
185
Vgl. oben, S. 186, Anm. 150 zum Verbot bestimmter Handelsaktivitäten für römische Senatoren.
mochte darin die Elastizität auch verschieden sein, den wirklich als vornehm
m
[196]A: vornehmlich
geltenden Geschlechtern in den Städten der ganzen Antike und des ganzen Mittelalters. Die [A 703]Art der Vermögensanlage des typischen Patriziats war freilich sehr verschieden je nach den Objekten, wie wir später noch näher sehen werden.
186
Siehe unten, S. 253 ff.
Aber die Scheidung selbst war die nämliche. Wer die Linie zwischen den beiden Formen des ökonomischen Verhaltens: Vermögensanlage und Kapitalgewinn allzu fühlbar überschritt, Unternehmer wurde, der wurde damit im Altertum ein Banause, im [197]Mittelalter ein Mann, der nicht von Rittersart war. Weil die alten ritterlichen Geschlechter mit Zunftbürgern, das hieß aber: Unternehmern, auf der Ratsbank zusammensaßen, versagte ihnen im späteren Mittelalter der ritterliche Landadel die Ebenbürtigkeit. Nicht etwa die „Erwerbsgier“ als psychologisches Motiv war, wenn man auf die Praxis sieht, verpönt: der römische Amtsadel und die mittelalterlichen Geschlechter der großen Seestädte waren im Durchschnitt von der „auri sacra fames“
187
[197] „Der verfluchte Hunger nach Gold“ (Vergil, Aeneis 3, 57).
gewiß so besessen wie irgendeine Klasse in der Geschichte. Sondern die rationale, betriebsmäßige[,] in diesem speziellen Sinne „bürgerliche“ Form der Erwerbstätigkeit: die systematische Erwerbsarbeit. Wenn man die Florentiner Ordinamenti della giustizia, durch welche die Geschlechterherrschaft gebrochen werden sollte, befragt: welches Merkmal denn für die Zugehörigkeit einer Familie zu den [WuG1 561]Nobili entscheidet, die sie politisch entrechtete
n
[197]A: entrechteten
, so lautet die Antwort: diejenigen Familien, denen Ritter angehörten, Familien also von der typisch ritterlichen Lebensführung.
188
Die „Ordnungen der Gerechtigkeit“ von 1293 bzw. 1295 machten die Zünfte zum Träger der politischen Ordnung von Florenz; sie waren gleichzeitig gegen die „Magnaten“ gerichtet, die einem besonderen Strafrecht unterstellt und von der Übernahme öffentlicher Ämter ausgeschlossen wurden. Zur Definition dieser rechtlich diskriminierten Familien schreibt Davidsohn, Florenz, Band 2, 2, S. 473; „Man fand, um sie vom Volk zu scheiden, kein anderes Kennzeichen als das der Ritterwürde“. Vgl. noch Hegel, C[arl], Die Ordnungen der Gerechtigkeit in der florentinischen Republik. Universitätsprogramm. – Erlangen: Eduard Besold 1867, besonders S. 5 (hinfort: Hegel, Ordnungen). Der Text der Gesetze findet sich bei: Bonaini, Francesco, Gli ordinamenti di Giustizia del Comune e popolo di Firenze compilati nel 1293, in: Archivio storico Italiano, n.s., tomo 1, 1855, S. 1–93 (hinfort: Bonaini, Gli ordinamenti), sowie in: Salvemini, Gaetano, Magnati e popolani in Firenze dal 1280 al 1295. – Firenze: G. Carnesecchi 1899, S. 384–432 (hinfort: Salvemini, Magnati).
Und die Art der Lebensführung war es auch, welche in der Antike für Gewerbetreibende die Ausschließung von Kandidaturen für ein Amt
o
A: die Ausschließung von Kandidaten vom Amt für Gewerbetreibende
nach sich zog.
189
So in Theben, wo Handwerker von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen waren; Aristoteles, Politik 1278a 25 f.; 1321a 28 f. – Mommsen, Staatsrecht, Band 1, S. 497, postuliert eine entsprechende Regel auch für Rom.
Die Konsequenz der Florentiner ordinamenti war nach Machiavelli, daß der Adlige, welcher in der Stadt bleiben wollte, sich in seiner Le[198]bensführung den bürgerlichen Gepflogenheiten anpassen mußte.
190
[198] Machiavelli schreibt dies am Anfang des 3. Buches seiner Geschichte von Florenz; Übersetzung in: Machiavelli, Niccolo, Die Florentinische Geschichte in acht Büchern, aus dem Italienischen übersetzt von Joh[ann] Ziegler (Niccolo Machiavelli’s Sämmtliche Werke, Band 4). – Karlsruhe: Ch. Th. Groos 1834, S. 115; der Text (in einer modernen Ausgabe) findet sich u. a. in: Machiavelli, Niccolò, Opere, vol. 2: Istorie florentine e altre opere storiche e politiche, a cura di Alessandro Montevecchi. – Torino: Unione Tipografico-Editrice Torinese 1986, S. 413.
Dies waren also die primären, wie man sieht: „ständischen“, Merkmale des Patriziats. Zu ihnen trat nun freilich das der charismatischen Adelsbildung überall typische politische Merkmal: Abstammung aus einer Familie, in welcher Ämter und Würden bestimmter Art einmal bekleidet worden waren und welche eben deshalb als amtsfähig galten. Das galt ebenso für die scherifischen Geschlechter in Mekka, für die römische Nobilität wie für die tribunizischen Geschlechter Venedigs. Die Abschließung war verschieden elastisch, in Venedig weniger als in Rom, wo der homo novus vom Amt nicht formell ausgeschlossen war. Aber bei Feststellung der Ratsfähigkeit und [A 704]Amtsfähigkeit als solcher wurde eine Familie überall darauf geprüft: ob ein Mitglied früher einmal im Rat gesessen oder ein ratsfähiges Amt bekleidet hatte oder, wie in den Florentiner Ordinamenti, ein Ritter unter die Vorfahren zählt. Das Prinzip der ständischen Geschlossenheit steigerte sich im allgemeinen mit zunehmender Bevölkerung und zunehmender Bedeutung der monopolisierten Ämter.
Mit manchen Bemerkungen des letzten Abschnittes hatten wir wiederum vorgegriffen in eine Zeit, in welcher der alte gentilcharismatische Adel seine rechtliche Sonderstellung in der Stadt ganz oder teilweise schon eingebüßt und mit dem Demos der griechischen, der Plebs der römischen, dem Popolo der italienischen, den Liveries der englischen, den Zünften der deutschen Entwicklung die Macht teilen und sich ihm folglich ständisch hatte gleichordnen müssen. Diesen Vorgang haben wir jetzt zu betrachten.

[199]IV. Die Plebejerstadt.
a
[199] Die Herkunft dieser Überschrift ist zweifelhaft, vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 56.

Die Art, wie die Herrschaft der Geschlechter gebrochen wurde, zeigt äußerlich betrachtet
b
A: betrachtet,
starke Parallelen zwischen Mittelalter und Antike, namentlich wenn wir für das Mittelalter die großen und speziell die italienischen Städte zugrundelegen, deren Entwicklung ja ebenso wie die der antiken Städte wesentlich eigengesetzlich, d. h. ohne die Einmischung außerstädtischer Gewalten, verlief. In den italienischen Städten nun war die entscheidende nächste Etappe der Entwicklung nach der Entstehung des Podestats die Entstehung des Popolo. Im ökonomischen Sinn setzte sich der Popolo ebenso wie die deutschen Zünfte aus sehr verschiedenen Elementen zusammen, vor allem aus Unternehmern einerseits, Handwerkern andrerseits. Führend im Kampf gegen die ritterlichen Geschlechter waren zunächst durchaus die ersteren. Sie waren es, welche die Eidverbrüderung der Zünfte gegen die Geschlechter schufen und finanzierten, während allerdings die gewerblichen Zünfte die nötigen Massen für den Kampf stellten. Der Schwurverband der Zünfte nun stellte sehr oft einen einzelnen Mann an die Spitze der Be[WuG1 562]wegung, um die Errungenschaften des Kampfes gegen die Geschlechter zu sichern. So wurde Zürich nach Vertreibung der widerspenstigen [A 705]Geschlechter aus der Stadt 1335
1
[199] Tatsächlich im Jahre 1336.
von dem Ritter Rudolph Brun regiert, mit einem zu gleichen Teilen aus den in der Stadt verbliebenen Rittern und Constaffeln, den Unternehmerzünften der Kaufleute, Tuchhändler, Salzhändler, Goldschmiede einerseits und kleingewerblichen Zünften anderseits gebildeten Rat[,] und widerstand so der Belagerung des Reichsheeres.
2
Im Jahre 1336 gelang dem Ritter Rudolph Brun mit Unterstützung eines Teils der (1291/92 von den Fernhandelskaufleuten entmachteten) ritterbürtigen Geschlechter und der Zünfte ein Umsturz der Verfassung. (Vgl. zur Definition von „Constaffeln“ oben, S. 106 mit Anm. 16). Ein Teil der zuvor regierenden Geschlechter wurde verbannt, die Ratsverfassung neu geordnet und Brun als Bürgermeister und Stadthauptmann auf Lebenszeit eingesetzt. Er konnte diese, auf breite Zustimmung gestützte Herrschaft tatsächlich bis zu seinem Tode (1360) bewahren. Zürich behauptete sich gegen Attacken der Exulanten, aber auch (seit 1351) gegen mehrere Angriffe des Herzogs Albrecht II. von Österreich, an denen sich 1354 auch Kaiser Karl IV. mit einem Reichsheer beteiligte; vgl. Dändliker, Karl, Geschichte der Stadt und des Kantons Zürich, Band 1: Vorgeschichte der Stadt und der Landschaft bis 1400. – Zürich: Schulthess 1908, S. 126–159.
Die Schwureinung der Zunft[200]bürgerschaft war in Deutschland meist nur vorübergehend eine Sondereinung. Die Umgestaltung der Stadtverfassung entweder durch Aufnahme von Zunftvertretern in den Rat oder durch völliges Aufgehen der Bürgerschaft mit Einschluß der Geschlechter in die Zünfte beendete ihr Bestehen. Als eine dauernde Organisation blieb die Verbrüderung nur in einigen Städten Niederdeutschlands und des baltischen Gebietes als Gesamtgilde bestehen. Ihr gegenüber den Berufsverbänden sekundärer Charakter geht aus der Zusammensetzung ihres Vorstandes durch die Gildemeister der Einzelverbände hervor. Ohne Zustimmung der Gilden durfte in Münster im 15. Jahrhundert niemand gefangen gesetzt werden: die Gesamtgilden fungierten also als ein Schutzverband gegen die Rechtspflege des Rates, dem in Verwaltungssachen Vertreter der Gilden entweder dauernd oder für wichtige Angelegenheiten beigesellt wurden, ohne deren Zuziehung nichts verfügt werden sollte.
3
[200] Weber bezieht sich zur Rolle der Gilden in Münster wohl auf Nitzsch, Karl W., Die niederdeutsche Kaufgilde, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abtheilung, Band 13, 1892, S. 1–95, hier S. 49 ff. (S. 51 zu den Regelungen bei Verhaftungen), sowie Hegel, Städte (wie oben, S. 76, Anm. 39), Band 2, S. 377–382; vgl. ebd., S. 380, zu einem Konflikt aus dem Jahre 1412, der zeigt, wie die Gilden die von Weber angesprochene Schutzfunktion wahrnahmen, wenngleich sie ihnen de jure wohl nicht zustand.
Weit mächtigere Dimensionen nahm der Schutzverband der Bürgerschaft gegen die Geschlechter in Italien an.
Der italienische Popolo war nicht nur ein ökonomischer, sondern ein politischer Begriff: eine politische Sondergemeinde innerhalb der Kommune, mit eigenen Beamten, eigenen Finanzen und eigener Militärverfassung: im eigentlichsten Wortsinn ein Staat im Staate, der erste ganz bewußt illegitime und revolutionäre politische Verband. Der Grund der Erscheinung lag in der in Italien infolge der stärkeren Entwicklung der ökonomischen und politischen Machtmittel des Stadtadels viel stärkeren Ansiedelung ritterlich lebender Geschlechter in den Städten selbst, von deren Folgen wir noch öfter zu reden haben werden.
4
Siehe unten, S. 202–204 und 207.
Der Verband des Popolo, der ihnen entgegentrat, beruhte auf der Verbrüderung von Berufsverbänden (arti oder paratici
5
Die Bezeichnung „paràtici“, Teilnehmer an einer Parade, bezieht sich auf die Umzüge der Zünfte.
), und die dadurch gebildete Sondergemeinde führte [201]offiziell in den ersten Fällen ihrer Entstehung (Mailand 1198, Lucca 1203, Lodi 1206, Pavia 1208, Siena 1210, Verona 1227, Bologna 1228) den Namen societas, credenza, mercadanza, com[A 706]munanza oder einfach popolo.
6
[201] Die Daten zur Konstituierung des popolo in den genannten Städten und die jeweiligen Bezeichnungen des Sonderverbands finden sich bei Salzer, Anfänge, S. 90, Anm. 7, der allerdings die „Begründung zweier societates“ in Lucca auf 1198 datiert.
Der höchste Beamte der Sondergemeinde hieß in Italien meist capitaneus populi
c
[201]A: capitanens popoli
, wurde kurzfristig, meist jährlich gewählt und besoldet, sehr oft nach dem Muster des Podesta
7
Vgl. oben, S. 160 f.
der Gemeinde von auswärts her berufen und hatte dann seinen Beamtenstab mit sich zu bringen. Der Popolo stellte ihm eine meist entweder nach Stadtquartieren oder nach Zünften ausgehobene Miliz. Er residierte oft wie der Podesta der Gemeinde in einem besonderen Volkshause mit Turm, einer Festung des Popolo. Ihm zur Seite standen als besondere Organe, namentlich für die Finanzverwaltung, die Vertreter (anziani oder priori) der Zünfte[,] nach Stadtquartieren kurzfristig gewählt. Sie beanspruchten das Recht, die Popolanen vor Gericht zu schützen, Beschlüsse der Kommunalbehörden zu beanstanden, Anträge an sie zu richten, oft einen direkten Anteil an der Gesetzgebung. Vor allem aber wirkten sie bei Beschlüssen des Popolo selbst mit. Dieser hatte, bis er zu voller Entwicklung gelangte, seine eigenen Statuten und seine eigene Steuerordnung. Zuweilen erreichte er, daß Beschlüsse des Kommune nur Geltung haben sollten, wenn auch der Popolo ihnen zugestimmt hatte, so daß neue Gesetze des Kommune in beiden Statuten zu vermerken waren. Für seine eigenen Beschlüsse erzwang er[,] wo immer möglich, Aufnahme in die kommunalen Statuten, in einzelnen Fällen aber erreichte er, daß die Beschlüsse des Popolo allen anderen, also auch den kommunalen Statuten vorgehen sollten (abrogent statutis omnibus et semper ultima intelligantur in Brescia).
8
Der Satz beginnt: „Item quod statuta populi, et reformationes consciliorum populi abrogent […]“. Der Text des nicht näher datierbaren Statuts aus dem 13. Jahrhundert findet sich in: Statuti bresciani del secolo XIII, ed. F. Odorici, in: Historiae Patriae Monumenta, tomus 16: Leges municipales, tomus 2. – Turin: Bocca 1876, coll. 1584, 95–280, hier col. 1584, 98, 1.
Neben die Gerichtsbarkeit des Podesta trat diejenige der Mercanzia oder der Domus mercatorum, welche insbesondere alle Markt- und Gewerbesachen an [202] sich zog, also ein Sonder[WuG1 563]gericht für Angelegenheiten der Kaufleute und Gewerbetreibenden darstellte.
9
[202] „Mercanzia“ hieß der Zusammenschluß der vornehmsten Kaufleute z. B. in Florenz und Brescia; in Verona nannte sich die Vereinigung domus mercatorum. Die Mitglieder dieser Kaufmannsgesellschaften gaben sich Statuten, die u. a. das Haftungsrecht und die Organisation von Handelsgesellschaften regelten; vgl. Weber, Handelsgesellschaften, S. 73 ff., 84 und 89 (MWG I/1). Über die Mercanzia in Florenz mit ihren Zuständigkeiten in der Handelsgerichtsbarkeit handelt Doren, Alfred, Studien aus der Florentiner Wirtschaftsgeschichte, Band 2: Das Florentiner Zunftwesen vom vierzehnten bis zum sechzehnten Jahrhundert. – Stuttgart und Berlin: J. G. Cotta Nachfolger 1908, S. 745–751 (hinfort: Doren, Zunftwesen), über die entsprechenden Kompetenzen der Kaufmannschaft in Bologna Scheib, Wilhelm, Staatsverwaltung und Selbstverwaltung. Staatliche Rechtspflege u. Sondergerichtsbarkeit im Stadtstaat Bologna unter der ausgebildeten Demokratie. – Karlsruhe: G. Braun 1910 [Diss. Freiburg i. B.], S. 64–70.
Darüber hinaus gewann sie nicht selten universelle Bedeutung für die Popolanen. Der Podesta von Pisa mußte im 14. Jahrhundert schwören, daß er und seine Richter sich niemals in Streitigkeiten zwischen Popolanen einmischen würden
d
[202]A: würde
, und zuweilen gewann der Capitan eine allgemeine konkurrierende Gerichtsbarkeit neben dem Podesta, ja in einzelnen Fällen wurde er Kassationsinstanz gegen dessen Urteile.
10
Weber folgt hinsichtlich des Konkurrenzverhältnisses zwischen Volkscapitan und „Podestà“ Salzer, Anfänge, S. 148–157; zum Amtseid des „Podestà“ in Pisa Anfang des 14. Jahrhunderts vgl. ebd., S. 149.
Sehr oft erhielt er das Recht[,] an den Sitzungen der Kommunalbehörde kontrollierend teilzunehmen und sie zu sistieren, zuweilen die Befugnis, die Bürgerschaft des Kommune zusammenzuberufen, die Beschlüsse des Rats auszuführen, wenn der Podesta es unter[A 707]ließ, das Recht der Verhängung und Lösung des Bannes und die Kontrolle und Mitverwaltung der kommunalen Finanzen, vor allem der Güter der Verbannten. Dem offiziellen Range nach stand er hinter dem Podesta zurück, aber er war in Fällen wie dem zuletzt genannten ein Beamter der Kommune geworden, capitaneus populi et communis,
11
Der Titel „capitaneus communis et populi“ ist für Parma bzw. Siena belegt; vgl. Salzer, Anfänge, S. 157 und 159.
römisch gesprochen ein collega minor, sachlich meist der Mächtigere von beiden. Er verfügte oft auch über die Truppenmacht der Kommune, zumal je mehr diese aus Soldtruppen bestand
e
A: bestanden
, für welche die Mittel nur durch die Steuerleistung der reichen Popolanen aufgebracht werden konnten.
[203]Bei vollem Erfolg des Popolo war also[,] rein formal betrachtet, der Adel völlig negativ privilegiert. Die Ämter der Kommune waren den Popolanen zugänglich, die Ämter des Popolo dem Adel nicht. Die Popolanen waren bei Kränkungen durch die Nobili prozessual privilegiert, der Capitan und die Anzianen kontrollierten die Verwaltung der Kommune, während der Popolo unkontrolliert blieb. Die Beschlüsse des Popolo allein betrafen
f
[203]A: bekannten
zuweilen die Gesamtheit der Bürger. In vielen Fällen war der Adel ausdrücklich von der Teilnahme an der Verwaltung des Kommune zeitweise oder dauernd ausgeschlossen. Die bekanntesten von ihnen sind die schon erwähnten ordinamenti della giustizia des Giano della
g
A: delle
Bella von 1293.
12
[203] Vgl. oben, S. 197 mit Anm. 188. Giano della Bella war der Führer des Volkes, der diese Gesetzgebung in Florenz durchsetzte.
Neben den
h
A: dem
Capitan, der hier Anführer der Bürgerwehr der Zünfte war, stellte man hier als außerordentlichen[,] rein politischen Beamten den auf sehr kurze Frist gewählten gonfaloniere della giustizia
i
A: guistizia
mit einer speziellen, jederzeit aufgebotsbereiten ausgelosten Volksmiliz von 1000 Mann, eigens für den Zweck des Schutzes der Popolanen, der Betreibung und Vollstreckung von Prozessen gegen Adlige und der Kontrolle der Innehaltung der ordinamenti.
13
Ein „gonfaloniere della giustizia“ (Bannerträger der Gerechtigkeit) war in Florenz erstmals 1289 eingesetzt worden; mit der Verfassungsordnung von 1293 wurde daraus ein offizielles Amt; die Amtsdauer betrug zwei Monate; vgl. Doren, Zunftwesen (wie oben, S. 202, Anm. 9), S. 53 f., und Davidsohn, Florenz, (wie oben, S. 159, Anm. 49), Band 2, 2, S. 478 f., sowie Schalk, Karl, Sociale Momente in der Verfassungsgeschichte der florentinischen Republik, in: Mittheilungen des Instituts für oesterreichische Geschichtsforschung, 6. Ergänzungsband. – Innsbruck: Wagner 1901, S. 293–319, hier S. 302–305.
Die politische Justiz mit offiziellem Spionagesystem und Begünstigung anonymer Anklagen, beschleunigter Inquisitionsprozedur gegen Magnaten und sehr vereinfachtem Beweis (durch „Notorietät“)
14
Angebliche Übergriffe von Magnaten auf Popolanen konnten in Florenz allein aufgrund der Aussagen zweier Zeugen verfolgt werden, die nur die publica fama, das „öffentliche Gerücht“ über den Vorfall, bezeugen mußten; Paragraph 6 des Gesetzes bei Bonaini, Gli ordinamenti (wie oben, S. 197, Anm. 188), S. 55, bzw. Salvemini, Magnati (wie oben, S. 197, Anm. 188), S. 397; vgl. Hegel, Ordnungen (wie oben, S. 197, Anm. 188), S. 4 f.; Davidsohn, Florenz, Band 2,2, S. 478.
war das demokratische Gegenstück des venezianischen Prozesses vor dem Rat der Zehn. In sachlicher Hinsicht war der Ausschluß aller ritterlich lebenden Familien von den Ämtern, ihre Ver[204]pflichtung zur Wohlverhaltensbürgschaft, die Haftung des ganzen Geschlechts für jedes Mitglied, besondere Strafgesetze gegen politische Vergehen der Magnaten, speziell für Beleidigung der Ehre eines Popolanen, das Verbot des Erwerbs [A 708]von unbeweglichem Gut, an welches ein Popolane angrenzte, ohne dessen Zustimmung, wohl am
k
[204]A: die
einschneidensten. Die Garantie der Herrschaft des Popolo übernahm interlokal die Parte Guelfa, deren Parteistatut als Teil der Stadtstatuten behandelt wurde.
15
[204] Zur Übernahme offizieller Regierungsfunktionen in Florenz nach 1267 durch die Guelfen, die seit 1274/75 regelmäßig einen „capitano“ aus einer anderen Stadt beriefen, vgl. Davidsohn, Florenz (wie oben, S. 159, Anm. 49), Band 2,1, S. 618; Band 2,2, S. 117–120 und 178; das älteste erhaltene Statut der Florentiner Guelfen aus dem Jahre 1335 ist ediert von Bonaini, F[rancesco], Statuto della Parte Guelfa di Firenze compilato nel MCCCXXXV, in: Giornale Storico degli Archivi Toscani, vol. 1, 1857, S. 1–41.
Niemand, der nicht bei der Partei eingeschrieben war, durfte in ein Amt gewählt werden. Über die Machtmittel der Partei wurde schon gesprochen.
16
Siehe oben, S. 159.
Schon diese Garantie durch eine wesentlich auf ritterliche Streitkräfte gestützte Parteiorganisation läßt vermuten, daß auch durch die Ordinamenti die soziale und ökonomische Macht der Geschlechter nicht wirklich beseitigt wurde. In der Tat: schon ein Jahrzehnt nach dem Erlaß dieser von zahlreichen toskanischen Städten übernommenen Florentiner Klassengesetze standen die Geschlechterfehden wieder in Blüte,
17
So kam es in Florenz im Anschluß an die Maifeier des Jahres 1300 zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen verfeindeten Adelsfamilien samt ihren Anhängerschaften; vgl. Davidsohn, Florenz, Band 3, S. 100–104.
und dauernd blieben kleine plutokratische Gruppen im Besitz der Macht. Selbst die Ämter des Popolo wurden fast immer mit Adligen besetzt, denn Adelsgeschlechter konnten unter die Popolanen ausdrücklich aufgenommen werden. Der wirkliche Verzicht auf ritterliche Lebensführung war nur teilweise effektiv. Im wesentlichen hatte man nur politische Obödienz zu garantieren und sich in eine [WuG1 564]Zunft einschreiben zu lassen. Der soziale Effekt war wesentlich eine gewisse Verschmelzung der stadtsässigen Geschlechter mit dem „popolo grasso“, den Schichten mit Universitätsbildung oder Kapitalbesitz: denn jene 7 oberen Zünfte,
18
Das sind die „arti maggiori“.
welche die Richter, Notare, Wechsler, Händler in fremden Tuchen, Händler in Florentiner [205]Wolltuchen, Seidenhändler, Ärzte, Spezereihändler, Pelzhändler umfaßten, führten jenen Namen. Aus diesen oberen Zünften, in welche die Adligen eintraten, mußten ursprünglich alle Beamte der Stadt gewählt werden. Erst mehrere weitere Revolten beteiligten schließlich 14 arti minori des Popolo minuto, d. h. der gewerblichen Kleinunternehmer, formell an der Gewalt.
19
[205] Im Jahr 1343 erhielten in Florenz die „arti minori“ einen in der Verfassung festgelegten Anteil an den wichtigen politischen Ämtern der Stadt; Doren, Zunftwesen, S. 757.
Nicht diesen 14 Zünften angehörige Handwerkerschichten haben nur ganz vorübergehend, nach der Revolte der Ciompi (1378)[,] Anteil am Regiment und überhaupt eine selbständige zünftige Organisation errungen.
20
Als „Ciompi“ werden die Arbeiter der Wolltuchindustrie bezeichnet, die über keine politischen Rechte verfügten, da sie keiner der 21 Zünfte angehörten. Während des Aufstands vom Juni bis August 1378 schlossen sie sich zu drei neuen Zünften zusammen und erreichten vorübergehend ihre Beteiligung an der Stadtregierung; vgl. Doren, Zunftwesen, S. 231–236.
Nur in wenigen Orten und zeitweise ist den Kleinbürgern, wie in Perugia 1378,
21
Der Beleg findet sich bei Broglio d’Ajano, Lotte sociali, S. 347.
gelungen durchzusetzen: daß außer den Nobili auch der Popolo grasso rechtlich von der Beteiligung am Priorenrat ausgeschlossen blieb. Es ist charakteristisch, daß diese unteren besitzlosen Schichten des gewerblichen Bürgertums sich bei ihrem Angriff auf die Herrschaft des Popolo grasso regel[A 709]mäßig der Unterstützung der Nobili erfreuten, ganz ebenso wie später die Tyrannis mit Hilfe der Massen begründet wurde und wie vielfach schon im 13. Jahrhundert der Adel und diese Unterschichten gegen den Ansturm des Bürgertums zusammengestanden hatten. Ob und wie stark dies der Fall war, hing von ökonomischen Momenten ab. Die Interessengegensätze der kleinen Handwerker konnten bei entwickeltem Verlagssystem sehr schroff mit denen der Unternehmerzünfte kollidieren. In Perugia z. B. schritt die Entwicklung des Verlages so schnell voran, daß 1437 ein Einzelunternehmer neben 28 filatori auch 176 filatrici in Nahrung setzte, wie Graf Broglio d’Ajano nachweist.
22
Die Zahlen der Spinner und Spinnerinnen finden sich bei Broglio d’Ajano, Lotte sociali, S. 344. – Beim Verlagssystem beschäftigt ein Unternehmer Arbeiter in deren Wohnung, gibt ihnen das Rohmaterial für die Produktion und übernimmt den Verkauf. „Verlag“ bedeutet „Vorlage“, „Vorschuß“ des Rohmaterials bzw. des Verkaufspreises; vgl. Bücher, Gewerbe (wie oben, S. 71, Anm. 25), S. 867.
Die Lage der verlegten Kleinhandwerker war oft prekär und unstet. Auswärtige Arbeiter und tageweise Miete fin[206]den sich, und die Unternehmerzünfte suchten die Verlagsbedingungen ihrerseits ebenso einseitig zu reglementieren wie die Zünfte der verlegten Handwerker (so die cimatori in Perugia)
23
[206] Zu den Regeln der Zunft der Tuchscherer („cimatori“) vgl. Broglio d’Ajano, Lotte sociali, S. 340.
die Lohnunterbietung verboten. Ganz naturgemäß erwarteten diese Schichten von der Regierung der Oberzünfte nichts. Aber zur politischen Herrschaft sind sie auf die Dauer nirgends gelangt. Die proletarische Schicht der wandernden Handwerksburschen vollends liegt überall ganz außerhalb jeder Beziehung zur Stadtverwaltung. Erst mit der Beteiligung der unteren Zünfte kam überhaupt ein wenigstens relativ demokratisches Element in die Räte der Städte hinein. Ihr faktischer Einfluß blieb trotzdem normalerweise gering. Die allen italienischen Kommunen gemeinsame Gepflogenheit[,] für die Wahlen der Beamten besondere Komitees zu bilden, sollte die politische Verantwortung der[,] in der modernen europäischen Demokratie unverantwortlichen und oft anonymen[,] Wahlleiter garantieren
l
[206] Fehlt in A; garantieren sinngemäß ergänzt.
und die Demagogie unterbinden.
24
Die Wahlen in den italienischen Kommunen wurden von Wahlmännern in komplizierten, oft mehrstufigen Verfahren durchgeführt, die zur Auswahl der jeweils besten Kandidaten ohne Rücksicht auf verwandtschaftliche, soziale und politische Bindungen führen sollten; die Wahlmänner wurden im Regelfall durch Eid auf diesen Grundsatz verpflichtet. Eine unmittelbare Willensbildung in der Bürgerschaft selbst und ein darauf zielender „Wahlkampf“ waren damit ausgeschlossen. Webers in der vorliegenden Form schwer verständliche Bemerkung zielt offenbar auf den damit gegebenen Unterschied zu unmittelbaren, demokratischen Wahlen (bei denen jedoch die Unverantortlichkeit der Wahlleiter in der Natur der Sache liegt, so daß das Argument in gewisser Hinsicht eher auf den Wähler bezogen werden könnte).
Sie ermöglichte eine planmäßige Auslese und einheitliche Zusammenfassung der jeweilig amtierenden Räte und Beamten, konnte aber normalerweise nur auf einen Kompromiß der sozial einflußreichen Familien hinauslaufen und vor allem die finanziell ausschlaggebenden Schichten nicht ignorieren. Nur in Zeiten der Konkurrenz verschiedener gleich mächtiger Familien um die Macht oder religiöser Erregungen hat die „öffentliche Meinung“ positiven Einfluß auf die Zusammensetzung der Behörden gehabt. Den Medici ist die Beherrschung der [207]Stadt ohne alle eigene amtliche Stellung lediglich durch Einfluß und systematische Wahlbeeinflussung gelungen.
25
[207] Von 1434 bis zu ihrer Vertreibung 1494 bestimmten die Häupter der Medici (v.a. Cosimo der Alte und Lorenzo der Prächtige) die Politik von Florenz, ohne selber ein Amt zu bekleiden. Ihre Kontrolle über die Besetzung der Ämter wurde durch Wahlverfahren begünstigt, bei denen die faktische Entscheidung bei einem Wahlmännergremium lag.
[A 710]Die Erfolge des Popolo wurden nicht ohne heftige und oft blutige und dauernde Kämpfe erreicht. Der Adel wich aus der Stadt und befehdete sie von seinen Burgen aus. Die Bürgerheere brachen die Burgen, und die Gesetzgebung der Städte sprengte die traditionelle grundherrliche Verfassung des Landes zuweilen durch planmäßige Bauernbefreiung. Die nötigen Machtmittel zur Niederwerfung des Adels aber gewann der Popolo durch die anerkannten Organisationen der Zünfte. Die Zünfte waren von seiten des Kommune von Anfang an für Verwaltungszwecke benutzt [WuG1 565]worden. Man hatte die Gewerbetreibenden teils für den Festungswachtdienst, zunehmend aber auch für den Felddienst zu Fuß nach Zünften aufgeboten. Finanziell war mit dem Fortschritt der Kriegstechnik vor allem die Hilfe der Unternehmerzünfte zunehmend unentbehrlich geworden. Einen intellektuellen und verwaltungstechnischen Rückhalt aber gaben die Juristen, vor allem die Notare, vielfach auch die Richter und die ihnen nahestehenden fachgelehrten Berufe der Ärzte und Apotheker. Diese in den Kommunen regelmäßig zünftig organisierten intellektuellen Schichten gehörten überall führend zum popolo und spielten eine ähnliche Rolle wie in Frankreich innerhalb des tiers état
m
[207]A: etat
26
Der dritte Stand der Generalstände.
die Advokaten und andere Juristen; die ersten Volkscapitane waren regelmäßig vorher Vorsteher einer Zunft oder eines Verbandes von solchen gewesen. Die Mercadanza namentlich, ein zunächst unpolitischer Verband der Handels- und Gewerbetreibenden (denn mercatores bezeichnete auch hier, wie E[rnst] Salzer mit Recht betont hat,
27
Salzer, Anfänge, S. 87, Anm. 1, und S. 97 mit Anm. 23.
alle städtischen Gewerbetreibenden und Händler)[,] war die normale Vorstufe der politischen Organisation des Popolo, ihr Vorsteher, der Podesta mercatorum, oft der erste Volkscapitan. Die ganze Entwicklung des Popolo aber bewegte sich [208]zunächst in der Richtung eines organisierten Schutzes der Interessen der Popolanen vor den Gerichten und kommunalen Körperschaften und Behörden. Ausgangspunkt der Bewegung war regelmäßig die oft sehr weitgehende faktische Rechtsverweigerung gegenüber Nichtadligen. Nicht nur in Deutschland (wie für Straßburg überliefert) war es häufig, daß Lieferanten und Handwerker statt der geforderten Zahlung mit Prügeln bedacht wurden und dann kein Recht fanden.
28
[208] Diesen Sachverhalt referiert Schmoller, Strassburg (wie oben, S. 106, Anm. 16), S. 20, gestützt auf die Straßburger Chronik des Fritsche Closener zum Jahr 1332, ediert in: Die Chroniken der oberrheinischen Städte. Straßburg, Band 1 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, Band 8). – Leipzig: S. Hirzel 1870, hier S. 123.
Noch mehr aber wirkten anscheinend die persönlichen Beschimpfungen und Bedrohungen von Popolanen durch den militärisch überlegenen Adel, welche überall immer erneut noch ein Jahr[A 711]hundert nach der Bildung des Sonderverbandes wiederkehren. Das soziale Standesgefühl der Ritterschaft und das naturgemäße Ressentiment des Bürgertums stießen aufeinander. Die Entwicklung des Volkscapitanats knüpfte daher an eine Art von tribunizischem
n
[208]A: tribunizisches
Hilfs- und Kontrollrecht gegenüber den Kommunalbehörden an, entwickelte sich von hier aus zur Kassationsinstanz und schließlich zu einer koordinierten universellen Amtsgewalt. Begünstigt wurde der Aufstieg des Popolo durch die Geschlechterfehden, welche eine Schädigung ökonomischer Interessen der Bürger und oft den ersten Anlaß des Eingreifens ihrer Beamten bedeuteten. Dazu trat der Ehrgeiz einzelner Adliger[,] mit Hilfe des Popolo zu einer Tyrannis zu gelangen. Überall lebte der Adel in steter Besorgnis vor solchen Gelüsten. Überall aber gab die Gespaltenheit des Adels dem Popolo die Möglichkeit[,] militärische Machtmittel eines Teiles der Ritterschaft in seine Dienste zu stellen. – Rein militärisch angesehen, war es die sich verbreitende Bedeutung der Infanterie, welche gegenüber der Ritterkavallerie hier erstmalig ihre Schatten vorauswarf.
29
Vgl. für die Entwicklung einer effizienten Infanterie in den lombardischen Städten unten, S. 289 mit Anm. 254.
In Verbindung mit den Anfängen rationaler militärischer Technik: in den Florentiner Heeren des 14. Jahr[209]hunderts finden sich erstmalig die „Bombarden“, die Vorläufer der modernen Artillerie, erwähnt.
30
[209] Die erste urkundliche Erwähnung weist Davidsohn, Florenz (wie oben, S. 159, Anm. 49), Band 3, S. 758 f., für das Jahr 1326 nach.
Äußerlich sehr ähnlich war nun in der Antike die Entwicklung des Demos und der Plebs. Vor allem in Rom, wo ganz entsprechend der Sondergemeinde des Popolo die Sondergemeinde der Plebs mit ihren Beamten entstand. Die Tribunen waren ursprünglich gewählte Vorsteher der nichtadligen Bürgerschaft der vier Stadtbezirke, die Ädilen, wie E[duard] Meyer annehmen möchte, Verwalter des kultgenossenschaftlichen Heiligtums und zugleich Schatzhauses der nicht adeligen Bürgerschaft und im Zusammenhang damit Schatzmeister der Plebs.
31
Meyer, Plebs2, S. 101 f. (= Plebs3, S. 1052 f.). Die Identifizierung der Ädilen als „Tempelherren“ des Ceres-Heiligtums der Plebs auf dem Aventin entspricht gängigen Forschungsmeinungen; von der communis opinio der Forschung weicht jedoch erheblich die Annahme ab, daß die Volkstribune ursprünglich die Vorsteher der vier städtischen Tribus gewesen seien. Meyer hatte diese These entwickelt in: Der Ursprung des Tribunats und die Gemeinde der vier Tribus, in: Hermes, Band 30, 1895, S. 1–24.
Die Plebs selbst konstituierte sich als eine Schwurverbrüderung, welche jeden niederzuschlagen gelobte, der ihren Tribunen bei der Wahrnehmung der Interessen der Plebejer in den Weg treten würde: dies bedeutete es, wenn der Tribun als sacro sanctus bezeichnet wurde im Gegensatz zu den legitimen Beamten der römischen Gemeinde,
32
Livius 3, 55, 7. – Weber folgt in der Sache Mommsen, Staatsrecht, Band 2,1, S. 286 f., der den Unterschied zwischen der auf „Selbsthülfe“ der Plebs gründenden tribunizischen Gewalt und der legitimen Amtsgewalt der Magistrate betont.
ganz ebenso wie dem italienischen Volkscapitan normalerweise das dei gratia fehlte, welches die Beamten mit legitimer Gewalt, die Consules, ihrem Namen noch beizusetzen pflegten.
[WuG1 566]Ebenso fehlte dem Tribunen die legitime Amtsgewalt und deren Merkmal: der Verkehr mit den Göttern der Gemeinde, die [A 712]Auspicia, ebenso das wichtigste Attribut des legitimen Imperium: die legitime Strafgewalt, an deren Stelle er als Haupt der Plebs die Macht besaß, bei handfester Tat gegen jedermann, der ihn in seinen Amtshandlungen behinderte, eine Art von Lynchjustiz ohne Verfahren und Urteil durch Festnahme und Herabstürzen vom Tar[210]pejischen Felsen zu vollziehen.
