[121][Religiöse Gemeinschaften]a[121]A: Kapitel IV. Religionssoziologie. (Typen religiöser Vergemeinschaftung.)
[121]A: Kapitel IV. Religionssoziologie. (Typen religiöser Vergemeinschaftung.)
1. [Die Entstehung der Religionen.]bA: § 1. Die Entstehung der Religionen. Die Authentizität der Überschrift ist nicht gesichert. Vgl. Editorischen Bericht, oben, S. 106. In A folgt eine Inhalts- und Seitenübersicht.
A: § 1. Die Entstehung der Religionen. Die Authentizität der Überschrift ist nicht gesichert. Vgl. Editorischen Bericht, oben, S. 106. In A folgt eine Inhalts- und Seitenübersicht.
Eine Definition dessen, was Religion „ist“, kann unmöglich an der Spitze, sondern könnte allenfalls am Schlusse einer Erörterung wie der nachfolgenden stehen. Allein wir haben es überhaupt nicht mit dem „Wesen“ der Religion, sondern mit den Bedingungen und Wirkungen einer bestimmten Art von Gemeinschaftshandeln zu tun, dessen Verständnis auch hier nur von den subjektiven Erlebnissen, Vorstellungen, Zwecken des Einzelnen – vom „Sinn“ – aus gewonnen werden kann, da der äußere Ablauf ein höchst vielgestaltiger ist. Religiös oder magisch motiviertes Handeln ist, in seinem urwüchsigen Bestande, diesseitig ausgerichtet. „Auf daß es dir wohl gehe und du lange lebest auf Erden“,
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sollen die religiös oder magisch gebotenen Handlungen vollzogen werden. Noch solche, zumal bei einem Stadtvolk außerordentlichen, Leistungen wie Menschenopfer wurden in den phönikischen Seestädten ohne alle und jede Jenseitserwartung gespendet.[121] Epheser 6, 2 f.: „‚Ehre Vater und Mutter’, das ist das erste Gebot, das Verheißung hat: ,Auf daß dir’s wohlgehe, und lange lebest auf Erden’“.
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Religiös oder magisch motiviertes Handeln ist ferner[,] gerade in seiner urwüchsigen Gestalt, ein mindestens relativ rationales Handeln: wenn auch nicht notwendig ein Handeln nach Mitteln und Zwecken, so doch nach Erfahrungsregeln. Wie das Quirlen den Funken aus dem Holz, so lockt die „magische“ Mimik des Kundigen den Regen aus dem Himmel. Und der Funken, den der Feuerquirl erzeugt, ist genau ebenso ein „magisches“ Produkt wie der durch die Manipulatio[122]nen des Regenmachers erzeugte Regen. Das religiöse oder „magische“ Handeln oder Denken ist also gar nicht aus dem Kreise des alltäglichen Zweckhandelns auszusondern, zumal auch seine Zwecke selbst überwiegend ökonomische sind. Nur wir, vom Standpunkt unserer heutigen Naturanschauung aus, würden dabei objektiv „richtige“ und „unrichtige“ Kausalzurechnungen unterscheiden und die letzteren als irrational, das entsprechende Handeln als „Zauberei“ ansehen können. Der magisch Handelnde selbst unterscheidet zunächst nur nach der größeren oder geringeren Alltäglichkeit der Erscheinungen. Nicht jeder beliebige Stein z. B. ist als Fetisch zu brauchen. Nicht jeder Beliebige hat die Fähigkeit in Ekstase zu geraten und also diejenigen Wirkungen meteorologischer, therapeutischer, divinatorischer, telepathischer Art herbeizuführen, welche man erfahrungsgemäß nur dann erreicht. Nicht immer nur diese, aber vornehmlich diese außeralltäglichen Kräfte sind es, welchen gesonderte Namen: „mana“, „orenda“, bei den Iraniern: „maga“ (davon: magisch) beigelegt werden, Diesen Sachverhalt beschrieb Friedrich Jeremias: „[…] das ist doch im Sinne der Opfernden der Trieb zum Menschenopfer gewesen. Und was erwartete man zum Lohn? Nichts, was über den Genuss des irdischen Lebens und irdischer Güter hinausgeht“. (Jeremias, Friedrich, Semitische Völker in Vorderasien, in: Chantepie de la Saussaye, Pierre Daniël (Hg.), Lehrbuch der Religionsgeschichte, Band 1, 3., vollständig neu bearbeitete Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1905, S. 382).
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und für die wir hier ein für allemal den Namen „Charisma“ gebrauchen wollen. Das Charisma kann entweder – und nur [A 228]dann verdient es in vollem Sinn diesen Namen – eine schlechthin an dem Objekt oder der Person, die es nun einmal von Natur besitzt, haftende, durch nichts zu gewinnende, Gabe sein. Oder es kann und muß dem Objekt oder der Person durch irgendwelche, natürlich außeralltägliche, Mittel künstlich verschafft werden. Die Vermittlung bil[123]det die Annahme: daß die charismatischen Fähigkeiten zwar in nichts und Niemandem entwickelt werden können, der sie nicht im Keime hat, daß aber dieser Keim verborgen bleibt, wenn man ihn nicht zur Entwicklung bringt, das Charisma – z. B. durch „Askese“ – „weckt“. Alle Formen der religiösen Gnadenlehre: von der gratia infusa[122] Die Begriffe mana und orenda bezeichnen Dinge oder Personen, denen etwas Mächtiges, Staunenerregendes, Außerordentliches, Ungewöhnliches und Ehrfurchterweckendes anhaftet. Der englische Missionar Robert Henry Codrington deutete 1891 das mana der Melanesier als eine übernatürliche außergewöhnliche Macht, erkannte aber auch, daß diese Kraft in der Regel an eine Person gebunden ist. (Codrington, Robert Henry, The Melanesians, Studies in their Anthropology and Folk-Lore. – Oxford: Clarendon Press 1891). In der Religion der Irokesen bedeutet orenda eine im wesentlichen unpersönliche Macht, die sich jedoch mit Menschen verbinden kann. Zum orenda der Irokesen zur Zeit Webers vgl. Hewitt, John Napoleon Brinton, Orenda and a Definition of Religion, in: The American Anthropologist, New Series, vol. 4, 1902, S. 33–46. Der Ausdruck maga („Bund“) kommt in Zarathustras Gathas vor. Christian Bartholomae brachte ihn mit maγa („Reinigungsraum“) in Verbindung. (Bartholomae, Altiranisches Wörterbuch, S. 1110–1112). Angaben Herodots (5. Jahrhundert v. Chr.) zufolge waren die magoi einer der sechs medischen Stämme. Sie waren zuständig für Opfer, Traumdeutung und Bestattung (Historien I, 101, 107, 120, 128, 132 und 140). Robert Ranulph Marett sah in mana und äquivalenten Bezeichnungen eine urtümliche Erfahrung von Macht, die der erklärenden Seelenvorstellung vorausgegangen sei. Er prägte dafür den Begriff „Prä-animismus“. Vgl. dazu unten, S. 125, Anm. 8.
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bis zur strengen Werkgerechtigkeit liegen so schon in diesem Stadium im Keim beschlossen. Diese streng naturalistische (neuerdings sog. präanimistische) Vorstellung[123] Der Kirchenlehrer Aurelius Augustinus entfaltete in seinen Schriften die Lehre von der Gnadeneinwirkung Gottes als einer Inspiration, einer Ergießung der göttlichen Gnade durch den Heiligen Geist. Die Scholastik bezeichnete dies später als „gratia infusa“. Nach katholischer Lehre spendet Gott die Gnade in der Regel durch die Kultushandlungen der Kirche, die Sakramente. Durch sie wird den Menschen die göttliche Gnade „eingeflößt“, vermehrt oder nach ihrem Verlust neu gestiftet.
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verharrt in der Volksreligiosität hartnäckig. Kein Konzilsbeschluß, der die „Anbetung“ Gottes von der „Verehrung“ von Heiligenbildern als bloßen Mitteln der Andacht scheidet, Die Präanimismus-Theorie stammte von Robert Ranulph Marett. Marett begründete in einem Vortrag 1899, der im Juni 1900 unter dem Titel: „Pre-animistic Religion“ zuerst in der Zeitschrift Folk-Lore erschienen war und dann in einem Sammelband des Autors wieder abgedruckt wurde (Marett, Robert Ranulph, Pre-animistic Religion, in: ders., The Threshold of Religion. – London: Methuen & Co. Ltd. 1909, S. 1–28), daß Machterfahrungen eine Voraussetzung der Seelenkonzeption seien und dem „Animismus“ von Edward Burnett Tylor (vgl. unten, S. 125, Anm. 8) logisch und psychologisch vorausgingen. Er sprach daher von „Präanimismus". Während Tylor den „Animismus“ als ein Erklärungsmodell für Naturvorgänge deutete und „primitive“ Religion als Glauben an die Existenz übernatürlicher geistiger Wesen definierte, hielt Marett die Furcht vor dem Machtvollen für das Rohmaterial von Religion. Naturerscheinungen würden als unberechenbare Mächte erfahren, ohne daß notwendigerweise bereits eine Beseelung angenommen werden müßte. Mit Hilfe der Seelenvorstellungen hätten sich die Menschen jedoch ihre Erfahrungen von Macht verständlich gemacht. Logisch und chronologisch gehe diesen Seelenvorstellungen ein anderer Sachverhalt voraus: das Gefühl von Ehrfurcht. Marett verlegte die Anfänge von Religion vom intellektuellen Bedürfnis nach Erklärungen in ein Erleben von Macht.