33
[210] Das saxum Tarpeium ist ein Fels am Südosthang des Capitols; der Sturz von diesem Felsen war eine Form tribunizischer Selbstjustiz (Livius 6, 20, 12); von „regulirte[r] Lynchjustiz“ der Volkstribune spricht Mommsen, Theodor, Die patricischen und die plebejischen Sonderrechte in den Bürger- und Rathsversammlungen, in: ders., Römische Forschungen, Band 1. – Berlin: Weidmann 1864, S. 129–284, hier S. 179.
Wie beim Capitan und den Anzianen
o
[210]A: Ancianen
, so entwickelte sich auch bei ihm seine spätere Amtsgewalt aus dem Recht[,] bei Amtshandlungen
p
A: Amtsverhandlungen
der Magistrate für Plebejer einzutreten und die Handlung zu inhibieren.
34
Der Vergleich zwischen den Anzianen des „Popolo“ und dem römischen Volkstribunat findet sich bei Salzer, Anfänge, S. 148.
Dieses Interzessionsrecht, das allgemeine negative Attribut der römischen Beamten gegen jede gleiche oder niedrigere Amtsgewalt[,] war seine primäre Befugnis. Ganz wie beim Capitan entwickelte sich seine Macht von hier aus zu einer allgemeinen Kassationsinstanz und damit zur faktisch höchsten Gewalt innerhalb des städtischen Friedensbezirkes. Im Felde hatte der Tribun nichts zu sagen, hier herrschte das Kommando des Feldherrn unbeschränkt. Diese Beschränkung auf die Stadt im Gegensatz zu den alten Amtsgewalten ist für den spezifisch bürgerlichen Ursprung des Tribunen charakteristisch. Kraft dieser Kassationsgewalt allein haben die Tribunen alle politischen Errungenschaften der Plebs durchgesetzt:
35
Die im folgenden Text aufgezählten Forderungen der Plebs wurden zumeist in Beschlüssen der von den Tribunen einberufenen plebejischen Volksversammlungen niedergelegt; für die Durchsetzung dieser Plebiscite (bzw. ihre Bestätigung durch förmliche Gesetze) war entscheidend, daß die Tribune den Magistraten des Gesamtstaates mit der Verhinderung ihrer Amtshandlungen drohen konnten.
das Provokationsrecht gegen Kriminalurteile,
36
Das Recht, gegen die Bestrafung durch einen Magistrat an die Volksversammlung appellieren zu können; der Überlieferung nach durch Gesetze von 509, 449 (beide sicherlich unhistorisch) und 300 v. Chr. (lex Valeria, Livius 10, 9, 3–6) anerkannt.
die Milderung des Schuldrechts,
37
Namentlich durch die Einschränkung der Personalexekution, d. h. das Verbot der Tötung, des Verkaufs und der Fesselung des säumigen Schuldners, durch die lex Poetelia Papiria von 326 v. Chr.; Livius 8, 28.
die Rechtsprechung an den Markttagen im Interesse des Landvolks,
38
Wahrscheinlich wurde dies gleichzeitig mit der weiter unten im Text genannten lex Hortensia von 287 v. Chr. geregelt (Macrobius, Saturnalia 1, 16, 30); vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, S. 154 (MWG I/6), mit Bezug auf Meyer, Plebs2, S. 105 (= Plebs3, S. 1056).
die gleichmäßige Beteiligung an den Ämtern,
39
Durch eine lex Licinia Sextia 376 bzw. 367 v. Chr. geregelt, die Plebejer grundsätzlich zum Consulat zuließ; Livius 6, 35, 4 f. und 6, 42, 9–12.
[211]zuletzt auch an den Priesterämtern
40
[211] Mit der lex Ogulnia von 300 v. Chr. festgelegt; Livius 10, 6, 6 und 10, 9, 2,
und am Rat
41
D.h. im Senat, geregelt durch die lex Ovinia von vor 312 v. Chr. über die Aufstellung der Senatsliste durch die Censoren; Festus, p. 246 Müller = p. 290 Lindsay.
und schließlich auch die in italienischen Kommunen gelegentlich erreichte,
42
Dies gilt namentlich für Brescia; vgl. oben, S. 201.
in Rom durch die letzte Sezession der Plebs durchgesetzte Bestimmung des hortensischen Plebiszites: daß die Beschlüsse der Plebs die ganze Gemeinde binden sollten,
43
Dies wurde der Plebs nach ihrem (der Tradition nach: dritten) Auszug aus der Stadt durch das Gesetz des Dictators Hortensius im Jahre 287 v. Chr. konzediert; Plinius, Naturalis historia 16, 37; Gaius, Institutiones 1, 3.
im Resultat also die gleiche formale Zurücksetzung der Geschlechter wie im mittelalterlichen Italien. Nach diesem Austrag der älteren Ständekämpfe tritt die politische Bedeutung des Tribunals weit zurück. Ebenso wie der Capitan wurde jetzt der Tribun ein Beamter der Gemeinde, einrangiert sogar in die sich entwickelnde Ämterlaufbahn, nur gewählt von den Plebejern allein, deren historische Scheidung vom Patriziat praktisch fast bedeutungslos wurde und der Entwicklung des Amts- und Vermögensadels (Nobilität und Ritter) Platz machte. In den nun entstehenden Klassenkämpfen traten die alten politischen Befugnisse erst seit der Gracchenzeit
44
Tiberius Gracchus war Volkstribun 133 v. Chr., Gaius Gracchus 123–122 v. Chr.
noch einmal mächtig hervor als Mittel im Dienst der politischen Reformer und der ökonomi[A 713]schen Klassenbewegung der dem Amtsadel feindlichen, politisch deklassierten Bürgerschaft. Dies Wiederaufleben führte dazu, daß schließlich die tribunizische Gewalt neben dem militärischen Kommando das lebenslängliche amtliche Attribut des Prinzeps wurde.
45
Die von der Institution Volkstribunat abgelöste tribunicia potestas und das militärische imperium machten seit 23 v. Chr. die wichtigsten formaln Kompetenzen des Princeps aus; die Herrscher datierten offiziell nach den Amtsjahren ihrer tribunizischen Gewalt. – Den Zusammenhang zwischen der Reaktivierung des Volkstribunats durch die Gracchen und der Übernahme der tribunizischen Gewalt durch die Kaiser seit Augustus hat Mommsen, Staatsrecht, Band 2,2, S. 874, herausgestellt.
Diese immerhin frappanten Ähnlichkeiten der mittelalterlichen italienischen mit der altrömischen Entwicklung finden sich trotz politisch, sozial und ökonomisch grundstürzender Unterschiede, von denen bald zu reden sein wird.
46
Siehe unten, S. 253 ff.
Es stehen eben nicht beliebig viele verschiedene verfassungstechnische
q
[211]A: verfügungstechnische
Formen für die Regulierung von [212]Ständekompromissen innerhalb einer Stadt zur Verfügung, und Gleichheiten der politischen Verfassungsform
r
[212]A: Verfügungsform
dürfen daher nicht als gleiche Überbauten über gleiche ökonomische Grundlagen gedeutet werden, sondern haben ihre Eigengesetzlichkeit. Wir fragen nun noch: ob diese römische Entwicklung innerhalb der Antike selbst gar keine Parallele habe. Eine politische Sonderverbandsbildung wie die Plebs und der italienische Popolo findet sich sonst, soviel bekannt, in der Antike nicht. Wohl aber Erscheinungen innerlich verwandten Charakters. Schon im Altertum (Cicero) hat man die spartiatischen Ephoren als eine solche Parallelerscheinung angesprochen.
47
[212] Cicero, De republica 2, 58; De legibus 3, 16.
Dies will freilich richtig verstanden werden.
Die Ephoren (Aufseher) waren, im Gegensatz zu den legitimen Königen, Jahresbeamte, und zwar wurden sie[,] wie die Tribunen, durch die 5 lokalen Phylen der Spartiaten, nicht durch die gentilizischen 3 Phylen gewählt.
48
Die Verfassung des klassischen Sparta kannte nur die fünf nach dem Ortsprinzip konstituierten (auch als Dörfer bezeichneten) Phylen; man nimmt aber an, daß es früher in Sparta – wie bei den anderen Dorern (vgl. oben, S. 182 mit Anm. 139) – eine Einteilung in die drei als Abstammungsgemeinschaften geltenden Phylen gegeben hat; vgl. Gilbert, Gustav, Handbuch der griechischen Staatsalterthümer, Band 1: Der Staat der Lakedaimonier und der Athener. – Leipzig: B. G. Teubner 1881, S. 42 f. (hinfort: Gilbert, Staatsalterthümer); Busolt, Geschichte, Band 1 (wie oben, S. 173, Anm. 88), S. 530–533. Die Fünfzahl der Ephoren wird von der Forschung in Zusammenhang mit der Einteilung in die fünf lokalen Phylen gebracht; vgl. u. a. Gilbert, a. a. O., S. 15, Anm. 3; Busolt, a. a. O., S. 560, Anm. 1; Szanto, [Emil], „Ephoroi“, in: RE, Band 5, 2, 1905, Sp. 2860–2864, hier Sp. 2862. Man findet auch die Annahme, daß die Ephoren ursprünglich wahrscheinlich die Vorsteher der Phylen gewesen seien; so Neumann, Karl J., Die Entstehung des spartiatischen Staates in der lykurgischen Verfassung, in: Historische Zeitschrift, Band 96, 1906, S. 1–80, hier S. 43 f. Webers Aussage, die Ephoren seien von den Phylen gewählt worden, trifft jedoch auf die historische Zeit nicht zu; es wählte die Volksversammlung, die in sich (anders als die römischen Volksversammlungen) nicht nach den Unterabteilungen der Bürgerschaft gegliedert war. Zu den Kompetenzen der Ephoren vgl. Szanto, a. a. O., Sp. 2862 ff.
Sie beriefen die Bürgerversammlung, hatten in Zivilsachen und (vielleicht nicht unbeschränkt) in Kriminalsachen die Gerichtsbarkeit, forderten selbst die Könige vor ihren Stuhl, zwangen [WuG1 567]Beamte zur Rechenschaftsablage und suspendierten sie, hatten die Verwaltung in der Hand und besaßen zusammen mit dem gewählten Rat der Gerusia
49
Die Gerusia bestand aus 28 Mitgliedern, die auf Lebenszeit aus dem Kreis der über 60 Jahre alten Bürger gewählt wurden, sowie den beiden Königen.
innerhalb der spartanischen [213]Gebiete faktisch die höchste politische Gewalt. Im Stadtgebiet waren die Könige auf Ehrenvorrechte und rein persönlichen Einfluß beschränkt, während im Kriege umgekehrt in ihren Händen die volle, in Sparta sehr strenge Disziplinargewalt ruhte. Wohl erst der Spätzeit gehört es an, daß Ephoren die Könige auch in den Krieg begleiteten.
50
[213] Bezeugt ist dies seit der Zeit der Perserkriege (Herodot 9, 76, 3), als Regelfall wird es im Zusammenhang mit der spartanischen Intervention in Athen 403 v. Chr. erwähnt (Xenophon, Hellenika 2, 4, 36).
Nicht gegen die Qualität der Ephoren als einer tribunizischen Gewalt spricht, daß sie ursprünglich, angeblich noch nach dem ersten messenischen Kriege, vielleicht einmal von den Königen bestellt worden waren.
51
Ein Teil der antiken Überlieferung schrieb die Einrichtung des Ephorats nicht bereits dem Gesetzgeber Lykurg zu, sondern erst dem König Theopomp im Kontext des Ersten Messenischen Kriegs (nach traditioneller Chronologie 743–724 v. Chr); Platon, Nomoi 692a; Aristoteles, Politik 1313a 26 ff.; Plutarch, Kleomenes 10, 2 f.; Cicero, De legibus 3, 16.
Denn es ist sehr wohl möglich, daß dies [A 714]ursprünglich auch für die Tribusvorsteher galt.
52
Eine Einsetzung der Tribusvorsteher durch den König Servius Tullius gibt Dionysios von Halikarnaß, Antiquitates Romanae 4, 14, 1 f., an; zur Ableitung des Volkstribunats von den Tribusvorstehern vgl. oben, S. 209 mit Anm. 31.
Und ebenso auch nicht die allerdings gewichtigere Tatsache: daß die den Tribunen charakteristische und ihnen mit den mittelalterlichen Volkscapitanen gemeinsame Interzessionsfunktion bei den Ephoren fehlt. Denn nicht nur ist überliefert, daß sie dem Sinn ihrer Stellung nach ursprünglich die Bürger gegen die Könige zu schützen hatten.
53
Cicero, De republica 2, 58 und De legibus 3, 16, vergleicht in diesem Sinne die Stellung von Volkstribunen und Ephoren gegenüber Consuln bzw. Königen.
Sondern das spätere Fehlen dieser Funktion erklärt sich aus dem unbedingten Siege des spartanischen Demos über seine Gegner und daraus, daß er selbst sich in eine das ganze Land beherrschende, ursprünglich plebejische, später tatsächlich oligarchische Herrscherklasse verwandelt hatte. Ein Adel war in Sparta in historischer Zeit unbekannt. So bedingungslos die Polis ihre Herrenstellung über die Heloten, denen jährlich feierlich „der Krieg erklärt“ wurde,
54
Die Ephoren erklärten jeweils bei ihrem Amtsantritt den Heloten (der als Staatssklaven gehaltenen, unterworfenen Bevölkerung Lakoniens und Messeniens) den Krieg und stellten damit die Tötung von Heloten straffrei; Plutarch, Lykurg 28, 4.
um ihre Entrechtung religiös zu motivieren, und [214]ebenso ihre politische Monopolstellung gegen die außerhalb des Wehrverbandes stehenden Periöken wahrte, so unbedingt herrschte nach innen, prinzipiell wenigstens, unter den Vollbürgern die soziale Gleichheit, beides gleichmäßig durch das an Venedig erinnernde Spionagesystem (krypteia)
55
[214] Junge Spartiaten wurden als Einzelkämpfer zu Streifzügen ausgeschickt; tagsüber hatten sie sich zu verbergen (daher der etwa als „geheime Jagd“ wiederzugebende Begriff krypteia), nachts sollten sie Heloten töten; Platon, Nomoi 633b; Plutarch, Lykurg 28, 1–3. Die krypteia diente demnach der Terrorisierung der Heloten und als Teil des militärischen Ausbildungsprogramms gewiß auch der sozialen Gleichheit unter den Spartiaten. Da hier jedoch kein „Spionagesystem“ zur Überwachung der Bürger vorliegt, leuchtet Webers Vergleich mit Venedig, d. h. mit der Rolle des Rats der Zehn (vgl. oben, S. 156 mit Anm. 40), nur sehr bedingt ein.
aufrechterhalten. Die Lakedämonier zuerst hatten nach der Tradition
56
Thukydides 1, 6, 3 f.; vgl. Meyer, Altertum, Band 2, S. 561.
die gesonderte adlige Lebensführung in der Tracht beseitigt, die also vorher bestanden hat. Daß dies und die strenge Einschränkung der Königsgewalt Folge eines Kampfes und Kompromisses gewesen war, scheinen die gegenseitig ausgetauschten Eide der Könige und Ephoren, eine Art periodisch erneuerten Verfassungsvertrages, überzeugend zu beweisen.
57
Nach Xenophon, Respublica Lacedaemoniorum 15, 7, tauschten die Könige und die Ephoren monatlich Eide aus: die einen schworen, sich an die Gesetze zu halten, die anderen, das Königtum unangetastet zu lassen. Zur Deutung als Vertragsverhältnis zwischen den Königen und dem (von den Ephoren repräsentierten) Volk vgl. Niese, Benediktus, Zur Verfassungsgeschichte Lakedämons, in: Historische Zeitschrift, Band 62, 1889, S. 58–84, hier S. 68–73; Stern, E[rnst] von, Zur Entstehung und ursprünglichen Bedeutung des Ephorats in Sparta (Berliner Studien für classische Philologie und Archaeologie, Band 15, Heft 1). – Berlin: Calvary 1894, S. 38 f.
Bedenken erregt nur: daß die Ephoren anscheinend einzelne religiöse Funktionen versahen. Aber sie waren eben noch mehr als die Tribunen legitime Gemeindebeamte geworden. Die entscheidenden Züge der spartanischen Polis machen viel zu sehr den Eindruck einer rationalen Schöpfung, um als Reste uralter Institutionen zu gelten.
In den übrigen hellenischen Gemeinden findet sich eine Parallele nicht. Überall dagegen finden wir eine demokratische Bewegung der nichtadligen Bürger gegen die Geschlechter und in einem der Zahl nach überwiegenden Bruchteile zeitweilige und dauernde Beseitigung der Geschlechterherrschaft. Wie im Mittelalter bedeutete diese weder die Gleichstellung aller Bürger in bezug auf Amts-, Ratsfähigkeit und Stimmrecht noch auch nur die Aufnahme aller [215]persönlich freien und siedlungsberechtigten Familien in den Bürgerverband. Dem Bürgerverband gehörten, im Ge[A 715]gensatz zu Rom, die Freigelassenen überhaupt nicht an. Die Gleichstellung der Bürger aber war durch Abstufung des Stimmrechts und der Amtsfähigkeit, anfänglich nach Grundrenten und Wehrfähigkeit, später nach Vermögen, durchbrochen. Diese Abstufung ist auch in Athen rechtlich niemals ganz beseitigt worden,
58
[215] Vgl. unten, S. 216 mit Anm. 61.
ebensowenig wie die besitzlosen Schichten in den mittelalterlichen Städten irgendwo dauernd zu gleichem Recht mit dem Mittelstand gelangten.
Das Stimmrecht in der Volksversammlung wurde entweder allen den Demoi angeschlossenen, in den Wehrverband einer Phratrie eingeschriebenen Grundbesitzern – dies war das erste Stadium der „Demokratie“ – oder auch den Besitzern anderer Vermögensobjekte gegeben. Entscheidend war zunächst die Fähigkeit zur infanteristischen Selbstausrüstung für das Hoplitenheer, mit dessen Aufstieg diese Umwälzung verknüpft war. Wir werden bald sehen,
59
Siehe unten, S. 223 f.
daß die bloße Abstufung des Stimmrechts keineswegs das wichtigste Mittel war[,] diesen Effekt zu erreichen. Wie [WuG1 568]im Mittelalter konnte die formale Zusammensetzung der Bürgerversammlung geordnet sein wie sie wollte und ihre formale Kompetenz noch so ausgiebig bemessen sein, ohne daß doch die soziale Machtstellung der Besitzenden dadurch endgültig vernichtet worden wäre. In ihren Ergebnissen führte die Bewegung des Demos im Verlauf der Entwicklung zu untereinander verschiedenartiger Gestaltung. Der nächste und in manchen Fällen dauernde Erfolg war die Entstehung einer Demokratie äußerlich ähnlicher Art, wie sie auch in zahlreichen italienischen Kommunen auftrat. Die vermögendste Schicht der nichtadligen Bürger, nach irgendeinem Zensus eingeschätzt, im wesentlichen Besitzer von Geld und Sklaven, Ergasterien, Schiffen, Handels- und Leihkapitalien, gewann Anteil an Rat und Ämtern neben den wesentlich auf Grundbesitz gestützten Geschlechtern. Die Masse der Kleingewerbetreibenden, Kleinhändler und Minderbesitzer überhaupt blieb dann von den Ämtern rechtlich oder infolge ihrer Unabkömmlichkeit faktisch ausgeschlossen, oder die Demokratisierung ging weiter und legte im Er[216]gebnis grade diesen letztgenannten Schichten die Macht in die Hände. Damit dies geschehen konnte, mußten aber Mittel gefunden werden, die ökonomische Unabkömmlichkeit dieser Schichten zu beheben, wie dies in Gestalt von Tagegeldern geschah,
60
[216] Diäten für die Ratsherren und die Geschworenen sowie Aufwandsentschädigungen für einen Teil der Magistrate sind in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. in Athen eingeführt worden.
und der Ämterzensus mußte herabgesetzt werden. Dies und die faktische Nicht[A 716]beachtung der Klassenabstufung des Demos war aber nur der erst im 4. Jahrhundert erreichte Endzustand der attischen Demokratie.
61
Die Regel, daß für die Übernahme einer Magistratur ein bestimmter Mindestzensus Voraussetzung war, wurde zwar nicht aufgehoben, im 4. Jahrhundert v. Chr. jedoch de facto ignoriert; Aristoteles, Athenaion politeia 7, 4.
Er trat erst ein, als die militärische Bedeutung des Hoplitenheeres fortgefallen war.
Die wirklich wichtige Folge des ganzen oder teilweisen Sieges der Nichtadligen für die Struktur des politischen Verbandes und seiner Verwaltung beruhte in der ganzen Antike in Folgendem: 1. bedeutete sie die zunehmende Durchführung des Anstaltscharakters des politischen Verbandes. Einmal in Gestalt der Durchführung des Ortsgemeindeprinzips. Wie im Mittelalter für die Masse der Stadtbürger schon unter der Geschlechterherrschaft die Einteilung in örtliche Stadtbezirke gegolten hatte und der Popolo seine Beamten wenigstens teilweise nach Stadtvierteln wählte, so hatte auch die antike Geschlechterstadt für die nichtadligen Plebejer, vor allem für die Fronen und Lastenverteilung, örtliche Bezirke gekannt. In Rom, neben den 3 alten[,] persönlichen[,] aus Sippen und Kurien zusammengesetzten Tribus,
62
Vgl. zur ursprünglichen Einteilung der römischen Bürgerschaft oben, S. 117 mit Anm. 45.
4 ebenso genannte rein lokale städtische Bezirke, denen mit dem Siege der Plebs die Landtribus zur Seite traten,
63
Die Einteilung der römischen Bürgerschaft in vier Stadtbezirke ist angeblich durch König Servius Tullius erfolgt; Livius 1, 43, 13; Dionysios von Halikarnaß, Antiquitates Romanae 4, 14, 1–2; dazu Mommsen, Staatsrecht, Band 3,1, S. 161 ff. Die Einrichtung der ersten 17 (bzw. 16) ländlichen, nach Geschlechtern benannten Tribus wird von der Tradition (Livius 2, 21, 7) in das Jahr 495 v. Chr. gesetzt, ist jedenfalls im Laufe des 5. Jahr[217]hunderts v. Chr. erfolgt; die endgültige Zahl von 31 ländlichen neben den vier städtischen Tribus wurde bis 241 v. Chr. erreicht; Mommsen, Staatsrecht, Band 3,1, S. 171–173. Die „mit dem Siege der Plebs“ in den Ständekämpfen einhergehende Einrichtung der ländlichen Tribus bzw. die Erhöhung der Tribuszahlen bedeutete eine Verstärkung des politischen Gewichts der Bauern.
in Sparta neben den alten 3 persönlichen Phylen die 4, später [217]5 lokalen Phylen.
64
Es werden zwar fünf Phylen auf lokaler Basis für Sparta angenommen (vgl. oben, S. 212 mit Anm. 48), sicher sind jedoch nur die Namen von vier Phylen überliefert; vgl. Hermann, Karl F., Lehrbuch der griechischen Staatsaltertümer, 6. Aufl., hg. von Viktor Thumser. – Freiburg i. B.: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1889, S. 164 f. (hinfort: Hermann/Thumser, Staatsaltertümer); Kuhn, Städte (wie oben, S. 74, Anm. 33), S. 15 f.
Im Bereich der eigentlichen Demokratie aber war der Sieg der Demokratie identisch mit dem Übergang zum „Demos“, dem örtlichen Bezirk, als Unterabteilung des ganzen Gebietes und Grundlage aller Rechte und Pflichten in der Polis.
65
Eine Gleichsetzung der durch Kleisthenes (508/507 v. Chr.) erfolgten Neuaufteilung der Bürgerschaft in Phylen und Demen mit der Einrichtung der Demokratie nehmen Herodot 5, 69, 2; 6, 131, 1 und Aristoteles, Athenaion politeia 21, 4–22, 1, vor.
Wir werden die praktische Bedeutung dieser Wandlung bald zu betrachten haben.
66
Siehe unten, S. 265–268.
Ihre Folge aber war die Behandlung der Polis nicht mehr als einer Verbrüderung von Wehr- und Geschlechterverbänden, sondern als einer anstaltsmäßigen Gebietskörperschaft. Anstaltsmäßig wurde sie ferner auch durch die Änderung der Auffassung von der Natur des Rechts. Das Recht wurde Anstaltsrecht für die Bürger und Insassen des Stadtgebiets als solche
s
[217]A: solcher
– mit welchen Rückständen, sahen wir früher
67
Siehe oben, S. 111 f. und 123.
– und es wurde zugleich zunehmend rational gesalztes Recht. An Stelle der irrationalen charismatischen Judikatur trat das Gesetz. Parallel mit der Beseitigung der Geschlechterherrschaft begann die Gesetzgebung. Zunächst hatte sie noch die Form charismatischer Satzung durch Aisymneten. Dann aber erwuchs die ständige, schließlich dauernd im Fluß befindliche Schaffung neuen Rechts durch die Ekklesia und die rein weltliche, an Gesetze oder, in Rom, an magistratische Instruk[A 717]tionen
68
Gemeint ist die Rechtsfortbildung durch die Praetoren, die die Prozeßformeln festlegten, aufgrund derer im Zivilprozeß ein unabhängiger Richter zu entscheiden hatte.
gebundene Rechtspflege. In Athen wurde schließlich alljährlich die Frage an das Volk gerichtet: ob die bestehenden Gesetze erhalten oder geändert werden sollten.
69
Die im 4. Jahrhundert v. Chr. geltende Regel ist überliefert bei Demosthenes 24, 20.
So sehr verstand [218]es sich jetzt von selbst, daß das geltende Recht etwas künstlich zu schaffendes sei und sein müsse und auf der Zustimmung derjenigen beruhe, für die es gelten solle. In der klassischen Demokratie freilich, z. B. in Athen im 5. und 4. Jahrhundert, war diese Auffassung [WuG1 569]noch nicht unbedingt herrschend. Nicht jeder Beschluß (psephisma) des Demos war ein Gesetz (nomos), auch dann nicht, wenn er generelle Regeln aufstellte. Es gab gesetzwidrige Beschlüsse des Demos, und diese waren dann vor dem Geschworenengericht (heliaia) durch jeden Bürger anfechtbar.
70
[218] Vgl. zu dieser Klage gegen den gesetzwidrigen Volksbeschluß (graphe paranomon) Gilbert, Staatsalterthümer, Band 1 (wie oben, S. 212, Anm. 48), S. 283–285; wann das Verfahren eingeführt wurde, ist unsicher; terminus ante quem ist 415 v. Chr. (Andokides 1, 17), Die Bezeichnung heliaia war zu dieser Zeit nicht mehr üblich.
Ein Gesetz ging (wenigstens damals) nicht aus Beschlüssen des Demos hervor. Sondern auf Grund des Gesetzesantrags eines Bürgers wurde vor einem besonderen Geschworenenkollegium (den Nomotheten) in der Form eines Rechtsstreites darüber verhandelt: ob das alte oder das neu vorgeschlagene Recht zu gelten habe; ein eigenartiger Rest der alten Auffassung vom Wesen des Rechts, welcher erst spät schwand.
71
Das spezielle Gesetzgebungsverfahren ist aus Demosthenes 24, 20–23 und 24, 33 bekannt; das dort zitierte Gesetz gibt die im 4. Jahrhundert v. Chr. geltenden Regeln wieder. Bei der Verhandlung vor den aus der Gesamtzahl der Geschworenen ausgelosten, vermutlich mindestens 501 „Gesetzgebern“ (Nomotheten) standen dem Antragsteller auf eine Gesetzesänderung fünf von der Volksversammlung gewählte Fürsprecher für das bestehende Gesetz gegenüber. Die Nomotheten entschieden definitiv, ob das bestehende Gesetz erhalten blieb oder der Änderungsvorschlag angenommen wurde. In der älteren Forschung wurde mitunter das Verfahren mit den Reformen des Ephialtes 462/461 v. Chr. in Verbindung gebracht (vgl. z. B. Grote, George, Geschichte Griechenlands, Band 3, nach der zweiten Aufl. aus dem Englischen übertragen von R. R. Meißner. – Leipzig: Dyk 1853, S. 288–290 (hinfort: Grote, Geschichte); Meyer, Altertum, Band 3, S. 575 f.), während die spätere communis opinio von der Einrichtung nach 403/402 v. Chr. ausgeht.
Den ersten entscheidenden Schritt aber zu der Auffassung des Rechts als einer rationalen Schöpfung bedeutete in Athen die Abschaffung der religiösen und adligen Kassationsinstanz: des Areiopag, durch das Gesetz des Ephialtes.
72
Der Areiopag, vermutlich der alte Adelsrat, der zugleich die Funktion des Blutgerichts wahrnahm, bestand (spätestens wohl seit Solon) aus den ehemaligen Archonten, die Mitglieder auf Lebenszeit waren. Als „Hüter der Verfassung“ (Aristoteles, Athenaion politeia 8, 4) konnte er aufgrund seiner formalen Kontrollrechte gegenüber den Magistraten und der Autorität seiner Mitglieder die Politik stark beeinflussen. Die Reform des Ephialtes 462/461 v. Chr. nahm dem Areiopag alle politischen Kontrollmöglichkeiten und reduzierte ihn auf seine Funktion als Gerichtshof: Aristoteles, Athenaion politeia 25, 2; Plutarch, Kimon 15, 1–2.
[219]2. Die Entwicklung zur Demokratie führte eine Umgestaltung der Verwaltung herbei. An Stelle der kraft Gentil- oder Amtscharisma herrschenden Honoratioren traten kurzfristig gewählte oder erloste verantwortliche und zuweilen absetzbare Funktionäre des Demos oder auch unmittelbar Abteilungen dieses letzteren selbst. Jene Funktionäre waren Beamte, aber nicht im modernen Sinne des Wortes. Sie bezogen lediglich mäßige Aufwandsentschädigungen oder wie die erlosten Geschworenen Tagegelder.
73
[219] Vgl. oben, S. 216 mit Anm. 60.
Dies, die Kurzfristigkeit des Amts, und das sehr häufige Verbot der Wiederwahl schloß die Entstehung des Berufscharakters im Sinne des modernen Beamtentums aus. Es fehlten Ämterlaufbahn und Standesehre. Die Erledigung der Geschäfte erfolgte als Gelegenheitsamt. Sie nahm bei der Mehrzahl der Beamten nicht die volle Arbeitskraft in Anspruch, und die Einnahmen waren auch für Unbemittelte nur ein, für diese allerdings begehrenswerter, Nebenerwerb. Die großen politischen Amtsstellungen freilich, vor allem die militärischen, nahmen die Arbeitskraft voll in Anspruch, konnten aber eben [A 718]deshalb auch nur von Vermögenden versehen werden, und für die Finanzbeamten war in Athen statt unsrer Amtskautionen ein hoher Zensus vorgesehen.
74
Die „Schatzmeister der Athena“ mußten der höchsten Zensusklasse angehören; im späten 4. Jahrhundert v. Chr. stellte dies in der Praxis jedoch keine entscheidende Hürde mehr dar; Aristoteles. Athenaion politeia 47, 1.
Diese Stellungen aber waren der Sache nach Ehrenämter. Der eigentliche Leiter der Politik, den die voll durchgeführte Demokratie schuf: der Demagoge, war formal im perikleischen Athen regelmäßig der leitende Militärbeamte.
75
Es gab zehn formal gleichberechtigte Strategen, aus denen einzelne wie Perikles aufgrund besonderer Aufträge und namentlich des Vertrauens des Demos (wie Weber gleich im Text hervorhebt) herausragten und somit die Rolle eines demagogos („Führer des Volkes“) übernahmen; allerdings hat man in der Forschung, zumal des 19. Jahrhunderts (u. a. Meyer, Altertum, Band 3, S. 347), verschiedentlich angenommen, daß es einen auch formal herausgehobenen Oberstrategen gegeben habe.
Aber seine wirkliche Machtstellung beruhte nicht auf Gesetz oder Amt, sondern durchaus auf persönlichem Einfluß und Vertrauen des Demos. Sie war also nicht nur nicht legitim, sondern nicht einmal legal, obwohl die ganze Verfassung der Demokratie auf sein Vorhandensein ebenso zugeschnitten war wie etwa die moderne Verfassung Englands auf die Existenz des gleichfalls nicht kraft gesetzlicher [220]Kompetenz regierenden Kabinetts.
76
[220] Vgl. die Ausführung bei Meyer, Altertum, Band 3, S. 579, „dass die attische Demokratie thatsächlich auf eine Institution zugeschnitten ist, von der die geschriebene Verfassung nichts weiss: auf die Leitung des Staats durch den vom Vertrauen des Volks auf unbegrenzte Zeit an seine Spitze berufenen Demagogen“; dessen Funktion wird ebd., S. 580, mit der eines Premierministers verglichen; ebenso bei Grote, Geschichte (wie oben, S. 218, Anm. 71), Band 3, S. 286. – Das britische Kabinett, ursprünglich ein Ausschuß des Privy Council (vgl. unten, S. 237, Anm. 128), hat sich seit Anfang des 18. Jahrhunderts zum eigentlichen Regierungsorgan entwickelt. Das Prinzip der Kabinettsregierung blieb jedoch umstritten; noch im 19. Jahrhundert ist wiederholt darauf hingewiesen worden, daß es für das Kabinett keine gesetzliche Grundlage gebe; vgl. Fischel, Eduard, Die Verfassung Englands. – Berlin: Ferdinand Schneider 1862, S. 141–144 (hinfort: Fischel, Verfassung); Gneist, Verfassungsgeschichte (wie oben, S. 76, Anm. 39), S. 691 f.; Low, Sidney, Die Regierung Englands. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1908, S. 27; Jellinek, Georg, Die Entwickelung des Ministeriums in der konstitutionellen Monarchie, in: ders., Ausgewählte Schriften und Reden, Band 2. – Berlin: Haering 1911, S. 89–139, hier S. 120 f.; sowie Hatschek, Staatsrecht (wie oben, S. 166, Anm. 71), Band 2, S. 29 („das Kabinett ist kollegialische Behörde, die der Rechtsordnung unbekannt ist“) und S. 86 f.; ders., Verfassungsgeschichte, S. 452.
Dem ebenfalls nie gesetzlich festgelegten Mißtrauensvotum des englischen Parlaments entsprach in anderen Formen die Anklage gegen die Demagogen wegen Mißleitung des Demos.
77
Diese Anklagemöglichkeit ist durch Demosthenes 20, 135 und Aristoteles, Athenaion politeia 43, 5, überliefert, doch gibt es über die praktische Anwendung – abgesehen von dem frühen Fall der ähnlich begründeten Verurteilung des Miltiades 489 v. Chr. (Herodot 6, 136) – wenig Informationen. Die relativ häufigen Strafverfahren gegen Politiker (und Generale) wurden auf die Vorwürfe des Umsturzversuchs, des Landesverrats oder der politischen Bestechlichkeit gegründet. Daneben bedienten sich Angriffe auf führende Politiker im 4. Jahrhundert v. Chr. v.a. des Instruments der graphe paranomon (vgl. oben, S. 218, Anm. 70). Merkwürdigerweise erwähnt Weber hier nicht das für die Politik des 5. Jahrhunderts v. Chr. so wichtige Verfahren des Ostrakismos. – Das Institut der Ministeranklage ist in England im 18. Jahrhundert obsolet geworden; an seine Stelle trat das parlamentarische Mißtrauensvotum, das de facto zum Sturz einer Regierung führte; vgl. Fischel, Verfassung, S. 485 f.; Hatschek, Verfassungsgeschichte, S. 660.
Der durch das Los zusammengesetzte Rat wurde jetzt ebenfalls ein einfacher geschäftsführender Ausschuß des Demos,
78
Der Rat der 500 ist von Kleisthenes eingerichtet worden; die Bestellung durch Los (aus den über 30 Jahre alten Männern) ist vermutlich später, jedoch noch in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. eingeführt worden. Die Bezeichnung als „geschäftsführender Ausschuß“ des Volkes begegnet wiederholt in der Literatur; vgl. nur Gilbert. Gustav, Beiträge zur innern Geschichte Athens im Zeitalter des Peloponnesischen Krieges. – Leipzig: B. G. Teubner. 1877, S. 80; Meyer, Altertum, Band 3, S. 574.
verlor die Gerichtsbarkeit, hatte dagegen die Vorberatung der Volksbeschlüsse (durch Probuleuma)
79
Beschlüsse der Volksversammlung konnten nur aufgrund einer Beschlußvorlage (probouleuma; „Vorberatung“) des Rates der 500 gefaßt werden; Aristoteles, Athenaion politeia 45, 4.
und die Finanzkontrolle in der Hand.
[221]In den mittelalterlichen Städten hatte die Durchführung der Herrschaft des Popolo ähnliche Konsequenzen. Massenhafte Redaktionen von Stadtrechten, Kodifikation des bürgerlichen und Prozeßrechtes, eine wahre Überflutung mit Statuten aller Art auf der einen Seite, auf der anderen eine ebenso große Überflutung mit Beamten, von denen man selbst in kleineren Städten Deutschlands zuweilen 4–5 Dutzend Kategorien zählte. Und zwar neben dem Kanzlei- und Büttelpersonal auf der einen und den Bürgermeistern auf der anderen Seite eine ganze Schar spezialisierter Funktionäre, welche lediglich gelegenheitsamtlich tätig wurden und für welche die Amtseinkünfte, dem Schwerpunkt nach Sporteln, nur einen begehrenswerten Nebenerwerb bildeten. Den antiken wie den mittelalterlichen Städten, wenigstens den Großstädten, gemeinsam war ferner die Erscheinung, daß zahlreiche Angelegenheiten, welche heute in gewählten Repräsentantenver[WuG1 570]sammlungen behandelt zu werden pflegen, durch gewählte oder erloste Spezialkollegien erledigt wurden. So in der hellenischen Antike die Gesetzgebung, daneben aber auch andere politische Geschäfte, in Athen z. B. die Eidesleistung bei Bundesverträgen und die Verteilung der Bundes[A 719]genossentribute.
80
[221] Es ist nicht klar, an welches Kollegium für Vertragsabschlüsse Weber denkt. Verträge wurden in Athen im Regelfall vom Rat und den Strategen beschworen; hinzu konnten weitere Magistrate kommen, manchmal auch Bürger ohne Amt, so daß die Zusammensetzung der mit der Eidesleistung Beauftragten von Fall zu Fall wechseln konnte. – Mit dem zweiten Beispiel ist wohl das durch Los bestellte Gremium der Apodektai gemeint, das für die Verteilung der Staatseinnahmen, vermutlich einschließlich der Tribute, auf verschiedene Kassen zuständig war; vgl. Böckh, August, Die Staatshaushaltung der Athener, 3. Aufl., hg. und mit Anmerkungen begleitet von Max Fränkel, Band 1. – Berlin: Georg Reimer 1886, S. 193–195 (hinfort: Böckh, Staatshaushaltung).
Im Mittelalter sehr oft die Wahl sowohl von Beamten, und zwar gerade der wichtigsten, ebenso aber zuweilen die Zusammensetzung der wichtigsten beschließenden Kollegien. Dies ist eine Art von Ersatz für das moderne Repräsentativsystem, welches, in moderner Form, damals nicht existierte. „Repräsentanten“ gab es, dem überkommenen ständischen und Privilegiencharakter aller politischen Rechte entsprechend, nur als Vertreter von Verbandseinheiten, in der antiken Demokratie von kultisch oder staatlich, eventuell bundesstaatlich, zusammengeschlossenen Gemeinschaften, im Mittelalter von Zünften und anderen Korporationen. Nur Sonderrechte von Verbänden wurden „vertreten“, nicht aber: eine [222]wechselnde „Wählerschaft“ eines Bezirks, wie im modernen Parlament
t
[222]A: Proletariat
.
Den antiken wie den mittelalterlichen Städten gemeinsam ist endlich auch das Auftreten der Stadttyrannis oder doch der Versuche zur Errichtung einer solchen. Zwar war sie in beiden Fällen eine lokal beschränkte Erscheinung. Im hellenischen Mutterland ergriff sie im 7. und 6. Jahrhundert nacheinander eine Reihe von großen Städten, darunter Athen, hat aber nur wenige Generationen bestanden.
81
[222] So die Tyrannis der Kypseliden in Korinth (627–585 v. Chr., nach anderer Datierung ca. 620–ca. 550 v. Chr.), der Orthagoriden in Sikyon (ca. 600–510 v. Chr.), der Peisistratiden in Athen (561–510 v. Chr., mit Unterbrechungen).
Die Stadtfreiheit ging hier im allgemeinen erst durch Unterwerfung von seiten überlegener Militärmächte zugrunde. Dagegen war ihre Verbreitung im Kolonialgebiet: in Kleinasien, vor allem aber in Sizilien, dauerhafter und teilweise die definitive Form des Stadtstaates bis zu dessen Untergang. Die Tyrannis war überall Produkt des Ständekampfes. Vereinzelt, so in Syrakus, scheinen die vom Demos bedrängten Geschlechter einem Tyrannen zur Herrschaft verholfen zu haben.
82
Gelon ergriff 485 v. Chr. die Macht in Syrakus mit Hilfe der zuvor aus der Stadt vertriebenen Grundherren; Herodot 7, 155, 2.
Im ganzen aber waren es Teile des Mittelstandes und der von den Geschlechtern Bewucherten
u
A: bewuchteren
, auf die er sich stützte, und seine Gegner die Geschlechter, die er verbannte, deren Güter er konfiszierte und die seinen Sturz betrieben. Der typische antike Klassengegensatz: die stadtsässigen wehrhaften Patrizier als Geldgeber, die Bauern als Schuldner, wie er bei den Israeliten und in Mesopotamien ganz ebenso bestand wie in der griechischen und italischen Welt, kam darin zur Geltung. In Babylon ist das platte
a
A: gelobte
Land fast ganz in den Besitz der Patrizier gelangt, deren Kolonen die Bauern geworden waren.
83
Die zeitliche Einordnung dieser Feststellung ist unklar. Zur Existenz privater Grundhörigkeit in altbabylonischer Zeit (neben den Pacht- und Dienstverhältnissen aus der Vergabe von Land durch den Palast) hat sich Weber unterschiedlich geäußert (vgl. Agrarverhältnisse3, S. 76 f. (MWG I/6), mit Judentum I, S. 121 f. (MWG I/21)); der von ihm angeführte Sachverhalt läßt jedoch auch an die Verhältnisse im neubabylonischen Reich des 7.–6. Jahrhunderts v. Chr. denken, wo sich – aufgrund der zuvor jahrhundertelang bestehenden Schwäche der Zentralgewalt – privater Großgrundbesitz größeren Stils findet.
In Israel war die Schuldknechtschaft [223]Gegenstand der Regelung im „Bundesbuch“.
84
[223] Das Bundesbuch ist die Rechtssammlung Exodus (2. Mose) 20, 22 – 23, 19; Rechtsfolgen der Schuldversklavung sind ebd. 21, 2–11 geregelt; vgl. weiter Deuteronomium (5. Mose) 15, 12–17.
Alle Usurpatoren von Abimelech bis Judas Makkabäus
85
Einen Beleg für Schuldknechte in der Gefolgschaft des Judas Makkabäus sieht Weber in 1. Makkabäer 3, 9; vgl. Judentum I, S. 84 und 88 (MWG I/21).
stützten sich auf flüchtige [A 720]Schuldknechte, die Verheißung des Deuteronomium geht dahin: daß Israel „Jedermann leihen“, d. h. daß die Bürger Jerusalems Schuldherrn und Patrizier, die andern eben ihre Schuldknechte und Bauern sein werden.
86
Weber bezieht sich auf Deuteronomium (5. Mose) 15, 6: „Wenn der Herr, dein Gott, dich segnet, wie er es dir zugesagt hat, dann kannst du vielen Völkern gegen Pfand leihen, du selbst aber brauchst nichts zu verpfänden; du wirst über viele Völker Gewalt haben, über dich aber werden sie keine Gewalt haben“. – Diese Stelle gilt zusammen mit Deuteronomium 23, 21 und 28, 12 als Beleg dafür, daß die Vergabe zinspflichtiger Darlehen nur an Fremde, nicht jedoch Israeliten erlaubt ist (so auch Weber in: Agrarverhältnisse3, S. 94 (MWG I/6)). Weber nimmt an, daß diese Teile des Deuteronomiums – auch wenn sie nicht zum 621 v. Chr. angeblich im Tempel aufgefundenen und dann von König Josia als verbindlich deklarierten „Gesetzbuch“ gehört haben sollten – jedenfalls aus der Zeit der assyrischen Vorherrschaft stammen, „als das Reich Juda in Wahrheit schon nahezu mit der Polis Jerusalem nebst den von ihr politisch abhängigen Kleinstädten und Dörfern identisch war“; Judentum I, S. 122 (MWG I/21).
Ähnlich lagen die Klassengegensätze in Hellas und Rom. Die einmal an
b
[223]A: in
der Macht befindliche Tyrannis hat in der Regel die kleinen Bauern, eine mit ihnen politisch verbündete Koterie
87
Frz.: geschlossene Gesellschaft, Grüppchen, Klüngel.
des Adels und Teile der städtischen Mittelklassen für sich gehabt. In der Regel stützte sie sich auf Leibwachen, deren Bewilligung für den Volksführer
c
In A folgt: die
durch die Bürgerschaft hier (z. B. bei Peisistratos)
d
A: Peisistrates)
88
Eine von der Volksversammlung bewilligte Leibwache ermöglichte Peisistratos um 560 v. Chr., die Macht in Athen zu ergreifen; Herodot 1, 59, 5 f.; Aristoteles, Athenaion politeia 14, 1.
ebenso wie beim Volkscapitan des Mittelalters meist der erste Schritt war, und Söldner. In sachlicher Hinsicht betrieb sie sehr oft eine ähnliche ständische Ausgleichspolitik wie die des „Aisymneten“ (Charondas
e
A: (Chacrudas
, Solon).
89
Charondas aus Katane (heute: Catania) war Gesetzgeber in griechischen Kolonien auf Sizilien und in Süditalien, vermutlich in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr.; Solon war 594 v. Chr. in Athen mit einer Neuordnung betraut, die v.a. die Verschuldung der Bauern als Ursache der sozialen Spannungen beseitigen sollte.
Zwischen der Neuordnung des Staats und Rechtes durch diese und der Erhebung eines [224]Tyrannen bestand augenscheinlich oft eine Alternative. Die soziale und ökonomische Politik sowohl der einen wie der anderen sucht, wenigstens im Mutterlande, den Verkauf von Bauernland an den stadtsässigen Adel und die Zuwanderung der Bauern in die Stadt zu verhindern, hie und da den Sklavenankauf, den Luxus, den Zwischenhandel, die Getreideausfuhr zu beschränken, alles Maßregeln, welche wesentlich eine kleinbürgerliche, „stadtwirtschaftliche“ Politik bedeuteten entsprechend der „Stadtwirtschaftspolitik“ der mittelalterlichen Städte, von der wir noch zu sprechen haben werden.
90
[224] Siehe unten, S. 241–244.
[WuG1 571]Überall fühlten sich die Tyrannen und galten sie als spezifisch illegitime Herren. Dies unterschied ihre ganze Stellung, die religiöse wie die politische, vom alten Stadtkönigtum. Regelmäßig waren sie Beförderer neuer emotionaler Kulte, so namentlich des Dionysoskults, im Gegensatz zu den ritualistischen Kulten des Adels.
91
Die Dionysoskulte, zu denen die Aufführung von Dithyramben (Chorlyrik) gehörte, sind von den Tyrannen Kleisthenes in Sikyon (Herodot 5, 67) und Periander in Korinth (Herodot 1, 23) gefördert worden; Peisistratos hat in Athen das Fest der Großen Dionysien zu einer Kultveranstaltung der Polis ausgebaut, bei der – erstmals vermutlich 534 v. Chr. – Tragödien aufgeführt wurden; vgl. Kern, [Otto], „Dionysos (2)“, in: RE, Band 5, 1, 1903, Sp. 1010–1046, hier Sp. 1021–1023.
In aller Regel suchten sie die äußeren Formen einer kommunalen Verfassung, also den Anspruch der Legalität, zu wahren. Regelmäßig hinterließ ihr Regiment bei seinem Sturze die Geschlechter geschwächt und daher genötigt, die nur durch Mithilfe der Nichtadligen mögliche Vertreibung des Tyrannen durch weitgehende Konzessionen an den Demos zu erkaufen. Die kleisthenische Mittelstandsdemokratie schloß sich an die Vertreibung der Peisistratiden
f
[224]A: Peisistratolen
an.
92
Die Vertreibung der Peisistratiden erfolgte 510 v. Chr; die Verfassungsreform des Kleisthenes wahrscheinlich 508/507 v. Chr.
Stellenweise hat freilich auch eine Kaufmannsplutokratie die Tyrannen abgelöst. Im Effekt wirkte diese Tyrannis, welche durch ökonomische Klassengegensätze begünstigt war, wenigstens im [A 721]Mutterland im Sinne des timokratischen oder demokratischen Ständeausgleichs, dessen Vorläufer sie häufig war. Die gelungenen oder mißlungenen Versuche der Errichtung einer [225]Tyrannis in der hellenischen Spätzeit dagegen wuchsen aus der Eroberungspolitik des Demos heraus. Sie hingen mit dessen später zu besprechenden
93
[225] Siehe unten, S. 264, 268 und 287 f.
militärischen Interessen zusammen. Siegreiche Heerführer wie Alkibiades und Lysandros erstrebten sie.
94
Alkibiades, der Initiator der athenischen Sizilien-Expedition 415 v. Chr., wurde des Strebens nach der Tyrannis verdächtigt; Thukydides 6, 15, 4. Das gleiche galt für den spartanischen Feldherrn Lysander, der nach dem Sieg über Athen 404 v. Chr. in den unter spartanische Kontrolle geratenen Städten eine eigenmächtige Herrschaft ausübte und die Einführung einer Wahlmonarchie in Sparta angestrebt haben soll; Plutarch, Lysander 21, 1 und 24; Xenophon, Hellenika 3, 5, 13; Diodor 14, 13, 1 ff.; vgl. Vischer, Wilhelm, Alkibiades und Lysandros, in: ders., Kleine Schriften, Band 1: Historische Schriften, hg. von Heinrich Gelzer. – Leipzig: S. Hirzel 1877, S. 87–152, hier S. 146–151; sowie Burckhardt, Kulturgeschichte (wie oben, S. 80, Anm. 57), Band 1, S. 129 f.
Im hellenischen Mutterland blieben diese Versuche bis in die hellenistische Zeit erfolglos und zerfielen auch die militärischen Reichsbildungen des Demos aus später zu erörternden Gründen.
95
Siehe unten, S. 290.
In Sizilien dagegen wurde sowohl die alte expansive Seepolitik im tyrrhenischen Meer wie später die nationale Verteidigung gegen Karthago von Tyrannen geführt, welche[,] auf Soldheere neben den Bürgeraufgeboten gestützt, mit äußerst rücksichtslosen Maßregeln orientalischen Gepräges: massenhaften Zwangseinbürgerungen von Söldnern und Umsiedlungen unterworfener Bürgerschaften[,] eine interlokale Militärmonarchie schufen.
96
Gelon errichtete nach seiner Machtübernahme in Syrakus (485 v. Chr.) ein großes Reich im östlichen Sizilien und wehrte 480 v. Chr. die Karthager ab. Sein Nachfolger Hieron dehnte seine Macht bis auf Unteritalien aus und legte nach seinem Sieg über die Etrusker in einer Seeschlacht vor Kyme (lat. Cumae) 474/473 v. Chr. eine Kolonie auf Aenaria (heute: Ischia) an. Dionysios I. (Regierungszeit 406–367 v. Chr.) brachte den umfassenden karthagischen Angriff auf Sizilien (409–405 v. Chr.) zum Erliegen und beherrschte nach weiteren Kämpfen zur „Befreiung der Sikelioten“ von der karthagischen Herrschaft den größten Teil Siziliens (sowie schließlich Gebiete in Süditalien und an der Adria). Die wichtigsten Belege für die Umsiedlungen und Zwangseinbürgerungen finden sich bei Herodot 7, 156; Thukydides 6, 5, 3; Diodor 11, 72, 3; Polyainos, Strategemata 1, 27, 3 (Gelon); Diodor 11, 49, 1 f. und 11, 67, 7 (Hieron); Diodor 14, 7, 4 f.; 14, 15, 3; 14, 58, 2; 14, 78, 2 und 14, 96, 4 (Dionysios); vgl. auch Burckhardt, Kulturgeschichte, Band 1, S. 193–197.
Rom endlich, wo in altrepublikanischer Zeit die Anläufe zur Tyrannis gescheitert waren,
97
Entsprechende Versuche werden Spurius Cassius (486/485 v. Chr.), Spurius Maelius (439 v. Chr.) und Marcus Manlius Capitolinus (384 v. Chr.) zugeschrieben; vgl. Mommsen, Theodor, Sp. Cassius, Μ. Manlius, Sp. Maelius, die drei Demagogen der älteren republikanischen Zeit, in: ders., Römische Forschungen, Band 2. – Berlin: Weidmann 1879, S. 153–220.
[226]verfiel im Gefolge der Eroberungspolitik aus sozialen und politischen Gründen der Militärmonarchie von innen heraus, wovon ebenfalls gesondert zu sprechen sein wird.
98
[226] Dieser Hinweis geht im vorliegenden Text nicht auf; vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 45 mit Anm. 1.
Im Mittelalter blieb die Stadttyrannis wesentlich, wenn auch nicht ganz, auf Italien beschränkt. Die italienische Signorie, auf welche Eduard
g
[226]A: Ernst
Meyer als Parallele der antiken Tyrannis hinweist,
99
Weber bezieht sich wahrscheinlich auf die Bemerkung zur griechischen Tyrannis bei Meyer, Altertum, Band 2, S. 613: „Die griechische Entwickelung in dieser Epoche hat ihre Parallele in der italienischen seit dem 13. Jahrhundert“.
hat mit dieser das gemein: daß sie überwiegend in der Hand einer begüterten Familie und im Gegensatz gegen die eigenen Standesgenossen entstand, daß sie ferner, als erste politische Macht in Westeuropa, eine rationale Verwaltung mit (zunehmend) ernannten Beamten durchführte, und daß sie dabei doch meist gewisse Formen der übernommenen kommunalen Verfassung aufrechterhielt. Aber im übrigen treten hier wichtige Unterschiede zutage. Namentlich insofern, als sich zwar das direkte Herauswachsen einer Signorie aus dem Ständekampf häufig findet, oft aber auch die Signorie erst am Ende der Entwicklung nach dem Siege des Popolo und zuweilen erst erhebliche Zeit nachher entstand. Ferner darin, daß sie meist aus den legalen Ämtern des Popolo heraus sich entwickelte, während in der hellenischen Antike gerade die Stadttyrannis nur eine der Zwischenerscheinungen zwischen der Geschlechterherrschaft und der Timokratie oder Demokratie darstellte. Die [A 722]formale Entwicklung der Signorien vollzog sich verschieden, wie namentlich E[rnst] Salzer gut dargelegt hat.
100
Salzer, Anfänge, S. 27 ff.
Eine ganze Reihe von Signorien entstand ganz direkt als Produkt der Revolten des Popolo aus den neuen Popolanenämtern. Der Volkscapitan oder der Podesta der Merkadanza oder auch der Podesta der Kommune wurden vom Popolo auf zunehmend längere Amtsfristen oder auch auf Lebenszeit gewählt. Solche langfristigen höchsten Beamten finden sich schon um die Mitte des 13. Jahrhunderts in Piacenza, Parma, Lodi, Mailand. In der letztgenannten Stadt wurde die Herrschaft der [227]Visconti
101
[227] De facto seit 1277; nach Salzer, Anfänge, S. 116–120, ist jedoch fraglich, ob die in jenem Jahr erfolgte Wahl von Otto Visconti schon auf Lebenszeit galt. Die Visconti herrschten bis 1477 über Mailand.
ebenso wie die der Scaliger in Verona
102
Ein Mitglied der Familie della Scala ist 1259 erstmals zum Podestà in Verona gewählt worden; 1277 wurde Alberto della Scala Volkscapitan auf Lebenszeit; die Herrschaft blieb nach seinem Tod (1301) in der Familie erblich (bis 1388); Salzer, Anfänge, S. 121 ff.
und der Este in Mantua
103
Nach Salzer, Anfänge, S. 33 und 252, war das Amt des Podestà in Mantua seit 1212/13 und in Modena seit 1292/93 in der Familie Este (die zeitweise auch noch in Ferrara herrschte) erblich. Da Weber vom „Ende des 13. Jahrhunderts“ spricht, ist im Text möglicherweise „Modena“ statt „Mantua“ zu lesen.
schon Ende des 13. Jahrhunderts faktisch erblich. Neben der Entwicklung zur Lebenslänglichkeit und der zuerst faktischen, später rechtlichen, Erblichkeit ging die Erweiterung der Macht[WuG1 572]befugnisse des höchsten Beamten her. Von einer arbiträren[,] rein politischen Strafgewalt aus entwickelte sie sich zur Generalvollmacht (arbitrium generale)[,] konkurrierend mit dem Rat und der Gemeinde beliebige Verfügungen zu treffen, schließlich zum Dominium mit dem Recht[,] die Stadt libero arbitrio zu regieren, die Ämter zu besetzen und Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen.
104
Laut Salzer, Anfänge, S. 76–80 und 171, bezieht sich diese Ermächtigung des Podestà, nach eigenem Ermessen zu entscheiden, in erster Linie auf seine Rechtsprechung in Strafsachen. Eine entsprechende Vollmacht wurde in Bologna bald nach 1252, in Modena und Padua 1266 erteilt.
Die Maßregel hatte zwei verschiedene, freilich der Sache nach oft identische politische Quellen. Einmal die Parteiherrschaft als solche. Vor allem die stetige Bedrohung des ganzen politischen und damit indirekt des ökonomischen, namentlich auch des Bodenbesitzstandes durch die unterlegene Partei. Speziell die kriegsgewohnten Geschlechter und die Angst vor Verschwörungen nötigten zur Einsetzung unumschränkter Parteihäupter. Dann die auswärtigen Kriege, die Bedrohung mit Unterwerfung durch Nachbarkommunen oder andere Gewalthaber. Wo dies der wesentliche Grund war, war meist die Schaffung eines außerordentlichen Militärkommandos: der Kriegscapitanat, übertragen entweder einem fremden Fürsten oder einem Condottiere, die Quelle der Signorie[,] und nicht die Parteiführerstellung des Volkscapitans. Dabei konnte die Ergebung der Stadt in das Dominium eines Fürsten zum Zweck des Schutzes gegen äußere Bedrohung in einer Art erfolgen, welche die Befugnisse des Dominus sehr eng begrenzte. In[228]nerhalb der Stadt waren es die[,] von der aktiven Beteiligung an der Verwaltung faktisch ausgeschlossenen[,] breiten unteren Schichten der Gewerbetreibenden, welche der Gewalthaber am leichtesten für sich zu gewinnen pflegte, teils [A 723]weil für sie der Wechsel keinen Verlust bedeutete und die Entstehung eines Herrenhofes ökonomische Vorteile versprach, teils infolge der emotionalen Zugänglichkeit der Massen für persönliche Machtentfaltung. In aller Regel haben daher die Aspiranten auf die Signorie die Parlamente als Instanz für die Gewaltübertragung benutzt.
105
[228] Einschlägige Beispiele aus dem 13. und 14. Jahrhundert führt Salzer, Anfänge, S. 224 f., an.
Aber je nach den Umständen haben gelegentlich auch die Geschlechter oder die Kaufmannschaft, bedroht durch politische oder ökonomische Gegner, zu dem Mittel der Signorie gegriffen, welches zunächst nirgends als die dauernde Errichtung einer Monarchie angesehen wurde. Städte wie Genua haben wiederholt mächtigen Monarchen, in deren Dominium sie sich begaben, sehr beengende Bedingungen, vor allem: begrenzte Wehrmacht, fest begrenzte Geldzahlungen auferlegt und sie gelegentlich ihrer Stellung entsetzt. Gegenüber auswärtigen Monarchen, z. B. dem König von Frankreich von seiten Genuas, gelang dies.
106
Webers allgemein gehaltene Bemerkungen zu den Beziehungen zwischen Genua und Frankreich lassen sich zeitlich nicht eindeutig einordnen. Das Eingehen nur begrenzter militärischer Verpflichtungen zeigt z. B. der 1269 mit Karl von Anjou, König von Neapel und Sizilien (und Bruder des französischen Königs Ludwig IX.), abgeschlossene Beistandsvertrag, mit dem sich Genua u. a. zur Stellung von zehn Galeeren für jährlich drei Monate verpflichtete; vgl. Caro, Georg, Genua und die Mächte am Mittelmeer 1257–1311. Ein Beitrag zur Geschichte des XIII. Jahrhunderts, Band 1. – Halle: Max Niemeyer 1895, S. 227–230. Zur Abschüttelung französischer Herrschaft kam es Anfang des 15. Jahrhunderts. Genua hatte 1396 gegen das Vormachtstreben Mailands unter Giangaleazzo Visconti (1351–1402, seit 1385 an der Macht, 1395 Herzog von Mailand) Schutz bei Frankreich gesucht; im Namen des französischen Königs Karl VI. hatte 1401 der Marschall Boucicaut in Genua das Regiment übernommen, wurde dann aber 1409 durch einen Aufstand vertrieben.
Allein gegenüber einem in der Stadt einmal ansässig gemachten Signore gelang es schwer. Und vor allem kann man beobachten, daß sowohl die Kraft wie auch die Neigung zum Widerstand bei den Bürgern im Lauf der Zeit abnahm. Die Signoren stützten sich auf Soldheere und zunehmend auch auf Verbindungen mit den legitimen Autoritäten. Nach der gewaltsamen Unterwerfung von Florenz mit Hilfe spanischer Truppen
107
Im Jahr 1530 eroberten die Medici Florenz, aus dem sie 1527 vertrieben worden waren, mit der Unterstützung von Kaiser Karl V. zurück.
war die erbliche Signorie [229]außer in Venedig und Genua in Italien die definitiv durch kaiserliche und päpstliche Anerkennung legitimierte Staatsform. Jener abnehmende Widerstand der Bürgerschaft aber erklärt sich zunächst aus einer Reihe von Einzelumständen: der Hofstaat des Signore schuf beim Adel und Bürgertum wie überall so auch hier mit steigender Dauer zunehmende Schichten von Interessenten, soziale und ökonomische, an seinem Fortbestande. Die steigende Sublimierung der Bedürfnisse und die abnehmende ökonomische Expansion bei steigender Empfindlichkeit der ökonomischen Interessen der bürgerlichen Oberschichten gegen Störungen des befriedeten Verkehrs, ferner das allgemein
h
[229]A: allgemeine
mit zunehmender Konkurrenz und wachsender ökonomischer und sozialer Stabilität abnehmende Interesse der Gewerbetreibenden an politischer Aspiration und ihre dadurch erklärliche Zuwendung zu reinen Erwerbszwecken oder friedlichem Rentengenuß und die allgemeine Politik der Fürsten, welche beide Entwicklungen im eigenen Vorteil förderten, führten zu einem rapiden Nachlassen des Interesses am politischen [A 724]Schicksal der Stadt. Überall konnten sowohl die großen Monarchien, wie etwa das französische Königtum, wie die Signoren der einzelnen Städte auf das Interesse der Unterschichten an Befriedung der Stadt und an Regelung des Erwerbs im Sinne kleinbürgerlicher [WuG1 572]Nahrungspolitik rechnen. Die französischen Städte sind von den Königen mit Hilfe dieser Interessen der Kleinbürger unterworfen worden, und in Italien haben ähnliche Tendenzen die Signorie gestützt. Wichtiger als alles aber war ein wesentlich politisches Moment: die Befriedung der Bürgerschaft durch ihre ökonomische Inanspruchnahme und Entwöhnung vom Waffendienst und die planmäßige Entwaffnung von seiten des Fürsten. Zwar war diese nicht immer von Anfang an ein Bestandteil der Politik der Fürsten, manche von ihnen haben im Gegenteil gerade erst rationale Rekrutierungssysteme geschaffen. Aber entsprechend dem allgemeinen Typus patrimonieller Heeresbildung waren diese oder wurden sie bald zu einer Aushebung der Unbemittelten und also dem republikanischen Bürgerheere wesensfremd. Vor allem aber hatte der Übergang zum Soldheer und zur kapitalistischen Deckung des Militärbedarfes durch Unternehmer
i
A: Unternehmer,
(Condottieri)[,] bedingt durch [230]steigende Unabkömmlichkeit der Bürger und steigende Notwendigkeit der berufsmäßigen Schulung für den Waffendienst[,] den Fürsten weitgehend vorgearbeitet
k
[230]A: vorbereitet
. Schon in den Zeiten des Bestandes der freien Kommunen hatte dies der Befriedung und Entwaffnung der Bürger stark vorgearbeitet. Dazu trat dann die persönliche und politische Verbindung der Fürsten mit den großen Dynastien, deren Macht gegenüber der
l
A: dem
Bürgeraufstand aussichtslos wurde. Es waren also in letzter Instanz die uns in ihrer allgemeinen Bedeutung bekannten Umstände:
108
[230] Wenn diese Bemerkung als Querverweis Webers aufzufassen ist, läßt sie sich im vorliegenden Text nicht auflösen; sie könnte bezogen werden auf Ausführungen in WuG1, v.a. S. 665, 687 und 729 (MWG I/22-4).
zunehmende ökonomische Unabkömmlichkeit der Erwerbenden, zunehmende militärische Disqualifikation der gebildeten Schichten des Bürgertums und zunehmende Rationalisierung der Militärtechnik in der Richtung des Berufsheeres, welche in Verbindung mit der Entwicklung ökonomisch oder sozial höfisch interessierter Adels-, Rentner- und Pfründnerstände der Signorie die Chancen gaben[,] zu einem erblichen patrimonialen Fürstentum sich auszuwachsen. Wurde sie dies, so trat sie damit in den Kreis der legitimen Gewalten ein.
Die Politik der Signorien zeigt nun vor allem in einem Punkte, der hier allein interessiert, eine ihnen mit den antiken Tyrannen gemeinsame Tendenz: in der Sprengung der politischen und öko[A 725]nomischen Monopolstellung der Stadt gegenüber dem platten Lande. Die Landbevölkerung war es sehr oft, mit deren Hilfe – wie in der Antike – der Gewalthaber die Übertragung der Herrschaft erzwang (so 1328 in Pavia).
109
Gemeint sein muß Padua (nicht Pavia); dort fand 1328 die Herrschaftsübertragung unter Akklamationen durch die Bevölkerung statt; vgl. Cittadella, Giovanni, Storia della Dominazione Carrarese in Padova, vol. 1. – Padova: Tipi del seminario 1842, S. 117–125.
Die freie Stadtbürgerschaft hatte nach dem Sieg über die Geschlechter sehr oft im eigenen und politischen Interesse die Grundherrschaft gesprengt, die Bauern befreit und die freie Bewegung des Bodens zum kaufkräftigsten Reflektanten gefördert. Der Erwerb massenhaften Grundbesitzes aus den Händen der Feudalherren durch die Bürger und z. B. der Ersatz der Fron[231]hofsverfassung durch die Mezzadria in Toscana
110
[231] Unter „mezzadria“ (ital.: Teilpacht oder Teilbau) versteht man ein Rechtsverhältnis, bei dem der Verpächter eines landwirtschaftlichen Betriebes oder Grundstücks am Rohertrag, den der Pächter erwirtschaftete, einen festen Anteil hatte. In Italien war der Teilbau seit der Mitte des 13. Jahrhunderts am stärksten in der Toskana, in Umbrien, den Marken und der Emilia verbreitet; vgl. Steinbrück, K[arl], „Teilbau und Teilpacht“, in: HdStW3, Band 7, S. 1146–1150, hier S. 1146 f.
– ein auf das Nebeneinander eines vorwiegend stadtsässigen, mit dem Lande nur durch Villeggiaturen verknüpften Herren und seiner landsässigen Teilpächter zugeschnittenes Institut – vollzog sich im Gefolge der Herrschaft des Popolo grasso. Von jeglicher Teilnahme an der politischen Gewalt aber war die Landbewohnerschaft ausgeschlossen, auch soweit sie aus freibäuerlichen Eigentümern bestand. Wie die Mezzadria privatwirtschaftlich, so war die Stadtpolitik dem Lande gegenüber organisatorisch auf städtische Konsumenteninteressen und nach dem Siege der Zünfte auf städtische Produzenteninteressen zugeschnitten. Die Fürstenpolitik hat dies keineswegs sofort und überhaupt nicht überall geändert. Die berühmte physiokratische Politik des Großherzogs
m
[231]A: großen Herzogs
Leopold von Toscana im 18. Jahrhundert war beeinflußt durch bestimmte naturrechtliche Anschauungen und nicht in erster Linie agrarische Interessenpolitik.
111
Die Mitte des 18. Jahrhunderts in Frankreich entwickelte physiokratische Lehre forderte, daß das Wirtschaftsleben frei nach der in ihm angelegten „natürlichen Ordnung“ ablaufen sollte, und sah in der Landwirtschaft die eigentliche Quelle des Nationalreichtums. Zu der umfassenden Reformpolitik Leopolds I. von Toskana (Regierungszeit 1765–1792) gehörte eine Agrarreform, die eine Verbesserung der Lage der Pächter mit sich bringen sollte, sowie die Freigabe des Getreidehandels; vgl. Reumont, Alfred von, Geschichte Toscana’s seit dem Ende des florentinischen Freistaats, 2. Theil: Haus Lothringen-Habsburg, J[ahre] 1737–1859 (Geschichte der europäischen Staaten, hg. von A[rnold] H. Heeren, F[riedrich] A. Ukert und W[ilhelm] v[on] Giesebrecht). – Gotha: Friedrich A. Perthes 1877, S. 116–148.
Allein in jedem Fall war die im ganzen auf Interessenausgleich und Vermeidung von schroffen Kollisionen hingewiesene Politik der Fürsten jedenfalls nicht mehr die Politik einer das Land lediglich als Mittel zum Zweck benutzenden Stadtbürgerschaft.
Die Herrschaft der Stadtfürsten war mehrfach und schließlich überwiegend Herrschaft über mehrere Städte. Keineswegs aber war dabei die Regel, daß aus diesen bisher selbständigen Stadtterritorien nun ein im modernen Sinne einheit[WuG1 574]licher staatlicher Ver[232]band geschaffen worden wäre. Im Gegenteil haben die verschiedenen zur Herrschaft eines Herren zusammengeschlossenen Städte nicht selten nach wie vor durch Gesandte miteinander zu verkehren das Recht und auch den Anlaß gehabt. Ihre Verfassung wurde keineswegs regelmäßig vereinheitlicht. Sie wurden
n
[232]A: wurde
nicht zu Gemeinden, welche kraft Delegation des Staates einen [A 726]Teil von dessen Aufgaben erfüllten. Diese Entwicklung hat sich vielmehr erst allmählich und parallel mit der gleichartigen Umgestaltung der großen modernen Patrimonialstaaten vollzogen. Ständische Vertretungen, wie sie namentlich das sizilianische Reich schon im Mittelalter,
112
[232] Im Jahr 1232 erhielten die sizilianischen Städte von Friedrich II. das Privileg, an Hoftagen des Königs teilzunehmen. Insbesondere kam ihnen das Recht zu, bei Verhandlungen über die Höhe ihrer Steuerbelastungen mitzuberaten und mitzuentscheiden; Mayer, Verfassungsgeschichte (wie oben, S. 130, Anm. 83), Band 1, S. 321 f.
aber auch andere alte patrimoniale Monarchien kannten, fehlten den aus Stadtterritorien entstandenen Herrschaftsgebilden meist gänzlich. Die wesentlichen organisatorischen Neuerungen waren vielmehr: 1. Das Auftreten der herrschaftlichen, auf unbestimmte Zeit angestellten Beamten neben den kurzfristig gewählten Kommunalbeamten
o
A: Kriminalbeamten
; 2. die Entwicklung kollegialer Zentralbehörden vor allem für Finanz- und Militärzwecke. Dies war allerdings ein wichtiger Schritt auf dem Wege der Rationalisierung der Verwaltung. Technisch besonders rational konnte die stadtfürstliche Verwaltung deshalb gestaltet werden, weil viele Kommunen in ihrem eigenen finanziellen und militärischen Interesse statistische Grundlagen dafür in einem sonst nicht üblichen Grade geschaffen hatten und weil die Kunst der Buch- und Aktenführung von den Bankhäusern der Städte technisch entwickelt worden war
p
A: waren
.
113
Die in den italienischen Bank- und Handelshäusern entwickelte doppelte Buchführung soll bereits 1348 bzw. 1432 in den Rechnungsbüchern der Städte Genua und Florenz angewendet worden sein; vgl. Adler, A., „Buchführung“, in: HdStW3, Band 3, S. 244–260, hier S. 248.
Im übrigen wirkte bei der unzweifelhaften Rationalisierung der Verwaltung wohl mehr das Beispiel Venedigs auf der einen Seite, des sizilianischen Reiches
q
A: das sizilianische Reich
auf der anderen Seite[,] und zwar wohl mehr durch Anregung als durch Übernahme.
Der Kreislauf der italienischen Städte von Bestandteilen patrimonialer oder feudaler Verbände durch eine Zeit revolutionär er[233]rungener Selbständigkeit
r
[233]A: Selbständigkeits-
und eigenständiger Honoratiorenherrschaft, dann der Zunftherrschaft hindurch zur Signorie und schließlich zu Bestandteilen relativ rationaler patrimonialer Verbände hat in dieser Art kein volles Gegenbild im übrigen Okzident. Vor allem fehlt ein solches für die Signorie, die nur in ihrem Vorstadium, dem Volkskapitanat, in einigen der machtvollsten Bürgermeister nördlich der Alpen Parallelen hat. Dagegen war die kreisläufige Entwicklung in einem Punkt allerdings universell: die Städte waren in der Karolingerzeit nichts oder fast nichts als Verwaltungsbezirke
114
[233] Vgl. oben, S. 86.
mit gewissen Eigentümlichkeiten der ständischen Struktur, und sie näherten sich im modernen patrimonialen Staat dieser Lage wiederum stark an und zeichneten sich nur durch korporative Sonderrechte aus. In der Zwischenzeit aber waren sie in irgendeinem Grade überall „Kommunen“ mit politischen Eigenrechten und au[A 727]tonomer Wirtschaftspolitik. Ähnlich verlief nun auch die Entwicklung in der Antike. Und doch ist weder der moderne Kapitalismus noch der moderne Staat auf dem Boden der antiken Städte gewachsen, während die mittelalterliche Stadtentwicklung für beide zwar keineswegs die allein ausschlaggebende Vorstufe und gar nicht ihr Träger war, aber als ein höchst entscheidender Faktor ihrer Entstehung allerdings nicht wegzudenken ist. Trotz aller äußerlichen Ähnlichkeiten der Entwicklung müssen danach doch auch tiefgreifende Unterschiede festzustellen sein. Diesen müssen wir uns nun zuwenden. Wir werden am ehesten die Chance haben sie zu erkennen, wenn wir die beiderseitigen Städtetypen in ihren charakteristischsten Formen einander gegenüberstellen.
115
Siehe unten, S. 253 ff.
Dazu müssen wir uns aber zunächst klar machen, daß auch innerhalb der mittelalterlichen Städte sehr starke, von uns vorerst nur in einigen Punkten beobachtete Strukturunterschiede obwalten. Zunächst aber verdeutlichen wir uns noch einmal die Gesamtlage der mittelalterlichen Städte zu jener Zeit ihrer höchsten Selbständigkeit, welche uns hoffen läßt, ihre spezifischen Züge am vollsten entwickelt zu finden.
[234]Während der Höhezeit der Stadtautonomie bewegten sich die Errungenschaften der Städte
s
[234] In A folgt: untereinander
in außerordentlicher Vielgestaltigkeit in folgenden Richtungen:
[WuG1 575]1. Politische Selbständigkeit und, teilweise, um sich greifende Außenpolitik, derart, daß das Stadtregiment dauernd eigenes Militär hielt, Bündnisse schloß, große Kriege führte, große Landgebiete und unter Umständen andere Städte in voller Unterwerfung hielt, überseeische Kolonien erwarb. Dies ist, was überseeische Kolonien anlangt, dauernd nur zwei italienischen Seestädten,
116
[234] Genua und Venedig.
was die Gewinnung großer Territorien und internationaler politischer Bedeutung anlangt, einigen Kommunen im nördlichen und mittleren Italien und in der Schweiz zeitweise gelungen, in weit geringerem Maß den flandrischen und einem Teil der norddeutschen Hansestädte und wenigen anderen. Dagegen die süditalienischen und sizilianischen, nach kurzem Intermezzo die spanischen, nach längerem die französischen, von Anfang an die englischen Städte und die deutschen, mit Ausnahme namentlich der erwähnten nordischen
117
Gemeint sind wohl die kurz zuvor im Text angeführten norddeutschen Hansestädte.
und flandrischen Städte und einiger schweizerischen und süddeutschen, nur während des kurzen Intermezzos der Städtebünde auch eines größeren Teils [A 728]der westdeutschen,
118
Von den verschiedenen Zusammenschlüssen des 13. und 14. Jahrhunderts umfaßten namentlich die Rheinischen Städtebünde von 1254–1257 und 1381–1389 eine größere Zahl westdeutscher Städte.
kannten ein über die unmittelbare ländliche Umgebung und einige Kleinstädte hinausreichendes politisches Herrschaftsgebiet im allgemeinen nicht. Sehr viele von ihnen haben zwar dauernd Stadtsoldaten gehalten (so noch spät in Frankreich), oder sie haben – und das war die Regel – eine auf der Wehrpflicht der Stadtinsassen ruhende Bürgermiliz gehabt, welche ihre Mauern verteidigte, und zeitweilig die Kraft besaß, im Bunde mit anderen Städten den Landfrieden durchzusetzen, Räuberburgen zu brechen und in inneren Fehden des Landes Partei zu ergreifen. Aber eine internationale Politik, wie die italienischen und die Hansestädte, haben sie dauernd nirgends zu treiben versucht. Sie haben meist, je nachdem zu den ständischen Vertretungen [235]des Reichs oder zu denen des Territorialgebiets Vertreter geschickt und dann nicht selten, infolge ihrer finanziellen Potenz, auch bei formal untergeordneter Stellung, die maßgebende Stimme darin gewonnen: Das größte Beispiel dafür sind die englischen Commons, die freilich nicht sowohl eine Vertretung von Stadtcommunen
t
[235]A: Stadtcommonen
, als von ständischen Körperschaften darstellten.
a
Textverderbnis nicht aufgeklärt; möglicherweise ist das nicht zu streichen, vgl. Anm. 119.