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hat gehindert, daß der Südeuropäer noch heute das Heiligenbild selbst verantwortlich macht und ausspuckt, wenn trotz der üblichen Manipulationen der beanspruchte Erfolg ausbleibt. Im Rahmen des sog. „Bilderstreites von Byzanz“, des Streites um die Zulässigkeit der Verehrung religiöser Bilder (Ikonen), der 726 begann, wurde auf dem VII. ökumenischen Konzil von Nicäa 787 beschlossen, daß jede „ehrerbietige Verehrung“ (griech.: timētikē proskynēsis), die den Bildern Christi, der Gottesmutter, der Engel oder der Heiligen gezollt wird, dem Urbild gelte. Diese „Verehrung“ wurde unterschieden von der „wahren Anbetung“ (griech.: alēthinē latreia), die allein Gott vorbehalten sei.
Immerhin ist dabei meist bereits eine nur scheinbar einfache Abstraktion vollzogen: die Vorstellung von irgendwelchen „hin[124]ter“ dem Verhalten der charismatisch qualifizierten Naturobjekte, Artefakte, Tiere, Menschen, sich verbergenden und ihr Verhalten irgendwie bestimmenden Wesenheiten: der Geisterglaube. Der „Geist“ ist zunächst weder Seele, noch Dämon oder gar Gott, sondern dasjenige unbestimmt: materiell und doch unsichtbar, unpersönlich und doch mit einer Art von Wollen ausgestattet gedachte Etwas, welches dem konkreten Wesen seine spezifische Wirkungskraft erst verleiht, in dasselbe hineinfahren und aus ihm – aus dem Werkzeug, welches unbrauchbar wird, aus dem Zauberer, dessen Charisma versagt – auch irgendwie wieder heraus, ins Nichts oder
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in einen anderen Menschen oder in ein andres Objekt hinein fahren kann. Es erscheint nicht nachweisbar, daß allgemeine ökonomische Bedingungen für die Entwicklung zum Geisterglauben Vorbedingung sind. Gefördert wird sie, wie alle Abstraktion auf diesem Gebiet, am stärksten dadurch, daß die von Menschen besessenen „magischen“ Charismata nur besonders Qualifizierten anhaften und daß sie dadurch die Unterlage des ältesten aller „Berufe“ wird, des berufsmäßigen Zauberers. Der Zauberer ist der dauernd charismatisch qualifizierte Mensch im Gegensatz zum Alltagsmenschen, dem „Laien“ im magischen Sinn des Begriffs. Er hat insbesondre die spezifisch das Charisma repräsentierende oder vermittelnde Zuständlichkeit: die Ekstase, als Objekt eines „Betriebs“ in Pacht genommen. Dem Laien ist die Ekstase nur als Gelegenheitserscheinung zugänglich. Die soziale Form, in der dies geschieht, die Orgie, als die urwüchsige Form religiöser Vergemeinschaftung, im Gegensatz zum rationalen Zaubern, ist ein Gelegenheitshandeln gegenüber dem kontinuierlichen „Betrieb“ des Zauberers, der für ihre Leitung unentbehrlich ist. Der Laie kennt die Ekstase nur als einen, gegenüber den Bedürfnissen des Alltagslebens notwendig nur gelegentlichen Rausch, zu dessen Erzeugung alle alkoholischen Getränke, ebenso der Tabak und ähnliche Narkotika, die alle ursprünglich Orgienzwecken dienten, daneben vor allem die Musik, verwendet werden. Wie man sie verwendet, bildet neben der rationalen Beeinflussung der Geister im Interesse der Wirtschaft, den zweiten, wichtigen, aber entwicklungsgeschichtlich sekundären Gegenstand der naturgemäß fast überall zu einer Geheimlehre werdenden Kunst des Zauberers. Auf Grund der Erfah[125]rungen an den Zuständlichkeiten bei Orgien und sicherlich überall in starkem Maße unter dem Einfluß seiner Berufspraxis vollzieht sich die Entwicklung des Denkens zunächst zu der Vorstellung von der „Seele“ als eines vom Körper verschiedenen Wesens, welches hinter, bei oder in den Naturobjekten in ähnlicher Art vorhanden sei, wie im menschlichen Körper etwas steckt, was ihn im Traum, in Ohnmacht und Ekstase, im Tode verläßt.[124]A: oder,
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Die verschiedenen Möglichkeiten der Beziehung jener Wesenheiten zu den Dingen, hinter denen sie stecken oder mit denen sie irgendwie verbunden sind, können hier nicht erörtert werden. Sie können bei einem oder innerhalb eines konkreten Objekts oder [A 229]Vorgangs mehr oder minder dauernd und exklusiv „hausen“. Oder umgekehrt: sie können bestimmte Vorgänge und bestimmte Dinge oder Kategorien solcher irgendwie „haben“ und also über deren Verhalten und Wirksamkeit maßgebend verfügen: diese und ähnliche sind die eigentlich „animistischen“ Vorstellungen.[125] Erwin Rohde vertrat die Meinung, in den „dionysischen Orgien“ sei eine Vereinigung mit Gott angestrebt worden, wobei äußere Mittel (Musik, Tanz, Narkotika) verwendet worden seien. In diesem Rausch der Ekstase habe sich der Glaube an das Dasein einer vom Leib getrennten Seele gefestigt. (Rohde, Psyche II, S. 22–35).