119
[235] Zum Charakter der englischen Commons als Vertretung der Städte und zugleich ständischer Korporation vgl. die ausführlicheren Bemerkungen Webers oben, S. 170.
Aber viele Bürgerschaften haben auch ein solches Recht nie ausgeübt (die rechtshistorischen Einzelheiten würden hier zu weit führen). Der moderne patrimonialbureaukratische Staat des Kontinents aber hat dann den meisten von ihnen jede eigenpolitische Betätigung und auch die Wehrhaftigkeit, außer zu Polizeizwecken, überall genommen. Nur wo er, wie in Deutschland, lediglich in Partikulargebilden sich entwickelte, mußte er einen Teil von ihnen als politische Sonderbildung neben sich bestehen lassen. Einen besonderen Gang ist die Entwicklung noch in England gegangen, weil hier die Patrimonialbureaukratie nicht entstand. Die einzelnen Städte hatten hier innerhalb der straffen Organisation der Zentralverwaltung niemals eigene politische Ambitionen gehabt, da sie ja geschlossen im Parlament auftraten. Sie hatten Handelskartelle geschlossen, aber nicht politische Städtebünde, wie auf dem Kontinent. Sie waren Korporationen einer privilegierten Honoratiorenschicht, und ihre Gutwilligkeit war finanziell unentbehrlich. In der Tudorzeit
120
Die Tudors regierten von 1485 bis 1603.
hatte das Königtum ihre Privilegien zu vernichten gesucht, aber der Zusammenbruch der Stuarts
121
Mit dem englischen Bürgerkrieg 1642–1649.
machte dem ein Ende. Sie blieben von da an Korporationen mit dem Recht der Parlamentswahl, und sowohl das „Kingdom of Influence“
122
Als „influence of the crown“ wird üblicherweise das System der Sicherung von Mehrheiten für die Regierung der Krone durch Ämter- und Wahlkreispatronage bezeichnet, das vor allem durch den „Premierminister“ (First Lord of the Treasury) Robert Walpole (1721–1742) entwickelt worden war. Webers Formulierung „kingdom of influence“ ist als Zitat nicht nachgewiesen.
wie die Adelssektionen benutzten politisch die zum Teil lächerlich [A 729]kleinen und leicht zu gewinnenden [236]Wahlgremien, welche viele von ihnen darstellten, um ihnen gefügige Parlamentsmehrheiten zu erzielen.
123
[236] Erst die große Wahlrechtsreform von 1832 brachte den Wegfall der Wahlkreise mit nur noch wenigen Wählern („rotten boroughs“), die von einzelnen Aristokraten bzw. Fraktionen der Aristokratie kontrolliert wurden.
2. Autonome Rechtssatzung der Stadt als solcher und innerhalb ihrer wieder der Gilden und Zünfte. In vollem Umfang haben dies Recht die politisch selbständigen italienischen, zeitweise die spanischen und englischen, ein beträchtlicher Teil der französischen und der deutschen Städte ausgeübt, ohne daß immer eine ausdrückliche Verbriefung dieses Rechts bestanden hätte. Für städtischen Grundbesitz, Marktverkehr und Handel wenden die mit Stadtbürgern als Schöffen besetzten Stadtgerichte ein gleichmäßiges, durch Gewohnheit oder autonome Satzung, Nachahmung, Übernahme oder Verleihung nach fremdem Muster bei der Gründung [WuG1 576]entstehendes, allen Stadtbürgern gemeinsames spezifisches Recht an. Sie schalteten im Prozeßverfahren zunehmend die irrationalen und magischen Beweismittel: Zweikampf, Ordal
124
„Ordal“ (altengl.: das Ausgeteilte), mlat. ordalium: Gottesurteil. Gottesurteile als prozessuale Beweismittel sind zuerst in England abgeschafft worden, nachdem das Laterankonzil von 1215 die Mitwirkung von Priestern verboten hatte.
und Sippeneid zugunsten einer rationalen Beweiserhebung aus, eine Entwicklung, die man sich übrigens nicht allzu geradlinig vorstellen darf: gelegentlich bedeutete die Festhaltung der prozessualen Sonderstellung der Stadtgerichte auch eine Konservierung älterer Prozeduren gegenüber den rationalen Neuerungen der Königsgerichte – so in England (Fehlen der Jury)
125
Zum Recht der Städte, vom Jury-Verfahren abzusehen, vgl. oben, S. 164 mit Anm. 63.
– und des mittelalterlichen gegenüber dem Vordringen des römischen Rechts: so vielfach auf dem Kontinent, wo die kapitalistisch verwertbaren Rechtsinstitute gerade den Stadtrechten, als der Stätte der Autonomie der Interessenten, entstammten, und nicht dem römischen (oder deutschen) Landrecht. Das Stadtregiment suchte seinerseits nach Möglichkeit darauf zu halten, daß die Gilden und Innungen ohne seine Zustimmung überhaupt keine Satzungen oder doch nur solche, welche sich auf das ein für allemal ihnen zugewiesene Gebiet beschränkten, erließen. Sowohl der Umfang der städtischen Autonomie war bei allen Städten, die mit einem politischen oder grundherrlichen Stadtherrn zu rechnen hat[237]ten, also bei allen außer den italienischen
b
[237]A: italischen
, labil und eine
c
Fehlt in A; eine sinngemäß ergänzt.
Machtfrage, wie ebenso die Verteilung der Satzungsgewalt zwischen Rat und Zünften. Der entstehende patrimonialbureaukratische Staat hat ihnen dann diese Autonomie überall zunehmend beschnitten. In England haben die Tudors zuerst systematisch den Grundsatz vertreten, daß die Städte ebenso wie die Zünfte korporativ organisierte [A 730]Staatsanstalten für bestimmte Zwecke seien mit Rechten, welche sachlich nicht über die im Privileg bezeichneten Schranken hinausgingen, und mit einer Satzungsgewalt, welche nur die als Bürger Beteiligten binde. Jeder Verstoß gegen diese Schranken wurde zum Anlaß genommen, im „Ultra vires“-Prozeß
d
A: „Netre vires“–Prozeß
die Charten kassieren zu lassen (so für London noch unter Jakob II.).
126
[237] Gemeint ist der „Quo warranto“-Prozeß (zur Überprüfung des Rechtstitels), der gegen diejenigen eingeleitet werden konnte, die jenseits ihrer Kompetenz („ultra vires“) hoheitliche Funktionen wahrnahmen. Nach englischem Rechtsverständnis durften Korporationen nur die ihnen ausdrücklich von der Krone zugestandenen Befugnisse ausüben; insofern konnten auch Städte einem „Quo-warranto“-Verfahren unterworfen werden, das gegebenenfalls zur Aberkennung ihres Korporationsstatus führte; vgl. Hatschek, Staatsrecht (wie oben, S. 166, Anm. 71), Band 1, S. 54 und 61; Band 2, S. 629–633; zum Vorgehen Jakobs II. gegen London 1683 ders., Verfassungsgeschichte, S. 490.
Die Stadt galt dieser Auffassung nach, wie wir sahen,
127
Siehe oben, S. 166 ff.
im Prinzip überhaupt nicht als „Gebietskörperschaft“, sondern als ein privilegierter ständischer Verband, in dessen Verwaltung sich das Privy Council
128
Der Geheime Staatsrat, dem die höchsten Minister angehörten, beriet den König bei der Ausübung derjenigen Hoheitsrechte, die nicht der Zustimmung des Parlaments bedurfte.
fortwährend kontrollierend einmischte. In Frankreich ist den Städten im Lauf des 16. Jahrhunderts die Gerichtsbarkeit außer für Polizeisachen ganz genommen und für alle finanziell wichtigen Akte die Genehmigung der Staatsbehörde verlangt worden
e
Fehlt in A; worden sinngemäß ergänzt.
.
129
Durch vier königliche Ordonnanzen aus den Jahren 1561–1580; vgl. Holtzmann, Verfassungsgeschichte (wie oben, S. 126, Anm. 71), S. 495–496.
in Zentraleuropa wurde die Stadtautonomie der Territorialstädte in aller Regel gänzlich vernichtet.
3. Autokephalie. Also: ausschließlich eigene Gerichts- und Verwaltungsbehörden. Nur ein Teil der Städte, vor allem die italieni[238]schen, haben dies voll durchgesetzt, die außeritalienischen vielfach nur für niedere Gerichtsbarkeit und auf die Dauer meist mit dem Vorbehalt der Appellation an die königlichen oder höchsten Landesgerichte. In der Gerichtsbarkeit war da, wo die aus den Bürgern genommenen Schöffen das Urteil fanden, die Persönlichkeit des Gerichtsherrn ursprünglich nur von vorwiegend fiskalischem Interesse, und deshalb hat sich die Stadt die formelle Gerichtsherrlichkeit zuweilen gar nicht anzueignen oder durch Kauf an sich zu bringen veranlaßt geglaubt. Für sie war aber das wichtigste: daß die Stadt ein eigener Gerichtsbezirk war mit Schöffen aus ihrer Mitte. Dies wurde mindestens für die niedere Gerichtsbarkeit, teilweise für die höhere schon sehr früh durchgesetzt. Eigene Schöffenwahl oder Kooptation ohne Einmischung des Herrn erlangten die Bürger zum erheblichen Teil. Wichtig war ferner die Erlangung des Privilegs, daß ein Bürger nur vor dem Gericht der Stadt Rede stand. Die Art der Entwicklung der eigenen städtischen Verwaltungsbehörde, des Rats, kann hier unmöglich verfolgt werden. Daß ein solcher, mit weitgehenden Verwaltungsbefugnissen ausgestattet, bestand, war auf der Höhe des Mittelalters Kennzeichen jeder Stadtgemeinde in West- und Nordeuropa. Die Art seiner Zusammensetzung variierte unendlich und hing namentlich ab von der Machtlage zwischen dem Patriziat der „Geschlechter“, also den [A 731]Grundrenten- und Geldbesitzern, Geldgebern und Gelegenheitshändlern, ferner den bürgerlichen, oft zünftigen Kaufleuten, je nachdem mehr Fernhändlern oder (in ihrer Masse) mehr Großdetaillisten und Verlegern ge[WuG1 577]werblicher Produkte, und den wirklich rein gewerblichen Zünften. Andererseits bestimmte sich das Maß, in welchem der politische oder Grundherr an der Ernennung des Rats beteiligt, die Stadt also partiell heterokephal blieb, nach der ökonomischen Machtlage zwischen Bürgern und Stadtherren. Zunächst nach dessen Geldbedarf, der den Auskauf seiner Rechte ermöglichte. Umgekehrt also auch durch die Finanzkraft der Städte. Aber der Geldbedarf des Stadtherrn
f
[238]A: der Stadtkasse
und der Geldmarkt der Stadt allein entscheiden nicht, wenn der Stadtherr
g
A: die Stadtkasse
politische Machtmittel besaß. In Frankreich hatte das unter Philipp August mit den Städten verbündete Königtum (teilweise auch andere Stadtherren) schon im 13. Jahrhundert durch [239]stark steigenden Geldbedarf
h
[239] Zu ergänzen wäre: der Städte ; vgl. Anm. 130.
„pariage“
130
[239] Dieser Satz wird nur verständlich, wenn hier „städtischer Geldbedarf“ gemeint ist. Der französische Sonderfall liegt darin begründet, daß zunächst die Städte sich der Gewalt der feudalen Stadtherren weitgehend entzogen hatten, sich dann aber zu ihrem Schutz in der Zeit Philipps II. August an das Königtum anlehnten. In dieser Konstellation waren es die Städte, die den Finanzbedarf hatten und die deshalb als Gegenleistung für den vom König erbrachten Schutz bzw. von ihm gewährte finanzielle Unterstützung Teilungsverträge, „Pariages“, abschlossen, die dem König einen fest umrissenen Einfluß auf die Besetzung der städtischen Ämter, zumal der Finanzverwaltung garantierten; vgl. die Ausführungen bei Holtzmann, Verfassungsgeschichte (wie oben, S. 126, Anm. 71), S. 191 und 280–283, auf die wahrscheinlich Webers Bemerkungen zurückgehen.
[,] Anteil an der Besetzung der Verwaltungsstellen, Kontrollrecht über die Verwaltung des Magistrats, namentlich die den König interessierende Finanzverwaltung, Bestätigungsrecht der gewählten Konsuln, bis zum 15. Jahrhundert Vorsitz des königlichen Prévôts
131
Das Amt des „Prévôt“ als Vertreter des Königs in der Lokalverwaltung wurde durch Pacht vergeben, bis man im späteren 15. Jahrhundert den Ämterkauf einführte; Holtzmann, Verfassungsgeschichte, S. 202 f. und 359.
in der Bürgerversammlung erlangt. Im ludovicianischen Zeitalter vollends werden die Städte in der Ämterbesetzung vollständig von den königlichen „Intendanten“ beherrscht,
132
Die Entsendung von königlichen Kontrollbeamten („Intendanten“) in die Provinzen, die zuvor nur von Fall zu Fall stattgefunden hatte, wurde seit der Zeit Ludwigs XIV. (1643–1715) zu einer ständigen Einrichtung; Holtzmann, Verfassungsgeschichte, S. 396–398.
und die Finanznot des Staats führte dazu, die Stadtämter ebenso wie die Staatsämter durch Verkauf zu besetzen. Der vormals patrimonialbureaukratische Staat verwandelte die Verwaltungsbehörden der Stadt in privilegierte Korporationsvertretungen mit ständischen Privilegien, aber Zuständigkeit nur im Umkreis ihrer korporativen Interessen, jedoch ohne Bedeutung für staatliche Verwaltungszwecke. Der englische Staat, der den Städtekorporationen, da sie Parlamentswahlkörper waren, die Autokephalie lassen mußte, schritt, als er diejenigen Aufgaben, welche unsere heutigen Kommunalverbände
133
In Preußen (und anderen deutschen Ländern) stellten im späten 19. Jahrhundert die Landkreise nicht nur die untersten staatlichen Verwaltungsbezirke dar, sondern waren zugleich Organe der Selbstverwaltung, die Aufgaben wie Schulwesen, Armen- und Gesundheitspflege auf überörtlicher Grundlage wahrnahmen.
zu erfüllen haben, durch lokale Verbände lösen lassen wollte, rücksichtslos über die Stadt weg und machte entweder die einzelne Parochie, der nicht nur die privilegierten Korporationsmitglieder, sondern alle [240]qualifizierten Einwohner angehörten, oder andere neugeschaffene Verbände zu deren Trägern.
134
[240] Der zeitliche Bezug dieser Bemerkungen läßt sich nicht eindeutig feststellen. Gemeint sein könnte die Reform der Kommunalverfassung unter den Tudors, durch die den „parishes“ (Kirchspielen) die Aufgaben der Armenpflege und vielfältige Ordnungsfunktionen übertragen wurden; dazu Hatschek, Verfassungsgeschichte, S. 472–476; Gneist, Verfassungsgeschichte (wie oben, S. 76, Anm. 39), S. 517 ff. Oder Weber denkt an die Neuordnung der englischen Lokalverwaltung durch verschiedene Gesetze im Laufe des 19. Jahrhunderts. Sie wurde dadurch einerseits auf der Grundlage von „civil parishes“ (die mit den Kirchengemeinden nicht identisch waren), andererseits auf der von diversen Zusammenschlüssen solcher „parishes“ zu größeren Kommunalverbänden, zumal für Zwecke der Armen- und Gesundheitspflege, organisiert; vgl. Hatschek, Staatsrecht (wie oben, S. 166, Anm. 71), Band 2, S. 410–428.
Meist aber hat der Patrimonialbureaukratismus die Magistrate ganz einfach in eine landesherrliche Behörde neben anderen verwandelt.
[A 732]4. Steuergewalt über die Bürger, Zins- und Steuerfreiheit derselben nach außen. Das erste wurde sehr verschieden weitgehend, unter verschieden wirksamer
i
[240]A: wirksamer,
oder auch ganz wegfallender Erhaltung des Kontrollrechts durch den Stadtherrn, durchgesetzt. In England haben die Städte wirkliche Steuerautonomie nie besessen, sondern für alle neuen Steuern stets des Konsenses des Königs bedurft. Zins- und Steuerfreiheit nach außen wurde ebenfalls nur stellenweise vollständig erreicht. Von den politisch nicht autonomen Städten nämlich nur da, wo sie die Steuerpflicht pachteten und dann den Stadtherrn durch einmalige oder, häufiger, durch regelmäßige Pauschalzahlungen abfanden und die königlichen Steuern in eigne Regie nehmen konnten (firma
k
A: (Firma
burgi in England).
135
Vgl. oben, S. 165 mit Anm. 66.
Am vollständigsten gelang die Durchsetzung der Lastenfreiheit nach außen überall für die persönlichen, aus gerichts- oder leibherrlichen Verhältnissen der Bürger stammenden Pflichtigkeiten. – Der normale patrimonialbureaukratische Staat schied nach seinem Siege Stadt und Land zwar rein steuertechnisch: er suchte Produktion und Konsum gleichmäßig durch seine spezifische Städtesteuer, die Akzise, zu treffen. Die eigene Steuergewalt aber nahm er den Städten praktisch so gut wie ganz. In England bedeutete die korporative Besteuerung der Städte wenig, da die neuen Verwaltungsaufgaben andern Gemeinschaften zufielen. In Frankreich eignete sich der König seit Mazarin
l
A: Mazaine
die Hälfte der städtischen Oktrois
m
A: Oktroy
an, nachdem alle [241]städtischen Finanzoperationen und die Selbstbesteuerung schon vorher unter Staatskontrolle gestellt waren.
136
[241] Diese Aufteilung der „Oktrois“ (Stadtzölle) wurde durch Verordnungen der Jahre 1647 und 1653 festgelegt; vgl. Holtzmann, Verfassungsgeschichte, S. 496.
In Mitteleuropa wurden die städtischen Behörden auch in dieser Hinsicht oft fast reine staatliche Steuerhebestellen.
5. Marktrecht, autonome Handels- und Gewerbepolizei und monopolistische Banngewalten. Der Markt gehört zu jeder mittelalterlichen Stadt, und die Marktaufsicht hat der Rat überall in sehr starkem Maße den Stadtherren abgenommen. Die polizeiliche Aufsicht über Handel und Gewerbe lag später, je nach den Macht[WuG1 578]verhältnissen, mehr in den Händen der städtischen Behörden oder mehr in denen der Berufsinnungen, unter weitgehender Ausschaltung des Stadtherrn. Vermöge der gewerblichen Polizei wird die Qualitätskontrolle der Waren geübt: teils im Interesse des guten Rufs, also der Exportinteressen des Gewerbes, teils in dem der städtischen Konsumenten, wesentlich im Interesse der letzteren die Preiskontrolle; ferner die Erhaltung [A 733]der kleinbürgerlichen Nahrungen, also: die Beschränkung der Lehrlings- und Gesellenzahl, unter Umständen auch der Meisterzahl und, mit Engerwerden des Nahrungsspielraums, die Monopolisierung der Meisterstellen für die Einheimischen, speziell die Meistersöhne, gesteigert; andererseits wird, sofern die Zünfte selbst die Polizei in ihre Hand brachten, durch Verbote des Verlags und Kontrolle der Kapitalleihe, Regulierung und Organisation des Rohstoffbezugs und zuweilen der Absatzart, der Entstehung kapitalistischer Abhängigkeiten von Außenstehenden und Großbetrieben entgegengearbeitet. Vor allem aber erstrebte die Stadt den Ausschluß des ihrer Herrschaft unterworfenen flachen Landes von der gewerblichen Konkurrenz, suchte also den ländlichen Gewerbebetrieb zu unterdrücken und den Bauern im städtischen Produzenteninteresse zum Einkauf seines Bedarfs in der Stadt zu zwingen und im städtischen Konsumenteninteresse den Verkauf ihrer Produkte auf dem Markt der Stadt und nur dort aufzuzwingen, ebenso im Interesse der Konsumenten und gelegentlich der gewerblichen Rohstoffverbraucher den „Vorkauf“ von Waren außerhalb des Marktes zu hindern, im Interesse der eignen Händler endlich Umschlags- und Zwischenhandelsmonopol [242]durchzusetzen, andererseits Privilegien im freien Handel auswärts zu gewinnen.
137
[242] Bei der Darstellung der Stadt-Umlandbeziehungen stützt sich Weber auf Below, Georg von, Der Untergang der mittelalterlichen Stadtwirtschaft (über den Begriff der Territorialwirtschaft), in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 3. Folge, Band 21, 1901, S. 449–473 und 593–631 (hinfort: Below, Untergang).
Diese Kernpunkte der sog. „Stadtwirtschaftspolitik“,
138
Below, Untergang, S. 593, nennt das Vorkaufsverbot „die Grundlage der gesamten Stadtwirtschaftspolitik“.
durch ungezählte Kompromißmöglichkeiten kollidierender Interessen variiert, finden sich in den Grundzügen fast überall wieder. Die jeweilige Richtung der Politik wird dabei außer durch die innerstädtische Machtlage der Interessenten durch den jeweiligen Erwerbsspielraum der Stadt bedingt. Seine Erweiterung in der ersten Periode der Besiedelung brachte eine auf Erweiterung des Markts, seine Verengung nach Ende des Mittelalters eine auf Monopolisierung gerichtete Tendenz mit sich. Im übrigen hat jede einzelne Stadt ihre eigenen, mit den Konkurrenten kollidierenden Interessen, und speziell unter den Fernhandelsstädten des Südens herrscht Kampf auf Leben und Tod.
Der patrimonialbureaukratische Staat nun dachte nach Unterwerfung der Städte durchaus nicht an ein grundsätzliches Brechen mit dieser „Stadtwirtschaftspolitik“. Ganz im Gegenteil. Die ökonomische Blüte der Städte und ihrer Gewerbe und die Erhaltung der Volkszahl durch Erhaltung der Nahrungen lag ihm im Interesse seiner Finanzen ganz ebenso am Herzen, wie [A 734]andrerseits die Stimulierung des Außenhandels im Sinn einer merkantilistischen Handelspolitik, deren Maßregeln er, mindestens zum Teil der städtischen Fernhandelspolitik absehen konnte. Er suchte die kollidierenden Interessen der in seinem Verband vereinigten Städte und Gruppen auszugleichen, insbesondere den Nahrungsstandpunkt mit kapitalfreundlicher Politik zu vereinigen. An die überkommene Wirtschaftspolitik rührte er bis fast an den Vorabend der französischen Revolution nur da, wo die lokalen Monopole und Privilegien der Bürger der von ihm selbst inaugurierten, zunehmend kapitalistisch orientierten Privilegien- und Monopolpolitik im Wege standen: Schon dies freilich konnte im Einzelfall zu einer sehr drastischen Durchbrechung der ökonomischen Bürgerprivilegien führen, aber es bedeutete doch nur in lokalen Ausnahmefällen ein prinzipi[243]elles Verlassen der überkommenen Bahn. Die Autonomie der Wirtschaftsregulierung durch die Stadt aber ging verloren, und das konnte indirekt freilich erhebliche Bedeutung gewinnen. Aber das Entscheidende lag doch in der an sich bestehenden Unmöglichkeit für die Städte, militärisch-politische Machtmittel nach Maß und Art der patrimonialbureaukratischen Fürsten in den Dienst ihrer Interessen zu stellen. Sie konnten im übrigen auch nur ausnahmsweise den Versuch machen, in der Art, wie die Fürsten es taten, als Verbände an den kraft der Politik des Patrimonialismus sich neu auftuenden Erwerbschancen teilzunehmen. [WuG1 579]Das konnte der Natur der Sache nach nur der Einzelne, vor allem der sozial privilegierte Einzelne, und speziell an den typischen[,] monopolistisch privilegierten[,] inländischen und überseeischen Unternehmungen des Patrimonialismus sind in England wie in Frankreich neben den Königen selbst (verhältnismäßig) viele grundherrliche oder dem Großbeamtentum angehörige, (verhältnismäßig) wenige bürgerliche Elemente beteiligt gewesen. Gelegentlich haben zwar auch so manche Städte, wie z. B. Frankfurt, in zuweilen umfassender Art, sich auf Stadtrechnung an spekulativen auswärtigen Unternehmungen beteiligt.
139
[243] Gemeint sein wird ein Vorgang aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Der Rat der Stadt Frankfurt (am Main) hatte 1554 mit geliehenem Kapital große Anteile an einem Kupferbergwerk in Eisleben in der Grafschaft Mansfeld gekauft, da man sich aus dem florierenden Kupferhandel mit Spanien (das Kupfer zur Ausgabe von Münzen in seinen amerikanischen Kolonien benötigte) hohe Erträge versprach; das Engagement endete nach einigen Jahren mit einem finanziellen Fiasko, da die Frankfurter über die finanziellen Verbindlichkeiten der Gesellschaft getäuscht worden waren; vgl. Dietz, A[lexander], Der Frankfurter Rat als Kupferspekulant, in: Frankfurter Nachrichten, Nr. 90, 1. April 1906, S. 5–7; ders., Frankfurter Handelsgeschichte, Band 1. – Frankfurt: Hermann Minjon 1910, S. 294–305; Bothe, Friedrich, Geschichte der Stadt Frankfurt am Main (Geschichte der Stadt Frankfurt am Main in Wort und Bild, Band 1). – Frankfurt: Moritz Diesterweg 1913, S. 341 f.
Meist aber zu ihrem Schaden, da ein einziger Mißerfolg sie nachhaltiger
n
[243]A: nachhaltiger,
als ein großes politisches Gebilde treffen mußte.
Der ökonomische Niedergang zahlreicher Städte, namentlich in der Zeit seit dem 16. Jahrhundert, ist – da er sich eben damals auch in England vollzog – nur teilweise durch Verschiebung der Handelsstraßen, und auch nur teilweise durch das Ent[A 735]stehen von großen Hausindustrien, die auf außerstädtischer
o
A: außenständischer
Arbeitskraft ruhten, di[244]rekt begründet. Zum größten Teil vielmehr durch andere allgemeine Bedingungen: vor allem dadurch, daß die traditionellen, in die Stadtwirtschaft eingegliederten Unternehmungsformen jetzt nicht mehr diejenigen waren, welche die ganz großen Gewinste abwarfen, und daß, wie einst die feudale Kriegstechnik, so jetzt sowohl die politisch orientierten, wie die händlerischen und gewerblichen kapitalistischen Unternehmungen, auch wo sie formal stadtsässig waren, doch nicht mehr in einer städtischen Wirtschaftspolitik ihre Stütze fanden
p
[244]A: finden
und nicht mehr von einem lokal, an den einzelnen Bürgerverband, gebundenen Unternehmertum getragen werden konnten. Die neuen kapitalistischen Unternehmungen siedelten sich in den für sie geeigneten neuen Standorten an. Und der Unternehmer rief für seine Interessen jetzt nach anderen Helfern – soweit er solche überhaupt brauchte – als einer lokalen Bürgergemeinschaft. Ebenso wie in England die Dissenters, welche in der kapitalistischen Entwicklung eine so wichtige Rolle spielten, infolge der Test-Akte nicht zur herrschenden Stadtkorporation gehörten,
140
[244] „Dissenters“ (Andersdenkende) waren die nicht zur anglikanischen Staatskirche gehörenden Protestanten. Aufgrund der „Corporation Act“ von 1661 konnte nur noch in ein kommunales Amt gewählt werden, wer das Abendmahl nach anglikanischem Ritus einnahm; ein gegen Katholiken gerichtetes, gemeinhin (nicht offiziell) als „Test Act“ bezeichnetes Gesetz von 1673 dehnte diese Verpflichtung auf alle Inhaber ziviler und militärischer Ämter des Königreichs aus. Weber folgt hinsichtlich des Ausschlusses der „Dissenters“ aus der Kommunalpolitik wohl Hatschek, Verfassungsgeschichte, S. 699, der beide Gesetze als „Test Acts“ bezeichnet.
entstanden die großen modernen Handels- und Gewerbestädte Englands gänzlich außerhalb der Bezirke, und damit auch der lokalen Monopolgewalten, der alten privilegierten Korporationen und zeigten daher in ihrer juristischen Struktur vielfach ein ganz archaistisches Gepräge: die alten Grundherrengerichte: court baron
q
A: conel farm
und court
r
A: conel
leet bestanden in Liverpool und Manchester bis zur modernen Reform, nur war der Grundherr als Gerichtsherr ausgekauft
s
A: umgetauft
.
141
Statt „court farm“ ist hier offensichtlich „court baron“ zu lesen. Dieses gutsherrliche Patrimonialgericht war ebenso wie das Immunitätsgericht („court leet“) seit dem Spätmittelalter weitgehend bedeutungslos geworden; beide Institutionen lebten nur insofern weiter, als im 16. und 17. Jahrhundert diese Gerichtsbarkeiten vielfach von Städten erworben und mit Steuer- und Polizeigewalt ausgestattet wurden. Die Gemeinden nutzten diese Möglichkeit bis zur grundlegenden Reform der Kommunalverfassung durch den „Municipal Corporations Act“ von 1835. In Manchester bestanden court baron und court leet sogar noch bis 1846, da es erst zu diesem Zeitpunkt Stadt im Rechtssinne wurde; vgl. Hatschek, Verfassungsgeschichte, S. 700.
[245]6. Aus der spezifischen politischen und ökonomischen Eigenart der mittelalterlichen Städte folgte auch ihr Verhalten zu den nichtstadtbürgerlichen Schichten. Dies zeigt nun bei den einzelnen Städten allerdings ein sehr verschiedenes Gesicht. Gemeinsam ist allen zunächst der wirtschaftsorganisatorische Gegensatz gegen die spezifisch außerstädtischen politischen, ständischen und grundherrlichen Strukturformen: Markt gegen Oikos. Diesen Gegensatz darf man sich freilich nicht einfach als einen ökonomischen „Kampf“ zwischen politischen oder Grund-Herren und Stadt denken. Ein solcher bestand natürlich überall da, wo die Stadt im Interesse ihrer Machterweiterung politisch oder grundherrlich abhängige Leute, die der Herr festhalten wollte, in ihre Mauern oder vollends, ohne daß sie in die [A 736]Stadt zogen, als Außenbürger in den Bürgerverband aufnahm. Das letztere ist wenigstens den nordischen Städten nach kurzer Zwischenzeit durch Fürstenverbände und Verbote der Könige unmöglich gemacht worden.
142
[245] Ein Verbot der Aufnahme von „Pfahlbürgern“, die das Bürgerrecht besaßen, jedoch nicht in der Stadt wohnten, ist erhalten in der „Constitutio in favorem principum“ Heinrichs VII. bzw. Friedrichs II. von 1231 und 1232 (MGH, Legum sectio 4: Constitutiones et acta publica imperatorum et regum, tomus 2, ed. Ludewicus Weiland. – Hannover: Hahn 1896, Nr. 304, S. 418–420 und Nr. 171, S. 211–213, jeweils § 10), im Mainzer Reichstandfrieden von 1235 (ebd., Nr. 196, S. 241–247, § 13) und in Reichsgesetzen in den beiden folgenden Jahrhunderten mehrfach erneuert worden. Auch der Rheinische Bund hat 1254/55 dieses Verbot übernommen (ebd., Nr. 428 II, S. 581–583, § 14; Nr. 428 III, S. 583 f., § 2); vgl. Zeumer, Karl, Studien zu den Reichsgesetzen des XIII. Jahrhunderts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abtheilung, Band 23, 1902, S. 61–112, hier S. 87–101; Schmidt, Max G[eorg], Die Pfalbürger, in: Zeitschrift für Kulturgeschichte, Band 9, 1901, S. 241–321.
Die ökonomische Entwicklung der Städte rein als solche ist aber nirgends prinzipiell bekämpft worden, sondern die politische Selbständigkeit. Ebenso wo sonst spezielle ökonomische Interessen der Herren in Kollision gerieten mit den verkehrspolitischen Interessen und Monopoltendenzen der Städte, was oft der Fall war. Und natürlich betrachteten die Interessenten des feudalen Wehrverbandes, die Könige an der Spitze, die Entwicklung autonomer Festungen im Bereich ihrer politischen Interessensphäre mit dem allergrößten Mißtrauen. Die deutschen Könige haben von diesem [WuG1 580]Mißtrauen mit ganz kurzen Unterbrechungen niemals gelassen. Dagegen sind die französischen und englischen zeitweise stark städtefreundlich gewesen aus politischen, durch den Gegensatz der Könige gegen ihre Barone bedingten [246]Gründen und außerdem wegen der finanziellen Bedeutung der Städte. Ebenso ist die auflösende Tendenz, welche die Marktwirtschaft der Stadt als solche auf den grundherrlichen und indirekt auch auf den feudalen Verband ausüben konnte und den sie mit sehr verschiedenem Erfolge tatsächlich ausgeübt hat, keineswegs notwendig in Form eines „Kampfs“ der Städte gegen andere Interessenten verlaufen. Im Gegenteil herrschte auf weite Wegstrecken
a
[246]A: Wegsstrecken
eine starke Interessengemeinschaft. Den politischen sowohl wie den
b
A: dem
Grundherrn waren Geldeinnahmen, die sie von ihren Hintersassen erheben konnten, äußerst erwünscht. Die Stadt erst gab aber diesen letzteren einen Lokalmarkt für ihre Produkte und damit die Möglichkeit[,] Geld statt Frohnden oder Naturalabgaben zu zahlen; ebenso gab sie den Herren die Möglichkeit, ihre Naturaleinnahmen, statt sie in natura zu verzehren, je nachdem auf dem Lokalmarkt[,] oder durch den zunehmend kapitalkräftigen Handel auswärts, zu Geld machen zu lassen. Von diesen Möglichkeiten machten die politischen wie die Grundherren energisch Gebrauch, entweder indem sie den Bauern Geldrenten abverlangten oder indem sie deren durch den Markt gewecktes Eigeninteresse an erhöhter Produktion durch Schaffung vergrößerter Wirtschaftseinheiten, welche einen größeren Anteil am Naturalertrag als Rente abgeben konnten, ausnutzten und diesen Mehrertrag ihrer Naturalrenten ihrerseits versilberten. Und daneben konnte der politische und Grundherr, [A 737]je mehr sich der lokale und interlokale Verkehr entwickelte, desto mehr Geldeinnahmen aus den verschiedensten Arten von Tributen von eben diesem Verkehr suchen, wie dies im deutschen Westen schon im Mittelalter geschehen ist. Die Stadtgründung war daher nebst ihren Konsequenzen vom Gesichtspunkt ihrer Gründer aus ein geschäftliches Unternehmen zur Erlangung von Geldeinnahmechancen. Aus diesem ökonomischen Eigeninteresse heraus erfolgten noch in der Zeit der Judenverfolgungen im Osten, speziell in Polen, seitens des Adels die mannigfachen Gründungen von „Städten“, oft Fehlgründungen, deren oft nur nach Hunderten zählende Einwohnerschaft zuweilen noch im 19. Jahrhundert zu 90 % aus Ju[247]den bestand.
143
[247] Die große Zuwanderung von Juden nach Polen setzte im 14. Jahrhundert nach den Judenverfolgungen in Deutschland und anderen europäischen Ländern (vor allem im Zusammenhang mit der Pestwelle von 1347–1352) ein und fiel in Polen mit den dort betriebenen Städtegründungen zusammen. In den folgenden Jahrhunderten genossen die Juden in Polen – trotz periodisch wiederkehrender Verfolgungen aufgrund von Spannungen mit dem städtischen Bürgertum – ungewöhnliche Entfaltungsmöglichkeiten. Der polnische Adel förderte die Juden, setzte sie als Verwalter bzw. Pächter von Grundherrschaften sowie als Schankwirte ein und siedelte sie in den von ihm gegründeten kleinen Städten an; auch bei der Erschließung der östlichen Landesteile nach dem Zusammenschluß mit Litauen (1569) stützte sich der Adel v.a. auf Juden. Die Spannungen mit den Bauern entluden sich besonders in den Pogromen im Zusammenhang mit dem Kosakenaufstand von 1648/49. Im Kongreßpolen des 19. Jahrhunderts (mit dem in ganz Europa höchsten Anteil von Juden an der Gesamtbevölkerung) lebte trotz zunehmender Konzentration in den größeren Städten weiterhin ein beachtlicher Teil der Juden in kleinen Landstädten; vgl. Wengierow, Leo, Die Juden im Königreich Polen. Ein Beitrag zur Kenntnis der sozialen und volkswirtschaftlichen Verhältnisse der Juden im Königreich Polen, in: Jüdische Statistik, hg. vom „Verein für jüdische Statistik“ unter der Redaktion von Alfred Nossig. – Berlin: Jüdischer Verlag 1903, S. 293–310, hier S. 296–300. Worauf Webers Aussage beruht, in manchen Kleinstädten hätten Juden 90 % der Einwohner ausgemacht, muß offenbleiben.
Diese spezifisch mittelalterlich-nordeuropäische Art der Städtegründung ist also faktisch ein Erwerbs„geschäft“ – wie wir sehen werden,
144
Siehe unten, S. 271.
im schärfsten Gegensatz gegen die militärische Festungsstadtgründung, welche die antike Polis darstellt. Die Umwandlung fast aller persönlichen und dinglichen Ansprüche des Grund- und Gerichtsherrn in Rentenforderungen und die daraus sich ergebende, teils rechtliche, teils immerhin weitgehende faktische ökonomische Freiheit der Bauern – die überall da ausblieb
c
[247]A: verblieb
, wo die Entwicklung der Städte schwach war – entstand als Folge davon, daß die politischen und grundherrlichen Einnahmen im Gebiet intensiver Städteentwicklung zunehmend mehr
d
Fehlt in A; mehr sinngemäß ergänzt.
aus Marktabsatz der Bauernprodukte oder der Bauernabgaben und im übrigen jedenfalls aus anderen verkehrswirtschaftlichen Quellen gespeist werden konnten und auch wurden
e
A: wurden,
als aus der Ausnutzung der Frohnpflicht der Abhängigen oder in der Art der alten oikenwirtschaftlichen Umlegung des Haushaltsbedarfs auf sie, und daß der Herr, und ebenso, wenn auch im geringeren Maß, die Abhängigen, zunehmende Teile des Bedarfs geldwirtschaftlich deckten. Im übrigen war sie sehr wesentlich durch den Auskauf des landsässigen [248]Adels durch die Stadtbürger bedingt, welche nun zu einer rationellen Bewirtschaftung des Landbesitzes übergingen. Dieser Prozeß fand jedoch seine Schranke da, wo der Lehensverband zum Besitz adliger Güter die Lebensfähigkeit verlangte und diese, wie nördlich der Alpen fast überall, dem Stadtpatriziat fehlte. Aber jedenfalls bestand lediglich auf Grund der „Geldwirtschaft“ als solcher keine ökonomische Interessenkollision zwischen politischen oder Grundherren und Städten, sondern sogar Interessengemeinschaft. Eine rein ökonomische [A 738]Kollision entstand erst da, wo Grundherren zur Erhöhung ihrer Einnahmen zu einer erwerbswirtschaftlichen gewerblichen Eigenproduktion überzugehen suchten, was [WuG1 581]freilich nur da möglich war, wo geeignete Arbeitskräfte dazu zur Verfügung standen. Wo dies der Fall war, ist der Kampf der Städte gegen diese gewerbliche Produktion der Grundherren auch entbrannt und hat sich gerade in der Neuzeit, noch innerhalb des Verbandes des patrimonialbureaukratischen Staats, oft sehr intensiv entwickelt. Im Mittelalter dagegen ist davon noch kaum die Rede, und eine faktische Auflösung des alten grundherrlichen Verbandes und der Gebundenheit der Bauern ist oft durchaus kampflos mit Vordringen der Geldwirtschaft als dem Resultat erfolgt. So in England. Anderwärts haben die Städte allerdings direkt und bewußt diese Entwicklung gefördert. So, wie wir sahen,
145
[248] Siehe oben, S. 230 f.
im Machtgebiet von Florenz.
Der patrimonialbureaukratische Staat suchte die Interessengegensätze von Adel und Städten auszugleichen, legte dabei aber, weil er den Adel für seine Dienste, als Offiziere und Beamten, brauchen wollte, die Unzulässigkeit des Erwerbs adliger Güter durch Nichtadlige, also auch die Bürger, fest.
Im Mittelalter waren stärker als die weltlichen in diesem Punkt die geistlichen, namentlich die klösterlichen, Grundherrschaften in der Lage, in Konflikt mit der Stadt zu geraten. Neben den Juden war die Geistlichkeit ja überhaupt, zumal seit der Trennung von Staat und Kirche im Investiturstreit, der spezifische Fremdkörper in der Stadt. Ihr Besitz nahm als geistliches Gut weitgehende Lastenfreiheit und Immunität, also Ausschluß jeder Amtshandlung, auch [249]der Stadtbehörden, in Anspruch. Sie selbst entzogen sich als Stand den militärischen und sonstigen persönlichen Pflichten der Bürger. Dabei aber schwoll jener lastenfreie Besitz, und dadurch wiederum die Zahl der der vollen Stadtgewalt entzogenen Personen, durch fortgesetzte Stiftungen frommer Bürger an
f
[249] Fehlt in A; an sinngemäß ergänzt.
. Die Klöster ferner hatten in ihren Laienbrüdern Arbeitskräfte, welche keine Familie zu versorgen hatten, also alle außerklösterliche Konkurrenz schlagen konnten, wenn sie, wie dies vielfach geschah, zum eigengewerblichen Betrieb verwendet wurden. Massenhaft hatten sich ferner Klöster und Stifter, ganz wie die Vakuf
g
A: Vakufs
im mittelalterlichen Islam,
146
[249] Es handelt sich um Stiftungen zugunsten einer Moschee oder zu anderen frommen Zwecken, die häufig dazu dienten, Vermögen der Besteuerung zu entziehen und gleichzeitig einer Familie ein Renteneinkommen zu sichern; vgl. Becker, C[arl] H., Zur Kulturgeschichte Nordsyriens im Zeitalter der Mamluken, in: Der Islam, Band 1, 1910, S. 93–100.
in den Besitz gerade der geldwirtschaftlichen Dauerrentenquellen des Mittelalters: Markthallen, Verkaufsstätten aller Art, [A 739]Fleischscharren,
147
Im Mittelalter die Bezeichnung für die Verkaufsstände der Metzger.
Mühlen und dgl. gesetzt, die nun nicht nur der Besteuerung, sondern auch der Wirtschaftspolitik der Stadt sich entzogen, oft überdies Monopole in Anspruch nahmen. Selbst militärisch konnte die Immunität der ummauerten Klausuren bedenklich werden. Und das geistliche Gericht mit seiner Gebundenheit an die Wucherverbote bedrohte überall das bürgerliche Geschäft.
148
Das kirchliche Wucherverbot beruhte auf Deuteronomium (5. Mose) 23, 19–20 und Lukas 6, 34–35 und deren Auslegung durch die Kirchenväter.
Gegen die Anhäufung von Bodenbesitz in der toten Hand
149
„Tote Hand“ (lat.: manus mortua) ist die Bezeichnung für kirchliche Institutionen (Stiftungen, Klöster), die ihre Liegenschaften nicht verkaufen dürfen. Einmal in den Besitz der „toten Hand“ gelangter Boden war dem freien Verkehr entzogen.
suchte sich die Bürgerschaft durch Verbote ebenso zu sichern, wie Fürsten und Adel durch die Amortisationsgesetze.
150
Mit diesen Gesetzen wurde seit dem 13. Jahrhundert der Übergang von Immobilien an die Einrichtungen der „toten Hand“ entweder verboten oder an die Einwilligung des Stadtrates bzw. des Landesherrn gebunden; vgl. Kahl, [Wilhelm], „Amortisationsgesetze“, in: HdStW3, Band 1, S. 431–439, hier S. 431 f.; Werminghoff, Albert, Geschichte der Kirchenverfassung Deutschlands im Mittelalter, Band 1. – Hannover und Leipzig: Hahn 1905, S. 281 f. (hinfort: Werminghoff, Kirchenverfassung).
Auf der anderen Seite aber bedeuteten die kirchlichen Feste, vor allem der Besitz von [250]Wallfahrtsorten mit Ablässen[,] für einen Teil der städtischen Gewerbe starke Verdienstchancen, und die Stifter, soweit sie Bürgerlichen zugänglich waren, auch Versorgungsstellen. Die Beziehung
N
Zu erwarten wäre: Beziehungen ; Nachtrag in MWG digital; vgl. auch WuG5, S. 795.
zwischen Geistlichkeit und Klöstern einerseits, der Bürgerschaft andererseits, waren daher auch zu Ende des Mittelalters trotz aller Kollisionen
151
[250] Vgl. Below, Bürger (wie oben, S. 75, Anm. 38), S. 327: „Ein weiterer Streitpunkt [zwischen Bürgertum und Klerus] ist die Ausübung bürgerlicher Gewerbe in den Immunitäten, welche die dadurch beeinträchtigten Bürger zu verhindern suchten. Diese Frage spielt eine große Rolle im Reformationszeitalter; soweit die Reformation mit wirtschaftlichen Verhältnissen zusammenhängt, kommt jene nicht in letzter Linie in Betracht“.
keineswegs so durchweg unfreundliche, daß etwa dies Moment allein zu einer „ökonomischen Erklärung“ der Reformation ausreichen würde.
152
Zu den Vertretern der Ansicht, daß hauptsächlich die schlechte wirtschaftliche und soziale Lage von vielen Städtern und Bauern für den Ausbruch der Reformation verantwortlich gewesen sei, zählten u. a. Lamprecht, Karl, Deutsche Geschichte, Band 5, 1. – Berlin: R. Gaertner 1894, und Kautsky, Karl, Die Vorläufer des Neueren Sozialismus, Band 1, 1: Von Plato bis zu den Wiedertäufern (Die Geschichte des Sozialismus in Einzeldarstellungen, hg. von E[duard] Bernstein [u. a.], Band 1,1). – Stuttgart: J.H.W. Dietz 1895. Eine ähnliche Auffassung wurde jedoch auch von katholischen Autoren vertreten, die in den sozialen Spannungen die Bedingungen dafür sehen wollten, daß die Kritik an den kirchlichen Mißständen diese weitreichenden Folgen zeitigen konnte; vgl. nur Grisar, Hartmann, Luther, Band 1: Luthers Werden. Grundlegung der Spaltung bis 1530. – Freiburg im Breisgau: Herder 1911, S. 40 f.
Die kirchlichen und klösterlichen Anstalten waren der Sache nach nicht so unantastbar für die Stadtgemeinde wie nach dem kanonischen Recht. Es ist zutreffend darauf hingewiesen worden, daß speziell in Deutschland die Stifter und Klöster, nachdem seit dem Investiturstreit die Königsmacht zunehmend zurückging, damit ihres interessiertesten Schirmherren gegen die Laiengewalt verlustig gingen und daß die von ihnen abgeworfene Vogteigewalt in indirekter Form sehr leicht wieder erstehen konnte, wenn sie sich ökonomisch stark engagierten.
153
Es konnte nicht eindeutig ermittelt werden, auf welchen Autor Weber hier anspielt. Daß die im Spätmittelalter von den Städten durchgesetzten Kontrollen über die Klöster inhaltlich (aber nicht rechtlich) an die alten Rechte von Kirchenvögten anknüpften, betont Werminghoff, Kirchenverfassung, S. 299 f. Die kirchliche Reformbewegung des Hochmittelalters hatte danach gestrebt, die bestehenden Vogteiverhältnisse abzuwerfen bzw. bei Neugründungen (namentlich von Zisterzienserklöstern) die Vogtei überhaupt zu vermeiden und somit nur noch den König (Kaiser) als Schutzherrn zu haben; vgl. Hirsch, Hans, Die Klosterimmunität seit dem Investiturstreit. Untersuchungen zur Verfassungsgeschichte des deutschen Reiches und der deutschen Kirche. – Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1913. Ebd., S. 151, findet sich die Feststellung, für die Zisterzienserklöster lasse sich „schärfer noch als für die Reformklöster des Investiturstreits aussprechen, daß den Klöstern der Herr, den sie im Eigenkirchenherrn, im Vogt und im Reich [251]abgeschüttelt zu haben glaubten, im Territorium wieder erstanden ist“. Webers Formulierung zeigt Anklänge an den Wortlaut bei Hirsch, ist jedoch in der Sache mit dessen Aussage nicht deckungsgleich, da es bei Hirsch um die Kontrolle der Klöster durch die Territorialherren, bei Weber um die durch die städtischen Behörden geht.
In vielen [251]Fällen hatte der städtische Rat es verstanden, sie faktisch unter eine der alten Vogtei ganz ähnliche Vormundschaft zu stellen, indem er ihnen für ihre Geschäftsführung unter den verschiedensten Vorwänden und Namen Pfleger und Anwälte aufdrängte, welche dann die Verwaltung den bürgerlichen Interessen entsprechend führten.
154
Ein bekanntes Beispiel ist die seit Anfang des 14. Jahrhunderts in Goslar vom Rat der Stadt eingesetzte Kommission von procuratores für das Frauenkloster Neuwerk; vgl. Schiller, E[rich], Bürgerschaft und Geistlichkeit in Goslar (1290–1365). Ein Beitrag zur Geschichte des Verhältnisses von Stadt und Kirche im späten Mittelalter (Kirchenrechtliche Abhandlungen, Heft 77). – Stuttgart: Ferdinand Enke 1912, S. 108 ff.
– Die ständische Stellung des Klerus innerhalb des Bürgerverbandes war [WuG1 582]sehr verschieden. Zum Teil stand er rechtlich einfach ganz außerhalb der Stadtkorporation, aber auch wo dies nicht der Fall war, bildete er mit seinen unaustilgbaren ständischen Privilegien eine unbequeme und unassimilierbare Fremdmacht. Die Reformation machte diesem Zustand innerhalb ihres Bereichs ein Ende, aber den Städten, welche nun sehr bald dem patri[A 740]monialbureaukratischen Staat unterworfen wurden, kam dies nicht mehr zugute.
In diesem letzteren Punkt war die Entwicklung in der Antike gänzlich anders verlaufen. Je weiter zurück, desto mehr ähnelt die ökonomische Stellung der Tempel in der Antike derjenigen der Kirchen und namentlich der Klöster im früheren Mittelalter, wie sie besonders in den
h
[251]A: der
venezianischen Kolonien
i
A: Kolonie
zutage trat.
155
Dies gilt v.a. für die venezianischen Kolonien des 12. Jahrhunderts in den Kreuzfahrerstaaten (u. a. Akko und Tyros); vgl. oben, S. 157, Anm. 45.
Aber die Entwicklung verlief hier nicht wie im Mittelalter in der Richtung einer zunehmenden Trennung von Staat und Kirche und steigenden Selbständigkeit des kirchlichen Herrschaftsgebiets, sondern gerade umgekehrt. Die Stadtadelsgeschlechter bemächtigten sich der Priestertümer als einer Sportel- und Machtquelle
k
A: Marktquelle
, und die Demokratie verstaatlichte sie vollends und machte sie zu Pfründen, welche meist versteigert wurden,
156
Dies trifft wohl erst für die hellenistische Zeit zu; vgl. oben, S. 185, Anm. 144.
vernichtete den politischen Einfluß [252]der Priester und nahm die ökonomische Verwaltung in die Hand der Gemeinde. Die großen Tempel des Apollon in Delphoi oder der Athena in Athen waren Schatzhäuser des hellenistischen Staates, Depositenkassen von Sklaven, und ein Teil von ihnen blieben große Grundbesitzer.
157
[252] Zu Beginn des Peloponnesischen Krieges schlugen die Korinther vor, der Peloponnesische Bund solle die Finanzierung einer Flotte u. a. durch eine Anleihe bei den Tempelschätzen in Olympia und Delphi sichern (Thukydides 1, 121, 3; 1, 143, 1). Der Plan ist vermutlich nicht verwirklicht worden; rechtlich wäre dies auch nicht ohne weiteres möglich gewesen, da für den Tempel in Delphi die Amphiktyonie zuständig war (vgl. oben, S. 184, Anm. 142). In Athen konnte man dagegen über die eigenen Tempelkassen verfügen. In der Zeit des Seebunds war (neben einem Zehntel der Kriegsbeute) jeweils ein Sechzigstel der Tribute der Seebundstaaten an den Schatz der Athena abgeführt worden. In Kriegszeiten nahm man – prinzipiell zurückzahlbare – Anleihen bei den Tempelkassen auf. Grundsätzlich blieb Polis- und Tempelvermögen getrennt, aber die Entscheidung über die Verwendung der Tempelschätze lag allein bei den politischen Instanzen, die auch gegebenenfalls den Zinssatz auf ein Minimum reduzierten bzw. die Rückzahlungen aussetzten; Kirchhoff, A[dolf], Zur Geschichte des Athenischen Staatsschatzes im fünften Jahrhundert. – Berlin: F. Dümmler 1876, v.a. S. 43 und 46–49; Billeter, Gustav, Geschichte des Zinsfusses im griechisch-römischen Altertum bis auf Justinian. – Leipzig: B. G. Teubner 1898, S. 42 f.; Meyer, Finanzen (wie oben, S. 175, Anm. 106), S. 943 f. – Eine wichtige Rolle als Kreditgeber sowohl an Staaten wie an Privatleute spielte im 4.–2. Jahrhundert v. Chr. die Kasse des Apollon-Heiligtums auf Delos (bis 314 v. Chr. unter athenischer Kontrolle), deren Einkünfte u. a. aus der Verpachtung großer Liegenschaften stammten; vgl. Schoeffer, [Valerian] von, „Delos“, in: RE, Band 4,2, 1901, Sp. 2459–2502, hier Sp. 2479 f. und 2491 f.; Ziebarth, Erich, Beiträge zum griechischen Recht, 2.: Juristisches aus griechischen Inschriften, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtwissenschaft, Band 19, 1906, S. 269–312, hier S. 270–298. – Sklaven konnten in Tempeln in Delphi und andernorts ihre Ersparnisse an einem gesicherten Ort im Hinblick auf einen späteren Freikauf hinterlegen, bei dem sie von ihrem Herrn pro forma an die Gottheit verkauft wurden und dieser aus der Tempelkasse (faktisch aus dem Depositum des Sklaven) bezahlt wurde. Die Praxis ist durch Inschriften aus hellenistischer Zeit bezeugt; vgl. Büchsenschütz, [Albert] B., Besitz und Erwerb im griechischen Alterthume. – Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 1869, S. 174–176; Stengel, Kultusaltertümer (wie oben, S. 185, Anm. 144), S. 33; Calderini, Manomissione, S. 102–104; Deissmann, Adolf, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1908, S. 232–238. – Vgl. zur Funktion der Tempelschätze auch die ausführlichen Bemerkungen Webers, in: Agrarverhältnisse3, S. 110 f. (MWG I/6).
Aber eine ökonomische Konkurrenz mit bürgerlichen Gewerben kam innerhalb der antiken Städte nicht in Frage. Eine Säkularisation des Sakralguts hat es nicht gegeben und konnte es nicht geben. Aber der Sache, wenn auch nicht der Form nach, war in den antiken Städten die „Verweltlichung“ des einst in den Tempeln konzentrierten Gewerbes ungleich radikaler durchgeführt als im Mittelalter. Das Fehlen der Klöster und der selbständigen Orga[253]nisation der Kirche als eines interlokalen Verbandes überhaupt war der wesentliche Grund dafür. – Die Konflikte des Stadtbürgertums mit den grundherrlichen Gewalten waren der Antike ebenso bekannt wie dem Mittelalter und der beginnenden Neuzeit. Die antike Stadt hat ihre Bauernpolitik und ihre den Feudalismus sprengende Agrarpolitik gehabt. Die Dimensionen dieser Politik sind aber so viel größer und ihre Bedeutung innerhalb der Stadtentwicklung dabei so heterogen gegenüber dem Mittelalter, daß hier der Unterschied deutlich hervortritt. Er muß im allgemeinen Zusammenhang erörtert werden.
Die wesentlich ökonomischen Gegensätze der Stadtbürger zu den nicht bürgerlichen Schichten und ihren ökonomischen Lebensformen waren nicht das, was der mittelalterlichen Stadt ihre entwicklungsgeschichtliche Sonderstellung zuwies. Vielmehr [A 741]war dafür die Gesamtstellung der Stadt innerhalb der mittelalterlichen politischen und ständischen Verbände das Entscheidende. Hier am stärksten scheidet sich die typische mittelalterliche Stadt nicht nur
l
In A folgt: stark
von der antiken Stadt, sondern auch innerhalb ihrer selbst in zwei durch flüssige Übergänge verbundene, in ihren reinsten Ausprägungen aber sehr verschiedene Typen, von denen der eine, wesentlich südeuropäische, speziell italienische und südfranzösische, dem [WuG1 583]Typus der antiken Polis trotz aller Unterschiede dennoch wesentlich näher steht als der andere, vornehmlich nordfranzösische, deutsche und englische, der trotz aller Unterschiede untereinander
m
A: nebeneinander
in dieser Hinsicht gleichartig war. Wir müssen uns nunmehr noch einmal einer Vergleichung des mittelalterlichen mit dem
n
In A folgt: nunmehr
antiken Stadttypus und zweckmäßigerweise mit anderen Stadttypen überhaupt
o
A: überhaupt,
zuwenden, um die treibenden Ursachen der Verschiedenheit zusammenhängend zu überblicken.
Der ritterliche Patriziat der südeuropäischen Städte besaß ganz ebenso persönliche auswärtige Burgen und Landbesitzungen, wie etwa im Altertum dies schon mehrfach an dem Beispiel des Miltiades erörtert wurde.
158
[253] Vgl. oben, S. 69 und 185.
Die Besitzungen und Burgen der [254]Grimaldi finden sich weit die Küste der Provence entlang.
159
[254] Vgl. oben, S. 69 mit Anm. 21.
Nach Norden zu wurden derartige Verhältnisse wesentlich seltener, und die typische mittel- und nordeuropäische Stadt der späteren Zeit kennt sie nicht. Andererseits: Von einem Demos, der[,] wie der attische, durch rein politische Macht bedingte städtische Gratifikation und Rentenverteilung erwartete, weiß die mittelalterliche Stadt ebenfalls so gut wie gar nichts, obwohl es ganz wie für die athenischen Bürger Verteilung des Ertrages der laurischen
p
[254]A: laugischen
Minen,
160
Die Silberminen im Gebiet von Laureion im südlichen Attika befanden sich überwiegend im Besitz des Staates, der sie an Unternehmer verpachtete. Nach Herodot 7, 144, 1 und Plutarch, Themistokles 4, 1, bedeutete der von Themistokles 483/482 v. Chr. durchgesetzte Beschluß, die Einkünfte aus den laurischen Minen für den Aufbau einer Flotte zu verwenden, die Abkehr von der Praxis, das Geld an die einzelnen Bürger auszuschütten; vgl. auch Meyer, Finanzen (wie oben, S. 175, Anm. 106), S. 939.
so für mittelalterliche und selbst moderne Gemeinden direkte Verteilungen von ökonomischen Erträgnissen des Gemeindebesitzes gegeben hat.
Sehr scharf ist der Gegensatz der untersten ständischen Schicht: die antike Stadt kennt als Hauptgefahr der ökonomischen Differenzierung, die deshalb von allen Parteien gleichmäßig, nur mit verschiedenen Mitteln zu bekämpfen gesucht wurde, die Entstehung einer Klasse von Vollbürgern, Nachkommen vollbürgerlicher Familien, welche, ökonomisch ruiniert, verschuldet, besitzlos, nicht mehr imstande, sich selbst für das Heer auszurüsten, von einem Umsturz oder einer Tyrannis die Neuverteilung des Grundbesitzes oder einen Schulderlaß oder [A 742]Versorgung aus öffentlichen Mitteln: Getreidespenden, unentgeltlichen Besuch von Festen, Schauspielen und Zirkuskämpfen, oder direkte Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln zur Ermöglichung des Festbesuches verlangten. Derartige Schichten waren dem Mittelalter zwar nicht unbekannt. Sie fanden sich auch in der Neuzeit auf dem Boden der amerikanischen Südstaaten, wo der besitzlose „arme weiße Dreck“ (poor white trash) der Sklavenhalterplutokratie gegenüberstand. Im Mittelalter waren die durch Schulden deklassierten Schichten des Adels[,] z. B. in Ve[255]nedig
161
[255] Es ist unklar, auf welche Zeit Weber sich bezieht. Von Adligen, die der Unterstützung von privater und kirchlicher Seite bedurften, ist schon im 12. Jahrhundert die Rede; vgl. Kretschmayr, Venedig (wie oben, S. 149, Anm. 10), S. 373; die Aufgabe des im 14. Jahrhundert eingerichteten Rats der Zehn bestand u. a. in der Verhinderung von (Adels-)Verschwörungen (vgl. oben, S. 156); daß verarmte Adlige als Gefahr für die öffentliche Sicherheit empfunden wurden, ist z. B. für das späte 15. Jahrhundert bezeugt; vgl. Burckhardt, Jacob, Die Cultur der Renaissance in Italien, Band 1, 4., durchgesehene Aufl. – Leipzig: E. A. Seemann 1885, S. 65 f.
[,] ebenso ein Gegenstand der Sorge
q
[255]A: Sorge,
wie in Rom in der Zeit Catilinas. Aber im ganzen spielt dieser Tatbestand eine geringe Rolle. Vor allem in den demokratischen Städten. Er war jedenfalls nicht der typische Ausgangspunkt von Klassenkämpfen[,] wie dies im Altertum durchaus der Fall war. Denn in der Antike spielten sich in der Frühzeit die Klassenkämpfe zwischen den stadtsässigen Geschlechtern als Gläubigern und den Bauern als Schuldnern und depossedierten Schuldknechten ab. Der „civis proletarius“, der „Nachfahre“ – eines Vollbürgers nämlich
162
In den römischen Quellen wird der proletarius als Bürger definiert, der den Mindestzensus für den Waffendienst nicht erreichte und somit dem Staat nur durch die Zeugung von Nachkommen (proles) dienen konnte: Cicero, De republica 2, 40; Gellius, Noctes Atticae 16, 10. Für Webers von der communis opinio abweichendes Verständnis vgl. Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 159 f. mit Erläuterungen, sowie Agrarverhältnisse3, S. 152 (MWG I/6).
– war der typische Deklassierte. In der Spätzeit waren es verschuldete Junker wie Catilina, welche den besitzenden Schichten gegenüberstanden und zu Führern der radikalen revolutionären Partei wurden.
163
Catilinas Aufstand 63 v. Chr. begann mit einer Verschwörung verschuldeter Aristokraten und wurde dann vor allem von entwurzelten Bauern unterstützt; vgl. Mommsen, Römische Geschichte, Band 3, S. 175 ff. Die Rede von den „Junkern“ erinnert an den typischen Sprachgebrauch Mommsens in diesem Werk.
Die Interessen der negativ privilegierten Schichten der antiken Polis sind wesentlich Schuldner-Interessen. Und daneben: Konsumenten-Interessen. Dagegen schwinden auf dem Boden der Antike innerhalb der Stadtwirtschaftspolitik jene Interessen zunehmend, welche im Mittelalter den Angelpunkt der demokratischen Stadtpolitik ausmachten: die gewerbepolitischen. Jene zünftlerische „Nahrungspolitik“ stadtwirtschaftlichen Charakters, welche die Frühzeit des Aufstieges der Demokratie auch in der Antike zeigte, trat mit der weiteren Entwicklung immer stärker zurück. Wenigstens ihre produzentenpolitische Seite. Die voll entwickelte Demokratie der hel[256]lenischen Städte, ebenso aber auch die voll entwickelte Honoratiorenherrschaft in Rom kennt vielmehr, soweit die städtische Bevölkerung in Betracht kommt, neben Handelsinteressen fast nur noch Konsumenteninteressen. Die Getreideausfuhrverbote, welche [WuG1 584]der antiken mit der mittelalterlichen und merkantilistischen Politik gemeinsam waren, reichten in der Antike nicht aus. Direkte öffentliche Fürsorge für Getreidezufuhr beherrschte die Wirtschaftspolitik. Getreidespenden befreundeter [A 743]Fürsten geben in Athen einen Hauptanlaß zur Revision der Bürgerregister behufs Ausschluß Unberechtigter.
164
[256] Die Verteilung einer ägyptischen Getreidespende unter die athenische Bürgerschaft im Jahre 445/444 v. Chr. soll mit der Revision der Bürgeristen und dem Ausschluß einiger tausend Unberechtigter verbunden gewesen sein; Plutarch, Perikles 37, 4; Philochoros, fr. 90 Müller = 328, fr. 119 Jacoby; vgl. Beloch, Julius, Die Bevölkerung der griechisch-römischen Welt. – Leipzig: Duncker & Humblot 1886, S. 75–81 (hinfort: Beloch, Bevölkerung); Busolt, Geschichte (wie oben, S. 173, Anm. 88), Band 3,1, S. 500–502. Auch spätere Getreideverteilungen kamen allein Bürgern zugute (Aristophanes, Vespae 715–718; dazu Böckh, Staatshaushaltung (wie oben, S. 221, Anm. 80), S. 113 f.; Beloch, Julius, Griechische Geschichte, Band 1: Bis auf die sophistische Bewegung und den Peloponnesischen Krieg. – Strassburg: Karl J. Trübner 1893, S. 467); im 4. Jahrhundert v. Chr. erhielt Athen verschiedentlich Getreidespenden von fremden Herrschern; vgl. Böckh, a. a. O., S. 112 f. Generelle Überprüfungen der Bürgerlisten aus solchen Anlässen sind jedoch nicht bezeugt.
Und Mißernten im pontischen Getreidegebiet zwingen Athen zum Erlaß des Tributs an die Bundesgenossen;
165
In: Agrarverhältnisse3, S. 117 (MWG I/6), hatte Weber noch von „einer Mißernte“, nicht „Mißernten“ gesprochen. Seine Feststellung beruht auf in dieser Form nicht haltbaren Spekulationen in der zeitgenössischen Literatur. Sie geht offensichtlich zurück auf Ausführungen bei Wilamowitz-Moellendorff, U[lrich] v[on], Von des attischen reiches herrlichkeit, in: Aus Kydathen (Philologische Untersuchungen, hg. von A[dolf] Kiessling und U[lrich] v[on] Wilamowitz-Moellendorff, Band 1). – Berlin: Weidmann 1880, S. 1–96, hier S. 17 f., zur Bedeutung der Schwarzmeerregion für die Getreideversorgung Athens und seiner Verbündeten: „eine misernte in den nördlichen gegenden zwang das reich sofort, die matricularbeiträge mehreren Städten vorläufig zu stunden“ (S. 18). Wilamowitz hatte dies aus Hinweisen bei Köhler, Ulrich, Urkunden und Untersuchungen zur Geschichte des delisch-attischen Bundes. – Berlin: F. Dümmler 1870, geschlossen. Köhler hatte in einer bei Thukydides 1, 112, 4 für das Frühjahr 449 v. Chr. verzeichneten Hungersnot (limos) die Ursache für die von ihm aus den athenischen „Tributlisten“ (den inschriftlichen Aufzeichnungen der Beitragszahlungen der Seebundstaaten) für 449 v. Chr. erschlossenen Zahlungsausfälle von Städten in der Hellespont-Region sehen wollen (ebd., S. 20 und 130); Thukydides bezieht sich jedoch dem Kontext nach auf eine Versorgungskrise bei der athenischen Flotte, die damals die Stadt Kition auf Zypern belagerte, und nicht auf eine allgemeine „Theuerung“, wie Köhler meint.
so sehr beherrschte der Brotpreis die Leistungsfähigkeit. Direkte Getreideankäufe der Polis finden sich auch im hellenischen Gebiet. [257]Aber in riesigstem Maßstab entstand die Benutzung der Provinzen zu Getreidesteuern für die Getreidespenden an die
r
[257]A: der
Stadtbürgerschaft in der Spätzeit der römischen Republik.
166
[257] Die staatliche Verteilung von Getreide zu einem garantierten bzw. subventionierten Preis an die in Rom ansässigen Bürger begann 123 v. Chr. mit einem Gesetz des Gaius Gracchus; durch ein Gesetz des Clodius wurden 58 v. Chr. kostenlose Verteilungen eingeführt. Das Getreide wurde v.a. aus Sizilien und Africa (der Provinz auf dem ehemaligen Staatsgebiet von Karthago) importiert.
Der spezifisch mittelalterliche Notleidende war ein armer Handwerker, also ein gewerblicher Arbeitsloser, der spezifisch antike Proletarier ein politisch Deklassierter, weil grundbesitzlos gewordener früherer Grundbesitzer. Auch die Antike hat die Beschäftigungslosigkeit von Handwerkern als Problem gekannt. Das spezifische Mittel dagegen waren große Staatsbauten, wie sie Perikles ausführen ließ.
167
Die Deutung der Tempelbauten auf der Akropolis als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme geht auf Plutarch, Perikles 12, 1–5, zurück.
Schon die massenhafte Sklavenarbeit im Gewerbe verschob aber dessen Lage. Gewiß hat es auch im Mittelalter in einem Teil der Städte dauernd Sklaven gegeben. Einerseits bestand in den mittelländischen Seestädten sogar bis gegen Ende des Mittelalters eigentlicher Sklavenhandel. Andererseits hatte der gerade entgegengesetzte, kontinentalste
s
A: den gerade entgegengesetzten, kontinentalsten
Typus: eine Stadt wie Moskau vor der Leibeigenenbefreiung,
168
D.h. vor 1861.
durchaus das Gepräge einer großen Stadt des Orients, etwa der diokletianischen Zeit:
169
Gemeint sein könnte – neben Konstantinopel und Antiochia – Nikomedia in Bithynien, das Diokletian (römischer Kaiser 284–305) zu seiner Residenz erhoben hatte.
Renten von Land- und Menschenbesitzern und Amtseinkünfte wurden darin verzehrt. Aber in den typischen mittelalterlichen Städten des Okzidents spielte ökonomisch die Sklavenarbeit je länger je mehr eine ganz geringe, schließlich gar keine Rolle mehr. Nirgends hätten machtvolle Zünfte das Entstehen einer Handwerkerschicht von Leihzins an ihre Herren zahlenden Sklaven als Konkurrenten des freien Gewerbes zugelassen. Gerade umgekehrt in der Antike. Jede Vermögensakkumulation bedeutete dort: Anhäufung von Sklavenbesitz. Jeder Krieg bedeutete massenhaft
t
A: massenhafte
Beutesklaven und Über[258]füllung des Sklavenmarktes. Diese Sklaven wurden zum Teil konsumtiv, zur persönlichen Bedienung der Besitzer, verwendet. Im Altertum gehörte der Sklavenbesitz zu den Erfordernissen jeder vollbürgerlichen Lebenshaltung. Der Vollhoplit konnte in Zeiten chronischen Kriegszustandes den Sklaven als Arbeitskraft so wenig entbehren wie der Ritter des Mittelalters die Bauern. Wer ohne jeden Sklaven leben mußte, [Α 744]war unter allen Umständen ein Proletarier (im Sinn der Antike).
170
[258] Vgl. oben, S. 255 mit Anm. 162.
Die vornehmen Häuser des Römeradels kannten konsumtive Verwendung von Sklaven in Masse zur persönlichen Bedienung, welche in einer sehr weitgetriebenen Funktionsteilung die Geschäfte des großen Haushaltes besorgten und produktiv wenigstens beträchtliche Teile des Bedarfs oikenwirtschaftlich deckten. Nahrung und Kleidung der Sklaven wurde allerdings zum erheblichen Teile geldwirtschaftlich beschafft. In der athenischen Wirtschaft galt als Norm der voll geldwirtschaftliche Haushalt, der erst recht im hellenistischen Osten herrschte. Aber noch von Perikles wurde speziell betont,
171
Plutarch, Perikles 16, 4.
daß er, um der Popularität bei den Handwerkern willen, seinen Bedarf möglichst durch Kauf auf dem Markt und nicht eigenwirtschaftlich deckte. Andererseits lag ein immerhin beträchtlicher Teil auch der
a
[258] In A folgt: städtischen
gewerblichen Produktion in den Städten in den Händen von selbständig erwerbenden Sklaven. Von den Ergasterien ist schon früher die Rede gewesen,
172
Im vorliegenden Text aber nur en passant oben, S. 184 und 215; gegebenenfalls könnte sich der Rückverweis auf die Bemerkungen in: WuG1, S. 214 f. (MWG I/22-1), beziehen. Ausführlich hatte Weber die mit Sklaven betriebenen Werkstätten in: Agrarverhältnisse3, v.a. S. 61 und 118 f. (MWG I/6), behandelt.
und ihnen treten die unfreien Einzelhandwerker und Kleinhändler zur Seite. Es ist selbstverständlich, daß das Nebeneinanderarbeiten von Sklaven und freien Bürgern, wie es sich in den gemischten Akkordgruppen bei den Arbeiten am Erechtheion findet,
173
Vgl. oben, S. 102 f. mit Anm. 6.
sozial auf die Arbeit als solche drückte und daß die Sklavenkonkurrenz auch ökonomisch sich fühlbar machen mußte. Die größte Expansion der Sklavenausnutzung fiel aber im hellenischen Gebiet gerade in die Blütezeiten der Demokratie.
[259][WuG1 585]Dieses Nebeneinander von Sklavenarbeit und freier Arbeit hat nun offenbar in der Antike auch jede Möglichkeit einer Entwicklung von Zünften in der Entstehung geknickt. In der Frühzeit der Polis waren vermutlich – wenn auch nicht sicher nachweislich – in Ansätzen gewerbliche Verbände vorhanden. Allem Anschein nach aber als organisierte Verbände militärisch wichtiger alter Kriegshandwerker – wie die Centuria fabrum
b
[259]A: fabram
in Rom,
174
[259] Vgl. oben, S. 187 f. mit Anm. 154.
die „Demiurgen“ im Athen der Ständekämpfe.
175
Nach Aristoteles, Athenaion politeia 13, 2, soll 581 v. Chr. zur Beilegung innerer Konflikte ein Gremium von zehn Archonten gewählt worden sein, das sich aus fünf Adligen (Eupatriden), drei Bauern und zwei Demiurgen – hier wohl als Handwerker zu verstehen – zusammengesetzt habe.
Diese Ansätze politischer Organisation aber schwanden gerade unter der Demokratie spurlos, und das konnte nach der damaligen sozialen Struktur des Gewerbes nicht anders sein. Der antike Kleinbürger konnte wohl mit den Sklaven zusammen einer Mystengemeinde (wie in Hellas) oder einem „Collegium“ (wie später in Rom) angehören,
176
Zu den (bis in die römische Kaiserzeit fortbestehenden) Eleusinischen und einigen anderen griechischen Mysterienkulten, in die auch Sklaven eingeweiht werden konnten, vgl. Rohde, Erwin, Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, Band 1, 2. Aufl. – Freiburg i. Br. [u. a.]: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1898, S. 278–300: Stengel, Kultusaltertümer (wie oben, S. 185, Anm. 144), S. 152–169; zu den späteren Mysteriengemeinden vgl. oben, S. 103. Anm. 9, und zu den römischen Kollegien im Sinne von Berufs-, Kult- und Begräbnisvereinen, denen neben Freien und Freigelassenen auch Sklaven angehören konnten, Liebenam, Vereinswesen (wie oben, S. 103, Anm. 9), S. 161 ff.; Kornemann, Collegium (wie oben, S. 188, Anm. 155).
aber nicht einem Verband, der, wie die Zunft des Mittelalters, politische Rechte in Anspruch nahm. Das Mittel[A 745]alter kennt den Popolo im Gegensatz zu den Geschlechtern als zünftig organisiert. Gerade in der klassischen Zeit der Antike, unter der Herrschaft des Demos fehlt dagegen (im Gegensatz zu älteren Ansätzen) jede Spur von Zünften. Nicht nach Zünften, sondern nach Demoi oder nach Tribus, also nach örtlichen und zwar (formal) vorwiegend ländlichen Bezirken war die „demokratische“ Stadt eingeteilt. Das war ihr Merkmal. Davon weiß nun wiederum das Mittelalter gar nichts. Die Einteilung des Stadtinneren in Stadtquartiere war natürlich dem Altertum und Mittelalter gemeinsam mit den orientalischen und ostasiatischen Städten. Indessen die ausschließliche Begründung einer poli[260]tischen Organisation auf lokale Gemeinschaften und vor allem deren Erstreckung auf das gesamte zum politischen Bereich der Stadt gehörige platte Land, so daß hier formell geradezu das Dorf die Unterabteilung der Stadt wurde, fehlte dem Mittelalter und fehlte auch allen anderen Städten anderer Gebiete. Die Demoieinteilung fiel (im wesentlichen) mit den Dorfmarken (historischen oder ad hoc geschaffenen) zusammen. Die Demoi waren mit Allmenden und lokalen Ortsobrigkeiten ausgestattet. Dies als Grundlage der Stadtverfassung steht einzigartig in der Geschichte da und kennzeichnet für sich allein schon die Sonderstellung gerade der demokratischen Polis des Altertums, welche gar nicht stark genug betont werden kann. Dagegen gewerbliche Verbände als Konstituentien einer Stadt finden sich in der Antike nur in der Frühzeit und dann nur neben anderen ständischen Körperschaften. Sie galt für Wahlzwecke: so in Rom die Centurie der fabri
c
[260]A: tabri
neben den Centurien der equites im alten Klassenheer
177
[260] Die für die wichtigsten Entscheidungen (v.a. über Krieg und Frieden und für die Wahl der höchsten Magistrate, ursprünglich auch für alle Gesetzesbeschlüsse) zuständigen Centuriatcomitien gehen auf die Gliederung des Heeres zurück. Die Bürger werden nach ihrem Vermögen in die Abstimmungskörperschaften der 18 Reitercenturien (equites) und 175 Centurien Fußvolk (diese wiederum gegliedert in 5 Vermögensklassen) eingeteilt. Zu den centuriae fabrum vgl. oben, S. 187 f. mit Anm. 154.
und möglicherweise, aber gänzlich unsicher, die Demiurgen eines nachsolonischen
d
A: vorsolonischen ; vgl. Anm. 178.
Ständekompromisses in Athen.
178
Es handelt sich nicht um einen „vorsolonischen“ Kompromiß (wie ursprünglich im Text). Der Vorgang fällt in das Jahr 581 v. Chr., d. h. in die Zeit nach Solons Reform (594 v. Chr.). Weber stützt sich, wie aus Agrarverhältnisse3, S. 106 und 109 (MWG I/6), erkennbar, nicht auf abweichende chronologische Ansätze.
Dies Vorkommen konnte dem Ursprung nach sowohl auf freie Einungen zurückgehen – wie dies sicherlich für das in der politischen Verfassung mit berücksichtigte, sehr alte Collegium mercatorum mit dem Berufsgott Mercurius in Rom galt
179
Eine öffentliche Funktion erhielt die Vereinigung der Kaufleute mit der Weihung eines Merkur-Tempels im Jahre 495 v. Chr.; Livius 2, 21,7 und 2, 27, 5.
– oder es konnte auch in leiturgisch, für Heereszwecke, gebildeten Verbänden seine letzte Quelle haben: die antike Stadt beruhte ja in ihrer Bedarfsdeckung ursprünglich auf den Frohnden der Bürger. Einzelne gildenartige Erscheinungen finden sich. Der Kultverband der Tänzer des Apollon in Milet z. B. mit seiner ganz offiziellen, [261]durch Eponymie des Jahres nach dem Verbandsvorstand
e
[261]A: Verbandsvorstand,
dokumentierten Herrschafts[A 746]stellung
180
[261] Gemeint ist der Kultverband der molpoi (Tänzer), deren Vorsteher in Milet seit Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. (und bezeugt bis ins frühe 1. Jahrhundert n. Chr.) die „eponymen“ Magistrate darstellten, nach denen die Jahre benannt wurden. Die anfangs des 20. Jahrhunderts gefundene Inschrift des Kultgesetzes der molpoi ist zuerst veröffentlicht und erörtert worden von Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, Satzungen einer milesischen Sängergilde, in: Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften 1904, S. 619–640; vgl. auch dessen Bemerkung in: Staat (wie oben, S. 182, Anm. 139), S. 77.
(unbekannten spezielleren Inhalts) in der Stadt findet seine Parallele am ehesten in den Gilden des mittelalterlichen Nordens einerseits, den Zünften der magischen Tänzer bei amerikanischen Stämmen und der Magier (Brahmanen) in Indien, der Leviten in Israel andererseits.
181
Mit den „Zünften der magischen Tänzer“ sind vermutlich die bei einer Vielzahl von nordamerikanischen Völkerschaften beobachteten „Geheimgesellschaften“ von Tänzern und Schauspielern gemeint, die Ähnlichkeiten zu Totemgruppen aufweisen, anders als diese jedoch auf freiwilliger Assoziation, nicht auf Verwandtschaftsbindungen beruhen; vgl. Webster, Hutton, Primitive Secret Societies. A Study in Early Politics and Religion. – New York: Macmillan 1908, v.a. S. 178–190; Frazer, Totemism, vol. 3 (wie oben, S. 113, Anm. 33), S. 457–550. – Die Bezeichnung der Brahmanen als Magier dürfte sich auf die von ihnen durchgeführten Zauber- und Beschwörungspraktiken beziehen. – Die Leviten galten ursprünglich als Priester, wurden jedoch nach der Reform des Tempelkults unter König Josia (um 621 v. Chr.) zu Tempeldienern degradiert.
Man wird aber nicht an einen Gaststamm von Berufsekstatikern denken. Er ist in historischer Zeit vielmehr wohl als ein Klub der zur Teilnahme an der Apollon-Prozession qualifizierten Honoratioren anzusehen, entspricht also am ehesten der Kölner Richerzeche, nur mit der dem Altertum im Gegensatz zum Mittelalter typischen Identifikation einer kultischen Sondergemeinschaft mit der herrschenden politischen Bürgerzunft. Wenn in der Spätzeit der Antike andererseits in Lydien wieder Kollegien von Gewerbetreibenden mit erblichen Vorstehern sich finden, welche die Stelle von Phylen einzunehmen scheinen,
182
Weber bezieht sich auf kaiserzeitliche Inschriften aus Kleinasien, v.a. Philadelphia; Waltzing, J[ean-]P[ierre], Étude historique sur les corporations professionnelles chez les Romains. Depuis les origines jusqu’à la chute de l’Empire d’Occident, tome 3: Recueil des Inscriptions grecques et latines relatives aux Corporations des Romains. – Louvain: Peeters 1899, S. 51 f.; vgl. auch Szanto, Phylen (wie oben, S. 182, Anm. 137), S. 65 f.; Ziebarth, Erich, Das griechische Vereinswesen (Preisschriften gekrönt und hg. von der Fürstlich Jablonowski’schen Gesellschaft zu Leipzig, Band 34). – Leipzig: S. Hirzel 1896, S. 107–109; Büchsenschütz, Besitz (wie oben, S. 252, Anm. 157), S. 332. Die Belege deuten auf einen Zusammenhang zwischen Kollegien und Phylen, stützen jedoch nicht eindeutig Webers Feststellung über „erbliche Vorsteher“.
so ist dies sicher aus alten gewerblichen [WuG1 586]Gaststämmen [262]hervorgegangen, repräsentiert also einen der okzidentalen Entwicklung gerade entgegengesetzten, an indische Verhältnisse erinnernden Zustand. Im Okzident war eine Einteilung von Gewerbetreibenden nach Berufen erst wieder in den sowohl spätrömischen wie frühmittelalterlichen „Officia“ und „Artificia“ der grundherrlichen Handwerke vorhanden.
183
[262] Die Bezeichnungen officia für die Abteilungen der ländlichen Arbeiter bzw. artificia für die Handwerkergruppen finden sich sowohl in römischen wie in frühmittelalterlichen Quellen; Weber, Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 348; Bücher, Gewerbe (wie oben, S. 71, Anm. 25), S. 852.
Später, im Übergang zum Mittelalter, finden sich für städtische Handwerke, welche für den Markt produzierten, aber von einem Herrn persönlich abhängig, also abgabepflichtig waren. Verbände, welche, soviel ersichtlich, nur der Abgabenerhebung gedient zu haben scheinen, vielleicht aber ursprünglich vom Herren gebildete leiturgische Verbände waren. Neben diesen aber, die später verschwinden, und vielleicht ebenso alt wie sie, finden sich dann jene Einungen freier Handwerker mit monopolistischen Zwecken, welche in der Bewegung des Bürgertums gegen die Geschlechter die entscheidende Rolle spielten. In der Antike findet sich dagegen in der klassischen Demokratie nichts von alledem. Leiturgische Zünfte, welche vielleicht in der Frühzeit der Stadtentwicklung existiert haben könnten, obwohl sie außer in jenen militärischen und Abstimmungs-Verbänden Roms nicht einmal in Spuren sicher nachzuweisen sind
f
[262]A: ist
, finden sich erst im leiturgischen Staat der späten antiken Monarchie wieder.
184
In der Spätantike wurden die Handwerker in Zwangsverbänden zusammengefaßt, die gegenüber dem Staat für die Erfüllung öffentlicher Dienstleistungen hafteten; vgl. Kornemann, Collegium (wie oben, S. 188, Anm. 155), Sp. 464–477.
Die freien Einungen aber haben gerade in der Zeit der klassischen Demokratie zwar alle möglichen anderen Gebiete umfaßt, aber, soviel ersichtlich, nirgends Zunftcharakter besessen oder an[A 747]gestrebt. Sie gehen uns hier daher nichts an. Hätten sie irgendwo ökonomischen Zunftcharakter erlangen wollen, so hätten sie eben, da die unfreien Handwerker nun einmal massenhaft existierten, ebenso wie die mittelalterliche Stadt, zwischen freien und unfreien Mitgliedern keinen Unterschied machen dürfen. Dann aber mußten sie auf politische Bedeutung verzichten, und das hätte für sie gewichtige Nachteile [263]ökonomischer Art, die wir bald kennenlernen werden,
185
[263] Siehe unten, S. 264.
zur Folge gehabt. Die antike Demokratie war eine „Bürgerzunft“ der freien Bürger und dadurch, wie wir sehen werden,
186
Siehe unten, S. 281 ff.
in ihrem ganzen politischen Verhalten determiniert. Die freien Zünfte oder die ihnen ähnlichen Einungen beginnen sich daher, soviel bisher bekannt, genau in derjenigen Zeit erstmalig zu bilden, als es mit der politischen Rolle der antiken Polis definitiv zu Ende war. Die Idee aber, die unfreien oder die freien nicht vollbürgerlichen (freigelassenen, metökischen) gewerblichen Arbeiter zu unterdrücken, zu verjagen oder wirksam zu begrenzen, konnte für die Demokratie der Antike offenbar als undurchführbar
g
[263]A: undurchführbar,
gar nicht mehr in Betracht kommen. Ansätze, die sich dafür in charakteristischer Art in der Zeit der Ständekämpfe, speziell der Gesetzgeber und Tyrannen finden, schwinden später völlig[,] und zwar gerade nach dem Siege der Demokratie. Das Maß der Heranziehung von Sklaven privater Herren neben freien Bürgern und Metöken bei Staatsbauten und Staatslieferungen gerade in der Zeit der absoluten Herrschaft des Demos zeigt ganz offenbar: daß sie dafür eben einfach nicht entbehrt werden konnten, wohl auch: daß ihre Herren den Profit davon nicht entbehren wollten und die Macht hatten, ihren Ausschluß zu hindern. Sonst hätte man sie sicherlich wenigstens dazu nicht mit herangezogen. Das freie, vollbürgerliche Gewerbe reichte also für die großen Staatsbedarfszwecke gar nicht aus. Hier zeigt sich die grundverschiedene Struktur gerade der voll entwickelten antiken Stadt wie der voll entwickelten mittelalterlichen in der Zeit der Herrschaft des Demos dort, des Popolo hier. In der von Hoplitenheeren beherrschten, frühdemokratischen antiken Stadt spielte der stadtsässige[,] nicht auf einem Kleros angesessene, ökonomisch wehrfähige Handwerker politisch keine Rolle. Im Mittelalter führte das stadtsässige bürgerliche Großunternehmertum (popolo grasso) und: die kleinkapitalistischen Handwerker (popolo minuto). Diese Schichten aber – das zeigt der politische Tatbestand – [A 748]hatten innerhalb der antiken Bürgerschaft keine (maßgebende) Macht. Wie der antike Kapitalismus politisch orientiert war: an Staatslieferungen, [264]staatlichen Bauten und Rüstungen, Staatskredit (in Rom als politischer Faktor schon in den punischen Kriegen),
187
[264] Im Ersten Punischen Krieg wurde nach dem Verlust der römischen Flotte bei Drepana (249 v. Chr.) der Neuaufbau einer Seestreitmacht durch eine Anleihe bei wohlhabenden Bürgern finanziert (Polybios 1, 59, 6). Während des Zweiten Punischen Krieges übernahmen 215 v. Chr. Gesellschaften von Staatspächtern die Vorfinanzierung der Ausrüstung der Truppen auf dem spanischen Kriegsschauplatz (Livius 23, 48–49) und 214 v. Chr. ebenso die Finanzierung öffentlicher Bauten und Spiele (Livius 24, 18, 10 f.).
staatlicher Expansion und Beute an Sklaven, [WuG1 587]Land, Tributpflichten und Privilegien für Erwerb und Beleihung von Grund und Boden, Handel und Lieferungen in den Untertanenstädten, so war es auch die antike Demokratie: Die Bauern, so lange sie der Kern der Hoplitenheere blieben, waren am kriegerischen Landerwerb zu Ansiedlungszwecken interessiert. Das stadtsässige Kleinbürgertum aber: an direkten und indirekten Renten aus der Tasche der abhängigen Gemeinden: den Staatsbauten, Theater- und Heliasten-Geldern,
188
An Festtagen erhielten die Bürger „Theater-Gelder“ (theorika), ursprünglich wohl als Eintrittsgeld für den Besuch der Schauspiele, später unabhängig davon auch an anderen Festtagen. Die Einführung dieser Verteilungen wird in der heutigen Forschung überwiegend gegen Mitte des 4, Jahrhunderts v. Chr. angesetzt und nicht mehr in der Zeit des Perikles (wie z. B. Meyer, Altertum, Band 3, S. 573). Unstrittig ist dagegen die Einrichtung der Diätenzahlungen für die Geschworenen (Heliasten nach der älteren Terminologie) in perikleischer Zeit.
Getreide- und anderen Verteilungen, die aus der Tasche der Untertanen vom Staat dargeboten wurden. Eine Zunftpolitik nach mittelalterlicher Art hätte das vorwiegend aus ländlichen Grundbesitzern bestehende Hoplitenheer in der Zeit seines Sieges in den kleisthenischen und (in Rom) dezemviralen
h
[264]A: dezemvirialen
Ständekompromissen
189
Nach der Vertreibung der Peisistratiden (510 v. Chr.) konnte Kleisthenes seine Verfassungsreform 508/507 v. Chr. erst durchsetzen, nachdem der Widerstand großer Teile der (von spartanischen Truppen unterstützten) Aristokratie gebrochen worden war. Die von einer Zehnmänner-Kommission durchgeführte römische Gesetzeskodifikation von 451/450 v. Chr. zeigt dagegen einen eindeutigen Kompromiß-Charakter, da in einigen Punkten Forderungen der Plebs erfüllt, in anderen Vorrechte der Patricier festgeschrieben wurden.
schon von seinen Konsumenteninteressen an billiger Versorgung aus sicher nie aufkommen lassen. Und der spätere, von spezifisch stadtsässigen Interessenten beeinflußte[,] hellenische souveräne Demos hatte offensichtlich kein Interesse mehr daran, und übrigens wohl auch keine Möglichkeit dazu. Die politischen Ziele und Mittel der Demokratie in der Antike waren eben grundstürzend andere als diejenigen des [265]mittelalterlichen Bürgertums. Das äußert sich in der schon mehrfach berührten Verschiedenheit der Gliederung der Städte. Wenn im Mittelalter die Geschlechter nicht geradezu verschwinden, sondern in die Zünfte als die nunmehrigen Konstituentien der
i
[265]A: in die
Bürgerschaft einzutreten genötigt wurden, so bedeutete dies: daß sie innerhalb dieser durch den Mittelstand majorisiert werden konnten, also formal einen Teil ihres Einflusses einbüßten. Oft genug sind freilich umgekehrt die Zünfte dadurch nach Art der Londoner Liveries ihrerseits auf die Bahn, plutokratische Rentnerkorporationen zu werden, getrieben worden. Immer aber bedeutete der Vorgang die Steigerung der Machtstellung einer innerstädtischen, an Handel und Gewerbe direkt beteiligten oder interessierten, in diesem modernen Sinn: bürgerlichen Schicht. Wenn dagegen in der Antike an die Stelle oder neben die alten personalen Geschlechterverbände, Phylen und Phratrien die Einteilung des Stadtgebietes [A 749]in Demoi oder Tribus trat
k
A: erfolgte
und diese Körperschaften und ihre Repräsentanten nun allein die politische Gewalt in Händen hatten, so bedeutete das zweierlei: Zunächst die Zersprengung des Einflusses der Geschlechter. Denn deren Besitz war[,] seiner Entstehung durch Beleihung und Schuldverfall entsprechend[,] zum sehr großen Teile Streubesitz und kam nun nirgends mehr mit voller Wucht, sondern nur in den einzelnen Demen mit seinen einzelnen Partikeln zur Wirkung. Dort, im einzelnen Demos, war er jetzt zu registrieren und zu versteuern, und das bedeutete wesentlich mehr im Sinne der Herabsetzung der politischen Macht des großen Besitzes als heute etwa eine Eingemeindung der ostdeutschen Gutsbezirke in die Landgemeinden bedeuten würde.
190
[265] Zu den administrativen Funktionen der Demen gehörte die Führung der Bürgerliste, aufgrund derer auch die Einberufung zum Kriegsdienst erfolgte, sowie (jedenfalls bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr.) die Mitwirkung bei der Erhebung der Kriegssteuer (eisphora); vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, S. 115 (MWG I/6), sowie Schoeffer, [Valerian] von, „Demarchoi“, in: RE, Band 4,2, 1901, Sp. 2706–2712, hier Sp. 2709 f.; ders., „Demoi“, in: RE, Band 5,1, 1903, Sp. 1–131, hier Sp. 27 f. – Die Gutsbezirke blieben in Preußen bis 1927 als eigenständige, aus den Landgemeinden ausgegliederte, Verwaltungseinheiten bestehen.
Ferner und vor allem aber bedeutete die Zerschlagung des ganzen Stadtgebietes in Demoi: die Besetzung aller Rats- und Beamtenstellen mit Repräsentanten dieser, wie es in [266]Hellas geschah,
191
[266] In Athen war das Losverfahren für die Bestellung des Rates so eingerichtet, daß auf jede der zehn Phylen 50 Mitglieder entfielen; die Aufteilung auf die einzelnen Demen erfolgte proportional zur Bürgerzahl; das Verfahren der Verteilung auf Phylen und Demen galt auch für eine Reihe weiterer Ämter; Aristoteles, Athenaion politeia 62, 1.
oder doch die Gliederung der Komitien (Tributkomitien) nach Tribus (31 ländliche, 4 städtische), wie sie in Rom durchgeführt wurde.
192
Vgl. oben, S. 216, Anm. 63.
Wenigstens der ursprünglichen Absicht nach sollte das die ausschlaggebende Stellung nicht stadtsässiger, sondern landsässiger Schichten und ihre Herrschaft über die Stadt bedeuten. Also nicht ein politisches Aufsteigen des städtischen erwerbenden Bürgertums, wie im popolo, sondern gerade umgekehrt den politischen Aufstieg der Bauern. Im Mittelalter, heißt das, war von Anfang an das Gewerbe, in der Antike aber, in der kleisthenischen Zeit, die Bauernschaft Träger der „Demokratie“. Der Tatsache nach und wenigstens einigermaßen dauernd trat dies allerdings nur in Rom ein. In Athen war nämlich die Zugehörigkeit zu einem Demos, dem man einmal angehörte, eine dauernde erbliche Qualität, welche unabhängig war vom Wohnsitz, Grundbesitz und Beruf, ebenso wie die Phratrie und die Sippe angeboren waren. Die Familie eines Paianiers z. B., wie des Demosthenes, blieb durch alle Jahrhunderte diesem Demos rechtlich zugehörig, wurde in ihm zu den Lasten herangezogen und zum Amt erlost, ganz einerlei ob er durch Wohnsitz oder Grundbesitz noch die aller[WuG1 588]mindesten Beziehungen dorthin hatte.
193
Die Vermögensverhältnisse der dem Demos Paiania (im westlichen Attika) zugehörenden Familie des Demosthenes (Aischines 2, 150 und 3, 171; Plutarch, Moralia 844A und 850F) sind aufgrund der Prozesse bekannt, die Demosthenes nach Erreichen der Volljährigkeit gegen seine Vormünder führte, denen er die Veruntreuung des von seinem Vater ererbten Besitzes vorwarf; vgl. Schaefer, Arnold, Demosthenes und seine Zeit, Band 1, 2., revidierte Aufl. – Leipzig: B. G. Teubner 1885, S. 261–302. Zur Heranziehung dieses Vermögens für Steuerzwecke siehe v.a. Demosthenes 21,157; 27, 7–12; 28, 4 und 29, 59.
Damit wurde aber natürlich den Demen, sobald einige Generationen der Zuwanderung nach Athen über sie hingegangen waren, der Charakter lokaler bäuerlicher Verbände genommen. Alle möglichen stadtsässigen Gewerbetreibenden zählten jetzt als Glieder länd[A 750]licher Demoi. Die Demoi waren also in Wahrheit jetzt rein persönliche Gliederungen der Bürgerschaft, wie die Phylen es auch waren. Tatsächlich waren damit die in Athen am Ort der Ekklesia jeweils anwesenden Bürger nicht nur durch die Tatsache dieser Anwesenheit bevorzugt, sondern sie bildeten mit [267]steigendem Wachstum der Stadt zunehmend auch die Mehrheit in den formal ländlichen Demen. Anders in Rom. Für die 4 alten städtischen Tribus scheint zwar einmal ein ähnliches Prinzip gegolten zu haben. Aber jede der späteren ländlichen Tribus umfaßte nur denjenigen, welcher in ihr jeweilig mit Grundbesitz angesessen war. Mit Aufgabe dieses Grundbesitzes und anderweitigem Neuankauf wechselte man die Tribus, die claudische Gens z. B. gehörte der nach ihr benannten Tribuskörperschaft später gar nicht mehr an.
194
[267] Vgl. die Belege bei Münzer, [Friedrich], „Claudius“, in: RE, Band 3,2, 1899, Sp. 2662–2667, hier Sp. 2664 (hinfort: Münzer, Claudius).
Die Folge davon war, daß zwar ebenfalls, und bei dem ungeheuer ausgedehnten Gebiet noch mehr als in Athen, die jeweils bei den Comitien anwesenden, also die stadtsässigen Tribulen begünstigt waren. Aber: zum Unterschiede von Athen nur diejenigen, welche ländliche Grundbesitzer waren und welche Bodenbesitz solchen Umfangs in Händen hatten, daß sie die eigene Anwesenheit in der Stadt mit der Bewirtschaftung dieses Besitzes durch fremde Kräfte vereinigen konnten: Grundrentner also. Große und kleine ländliche Grundrentner beherrschen demnach seit dem Siege der Plebs die Comitien Roms. Die Übermacht der stadtsässigen Grundadelsfamilien in Rom einerseits, des städtischen Demos
l
[267]A: Demagogos
in Athen andererseits, hat diesen Unterschied aufrechterhalten. Die Plebs in Rom war kein Popolo, keine Vereinigung von Zünften der Handel- und Gewerbetreibenden, sondern dem Schwerpunkt nach der Stand der ländlichen panhopliefähigen
195
D.h., in der Lage, eine volle Hoplitenrüstung aus eigenen Mitteln zu beschaffen.
Grundbesitzer, von denen in aller Regel die stadtsässigen allein die Politik beherrschten. Die Plebejer waren anfänglich nicht etwa Kleinbauern in modernem Sinne und noch weniger eine im mittelalterlichen Sinne bäuerliche Klasse, um die es sich handelte. Sondern die ökonomisch voll wehrhafte Grundbesitzerschicht des platten Landes, in sozialer Hinsicht zwar keine „gentry“, wohl aber eine „yeomanry“,
196
Die freie englische Bauernschaft.
mit einem nach dem Ausmaß des Bodenbesitzes und der Lebenshaltung in der Zeit des Aufstieges der Plebs mittelständischen Charakter: eine Ackerbürgerschicht also. Mit steigender Expansion stieg der Einfluß der [268]stadtsässigen Bodennutznehmer. Dagegen war die gesamte Bevölkerung städtischen gewerblichen [A 751]Charakters in den vier Stadttribus zusammengefaßt, also: einflußlos. Daran hat der römische Amtsadel stets festgehalten, und auch die gracchischen Reformer sind weit davon entfernt gewesen, das ändern und eine „Demokratie“ hellenischer Art einführen zu wollen. Dieser ackerbürgerliche Charakter des römischen Heeres ermöglichte die Festhaltung der Herrschaft durch die großen stadtsässigen Senatorenfamilien. Im Gegensatz zur hellenischen Demokratie, welche den geschäftsführenden Rat durch das Los bestellte und den Areiopag, der im wesentlichen aus den gewesenen Beamten zusammengesetzt war und dem Senat entsprach, als Kassationsinstanz vernichtete,
197
[268] Durch die Reform des Ephialtes 462/461 v. Chr.; vgl. oben, S. 218, Anm. 72.
blieb (in Rom) der Senat die leitende Behörde der Stadt, und es ist nie der Versuch gemacht worden, daran etwas zu ändern. Das Kommando der Truppen hat in der großen Expansionszeit stets in den Händen von Offizieren aus Stadtadelsfamilien gelegen. Die gracchische Reformpartei der späten republikanischen Zeit aber wollte, wie alle spezifisch
m
[268]A: spezifischen
antiken Sozialreformer, vor allem die Wehrkraft des politischen Verbandes herstellen, die Deklassierung und Proletarisierung der ländlichen Besitzer, ihren Auskauf durch den großen Besitz hemmen, ihre Zahl stärken, um dadurch das sich selbst equipierende Bürgerheer aufrechtzuerhalten.
198
Das Motiv des Tiberius Gracchus, mit seiner Agrarreform zugleich die Rekrutierungsbasis der Armee zu sichern, wird schon in den Quellen hervorgehoben; Plutarch, Tiberius Gracchus 8–9; Appian, Bella civilia 1, 9–11.
Auch sie also war primär eine ländliche Partei, so sehr auch
n
Fehlt in A; auch sinngemäß ergänzt.
die Gracchen, um überhaupt etwas durchzusetzen, genötigt waren, die an Staatspachten und Staatslieferungen interessierte
o
A: interessierten
, durch ihre Beteiligung am Erwerb von den Ämtern ausge[WuG1 589]schlossene Kapitalistenschicht: die Ritter,
199
Die ursprüngliche Bezeichnung für die Reiter im Gegensatz zum Fußvolk ging in der späteren Republik auf die sehr wohlhabenden Bürger über, die den hohen Ritterzensus erreichten. Aus dieser Gruppe ragten diejenigen heraus, die im großen Stil Geld- und Handelsgeschäfte, Staatspachten und -lieferungen (vgl. oben, S. 264, Anm. 187) betrieben. Die Differenzierung zwischen Senatoren und Rittern hatte Ende des 3. Jahrhunderts [269]v. Chr. mit dem Verbot für Senatoren begonnen, größere Handelsgeschäfte zu betreiben (vgl. oben, S. 186, Anm. 150) bzw. sich an Staatspachten und -lieferungen zu beteiligen; sie wurde unter Gaius Gracchus endgültig vollzogen, als den Rittern die Geschworenenfunktion bei Repetundenprozessen gegen römische Statthalter (vgl. oben, S. 156 mit Anm. 42) sowie die Steuerpacht in der neuen Provinz Asia übertragen wurde.
zur Unterstützung gegen den Amtsadel heranzuziehen.
[269]Die perikleische Bautenpolitik wird wohl mit Recht als zugleich auch der Beschäftigung der Handwerker dienend aufgefaßt.
200
Vgl. oben, S. 257 mit Anm. 167.
Da die Bauten aus den Tributen der Bundesgenossen bestritten wurden, waren diese die Quelle jener Verdienstchancen.
201
Die Mitglieder des Delisch-Attischen Seebundes erbrachten ihre Beiträge zumeist in Form von Geldzahlungen. Perikles vertrat den Standpunkt, daß die Athener über diese Gelder frei verfügen könnten, solange sie mit ihrer Flotte die gesamten Verteidigungslasten übernähmen; Plutarch, Perikles 12, 3.
Aber, wie die inschriftlich feststehende Mitarbeit der Metöken und Sklaven zeigt,
202
Weber bezieht sich offensichtlich auf die Erechtheion-Inschriften, die allerdings aus nachperikleischer Zeit stammen (vgl. oben, S. 102 mit Anm. 6).
kam sie keineswegs nur den vollbürgerlichen Handwerkern zugute. Der eigentliche „Arbeitslosenverdienst“ der Unterschichten war vielmehr in der perikleischen Zeit: Matrosenlohn und Beute, vor allem: Seekriegsbeute. Gerade der Demos war deshalb so leicht für den Krieg zu gewinnen. Diese deklassierten Bürger waren ökonomisch abkömmlich und hatten nichts zu verlieren. Dagegen ist eine eigentlich gewerbliche Produzentenpolitik der ganzen antiken demokrati[A 752]schen Entwicklung als ausschlaggebendes Element unbekannt geblieben.
Wenn so die antike Stadtpolitik in erster Linie städtische Konsumenteninteressen verfolgt, so gilt dies gewiß auch für die mittelalterliche Stadt. Aber die Drastik der Maßregeln war in der Antike weit größer, offenbar weil es unmöglich schien, für eine Stadt wie Athen oder
p
[269]A: und
Rom die Getreideversorgung lediglich dem privaten Handel zu überlassen. Dagegen finden sich auch in der Antike gelegentlich Maßregeln zur Begünstigung besonders wichtiger Exportproduktionen. Aber durchaus nicht vornehmlich gewerblicher Produktionszweige. Und nirgends wurde die Politik einer antiken Stadt durch diese Produzenteninteressen beherrscht. Für ihre Richtung maßgebend waren vielmehr zunächst in den alten Seestädten diejenigen der
q
Fehlt in A; der sinngemäß ergänzt.
grundherrlichen und ritterlichen[,] am Seehandel und Seeraub interessierten, dorther ihren Reichtum erwerbenden stadt[270]sässigen Patrizier, welche überall, dann aber, in der Frühdemokratie, diejenigen der landsässigen hoplitfähigen Besitzer, welche in dieser Art nur in der mittelländischen Antike vorkommen. Schließlich aber die Interessen von Geld- und Sklavenbesitzern einerseits, städtischen Kleinbürgerschichten andererseits, welche beide, nur in verschiedener Art, an Staatsbedarf und Beute als Groß- und Kleinunternehmer, Rentner, Krieger und Matrosen interessiert sind.
Hierin verhielten sich nun die mittelalterlichen Stadtdemokratien grundsätzlich anders. Die Gründe des Unterschiedes waren bereits mit der Stadtgründung vorhanden und äußerten schon damals ihre Wirkung. Sie liegen in geographischen und militärischen, kulturgeschichtlich bedingten, Umständen. Die antiken mittelländischen Städte fanden bei ihrer Entstehung eine außerstädtische politische Militärgewalt von Bedeutung und vor allem: von technisch hochstehender Art, sich überhaupt nicht gegenüber. Sie selbst waren vielmehr die Träger der höchst entwickelten militärischen Technik. Zunächst in den Geschlechterstädten der ritterlichen Phalange, dann aber, und vor allem, des disziplinierten Hoplitenkampfes. Wo in dieser militärischen Hinsicht im Mittelalter Ähnlichkeiten bestanden, wie bei den frühmittelalterlichen, südeuropäischen Seestädten, und den italienischen Stadtadelsrepubliken, zeigt auch die Entwicklung relativ weitgehende Ähnlichkeiten mit der Antike. [A 753]In einem frühmittelalterlichen südeuropäischen Stadtstaat war die aristokratische Gliederung schon durch den aristokratischen Charakter der Militärtechnik bedingt. Gerade die Seestädte und nächst ihnen die (relativ) armen Binnenstädte mit großen, politisch unterworfenen und von dem stadtsässigen Rentnerpatriziat beherrschten Gebieten (wie Bern)
r
[270]A: Bern),
203
[270] Bern beherrschte die umliegende Landschaft (das Berner Oberland) und dehnte im 15. Jahrhundert seine Herrschaft auf einen Teil des Aargaus und im 16. Jahrhundert auf das Waadtland aus.
sind hier am wenigsten zu Demokratien geworden. Dagegen die gewerblichen Binnenstädte und vor allem die Städte des nördlichen kontinentalen Europa sahen sich im Mittelalter gegenüber der Militär- und Ämterorganisation der Könige und ihrer über die breiten Binnenflächen des Kontinents ausgebreiteten, ritterlichen burgsässigen Vasallen. Sie beruhten in einem gro[271]ßen, nach Norden und nach dem Binnenland zu immer mehr überwiegenden Bruchteile von ihrer Gründung an auf Konzessionen der politischen und grundherrlichen, dem feudalen Militär- und Amtsverband eingegliederten Gewalthaber. Ihre Konstituierung als „Stadt“ erfolgte [WuG1 590]je länger je mehr nicht im politischen und militärischen Interesse eines grundsässigen Wehrverbandes, sondern vor allem aus ökonomischen Motiven des Gründers: weil der Gewalthaber Zoll- und ähnliche Verkehrseinnahmen und Steuern für sich davon erwartete. Sie war für ihn in erster Linie ein ökonomisches Geschäft, nicht eine militärische Maßregel, oder jedenfalls trat diese militärische Seite, wo sie vorhanden gewesen war, zunehmend zurück. Zu einer verschieden umfangreichen Autonomie der Stadt, wie sie dem okzidentalen Mittelalter spezifisch ist, führte die Entwicklung nur deshalb und nur so weit, weil und als die außerstädtischen Gewalthaber – das war das einzige durchgehend Entscheidende – noch nicht über denjenigen geschulten Apparat von Beamten verfügten, um das Bedürfnis nach Verwaltung städtischer Angelegenheiten auch nur so weit befriedigen zu können, als es ihr eigenes Interesse an der ökonomischen Entwicklung der Stadt verlangte. Die frühmittelalterliche fürstliche Verwaltung und Rechtsprechung besaß der Natur der Sache und der Stellung ihrer Träger nach nicht diejenige Fachkunde, Stetigkeit und rational geschulte Sachlichkeit, um die ihren eigenen, sie hinlänglich in Anspruch nehmenden Interessen und ihren ständischen Gewohnheiten ganz fernliegenden Angelegenheiten der städtischen Handels- und Gewerbeinteressenten von sich aus zu ordnen und zu leiten. Das Interesse der Gewalthaber aber ging zunächst lediglich auf Geld[A 754]einnahme. Gelang es den Bürgern, dies Interesse zu befriedigen, so sprach die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die äußerstädtischen Gewalthaber sich jeder Einmischung in die Angelegenheiten der Bürger, welche ja die Anziehungskraft der eigenen städtischen Gründung in Konkurrenz mit denen anderer Gewalthaber und also ihre Einnahmen schädigen konnte, enthalten würden. Ihre Machtkonkurrenz untereinander, namentlich aber die Machtkonkurrenz der Zentralgewalt mit den großen Vasallen und der hierokratischen Gewalt der Kirche, kam den Städten zu Hilfe, zumal innerhalb dieser Konkurrenz das Bündnis mit der Geldmacht der Bürger Vorteile versprechen konnte. Je einheitlicher daher ein politischer Verband organisiert war, desto weniger entfaltete sich [272]die politische Autonomie der Städte. Denn mit dem äußersten Mißtrauen haben ohne Ausnahme alle feudalen Gewalten, von den Königen angefangen, deren Entwicklung beobachtet. Nur der Mangel eines bureaukratischen Amtsapparates und der Geldbedarf nötigte die französischen Könige seit Philipp August und die englischen seit Eduard II. sich auf die Städte ebenso zu stützen, wie die deutschen Könige sich auf die Bischöfe und das Kirchengut zu stützen versuchten. Nach dem Investiturstreit, welcher den deutschen Königen diese Stütze entzog, finden sich kurze Anläufe der salischen Könige, auch ihrerseits die Städte zu begünstigen.
204
[272] Einschlägig sind die Privilegien Heinrichs IV. 1074 für Worms (Urkundenbuch Worms (wie oben, S. 126, Anm. 70), Band 1, Nr. 56, S. 47–49): Heinrichs V. 1111 für Speyer (Urkundenbuch Speyer (wie oben, S. 118, Anm. 49), Nr. 80 (S. 88 f.)) und 1114 für Worms (Urkundenbuch Worms, Band 1, Nr. 62, S. 53 f.).
Sobald aber die politischen und finanziellen Machtmittel der königlichen oder territorialen Patrimonialgewalten den geeigneten Amtsapparat zu schaffen gestatteten, haben sie die Autonomie der Städte alsbald wieder zu vernichten gesucht.
Das historische Intermezzo der Städteautonomie war also in der mittelalterlichen Städteentwicklung durch gänzlich andere Umstände bedingt als in der Antike. Die spezifisch antike Stadt, ihre herrschenden Schichten, ihr Kapitalismus, die Interessen ihrer Demokratie sind alle, und zwar je mehr das spezifisch Antike hervortritt, desto mehr, primär politisch und militärisch orientiert. Der Sturz der Geschlechter und der Übergang zur Demokratie war bedingt durch die Änderung der Militärtechnik. Das sich selbst equipierende disziplinierte Hoplitenheer war es, welches den Kampf gegen den Adel trug, ihn militärisch und darauf auch politisch ausschaltete. Seine Erfolge gingen sehr verschieden weit, teilweise bis zur völligen Vernichtung des Adels, wie in Sparta,
205
Vgl. oben, S. 181 und 213.
teilweise zu formaler Beseitigung der Ständeschranken, Befriedigung des Verlangens nach rationa[A 755]ler und leicht zugänglicher Justiz, persönlichem Rechtsschutz, Beseitigung der Härten des Schuldrechts, während die faktische Stellung des Adels in anderer Form erhalten blieb: so in Rom. Teilweise zur Eingemeindung des Adels in die Demen und timokratischer Leitung des Staates: so im kleisthenischen Athen. Meist findet sich, so [WuG1 591]lange die landsässige Hoplit[273]schaft ausschlaggebend war, die Erhaltung autoritärer Institutionen des Geschlechterstaates. Sehr verschieden intensiv war auch der Grad der Militarisierung der Institutionen. Die spartanische
s
[273]A: spartische
Hoplitschaft hat das gesamte den Kriegern gehörige Land und die darauf sitzenden Unfreien als gemeinsamen Besitz behandelt und jedem wehrhaft gemachten Krieger den Anspruch auf eine Landrente gegeben. In keiner anderen Polis ist man so weit gegangen. Weit verbreitet scheint freilich, im Gegensatz zu der nur mit Erbanwartschaften der Sippen belasteten, im übrigen aber freien Veräußerlichkeit des Bodens, die in Resten noch später erhaltene Beschränkung der Veräußerung der Kriegerlose
t
A: Kriegslose
:
206
[273] Zur Veräußerlichkeit des Bodens vgl. die ausführliche Darstellung Webers in: Agrarverhältnisse3, S. 112–115 (MWG I/6). Da Weber dort für Athen im 5. Jahrhundert v. Chr. das Fehlen „gentiler Retraktrechte“ (S. 112) bzw. eines „Subsidiarerbrechts der Sippe“ bei gleichzeitigem „Vorzug der Söhne im Erbrecht“ (S. 113) betont, ist möglicherweise im Text „Söhne“ statt „Sippen“ zu lesen, sofern sich Weber hier auf Athen in klassischer Zeit bezieht. Zur Einschränkung der Verfügungsrechte über den kleros durch Veräußerungsverbote (Aristoteles, Politik 1319a 10 f.) und das Erbtochterrecht vgl. Weber, Judentum I, S. 130 f. (MWG I/21).
des ererbten Landes der Mitglieder der Bürgerzunft also, gewesen zu sein. Aber auch diese hat schwerlich überall bestanden und ist später überall beseitigt worden. In Sparta war die Bodenakkumulation zwar nicht in den Händen der Spartiaten, wohl aber in denen der Frauen zulässig und hat die ökonomische Basis der ursprünglich wohl 8000 Vollbürger umfassenden Kriegerschaft der „Homoioi“ so verändert, daß schließlich nur wenige Hunderte die militärische Vollausbildung und den Beitrag zu den Syssitien erschwingen konnten, an welchen das Vollbürgerrecht hing.
207
Bei Herodot 7, 234, 2 werden 8000 „Gleiche“ (so die Selbstbezeichnung der Spartiaten) für die Zeit der Perserkriege genannt; die antike Tradition kennt als ursprüngliche Zahl auch 9000 (Plutarch, Lykurg 8, 3) bzw. 10 000 Spartiaten (Aristoteles, Politik 1270a 37); einen Rückgang auf weniger als 1000, für die Speisegenossenschaften (Syssitien) qualifizierte Vollbürger infolge der Vermögenskonzentration in den Händen von Frauen gibt Aristoteles, Politik 1270a 31, an; Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. soll die Zahl auf gut 100 gesunken sein (Plutarch, Agis 5, 3).
In Athen hat umgekehrt die Durchführung der Verkehrsfreiheit in Verbindung mit der Demenverfassung die Parzellierung, welche der zunehmenden Gartenkultur entsprach, gefördert. In Rom hat wiederum umgekehrt die Verkehrsfreiheit, welche im wesentlichen seit der Zwölftafelzeit
a
A: zwölf Tafelzeit
[274]bestand,
208
[274] Weber hat seine These, die Verkehrsfreiheit für Grund und Boden sei eine Folge des Zwölftafelgesetzes von 451/450 v. Chr. gewesen, zuerst in: Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 201–206, entwickelt; vgl. auch Agrarverhältnisse3, S. 155 (MWG I/6).
zu ganz abweichenden Ergebnissen geführt, weil dabei die Dorfverfassung gesprengt wurde.
209
Weber (vgl. Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 141–144 und 212–214; Agrarverhältnisse3, S. 143 f. (MWG I/6)) geht zwar in Abweichung von anderen Auffassungen von einer ursprünglichen italischen Dorfstruktur mit genossenschaftlichen Organisationsformen aus, nimmt aber an, daß diese durch die Landzuweisungen im Zuge der römischen Expansion zerschlagen wurde.
In Hellas ist die Hoplitendemokratie überall da geschwunden, wo der Schwerpunkt der militärischen Machtstellung sich auf die Seemacht verschob (in Athen endgültig seit der Niederlage von Koroneia).
210
Ein athenisches Hoplitenkorps unter Tolmides erlitt 447 v. Chr. eine schwere Niederlage gegen die Boiotier (Thukydides 1, 113; Plutarch, Perikles 18, 2). Athen verlor damit seine Vormachtstellung in Mittelgriechenland, konnte aber die folgenden Abfallversuche von Verbündeten unterbinden und seinen Seebund konsolidieren. In der Folgezeit und namentlich im Peloponnesischen Krieg (431–404 v. Chr.) setzte Athen unter der Führung des Perikles ganz auf die Überlegenheit seiner Flotte. Daß diese Schlacht bei Koroneia in Boiotien einen Wendepunkt in der athenischen Politik bedeutet habe, betont Grote, Geschichte (wie oben, S. 218, Anm. 71), Band 3, S. 271.
Seitdem wurde sowohl die straffe Militärausbildung vernachlässigt wie die Reste der alten autoritären Institutionen beseitigt, und nunmehr beherrschte der stadtsässige Demos die Politik und die Institutionen der Stadt. Von derartigen rein militärisch bedingten Peripetien weiß die mittel[A 756]alterliche Stadt nichts. Der Sieg des Popolo beruhte in erster Linie auf ökonomischen Gründen. Und die spezifisch
b
[274]A: spezifische
mittelalterliche Stadt: die bürgerliche gewerbliche Binnenstadt, war überhaupt primär ökonomisch orientiert. Die feudalen Gewalten sind im Mittelalter nicht primär Stadtkönige und Stadtadel gewesen. Sie hatten nicht, wie der Adel der Antike, ein Interesse daran, spezifische militärtechnische Mittel, welche nur die Stadt als solche ihnen geboten hätte, in ihren Dienst zu stellen. Denn die Städte des Mittelalters waren, außer den Seestädten mit ihren Kriegsflotten, nicht als solche Träger derartig spezifisch militärischer Machtmittel. Im Gegenteil, während in der Antike die Hoplitenheere und ihre Einschulung, also militärische Interessen, immer mehr in den Mittelpunkt der Stadtorganisation traten, begannen die meisten Bürgerprivilegien des Mittelalters mit der Beschränkung der Bürgerwehr[275]pflicht auf den Garnisondienst. Die Stadtbürger waren dort ökonomisch zunehmend an friedlichem Erwerb durch Handel und Gewerbe interessiert[,] und zwar die unteren Schichten der Stadtbürgerschaft am allermeisten, wie namentlich der Gegensatz der Politik des Popolo minuto gegen die oberen Stände
c
[275]A: Städte
in Italien zeigt. Die politische Situation des mittelalterlichen Stadtbürgers wies ihn auf den Weg, ein homo oeconomicus zu sein, während in der Antike sich die Polis während der Zeit ihrer Blüte ihren Charakter als des militärtechnisch höchststehenden Wehrverbands bewahrte: Der antike Bürger war homo politicus. In den nordeuropäischen Städten wurden, wie wir sahen,
211
[275] Siehe oben, S. 105–107 und 191 f.
die Ministerialen und Ritter als solche oft direkt aus der Stadt ausgeschlossen. Die nichtritterlichen Grundbesitzer aber spielten entweder als bloße Stadtuntertanen oder passive Schutzgenossen, zuweilen als zünftig organisierte, aber politisch und sozial nicht ins Gewicht fallende Gärtner und Rebleute eine ganz geringe, man kann sagen: selten eine überhaupt ins Gewicht fallende, Rolle für die Stadtpolitik. Das platte Land war in aller Regel für die mittelalterliche Stadtpolitik lediglich Objekt der Stadtwirtschaftspolitik und wurde es immer mehr. Nirgends hat die spezifisch mittelalterliche Stadt auf [WuG1 592]den Gedanken verfallen können, sich in den Dienst einer kolonisatorischen Expansion zu stellen.
Damit sind wir bei dem sehr wichtigen Punkt der ständischen Verhältnisse der Städte des Altertums im Vergleich mit den mittel[A 757]alterlichen Städten angelangt. Die antike Polis kannte, auch abgesehen von den schon besprochenen Sklaven,
212
Siehe oben, S. 257.
ständische Schichten, welche dem Mittelalter teils nur in seiner Frühzeit, teils gar nicht, teils nur außerhalb der Stadt bekannt waren. Dahin rechnen: 1. die Hörigen, 2. die Schuldverknechteten, 3. die Klienten, 4. die Freigelassenen. Davon gehören die drei ersten Gruppen in aller Regel nur der Zeit vor der Hoplitendemokratie an und finden sich später nur in Resten von sinkender Bedeutung. Die Freigelassenen dagegen spielten gerade in der Spätzeit eine steigende Rolle.
1. Die patrimoniale Hörigkeit findet sich innerhalb des Bereichs der antiken Polis in historischer Zeit wesentlich in Eroberungs[276]gebieten. In der feudalen Frühzeit der Stadtentwicklung aber muß sie sehr weit verbreitet gewesen sein. Ihre in der ganzen Welt in gewissen Grundzügen ähnliche, in allen Einzelheiten sehr verschiedene Stellung unterscheidet sich nicht prinzipiell von derjenigen der Hörigen des Mittelalters. Überall wurde der Hörige vornehmlich ökonomisch ausgenutzt. Am vollständigsten erhalten blieb die Hörigkeit auf hellenischem Gebiet gerade da, wo die Stadtorganisationen nicht durchgeführt wurden, so namentlich in Thessalien
d
[276]A: Italien ; vgl. Anm. 213.
und Städten, welche so straffe Kriegerorganisationen waren, daß hier der Hörige als Staatshöriger und nicht als Besitz des einzelnen Herrn galt.
213
[276] Da Weber sich ausdrücklich auf die griechischen Verhältnisse bezieht, muß im Text – der entsprechend emendiert wurde – Thessalien (nicht „Italien“ wie im überlieferten Text) gemeint sein. Mit der spartanischen Helotie (vgl. oben, S. 213 mit Anm. 54) vergleichbare Hörigkeitsverhältnisse gab es im griechischen Raum v.a. in Thessalien, in Argos und auf Kreta; vgl. Weber, Agrarverhältnisse3, S. 103, 105 und 122 (MWG I/6), sowie Guiraud, Paul, La propriété foncière en Grèce jusqu’à la conquête romaine. – Paris: Hachette 1890, S. 407 ff.; Burckhardt, Kulturgeschichte (wie oben, S. 80, Anm. 57), Band 1, S. 149–151; Hermann/Thumser, Staatsaltertümer (wie oben, S. 217, Anm. 64), S. 121–128 und 143 f.
Außerhalb dieser Gebiete hat die Zeit der Hoplitenherrschaft sie fast überall verschwinden lassen. Sie lebte wieder auf in hellenistischer Zeit in den
e
In A folgt: orientalen
Gebieten des Orients, welche damals der Städteorganisation unterworfen wurden.
214
Gemeint sind die Städtegründungen der Seleukiden, vor allem an der syrischen Küste und im Innern Kleinasiens im späten 4. und 3. Jahrhundert v. Chr.
Große Landgebiete wurden, unter Erhaltung ihrer
f
A: ihre
Stammesverfassung, den einzelnen Städten zugeteilt, deren Bürger eine hellenische (oder hellenisierte) Garnison im Interesse der Teilkönige bildeten. Aber diese zunächst rein politische Hörigkeit der nichthellenischen Landbevölkerung (ἒϑνη) hatte einen wesentlich anderen Charakter als die patrimoniale Abhängigkeit der Epoche der Frühzeit
g
In A folgt: gewesen war
und gehört nicht mehr in die Darstellung der autonomen Städte hinein.
2. Die Schuldknechte haben als Arbeitskräfte eine sehr bedeutende Rolle gespielt. Sie waren ökonomisch deklassierte Bürger. Ihre Lage war das spezifisch soziale Problem der alten Ständekämpfe zwischen stadtsässigem Patriziat und landsässigen Hopliten. In den Gesetzgebungen der Hellenen, in den 12 Tafeln, in den Schuldhaftgesetzen, in der Politik der Ty[Α 758]rannen ist das Interesse dieser deklassierten landsässigen Bauernschichten durch manche [277]Kompromisse erledigt worden. Die Erledigung erfolgte in sehr verschiedenem Sinne. Die Schuldknechte waren keine Hörigen, sondern freie Grundbesitzer, welche mit Familie und Land zu dauernder
h
[277]A: in dauernde
Versklavung oder privater
i
A: in private
Schuldhaft verurteilt worden waren
k
Fehlt in A; worden waren sinngemäß ergänzt.
oder zur Vermeidung der Exekution sich freiwillig in solche begeben hatten. Sie wurden ökonomisch nutzbar gemacht, besonders häufig als Pächter ihres vom Schuldherrn erhaltenen Landes. Ihre Gefährlichkeit zeigt sich darin, daß das 12 Tafel-Gesetz gebot, den verurteilten Schuldner außer Landes zu verkaufen.
215
[277] Lex duodecim tabularum 3, 5.
3. Die Klienten sind zu scheiden sowohl von Schuldknechten wie von Hörigen.
216
Locus classicus für die Absetzung der römischen Klientel von Formen der Hörigkeit ist Dionysios von Halikamaß, Antiquitates Romanae 2, 9, 2 f. Vgl. die Ausführungen zur Klientel bei Weber, Agrarverhältnisse3, S. 146–150 (MWG I/6), sowie die ebd., S. 187, angeführten Arbeiten von Voigt, M[oritz], Ueber die Clientel und Libertinität, in: Berichte über die Verhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-Historische Classe, Band 30, 1878, S. 147–219 (hinfort: Voigt, Clientel), und Premerstein, A[nton] v[on], „clientes“, in: RE, Band 4,1, 1900, Sp. 23–55 (hinfort: Premerstein, clientes).
Sie sind einerseits nicht wie die letzteren mißachtete Unterworfene. Im Gegenteil bildeten sie die Gefolgschaft des Herrn, und ihre Beziehung zu diesem war eine Treuebeziehung, die eine gerichtliche Klage zwischen Herrn und Klient als religiös unstatthaft erscheinen ließ.
217
Dionysios von Halikamaß, Antiquitates Romanae 2, 10, 3.
Ihr Gegensatz gegen die Schuldknechte zeigt sich darin, daß zum Unterschied von diesen eine ökonomische Ausnutzung der Klientelbeziehung durch den Herrn als unanständig galt. Sie waren persönliches und politisches, nicht aber ökonomisches Machtmittel des Herrn. Sie standen zum Herrn in einem durch die fides, über deren Innehaltung kein Richter, sondern ein Sittenkodex wachte, und deren Verletzung von seiten eines Beteiligten in Rom sakrale Folgen hatte
l
A: hatte,
(die Verletzung der fides infamiert)[,] geregelten Verhältnis.
218
Fides (Treu und Glauben, Pflicht zum Worthalten) galt als Grundlage des Verhältnisses zwischen Patron und Klient. Verletzte ein Patron seine Schutzverpflichtungen, sollte er verflucht und geächtet sein; Lex duodecim tabularum 8, 21; Gellius, Noctes Atticae 20, 1, 40.
[WuG1 593]Sie stammen aus der Zeit des Ritterkampfs und der Adelsherrschaft und waren ursprünglich die persönlich mit dem Herrn in den Krieg ziehenden, zu Geschenken [278]und Unterstützung in Notfällen und vielleicht auch zu gelegentlicher Arbeitshilfe verpflichteten, vom Herrn mit Landloosen ausgestatteten und vor Gericht vertretenen Ministerialen, wie die Sprache des Mittelalters sie bezeichnen würde, nicht aber seine Knechte. Nur waren sie nicht wie die späteren Ministerialen Leute von Rittersart und Ritterrang, sondern kleine Leute mit kleinen bäuerlichen Landlosen, eine Schicht plebejischer Kriegsleheninhaber.
219
[278] Dies gilt namentlich für die Traditionen über die Aufnahme der Claudier in Rom (oben, S. 94 mit Anm. 99), bei der zugleich deren (angeblich 5000) Klienten Land zugewiesen wurde (Dionysios von Halikarnaß, Antiquitates Romanae 5, 40, 3–5; Livius 2, 16, 4 f.; Sueton, Tiberius 1, 2) und über den von der gens Fabia im Jahre 477 v. Chr. mit ihren (4000) Klienten unternommenen privaten Feldzug (Dionysios Halikarnaß, Antiquitates Romanae 9, 15, 3).
Der Klient war also ein am Bodenbesitz und lokalen Gemeinschaften und deshalb am Wehrverband nicht Beteiligter, der sich voll (in Rom durch die applicatio)
220
Applicatio im Sinne eines Gesuchs um Aufnahme in ein Schutzverhältnis findet sich bei Cicero, De oratore 1, 177; vgl. Voigt, Clientel, S. 151–153.
in ein Schutzverhältnis zu einem Geschlechtshaupt (pater) oder auch zum König begeben hat und daraufhin von diesem Rüstung und Land zugeteilt (technisch in [A 759]Rom adtribuere)
m
[278]A: adtribuer)
221
Der Terminus findet sich bei Festus, p. 247 Müller = p. 289 Lindsay; vgl. Voigt, Clientel, S. 164; Mommsen, Staatsrecht, Band 3,1, S. 83.
erhält. Meist hat er diese Beziehung von den Vorfahren ererbt. Dies ist die alte Bedeutung der Klientel. Und ganz wie im Mittelalter in der Zeit der Adelsherrschaft die Muntmannen entstanden, so hat auch in der Antike der gleiche Zustand massenhaft freie Kleinbauern veranlaßt, sich[,] schon um der Gerichtsvertretung durch Adlige willen, in Klientelbeziehungen zu begeben. Dies ist in Rom wohl die Quelle der späteren freieren Formen der Klientel gewesen. Die alte Klientel dagegen gab wenigstens in Rom den Klienten ganz in die Hand des Herrn. Noch 134 v. Chr. bot Scipio seine Klienten als Feldherr auf.
222
Neben anderen Freiwilligen, die Scipio Aemilianus als Consul für den Krieg gegen Numantia (in Spanien) mobilisierte; Appian, Hispaniensis 84, 365; Premerstein, clientes (wie oben, S. 277, Anm. 216), Sp. 37.
In der Bürgerkriegszeit sind in dieser Hinsicht die Kolonen (Kleinpächter) der großen Grundbesitzer an ihre Stelle getreten.
223
So hat Lucius Domitius Ahenobarbus im Bürgerkrieg mit Caesar 49 v. Chr. zur Besetzung Massilias (heute: Marseille) Schiffe mit seinen Sklaven, Freigelassenen und Kolonen bemannt; Caesar, De bello civili 1, 34, 2 f. und 1, 56, 3.
[279]Der Klient war in Rom in der Heeresversammlung stimmberechtigt und nach der Tradition (Livius)
n
[279]A: (Livier)
224
[279] Livius 2, 35, 4; 2, 56, 3; 2, 64, 2; 3, 14, 4 und 3, 16, 5.
eine wichtige Stütze der Geschlechter. Eine rechtliche Aufhebung der Klientel ist wahrscheinlich niemals erfolgt. Aber der Sieg der Hoplitentechnik beseitigte ihre alte militärische Bedeutung auch dort, und in späterer Zeit ist das Institut nur erhalten als eine Einrichtung, welche dem Herrn sozialen Einfluß sicherte. Die hellenische Demokratie dagegen hat das Institut völlig vernichtet. Die Stadt des Mittelalters kennt innerhalb ihres Verbandes ein solches Institut überhaupt nur in der Form der Muntwaltschaft eines Vollbürgers über einen Nichtvollbürger, der sich in seinen Schutz begibt. Diese Gerichtsklientel verfiel mit der Geschlechterherrschaft.
4. Endlich umfaßte die Stadt der Antike die Freigelassenen. Ihre Zahl und Rolle war sehr bedeutend. Sie wurden ökonomisch ausgenutzt. Nach dem von italienischen Forschern sorgsam geprüften Inschriftenmaterial war etwa die Hälfte der Freigelassenen weiblichen Geschlechts.
225
Vgl. Calderini, Manomissione, S. 200, der – bei starken Schwankungen von Ort zu Ort – im Gesamtergebnis eine etwas größere Zahl von weiblichen Freigelassenen ermittelt hatte. Webers Formulierung legt nahe, daß er noch an andere Autoren gedacht haben könnte; in der wissenschaftlichen Literatur seiner Zeit lassen sich jedoch keine weiteren italienischen Arbeiten ermitteln, die für den von ihm angeführten Sachverhalt einschlägig wären. Dies gilt auch für das (ungeachtet seines Titels die gesamte Antike behandelnde) bekannte Werk von Ciccotti, Ettore, Il tramonto della schiavitù nel mondo antico. – Bari: Bocca 1899 = Der Untergang der Sklaverei im Altertum, Deutsch von Oda Olberg. – Berlin: Buchhandlung Vorwärts 1910.
In diesem Falle dürfte die Freilassung meist dem Zwecke einer gültigen Eheschließung gedient haben und also durch Loskauf des Eheanwärters bewirkt sein. Im übrigen finden sich inschriftlich besonders viele Freigelassenen, welche Haussklaven waren und also ihre Freilassung persönlicher Gunst verdankten.
226
Weber stützt sich hier vermutlich ebenfalls auf die Ergebnisse von Calderini, Manomissione, S. 201 ff.
Ob für die Gesamtheit diese Zahlen nicht sehr täuschen, ist doch äußerst fraglich, da naturgemäß gerade für diese Kategorie die Chance der inschriftlichen Erwähnung besonders [280]groß war. Es ist dagegen recht plausibel, wenn wir mit Calderini
o
[280]A: Caldomini
die Zahl der Freilassungen aus dieser Schicht in Zeiten des politisch-ökonomischen Niedergangs an[A 760]schwellen und in wirtschaftlich günstigen Zeiten abschwellen sehen:
227
[280] Calderini, Manomissione, S. 201 f.
die Einschränkung der Gewinnchancen veranlaßte die Herren, den Haushalt einzuschränken und zugleich das Risiko der schlechten Zeit auf den Sklaven, der sich ja nun selbst erhalten und seine Pflichtigkeiten an den Herrn bestreiten mußte, abzuwälzen. Die Agrarschriftsteller erwähnen Freilassung als Prämie für gute Wirtschaftsdienste.
228
Eine mögliche Freilassung gehört nicht zu den Anreizen, die von den römischen Agrarschriftstellern (v.a. Cato, Varro, Columella) empfohlen werden, abgesehen von der Belohnung der Sklavin, die mehr als drei Söhne aufgezogen hatte (Columella, De re rustica 1, 8, 19; vgl. Weber, Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 316). Für den von Weber angesprochenen Sachverhalt wäre allenfalls auf die Erwähnung von Freigelassenen, die sich durch besondere Züchtungserfolge hervorgetan hatten, bei Plinius, Naturalis historia 14, 49; 15, 50 und 17, 122, zu verweisen.
Der Herr wird ferner oft einen Haussklaven, statt ihn als Sklaven auszunutzen, freigelassen haben, weil er, worauf Strack hinweist,
229
Strack, Freigelassene, S. 26.
so der gerichtlichen, wenn auch begrenzten, Haftung für ihn ledig wurde. Aber andere Absichten
p
A: Schichten
dürften eine mindestens so große Rolle spielen. Der Sklave, dem sein Herr selbständigen Gewerbebetrieb gegen Abgaben gestattete, hatte ja die größten Chancen, Spargelder für den Loskauf aufzuspeichern, wie dies auch bei den russischen Leibeigenen der Fall war.
230
Vgl. oben, S. 104 mit Anm. 11.
Jedenfalls aber spielten für den Herrn [WuG1 594]die Dienste und Abgaben, zu denen der Freigelassene sich verpflichtete, die entscheidende Rolle. Der Freigelassene blieb in einer völlig patrimonialen, erst nach Generationen aufhörenden Beziehung zur Herrenfamilie. Er schuldete dem Herrn nicht nur die versprochenen, oft schweren Dienste und Abgaben, sondern auch seine Erbschaft unterlag, wie bei den Unfreien des Mittelalters, einem weitgehenden Zugriff des Herrn. Und daneben war er durch Pietätspflicht zu den verschiedensten persönlichen Obedienzen verbunden, welche die soziale Geltung und direkt die politische Macht des Herrn erhöhten. Die Folge war, daß die durchgeführte Demo[281]kratie[,] z. B. in Athen, die Freigelassenen vom Bürgerrecht völlig ausschloß und zu den Metöken zählte. In Rom, wo die Machtstellung des Amtsadels nie gebrochen wurde, zählten sie dagegen zu den Bürgern, nur setzte die Plebs durch, daß sie auf die vier städtischen Tribus beschränkt blieben, und darin gab ihr der Amtsadel nach, aus Furcht[,] sonst den Boden für eine Tyrannis bereiten zu helfen. Als Versuch, eine solche zu begründen, galt das Unternehmen des Zensors Appius Claudius, die Freigelassenen im Stimmrecht den Bürgern durch Verteilung auf alle Tribus gleichzustellen.
231
[281] Appius Claudius Caecus hat als Censor im Jahre 312 v. Chr. grundbesitzlose Bürger, unter ihnen auch Freigelassene, auf alle Tribus verteilt; dies wurde von den Censoren des Jahres 304 v. Chr. wieder rückgängig gemacht, indem die Einschreibung nur in die vier städtischen Tribus vorgenommen wurde: Livius 9, 46, 11–15; Valerius Maximus 2, 2, 9; Diodor 20, 36, 4. Die Quellen gehen vom Widerstand der Nobilität gegen den eigensinnigen, des Strebens nach der Tyrannis verdächtigten (Livius 9, 34, 16) Appius Claudius aus und unterscheiden beim Volk zwischen dem Pöbel, der begeistert ist, und dem integren Populus (Livius 9, 46, 13). Daraus hatte Niebuhr, B[arthold] G., Römische Geschichte, neue Ausgabe von M[eyer] Isler, Band 3. – Berlin: S. Calvary 1874, S. 263, geschlossen, daß die Plebs insgesamt kein Interesse an der Verbesserung des Stimmrechts der Freigelassenen gehabt habe. Weber vertritt eine ähnliche Auffassung, wie auch aus seinen Bemerkungen in: Agrarverhältnisse3, S. 154 (MWG I/6), deutlich wird.
Diese charakteristische Auffassung darf man freilich nicht mit Eduard Meyer als den Versuch der Schaffung einer „perikleischen“ Demagogie auffassen.
232
Meyer, Plebs2, S. 105 (= Plebs3, S. 1056) sieht in der Stimmrechtsverbesserung für Freigelassene bzw. grundbesitzlose Plebejer den Versuch des Appius Claudius Caecus, für sich „die Stellung eines leitenden Demagogen nach Art des Perikles zu gewinnen“.
Denn die perikleische Herrscherstellung beruhte nicht auf Freigelassenen, welche hier ja gerade durch die Demokratie von allen Bürgerrechten ausgeschlossen waren, sondern gerade umgekehrt auf [A 761]den Interessen der Vollbürgerzunft an der politischen Expansion der Stadt. Die antiken Freigelassenen waren dagegen in ihrer Masse eine Schicht von friedlichen Erwerbsmenschen, von homines oeconomici
q
[281]A: hominus oeconomici
, welche in einem ganz spezifischen Grade, in einem weit höheren Maße als durchschnittlich irgendein Vollbürger einer antiken Demokratie, dem Erwerbsbürgertum des Mittelalters und der Neuzeit nahestanden. Darum also, ob mit ihrer Hilfe ein Volkskapitanat in Rom entstehen sollte, hätte es sich gehandelt, und die Zurückweisung des Versuchs des Appius Claudius bedeutete: daß nach wie vor das [282]Bauernheer und der städtische Amtsadel, das erstere normalerweise vom letzteren beherrscht, die ausschlaggebenden Faktoren bleiben sollten. Machen wir uns die spezifische Stellung der Freigelassenen, dieser in gewissem Sinne modernsten, einer „Bourgeoisie“ nächststehenden, Schicht der Antike noch etwas deutlicher. Nirgends haben die Freigelassenen die Zulassung zu Ämtern und Priestertümern, nirgends das völlige Connubium, nirgends – obwohl sie in Notfällen aufgeboten wurden – die Teilnahme an den militärischen Exerzitien (dem Gymnasion) und an der Rechtspflege durchgesetzt, in Rom konnten sie nicht Ritter werden, und fast überall war ihre prozessuale Stellung irgendwie ungünstiger als die der Freien. Ihre rechtliche Sonderstellung hatte ökonomisch für sie die Bedeutung: daß nicht nur die Teilnahme an den vom Staat gewährten oder sonst politisch bedingten Emolumenten des Bürgers,
233
[282] Zu diesen politisch vermittelten (Neben-)Einkünften zählen u. a. Soldzahlungen bzw. Beuteanteile für Soldaten, Gewinnchancen für Magistrate (in den Provinzen) oder Einkünfte aus Staatspachtgeschäften, von denen in Rom Freigelassene ausgeschlossen waren, obwohl sie – anders als in Griechenland – als Bürger galten.
sondern vor allem auch der Grunderwerb und mithin auch der Hypothekenbesitz ihnen verschlossen war.
234
In Rom ist Grundbesitzerwerb für Freigelassene jedoch (seit der mittleren Republik) möglich gewesen; Mommsen, Staatsrecht, Band 3,1, S. 431 f.
Die Grundrente blieb also charakteristischerweise das spezifische Monopol der Vollbürger gerade in der Demokratie. In Rom, wo sie Bürger zweiter Klasse waren,
235
Die Formulierung findet sich bei Mommsen, Staatsrecht, Band 3,1, S. 444, und Strack, Freigelassene, S. 13.
bedeutete der Ausschluß von der Ritterwürde: daß ihnen die großen Steuerpachten und die Staatslieferungsgeschäfte, welche dieser Stand dort monopolisierte, verschlossen waren (wenigstens als Eigenunternehmen). Den Rittern standen sie also als eine Art von plebejischer Bourgeoisie gegenüber. Beides aber bedeutete praktisch: daß diese Schicht sich von dem spezifisch antiken[,] politisch orientierten Kapitalismus weitgehend ausgeschlossen und also auf die Bahn eines relativ modernen bürgerlichen Erwerbs hingewiesen sah. Sie sind denn auch die wichtigsten Träger jener Erwerbsformen, welche am meisten modernen Charakter zeigen, und entsprechen unserem kleinkapitalistischen, unter Umständen aber zu bedeu[A 762]tendem Reichtum aufsteigenden, Mittelstand bei weitem am ehesten, in entschiedenem Gegensatz zu dem typi[283]schen Demos der Vollbürger in der hellenischen Stadt, der die politisch bedingten Renten: Staatsrenten, Tagegelder, Hypothekarrenten, Landrenten monopolisiert. [WuG1 595]Die Arbeitsschulung der Sklaverei, verbunden mit der dem Sklaven winkenden Prämie des Freikaufs[,] war ein starker Sporn für den Erwerbswillen der Unfreien in der Antike, ganz wie in der Neuzeit in Rußland. Der antike Demos war im Gegensatz dazu kriegerisch und politisch interessiert. Als eine Schicht ökonomischer Interessenten waren die Freigelassenen die gegebene Kultgemeinde des Augustus als des Bringers des Friedens. Die von ihm gestiftete Augustalenwürde ersetzte etwa unseren Hoflieferantentitel.
236
[283] Augustales (bezeugt seit 12 v. Chr.) besorgten in den Bürgerstädten außerhalb Roms den Kaiserkult. Die Funktion wurde vor allem von Freigelassenen wahrgenommen, die damit eine Ehrenstellung erreichen konnten, die einen „Ersatz“ für die ihnen verwehrte Mitgliedschaft in Amts- und Ratsgremien darstellte; vgl. Mommsen, Staatsrecht, Band 3,1, S. 452–457, der S. 454 meint, daß dabei „nichts reell war als die Kosten und der Pomp“.
Das Mittelalter kennt die Freigelassenen als einen besonderen Stand nur in der vorstädtischen Frühzeit. Innerhalb der Städte wurde die Schicht der Leibeigenen, deren Erbschaft dem Herrn ganz oder teilweise verfiel, durch den Satz: Stadtluft macht frei,
237
Vgl. oben, S. 105 mit Anm. 13.
und außerdem durch die städtischen Privilegien der Kaiser, welche den Zugriff der Herren auf die Erbschaft von Stadtbürgern verboten, schon in der ersten Zeit der städtischen Entwicklung beschränkt und fiel mit der Zunftherrschaft völlig dahin. Während in der Antike eine Zunftorganisation, welche vollbürgerliche, freigelassene und unfreie Handwerker umschlossen hätte, als politische Grundlage der Stadt als eines Militärverbandes völlig ausgeschlossen gewesen wäre, geht die mittelalterliche Zunftverfassung gerade umgekehrt von der Ignorierung der außerstädtischen ständischen Unterschiede aus.
Die antike Polis war, können wir resümieren, seit der Schaffung der Hoplitendisziplin eine Kriegerzunft. Wo immer eine Stadt aktive Politik zu Lande treiben wollte, mußte sie in größerem oder geringerem Umfang dem Beispiel der Spartiaten folgen: trainierte Hoplitenheere aus Bürgern zu schaffen. Auch Argos und Theben haben in der Zeit ihrer Expansion Kontingente von Kriegervirtuosen, in Theben noch durch die Bande der persönlichen Kame[284]radschaft verknüpft, geschaffen.
238
[284] Argos verbündete sich 421 v. Chr. mit einigen peloponnesischen Staaten gegen Sparta und stellte eine ständige Elitetruppe der „Tausend“ auf, die auf Staatskosten unterhalten wurde; Diodor 12, 75, 7; Thukydides 5, 67, 2. In Theben wurde nach der Befreiung von spartanischer Herrschaft 379 v. Chr. die sogenannte „heilige Schar“ aus 300 Kriegern gebildet; ihre Durchschlagskraft (die zur Begründung einer Hegemonie Thebens nach dem Sieg über die Spartaner bei Leuktra 371 v. Chr. beitrug) wird auf die homoerotischen Bindungen zwischen den Kämpfern zurückgeführt; Plutarch, Pelopidas 18; Athenaios 561F; 602A; Polyainos, Strategemata 2, 5, 1.
Städte, welche keine solche Truppe besaßen, sondern nur ihre Bürgerhopliten, wie Athen und die meisten anderen, waren zu Lande auf die Defensive angewiesen. Überall aber waren nach dem Sturz der Geschlechter die Bürgerhopliten die ausschlaggebende Klasse der Vollbürger. Weder im Mittelalter noch irgendwo [A 763]sonst findet diese Schicht eine Analogie. Auch die nicht spartanischen hellenischen Städte hatten den Charakter eines chronischen Kriegslagers in irgendeinem Grade ausgeprägt. In der ersten Zeit der Hoplitenpolis hatten daher die Städte zunehmend den Abschluß gegen außen im Gegensatz zu der weitgehenden Freizügigkeit der hesiodischen Zeit
239
Um 700 v. Chr.; vgl. oben, S. 187 mit Anm. 153.
entwickelt, und es bestand sehr vielfach die Beschränkung der Veräußerlichkeit des Kriegerloses
r
[284]A: Kriegsloses
.
240
Weber legt (wie auch seine Darlegungen in: Agrarverhältnisse3, S. 103 (MWG I/6), zeigen) den Nachdruck darauf, daß die Regelungen zur Erhaltung der Kriegerlose (Veräußerungsverbot, Unteilbarkeit des Erbguts, Pflicht zur Verheiratung von Erbtöchtern mit agnatischen Verwandten) nur für die Zeit der voll entwickelten Hoplitenpolis charakteristisch sind.
Diese Einrichtung verfiel aber in den meisten Städten schon früh und wurde ganz überflüssig, als teils geworbene Söldner, teils, in den Seestädten, der Flottendienst in den Vordergrund traten. Aber auch damals blieb der Kriegsdienst letztlich maßgebend für die politische Herrschaft in der Stadt, und diese behielt den Charakter einer militaristischen Zunft bei. Nach außen war es grade die radikale Demokratie in Athen, welche die angesichts der beschränkten Bürgerzahl nahezu phantastische, Ägypten und Sizilien umspannende Expansionspolitik stützte.
241
Ein athenisches Flottenaufgebot, das 456–454 v. Chr. den ägyptischen Aufstand gegen die persische Herrschaft unterstützte, wurde vernichtet; Athens Angriff auf Sizilien (415–413 v. Chr.) endete mit einer katastrophalen Niederlage. Vgl. zu den Bürgerzahlen (ca. 30–40 000 erwachsene Männer) und den Verlusten im Peloponnesischen Krieg Beloch, Bevölkerung (wie oben, S. 256, Anm. 164), S. 59–75.
Nach innen [285]war die Polis als ein militaristischer Verband absolut souverän. Die Bürgerschaft schaltete in jeder Hinsicht nach Belieben mit dem einzelnen. Schlechte Wirtschaft, speziell Vergeudung des ererbten Kriegerloses (der bona paterna avitaque
s
[285]A: bona patrita vitaquae ; vgl. Anm. 242.
der römischen Entmündigungsformel),
242
[285] Bona paterna avitaque ist die Bezeichnung für das ererbte Vermögen in der alten Formel, mit der der Praetor eine Beschränkung der Geschäftsfähigkeit zur Verhinderung einer Vermögensverschleuderung anordnen konnte (Pauli sententiae 3, 4a, 7).
Ehebruch, schlechte Erziehung des Sohnes, schlechte Behandlung der Eltern, Asebie, Hybris:
243
Asebie: Leugnung der Götter; Hybris: Übermut, Selbstüberhebung, vor allem gegenüber den Göttern; im Strafrecht die tätliche Beleidigung.
– jedes Verhalten überhaupt, welches die militärische und bürgerliche Zucht und Ordnung gefährdete oder die Götter zum Nachteil der Polis erzürnen konnte – wurde trotz der berühmten Versicherung des Perikles in der thukydideischen
t
A: thukydeischen
Leichenrede: daß in Athen jeder leben könne[,] wie er wolle,
244
Thukydides 2, 37, 2.
hart gestraft und führte in Rom zum Einschreiten des Zensors. Prinzipiell also war von persönlicher Freiheit der Lebensführung keine Rede und[,] soweit sie faktisch bestand, war sie, wie in Athen, erkauft durch die geringere Schlagkraft der Bürgermiliz. Auch ökonomisch verfügte die hellenische Stadt unbedingt über das Vermögen der einzelnen: im Fall der Verschuldung verpfändete sie noch in hellenistischer [WuG1 596]Zeit auch Privatbesitz und Person ihres Bürgers an den Gläubiger.
245
So hat die Stadt Arkesine (auf der Kykladeninsel Amorgos) im 2. Jahrhundert v. Chr. einem auswärtigen Gläubiger für den Fall ihrer Zahlungsunfähigkeit ein Pfändungsrecht nicht nur gegenüber den Staatsgütern, sondern auch dem Privatbesitz ihrer Bürger und Metoiken eingeräumt; Wachsmuth, Curt, Oeffentlicher Credit in der hellenischen Welt während der Diadochenzeit, in: Rheinisches Museum, Band 40, 1885, S. 283–303, hier S. 287 ff.; Szanto, Emil, Anleihen griechischer Staaten, in: Wiener Studien, Band 7, 1885, S. 232–252, hier S. 233 f.
Der Bürger blieb in erster Linie Soldat. Neben Quellwasser, Markt, Amtsgebäude und Theater gehört nach Pausanias
a
A: Pausanius
zu einer Stadt das Gymnasion.
246
Pausanias 10, 4, 1; dazu Burckhardt, Kulturgeschichte (wie oben, S. 80, Anm. 57), Band 1, S. 75.
Es fehlte nirgends. Auf Markt und Gymnasion verbringt der Bürger den Hauptteil seiner Zeit. Seine persönliche Inanspruchnahme durch Ekklesia, Geschwore[A 764]nendienst, Ratsdienst und Amtsdienst [286]im Turnus, vor allem aber durch Feldzüge: jahrzehntelang Sommer für Sommer[,] war in Athen gerade in der klassischen Zeit eine solche, wie sie bei differenzierter Kultur weder vorher noch nachher in der Geschichte erhört ist.
247
[286] Vgl. die Formulierung bei Wilamowitz, Staat (wie oben, S. 182, Anm. 139), S. 108: für die athenischen Bürger habe sich „eine Belastung durch öffentlichen Dienst“ ergeben, „die schwerlich irgendwo ihresgleichen gehabt“ habe.
Auf alle irgend erheblichen Bürgervermögen legte die Polis der Demokratie die Hand. Die Leiturgie der Trierarchie:
b
[286]A: Triearchie:
Ausrüstung und Beschaffung des Kommandos von Kriegsschiffen, die Hierarchie: Herrichtung der großen Feste und Aufführungen, die Zwangsanleihen im Notfall, das attische Institut der Antidosis, überlieferte alle bürgerliche Vermögensbildung der Labilität.
248
Zu den im Text genannten „L(e)iturgien“ (Dienstleistungen), der Übernahme und Finanzierung öffentlicher Funktionen durch Bürger (in bestimmten Fällen auch Metoiken), wurden nur jeweils die Besitzer der vergleichsweise größten Vermögen herangezogen. Die Trierarchie, die die höchsten Belastungen mit sich brachte, betraf nur einige hundert Bürger der ingesamt ca. 1200 Liturgiepflichtigen. Wer sich im Vergleich zu einem anderen ungerecht belastet fühlte, konnte den angeblich vermögenderen Bürger zur Übernahme der Liturgie oder anderenfalls zum Vermögenstausch (antidosis) auffordern; gegebenenfalls wurde durch ein Gericht entschieden, wer die Liturgie zu übernehmen hatte; vgl. Böckh, Staatshaushaltung (wie oben, S. 221, Anm. 80), S. 533–545 und 628–683; Busolt, Staats- und Rechtsaltertümer (wie oben, S. 179, Anm. 124), S. 193 f. – Webers Bezeichnung „Hierarchie“ für die Liturgie zur Finanzierung öffentlicher Feste beruht auf einem Irrtum. (Der Begriff ist in diesem Sinne auch nicht für andere Poleis belegt; die hierarchai in boiotischen Städten sind Verwalter von Tempelschätzen, vgl. Swoboda, Heinrich, Griechische Schatzverwaltung, in: Wiener Studien, Jg. 10, 1888, S. 278–307, hier S. 301.) Die wichtigste Liturgie dieser Art war die „Choregie“ für das Engagement und die Ausstattung der Chöre bei den Theateraufführungen. Als „Zwangsanleihe“ läßt sich mit Einschränkungen das athenische System der proeisphora verstehen, bei dem seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. die 300 reichsten Bürger einen Vorschuß auf die außerordentliche Vermögenssteuer (eisphora) zu erbringen hatten, den sie dann von den übrigen Steuerpflichtigen (wahrscheinlich insgesamt ca. 6000 von ca. 30 000 Bürgern) wieder eintreiben konnten; vgl. Böckh, a. a. O., S. 688 f. und 609–623. In Notsituationen appellierte man an Bürger (und Fremde) mit großem Vermögen, durch freiwillige Geld- oder Sachleistungen (epidoseis) Getreideankauf oder Rüstungsmaßnahmen zu finanzieren; vgl. Böckh, a. a. O., S. 111 und 685 f.; Boerner, [Adolf], „epidosis“, in: RE, Band 6, 1, 1907, Sp. 60.
Die absolut willkürliche Kadijustiz der Volksgerichte (Zivilprozesse vor hunderten von rechtsunkundigen Geschworenen)
249
Geschworener konnte in der athenischen Demokratie des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. jeder über dreißig Jahre alte, unbescholtene Bürger werden. Durch Losverfahren wurde jährlich eine Liste von 6000 Geschworenen aufgestellt. Aus der Zahl derjenigen dieser Gruppe, die sich an einem Gerichtstag meldeten, wurden wiederum durch Los die [287]Geschworenenbänke für Straf- wie Zivilprozesse besetzt. Privatklagen wurden im Regelfall vor Kollegien aus 201 oder 401 Geschworenen verhandelt. Sie entschieden allein aufgrund des Vortrags der Prozeßparteien (die sich nicht juristisch vertreten lassen konnten) und erhielten vor ihrem unmittelbar anschließenden Votum keinerlei rechtliche Instruktion. – Weber verwendet den Begriff „Kadijustiz“ hier im Sinne einer ausschließlich an materialen Gerechtigkeitsprinzipien orientierten, formale Rechtssicherheit mißachtenden Rechtsprechung; vgl. WuG1, S. 662 f. (MWG I/22-4), mit dem Bezug auf Schmidt, Richard, Die deutsche Zivilprozeßreform und ihr Verhältnis zu den ausländischen Gesetzgebungen, in: Zeitschrift für Politik, Band 1, 1908, S. 245–275, hier S. 266.
gefährdete die formale Rechtssicherheit so stark, daß eher [287]die Fortexistenz von Vermögen wundernimmt
c
[287]A: wundernimmt,
als die sehr starken Peripetien bei jedem politischen Mißerfolg. Dieser wirkte um so vernichtender, als einer der wichtigsten Vermögensbestandteile: die Sklaven, dann durch massenhaftes Entlaufen zusammenzuschrumpfen pflegten.
250
Gemeint ist die Massenflucht von (angeblich 20 000) Sklaven nach der Besetzung Dekeleias durch die Spartaner 413 v. Chr.; Thukydides 7, 27, 5.
Andererseits bedurfte die Demokratie für die Pachtung ihrer Lieferungen, Bauten, Abgaben der Kapitalisten. Eine rein nationale Kapitalistenklasse wie in Rom in Gestalt des Ritterstandes war aber
d
A: also
in Hellas nicht entwickelt. Die meisten Städte suchten vielmehr gerade umgekehrt durch Zulassung und Heranziehung gerade auch auswärtiger Reflektanten die Konkurrenz dieser zu steigern, und die einzelnen Stadtgebiete waren zu klein, um hinlängliche Gewinnchancen zu bieten. Besitz von Land, in meist mäßigem Ausmaß Besitz von Sklaven, welche Zins an den Herrn zahlten oder als Arbeiter vermietet wurden (Nikias),
251
Nikias (vor 469–413 v. Chr.) galt als einer der reichsten Männer seiner Zeit. Er vermietete 1000 Sklaven für die Arbeit in den attischen Silberbergwerken in Laureion; Xenophon, De vectigalibus 4, 14; Plutarch, Nikias 4, 2.
daneben Schiffsbesitz und Kapitalbeteiligung am Handel waren die typischen Vermögensanlagen der Bürger. Dazu trat für die herrschenden Städte die Anlage in auswärtigen Hypotheken und Bodenbesitz. Diese war nur möglich, wenn das lokale Bodenbesitzmonopol der beherrschten Bürgerzünfte gebrochen war. Staatlicher Landerwerb, der dann an Athener verpachtet oder an attische Kleruchen
252
Athenische „Kolonisten“, die Mitglieder des attischen Bürgerverbandes blieben; im späteren 5. Jahrhundert v. Chr. erfolgte v.a. die Ansiedlung in Poleis des Seebundes, wenn ein Aufstand gegen die athenische Herrschaft unterdrückt und Land konfisziert worden war.
gegeben wurde[,] und Zulassung der Athener zum Bo[288]denbesitz in den Untertanenstädten waren daher wesentliche Zwecke der Seeherrschaft. Der Grund- und Menschenbesitz spielte also in der ökonomischen Lage der Bürger auch in der Demokratie durchaus die ausschlaggebende Rolle. Der Krieg, der alle diese Besitzverhältnisse umstürzen konnte, [A 765]war chronisch und steigerte sich im Gegensatz gegen die ritterliche Kriegsführung der Geschlechterzeit zu außerordentlicher Rücksichtslosigkeit. Fast jede siegreiche Schlacht brachte die massenhafte Abschlachtung der Gefangenen, jede Eroberung einer Stadt Tötung oder Sklaverei der ganzen Einwohnerschaft. Jeder Sieg entsprechend plötzliche Steigerung der Sklavenzufuhr. Ein solcher Demos konnte unmöglich primär in der Richtung des befriedeten ökonomischen Erwerbs und eines rationalen Wirtschaftsbetriebes orientiert sein.
Darin verhielt sich das mittelalterliche Stadtbürgertum schon der ersten Entwicklungsperiode ganz erheblich anders. Die nächstverwandten Erscheinungen finden sich im Mittelalter wesentlich in den Seestädten Venedig und namentlich Genua, deren Reichtum an ihrer überseeischen Kolonialmacht hing. Dabei handelte es sich aber dem Schwerpunkt nach um Plantagen- oder grundherrlichen Besitz einerseits, Handelsprivilegien und gewerbliche Siedlungen andererseits, nicht aber um Kleruchien oder um Kriegssold oder um Dotierung der Masse der Bürger aus Tributen wie im Altertum. Die mittelalterliche gewerbliche Binnenstadt vollends steht dem antiken Typus ganz fern. Zwar war nach dem Siege des Popolo das Unternehmertum der oberen Zünfte oft außerordentlich kriegerisch gesinnt. Die Beseitigung lästiger Konkurrenten, Beherrschung oder Zollfreiheit der Straßen, Handelsmonopole und Stapelrechte spielen dabei vorwaltend die entscheidende [WuG1 597]Rolle. Allerdings kennt auch die mittelalterliche Stadt starke Umwälzungen des Grundbesitzstandes sowohl als Folge auswärtiger Siege, wie einer Umwälzung der Parteiherrschaft in der Stadt. Besonders in Italien: der Grundbesitz der jeweils besiegten oder feindlichen Partei gibt der herrschenden Partei Gelegenheit zu Pachtungen von Land von der staatlichen Zwangsverwaltung oder zu direkt käuflichem Erwerb, und jede Niederwerfung einer fremden Gemeinde vermehrt auch das unterworfene Landgebiet und damit die Möglichkeit des Bodenerwerbs für die siegreiche Bürgerschaft. Aber der Radikalismus dieser Besitzveränderungen ist nicht zu vergleichen mit den ungeheuren Besitzumwälzungen, welche noch in der Spätzeit der [289]antiken Städte jede Revolution und jeder siegreiche auswärtige oder Bürgerkrieg mit sich brachte. Und vor allem steht nicht der Grundbesitz im Vordergrunde des ökonomi[A 766]schen Interesses bei der Expansion. Die mittelalterliche Stadt war unter der Herrschaft der Zünfte ein ganz außerordentlich viel stärker in der Richtung des Erwerbs durch rationale Wirtschaft orientiertes Gebilde als irgendeine Stadt des Altertums, solange die Epoche der unabhängigen Polis dauerte. Erst der Untergang der Stadtfreiheit in hellenistischer und spätrömischer Zeit änderte dies durch die Vernichtung der Chance[,] ökonomischen Verdienst auf dem Wege der kriegerischen Politik der Stadt für die Bürger zu schaffen. Gewiß: auch im Mittelalter waren einzelne Städte, so namentlich Florenz, in dessen Armee zuerst die Artillerie auftaucht, Träger des Fortschritts der Kriegstechnik zu Lande.
253
[289] Vgl. oben, S. 208 f.
Und schon das Bürgeraufgebot der Lombarden gegen Friedrich I. bedeutete eine militärtechnisch erhebliche Schöpfung.
254
Zu den Kämpfen Kaiser Friedrichs I. (Barbarossa) mit dem Bund der lombardischen Städte zwischen 1167 und 1177 vgl. Giesebrecht, Wilhelm von, Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Band 5: Die Zeit Kaiser Friedrichs des Rothbarts, 2. Abtheilung: Friedrichs I. Kämpfe gegen Alexander III., den Lombardenbund und Heinrich den Löwen. – Leipzig: Duncker & Humblot 1888, S. 564 ff. In den Aufgeboten der Lombarden kämpften die in Handel und Handwerk tätigen Bürger gemeinsam mit den Rittern, wie Otto von Freising in seinen Gesta Frederici 2, 14 hervorgehoben hat; moderne Ausgabe mit Text und Übersetzung: Otto von Freising und Rahewin, Die Taten Friedrichs oder richtiger Chronica, übers. von Adolf Schmidt, hg. von Franz-Josef Schmale (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, hg. von Rudolf Buchner, Band 17). – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1965, S. 308 f. Damit wurde eine schlagkräftige Infanterie geschaffen, die im Kampf mit den herkömmlichen Reitertruppen ihre Leistungsfähigkeit erwies; vgl. Dieterich, Julius R., Die Taktik in den Lombardenkriegen der Staufer. – Diss. Marburg 1890, S. 7–14.
Aber die Ritterheere blieben doch den Stadtheeren im ganzen mindestens ebenbürtig, im Durchschnitt namentlich in Niederungen weit überlegen. Den Stadtbürgern konnte militärische Stärke zwar als Stütze, aber in Binnenlanden nicht als Grundlage ihres ökonomischen Erwerbs dienen. Dieser war
e
[289] Zu erwarten wäre: Diese waren
dadurch, daß der Sitz der höchsten Militärs
f
Zu erwarten wäre: Militärmacht
nicht in den Städten lag, auf den Weg rationaler Wirtschaftsmittel hingewiesen.
Vier große Machtschöpfungen sind von der antiken Polis als solcher unternommen worden: das sizilianische Reich des Dionysios, [290]der attische Bund, das karthagische und das römisch-italische Reich. Den peloponnesischen und den boiotischen
g
[290]A: beiotischen
Bund dürfen wir beiseite lassen, weil ihre Großmachtstellung ephemer
h
A: ephemär
war.
255
[290] Das (relativ lockere) Militärbündnis zwischen Sparta und einer Reihe von Staaten auf der Peloponnes bestand seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. Weber bezieht sich hier anscheinend auf die Zeit der Großmachtstellung Spartas nach dem Sieg im Peloponnesischen Krieg 404 v. Chr., als Sparta auch in die Autonomie seiner Verbündeten eingriff; auf die Niederlage Spartas gegen Theben 371 v. Chr. folgte die Auflösung des Bundes. – Boiotien hat unter Führung Thebens zwischen 371 und 362 v. Chr. eine Vormachtrolle in Griechenland ausgeübt; zur Verfassung des Boiotischen Bundes vgl. unten, S. 292.
Jede jener vier Schöpfungen ruhte auf einer anderen Basis. Die Großmacht des Dionysios war eine auf Söldner und nur daneben auf das Bürgerheer gestützte reine Militärmonarchie,
256
Vgl. oben, S. 225, Anm. 96.
die für uns als untypisch kein spezifisches Interesse bietet. Der attische Bund
257
Der sogenannte delisch-attische Seebund war 478/477 v. Chr. (auf der Basis bilateraler, unkündbarer Verträge zwischen Athen und einer Vielzahl von Küstenstädten und Inseln der Ägäis) zur weiteren Bekämpfung der Perser begründet worden, entwickelte sich jedoch rasch zu einem Instrument athenischer Großmachtpolitik.
war eine Schöpfung der Demokratie, also einer Bürgerzunft. Dies mußte notwendig zu einer ganz exklusiven Bürgerrechtspolitik
258
Dies zeigt sich v.a. in dem Bürgerrechtsgesetz von 451/450 v. Chr. nach dem das Bürgerrecht durch Geburt nur erworben wurde, wenn beide Elternteile Athener waren, und daran, daß die Verleihung des Bürgerrechts im Einzelfall einen (an das hohe Quorum von 6000 geknüpften) Beschluß der Volksversammlung voraussetzte.
führen und bedingte andererseits die völlige Unterordnung der Verbündeten demokratischen Bürgerzünfte unter die Bürgerzunft der herrschenden Stadt. Da die Höhe der Tribute nicht fest vereinbart, sondern einseitig in Athen festgestellt wurde, wenn auch nicht vom Demos selbst, sondern von einer kontradiktorisch verhandelnden Kommission, welche der Demos wählte,
259
Die Einschätzung der von den Verbündeten zu erbringenden Leistung wurde von einem Gremium athenischer Beamten (taktai) vorgenommen, die Veranlagung dann von Rat und Volksversammlung beschlossen; dagegen konnten die Bündner bei der Volksversammlung Einspruch einlegen und schließlich gegebenenfalls ihre Interessen in einer Verhandlung vor einem Geschworenengericht vertreten; vgl. Bannier, Wilhelm. Die Tributeinnahmeordnung des attischen Staates, in: Rheinisches Museum, Neue Folge, Band 54, 1899, S. 544–554.
und da alle Prozesse der Bundesgenossen nach Athen gezogen wurden,
260
Es ist höchst fraglich, ob dies so uneingeschränkt zutrifft; die apodiktische Behauptung geht jedoch auf (Pseudo-)Xenophon, Respublica Atheniensium 1, 16, zurück.
[291]so [A 767]war die dortige kleine Bürgerzunft unumschränkte Herrin des weiten Reiches, nachdem mit wenigen Ausnahmen die Herstellung eigener Schiffe und Kontingente der Untertanen durch Geldzahlungen ersetzt und damit der gesamte Matrosendienst der herrschenden Bürgerschaft zugewiesen war.
261
[291] Thukydides 1, 99, 3; zu Beginn des Peloponnesischen Krieges stellten von den athenischen Verbündeten nur noch Chios, Lesbos und Kerkyra eigene Flottenkontingente; Thukydides 2, 9, 5.
Eine einzige endgültige Vernichtung der Flotte dieses Demos mußte daher dieser Herrschaft ein Ende bereiten.
262
Weber denkt wohl an die Niederlage in der Seeschlacht bei Aigospotamoi 405 v. Chr., die den Zusammenbruch Athens im Peloponnesischen Krieg zur Folge hatte.
Die Großmachtstellung der Stadt Karthago, beherrscht streng plutokratisch von großen Geschlechtern, welche Handels- und Seekriegsgewinn
i
[291]A: Seekrieggewinn
in typischer antiker Art mit großem Grundbesitz, der hier aber kapitalistisch mit Sklaven bewirtschafteter Plantagenbesitz war, verbanden, ruhte auf Söldnerheeren. (In Verbindung mit der Expansionspolitik ging die Stadt erst zur Münzprägung über.)
263
Seit 409 v. Chr. zur Bezahlung der Söldnerheere auf Sizilien; Meyer, Eduard, „Münzwesen II. Orientalisches und griechisches Münzwesen“, in: HdStW2, Band 5, S. 906–914, hier S. 912.
Die Beziehung der Heerführer, deren Heer an ihnen persönlich, ihren Erfolgen und Schicksalen mit seinen Beutechancen hing, zu den Patrizierfamilien der Stadt konnte niemals die Spannung verlieren, welche bis auf Wal[WuG1 598]lenstein herab jedem auf eigener Werbung ruhenden Heerführertum gegenüber seinem Auftraggeber eigen gewesen ist. Dieses nie ruhende Mißtrauen schwächte die militärischen Operationen, so daß die Überlegenheit der Taktik des Berufsheeres der Söldner gegenüber den italischen Bürgeraufgeboten nicht dauernd behauptet werden konnte, sobald auch dort an die Spitze ein einzelner Dauerfeldherr gestellt wurde und die militärische Leistungsfähigkeit der Korporale und Soldaten dem Soldheere ebenbürtig geworden war.
264
Gemeint ist wohl in erster Linie die Schlußphase (211–202 v. Chr.) des Zweiten Punischen Krieges, als Scipio Africanus die Karthager zunächst in Spanien und dann in Nordafrika besiegte. Auf karthagischer Seite hatten sich wiederholt Differenzen zwischen den Behörden in der Heimat und dem Feldherrn Hannibal gezeigt, der u. a. seine Rückberufung aus Italien 203 v. Chr. heftig kritisiert hatte; Livius 30, 20, 1–4.
Dem Mißtrauen der karthagischen Plutokratie und spartanischen [292]Ephoren gegen die siegreichen Feldherren entspricht durchaus das Verhalten des attischen Demos und die von ihm entwickelte Institution des Ostrakismos.
265
[292] Durch das „Scherbengericht“ (d. h. das Aufschreiben des Namens auf Tonscherben, ostraka) konnte jeweils eine Person durch eine Volksabstimmung (die allerdings das hohe Quorum von 6000 voraussetzte) ohne Verlust der bürgerlichen Ehre und des Eigentums auf zehn Jahre verbannt werden. Die athenische Volksversammlung entschied jährlich einmal, ob solch eine Abstimmung durchgeführt werden sollte. Das Verfahren ist anfangs des 5. Jahrhunderts v. Chr. eingeführt worden, die letzte Verbannung auf diesem Weg erfolgte ca. 417 v. Chr.
Die Abneigung der herrschenden Schicht dagegen: im Falle der Entstehung einer Militärmonarchie die Knechtschaft der unterworfenen auswärtigen Völker teilen zu müssen, lähmte die Expansionskraft. Allen antiken Hoplitenschaften gemeinsam ist ferner die durch mächtige[,] ökonomisch nutzbare[,] politische Monopolinteressen gestützte Abneigung, die eigene politische Sondervergemeinschaftung der vollberechtigten Bürger durch Öffnung der Schranken des Bürgerrechts zu erweitern und in einem einzigen Bürgerrecht eines aus zahlreichen Einzelgemeinden bestehenden Reiches aufgehen zu lassen. Alle auf dem Wege zu einem interstädtischen Bürgerrecht liegenden Vergemeinschaftungsformen haben jene [A 768]Grundtendenz niemals ganz verschwinden lassen. Denn alles, was der Bürger als Recht, als Grundlage seines Prestiges und ideellen Bürgerstolzes ebenso wie als ökonomische Chance genoß, hing an seiner Zugehörigkeit zur militärischen Bürgerzunft, und die strenge Exklusivität der Kultgemeinschaften gegeneinander bildete
k
[292]A: bildeten
ein weiteres Moment der Hemmung einer einheitsstaatlichen Bildung. Ganz unüberwindlich waren alle jene Momente nicht, wie das Gebilde des boiotischen
l
A: beiotischen
Bundesstaates beweist, der ein gemeinsames boiotisches
m
A: beiotisches
Bürgerrecht, gemeinsame Beamte, eine durch Repräsentanten der einzelnen Bürgerschaften beschickte beschließende Versammlung, gemeinsame Münze und gemeinsames Heer neben einer Gemeindeautonomie der einzelnen Städte kannte.
266
Vgl. zur Verfassung des Boiotischen Bundes Meyer, Eduard, Theopomps Hellenika. Mit einer Beilage über die Rede an die Larisaeer und die Verfassung Thessaliens. – Halle: Max Niemeyer 1909, S. 92–102. Die bundesstaatliche Organisation ist 447 v. Chr. eingeführt worden.
Aber er steht in dieser Hinsicht innerhalb der hellenischen Welt nahezu isoliert da. Der peloponnesische Bund be[293]deutete nichts ähnliches, und alle anderen Bundesverhältnisse lagen nach der grade entgegengesetzten Richtung. Es waren durchaus besondere soziale Bedingungen, welche die römische Gemeinde dazu gebracht haben, in dieser Hinsicht eine vom antiken Typus sehr stark abweichende Politik zu treiben.
In Rom war in ungleich stärkerem Maß als in irgendeiner antiken Polis eine Honoratiorenschicht stark feudalen Gepräges Träger der Herrschaft geblieben und nach nur zeitweiliger Erschütterung stets erneut geworden. Dies tritt auch in den Institutionen deutlich zutage. Der Sieg der Plebs hatte eine Demeneinteilung im hellenischen Sinne nicht gebracht, sondern der Form nach eine Herrschaft der in den Tribus sitzenden Bauern, der Sache nach aber die Herrschaft der stadtsässigen ländlichen Grundrentner, die allein ständig an dem politischen Leben der Stadt teilnahmen. Sie allein waren ökonomisch „abkömmlich“, also amtsfähig, und der Senat als
n
[293]A: oder
Repräsentation der großen Beamten Träger der Amtsadelsbildung. Dazu tritt nun die außerordentlich starke Bedeutung feudaler und halbfeudaler Abhängigkeitsverhältnisse. In Rom hat die Klientel als Institution, wenn auch ihres alten militärischen Charakters zunehmend entkleidet, bis in die spätesten Zeiten ihre Rolle gespielt. Wir sahen ferner,
267
[293] Gemeint sind wohl die Bemerkungen oben, S. 280 (patrimoniale Beziehungen zur Herrenfamilie) und S. 282 (prozeßrechtliche Sonderstellung der Freigelassenen).
daß die Freigelassenen der Sache nach geradezu unter einer Art von sklavenartiger Gerichtshörigkeit standen: Caesar ließ einen seiner Freigelassenen hinrichten, ohne daß dagegen Widerspruch entstanden wäre.
268
Sueton, Divus Julius 48, führt die Hinrichtung eines Freigelassenen Caesars wegen Ehebruchs mit der Frau eines römischen Ritters (der sich selbst gar nicht beschwert hatte) als Beleg für die Disziplin an, auf die Caesar in seinem Hause achtete.
Der [A 769]römische Amtsadel wurde je länger je mehr eine Schicht, welche nach dem Umfang ihres Grundbesitzes nur in den frühhellenischen, als „Tyrannen“ verschrienen Figuren eines interlokalen Adels von der Art des Miltiades
269
Miltiades der Jüngere wurde ca. 493 v. Chr. in Athen wegen seiner „Tyrannis auf der [thrakischen] Chersones“ angeklagt, jedoch freigesprochen (Herodot 6, 104, 2).
eine schwache Analogie fand. Die Zeit des älteren Cato rechnete noch mit Gütern mäßigen Umfanges,
270
Cato, De agricultura 10–11, zur Einrichtung eines Ölguts von 240 (= ca. 60 Hektar) bzw. eines Weinguts von 100 iugera (= ca. 25 Hektar).
immerhin weit größeren als etwa [294]dem Erbbesitz des Alkibiades
271
[294] Nach Platon, Alkibiades 1, 123c, weniger als 300 plethra (= ca. 30 Hektar).
oder der von Xenophon als normal vorausgesetzten Landgüter.
272
Bei Xenophon, Oeconomicus (einer Anleitung für einen Gutsbesitzer), findet man keine genauen Angaben über die Größe der Grundstücke; daß von vergleichsweise bescheidenen Größenverhältnissen ausgegangen wird, erschließt Weber aus dem allgemeinen Tenor der Schrift; vgl. Agrarverhältnisse3, S. 121 (MWG I/6).
Aber die einzelnen [WuG1 599]Adelsfamilien kumulierten unzweifelhaft schon damals Massen solchen Besitzes und waren überdies direkt an den für standesgemäß und, durch Vermittlung ihrer Freigelassenen und Sklaven, auch an den für unstandesgemäß geltenden Geschäften aller Art durch die ganze Welt hin beteiligt. Kein hellenischer Adel konnte sich entfernt mit dem ökonomischen und sozialen Niveau der römischen Geschlechter der späteren Republik messen. Auf den wachsenden Grundbesitzungen des römischen Adels wuchs die Zahl der Parzellenpächter (coloni), welche vom Herrn mit Inventar ausgerüstet und in der Wirtschaftsführung kontrolliert, nach jeder Krise immer tiefer verschuldet, faktisch erblich auf ihren Stellen blieben und vollständig von dem Herrn abhängig, in den Bürgerkriegen von den Parteiführern
273
Vgl. oben, S. 278 mit Anm. 223.
(ebenso wie
o
[294]A: ebenso (wie
von den Feldherren noch im numantinischen Kriege die Klienten)
274
Vgl. oben, S. 278 mit Anm. 222.
zur Kriegshilfe aufgeboten wurden.
Aber nicht nur massenhafte Einzelpersonen standen im Klientelverhältnis. Der siegreiche Feldherr nahm verbündete Städte und Länder in persönlichen Schutz, und diese Patronage blieb in seinem Geschlecht: so hatten die Claudier Sparta und Pergamon,
275
Die Patronate der Claudier über Sparta und Pergamon sind für die Zeit seit der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. bezeugt; zu Sparta: Sueton, Tiberius 6, 2; zu Pergamon die Inschrift in: Die Inschriften von Pergamon. Unter Mitwirkung von Ernst Fabricius und Carl Schuchhardt hg. von Max Fränkel, Band 1: Bis zum Ende der Königszeit (Königliche Museen zu Berlin. Altertümer von Pergamon, Band 8, 1). – Berlin: W. Spemann 1890, Nr. 409, S. 286; Münzer, Claudius (wie oben, S. 267, Anm. 194), Sp. 2667.
andere Familien andere Städte in Klientel, empfingen ihre Gesandten und vertraten im Senat deren Wünsche. Nirgends in der Welt ist eine derartige politische Patronage in den Händen einzelner, formell rein privater Familien vereinigt gewesen. Längst vor aller Monar[295]chie existierten private Herrschergewalten, wie sie sonst nur Monarchen besitzen.
Diese auf Klientelbeziehungen aller Art ruhende Macht des Amtsadels hat die Demokratie nicht zu durchbrechen vermocht. An einer Eingemeindung der Geschlechter in die Demen und die Erhebung dieser Verbände zu Konstituentien des politischen Verbandes zum Zweck der Zerbrechung der Macht der Geschlechterverbände nach attischer Art ist in Rom gar nicht gedacht worden. Ebensowenig ist jemals versucht worden, so wie es [A 770]die attische Demokratie nach der Vernichtung des Areiopags tat, einen erlosten Ausschuß des Demos als Verwaltungsbehörde und
p
[295] In A folgt: durch
frei aus der ganzen Bürgerschaft erloste Geschworene als Gerichtsbehörde zu konstituieren.
276
[295] Vgl. oben, S. 218 f.
In Rom behielt die jenem Areiopag am meisten entsprechende Vertretung des Amtsadels, der Senat, als ständige Körperschaft gegenüber den wechselnden Wahlbeamten die Verwaltungskontrolle in der Hand, und selbst die siegreiche Militärmonarchie hat zunächst nicht den Versuch gemacht, diese Geschlechter auf die Seite zu schieben, sondern sie nur entwaffnet und auf die Verwaltung befriedeter Provinzen beschränkt.
277
Die Aufteilung zwischen den vom Princeps (bzw. dessen Beauftragten) und den von senatorischen Statthaltern verwalteten Provinzen geht auf die 27 v. Chr. zwischen Augustus und dem Senat getroffene Regelung zurück. Nennenswerte Truppenkontingente waren im Regelfall nur in den kaiserlichen Provinzen stationiert.
Die patrimoniale Konstruktion der herrschenden Schicht äußerte sich auch in der Art der Führung der Amtsgeschäfte. Ursprünglich wurde das Bureaupersonal wohl überall von den Beamten selbst gestellt. Innerhalb der Friedensverwaltung wurde die Bestellung des subalternen Personals allerdings später seiner Verfügung weitgehend entzogen, aber den Feldherrn unterstützten sicherlich seine Klienten und Freigelassenen, daneben auch
q
A: aber
die freie Gefolgschaft persönlicher und politischer Freunde aus verbündeten Geschlechtern in der Ausübung seines Amtes. Denn im Felddienst war die Übertragung der Amtswahrnehmung an Beauftragte weitgehend gestattet. Auch der Prinzeps der ersten Zeit der Militärmonarchie führte seine Verwaltung unbeschadet der später zunehmenden Einschränkung zu einem immerhin so großen Teile mit Hilfe seiner [296]Freigelassenen, daß diese Schicht gerade damals unter der Herrschaft der von jeher klientelreichen Claudier den Höhepunkt ihrer Macht erreichte und ein claudischer Kaiser dem Senat drohen konnte, auch formell die Gesamtverwaltung ganz in die Hand dieser seiner persönlichen Untertanen zu legen.
278
[296] Nach Sueton, Nero 37, 3, hat Nero gedroht, die Heere und Provinzen Rittern und Freigelassenen anzuvertrauen. Tatsächlich ging jedoch unter Neros Herrschaft (54–68) die Dominanz kaiserlicher Freigelassener in der Hofverwaltung, wie sie unter Claudius (41–54) bestanden hatte, zu Ende.
Und ganz wie bei den spätrepublikanischen Adelsgeschlechtern lag auch beim Prinzeps einer der wichtigsten Schwerpunkte seiner ökonomischen Macht in den namentlich unter Nero gewaltig vermehrten Grundherrschaften
279
Ausgedehnte kaiserliche Ländereien gab es vor allem in der Provinz Africa, nachdem Nero dort die reichsten Grundbesitzer enteignet und „halb Africa“ (Plinius, Naturalis historia 18, 35) an sich gebracht hatte; dazu Schulten, Adolf, Die römischen Grundherrschaften. Eine agrarhistorische Untersuchung. – Weimar: Emil Felber 1896, S. 119 f.
und in solchen Gebietsteilen, die, wie namentlich Ägypten, wenn auch nicht, wie man behauptet hat, rechtlich, so doch faktisch wie eine Art persönlicher Patrimonialherrschaft verwaltet wurden.
280
Ägypten wurde nach dem Sieg über Antonius und Kleopatra von Octavian (Augustus) seit 30 v. Chr. unter Ausschluß des Senats durch einen Präfekten verwaltet. Der Princeps trat die Rechtsnachfolge der Ptolemäer an, die über große Krongüter verfügt hatten. Die Einkünfte daraus sowie aus Steuern und Zöllen flossen jetzt in die kaiserliche Kasse, den fiscus; vgl. Klingmüller, F[ritz], Die Idee des Staatseigentums am römischen Provinzialboden, in: Philologus, Band 69, 1910, S. 71–113, hier S. 92–98. Daß Ägypten wie ein Hausgut bzw. Familienbesitz des Kaisers behandelt worden sei, haben u. a. Kuhn, Emil, Die städtische und bürgerliche Verfassung des Römischen Reiches bis auf die Zeiten Justinians, 2. Theil. – Leipzig: B. G. Teubner 1865, S. 80 f. und Marquardt, Joachim, Römische Staatsverwaltung, Band 1 (Handbuch der römischen Alterthümer von Joachim Marquardt und Theodor Mommsen, Band 4,1), 2. Aufl. – Leipzig: S. Hirzel 1881, S. 441, unter Berufung auf Tacitus, Historiae 1, 11, 1, und Philo, In Flaccum 1, 19, 158, ausgeführt. In der Forschung war umstritten, ob mit der Etablierung der römischen Herrschaft das Land in das Eigentum des Kaisers oder des römischen Staates übergegangen war bzw. ob der Kaiser über den fiscus als sein Privateigentum verfügen konnte. Während Mommsen, Staatsrecht, Band 2,2, S. 749, Anm. 1, S. 859 und 998–1005, von Privateigentum des Kaisers gesprochen hat, hat Hirschfeld, Otto, Die kaiserlichen Verwaltungsbeamten bis auf Diocletian, 2., neubearbeitete Aufl. – Berlin: Weidmann 1905, S. 6–13, den öffentlichrechtlichen Charakter dieses Vermögens hervorgehoben.
Diese so bis in späte Zeiten nachwirkende Bedeutung [WuG1 600]des patrimonialen und feudalen Einschlags der römischen Republik und ihrer Honoratiorenverwaltung ist in ihrer Eigenart in einer nie völlig unterbrochenen Tradition von altersher, [A 771]wenn auch ursprünglich naturgemäß in kleinerem Kreise, vorhanden gewesen [297]und war die Quelle sehr wichtiger Unterschiede gegenüber dem Hellenentum. Schon die äußere Lebensführung wies charakteristische Unterschiede auf. In Hellas begann in der Zeit des Wagenkampfes der adlige Mann sich auf dem Ringplatz zu tummeln, wie wir sahen.
281
[297] Siehe oben, S. 176.
Der Agon
r
[297] Hier und im ganzen Absatz immer: Agόn
, das Produkt des individuellen Ritterkampfes und der Verklärung des ritterlichen Kriegsheldentums[,] war Quelle der entscheidendsten Züge der hellenischen Erziehung. Gegenüber dem Turnier des Mittelalters war, so sehr Wagen und Pferde im Vordergrund standen, doch der wichtige Unterschied von Anfang an vorhanden: daß bestimmte offizielle Feste ein für allemal nur in dieser Form des Agon begangen wurden. Und mit dem Vordringen der Hoplitentechnik verbreitete sich nur der Kreis des Agon. Alles, was auf dem Gymnasion geübt wurde: Speerkampf, Ringen, Faustkampf, vor allem Wettlauf, nahm diese Form an und wurde dadurch „gesellschaftsfähig“. Die rituellen Gesänge zu Ehren der Götter wurden durch musische Agone ergänzt. Zwar glänzte der vornehme Mann dabei durch die Qualität seines Besitzes: Pferde und Wagen, die er für sich laufen ließ. Aber der Form nach mußten die plebejischen Agone als ebenbürtig anerkannt werden. Der Agon wurde organisiert mit Preisen, Schiedsrichtern, Kampfregeln und durchdrang das gesamte Leben. Nächst dem Heldengesang wurde er das wichtigste nationale Band des Hellenentums im Gegensatz zu allen Barbaren.
282
Daß hierin ein Grundzug griechischer Kultur liege, hat v.a. Burckhardt, Kulturgeschichte (wie oben, S. 80, Anm. 57), Band 4, Abschnitt: Der agonale und koloniale Mensch, hervorgehoben.
Schon das älteste Auftauchen der Hellenen auf Bildwerken scheint nun als ihnen spezifisch die Nacktheit, das Fehlen aller Bekleidung außer den Waffen[,] zu erweisen.
283
Entsprechende Darstellungen gibt es seit dem 6. Jahrhundert v. Chr.; vgl. Jüthner, [Julius], „Gymnastik“, in: RE, Band 7, 2, 1912, Sp. 2030–2085, hier Sp. 2073–2077.
Von Sparta, der Stätte des höchsten militärischen Trainings aus, verbreitete sie sich über die hellenische Welt, und auch der Lendenschurz fiel fort. Keine Gemeinschaft der Erde hat eine Institution wie diese zu einer solchen alle Interessen und die ganze Kunstübung und Konversation [298]bis zu den platonischen Dialogkämpfen beherrschenden Bedeutung entwickelt. Bis in die Spätzeit unter byzantinischer
s
[298]A: der byzantinischen
Herrschaft sind die Zirkusparteien die Form, in welche sich Spaltungen der Massen kleiden, und die Träger von Revolutionen in Konstantinopel und Alexandrien.
284
[298] „Spätzeit“ ist hier als „Spätzeit der Griechen“ zu verstehen. Weber bezieht sich auf bekannte Vorfälle aus dem 5. und 6. Jahrhundert; vgl. oben, S. 98–100 mit Anm. 119, 120 und 124.
Den Italikern blieb diese Bedeutung der Institution, wenigstens diejenige Art ihrer Entwicklung, welche sie in der klassischen hellenischen Zeit genommen hat, fremd. In Etrurien herrschte [A 772]der Stadtadel der Lukumonen
285
Lucumones war usprünglich die Bezeichnung für die etruskischen Könige; die Annahme, daß nach dem Sturz des Königtums damit die Häupter der Aristokratie bezeichnet wurden, geht zurück auf Müller, Karl O., Die Etrusker. Vier Bücher, neu bearbeitet von Wilhelm Deecke, Band 1. – Stuttgart: Albert Heitz 1877, S. 337–342.
über verachtete Plebejer und ließ bezahlte Athleten
286
Aus den Darstellungen von Wettkämpfen auf den Grabgemälden ist in der zeitgenössischen Forschung (vgl. Webers Hinweis in: Agrarverhältnisse3, S. 110 (MWG I/6)) geschlossen worden, daß es sich um Berufsathleten gehandelt habe; Körte, G[ustav], „Etrusker“, in: RE, Band 6, 1, 1907, Sp. 730–770, hier Sp. 769.
vor sich auftreten. Und auch in Rom lehnte der herrschende Adel ein solches Sich-gemein-machen mit und vor der Menge ab. Niemals hat sein Prestigegefühl einen solchen Verlust von Distanz und Würde ertragen, wie sie ihm diese nackten Turnfeste der „Graeculi“
287
Abwertende lateinische Bezeichnung für die Griechen, „Griechlein“.
bedeuteten,
288
Die Ablehnung der (mit Päderastie assoziierten) Nacktheit in den Gymnasien ist v.a. belegt bei Cicero, Tusculanae disputationes 4, 70, mit dem dort wiedergegebenen Ennius-Zitat; Cicero, De republica 4, 4; Plutarch, Moralia 274D; Tacitus, Annales 14, 20, 4.
ebensowenig wie den kultischen Singtanz, die dionysische Orgiastik
289
Weber denkt, wie aus den Bemerkungen in WuG1 S. 318 (MWG I/22-2), erkennbar ist, v.a. an die Unterdrückung der Bacchus-Kultgenossenschaften durch den Senat 186 v. Chr.
oder die abalienatio mentis
290
Entäußerung des Geistes in der religiösen Verzückung.
der Ekstase. Es trat im römischen politischen Leben die Bedeutung der Rede und des Verkehrs auf der Agora
t
A: Agorá
und in der Ekklesia ebenso weit zurück, wie der Wettkampf auf dem Gymnasion, der gänzlich fehlte. Reden wurden erst später und dann wesentlich im Senat gehalten und hatten demgemäß einen ganz anderen Charakter als die politische Redekunst des attischen Demagogen. Tradition und Erfahrung der Alten, der [299]gewesenen Beamten vor allem, bestimmte die Politik. Das Alter und nicht die Jugend war maßgebend für den Ton des Verkehrs und die Art des Würdegefühls. Rationale Erwägung, nicht aber die durch Reden angeregte Beutelust des Demos oder die emotionale Erregung der Jungmannschaft gab in der Politik den Ausschlag. Rom blieb unter der Leitung der Erfahrung, Erwägung und der feudalen Macht der Honoratiorenschicht.