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Oder sie können in Dingen: Pflanzen, Tieren oder Menschen sich zeitweise „verkörpern“ – eine weitere erst allmählich erreichte Stufe der Abstraktion – oder endlich: sie können durch sie – die höchste sehr selten festgehaltene Stufe der Abstraktion – nur „symbolisiert“, selbst aber als irgendwie nach eigenen Gesetzen lebende, aber normalerweise unsichtbare Wesen gedacht sein. Dazwischen gibt es natürlich die mannigfachsten Übergänge und Kombinationen. Schon durch die zuerst genannten, einfacheren Abstraktionsformen sind „übersinnliche“ Mächte, welche in die Geschicke der Menschen eingreifen können, ähnlich wie ein Mensch in die Geschicke seiner Außenwelt, im Prinzip konzipiert. Der Begriff „Animismus“ geht auf den englischen Anthropologen Edward Burnett Tylor zurück. Tylors evolutionistische Religionstheorie erklärte die Annahme einer „Seele“ aus elementaren Erfahrungen. Sie sei aus dem Verlangen des primitiven Menschen hervorgegangen, ihm rätselhafte Erscheinungen wie Träume, Krankheit, Tod zu erklären. Aus der Vorstellung von „Seele“ habe sich über die Vorstellung von „Geistern“ die Konzeption von „Göttern“ entwickelt. Tylor sah im Animismus abwechselnd eine Religion, eine rohe Philosophie („crude philosophy“) oder eine wilde Theologie („savage theology“). (Tylor, Edward Burnett, Primitive Culture. Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Art and Custom, two volumes. – London: Murray 1871).
[126]Auch die „Götter“ oder „Dämonen“ sind aber noch nichts Persönliches oder Dauerndes, nicht einmal immer etwas besonders Benanntes. Ein „Gott“ kann als eine über den Verlauf eines einzelnen konkreten Vorgangs verfügende Macht konzipiert werden (Useners „Augenblicksgötter“),
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an welche nachher niemand mehr denkt, oder der erst dann wieder erneut in Frage kommt, wenn der betreffende Vorgang sich wiederholt. Er kann umgekehrt diejenige Macht sein, die noch nach dem Tode eines großen Helden irgendwie von diesem ausgeht. Sowohl die Personifikation wie die Verunpersönlichung kann im Einzelfall der spätere Akt sein. Sowohl Götter ohne alle Eigennamen, benannt nur nach dem Vorgang, über den sie Gewalt haben, kommen vor, deren Bezeichnung erst allmählich, wenn sie sprachlich nicht mehr verstanden wird, den Charakter eines Eigennamens annimmt, wie umgekehrt Eigennamen mächtiger Häuptlinge oder Propheten zur Bezeichnung göttlicher Mächte geworden sind, ein Vorgang, aus welchem nun umgekehrt der Mythos wieder das Recht schöpft, reine Götterbezeichnungen zu Personennamen vergötterter Heroen zu machen. Ob eine bestimmte Konzeption einer „Gottheit“ zu einer perennierenden gedeiht und nun bei ähnlichen Gelegenheiten immer erneut durch magische oder symbolische Mittel angegangen wird, hängt von den allerverschiedensten Umständen, in erster Linie aber wiederum davon ab, ob und in welcher Form entweder die magische Praxis der Zauberer oder das persönliche Attachement eines weltlichen Potentaten auf Grund persönlicher Erfahrungen ihn rezipiert. [126] Hermann Usener erklärte den Begriff „Augenblicksgötter" wie folgt: „Wenn die augenblickliche empfindung dem dinge vor uns, das uns die unmittelbare nähe einer gottheit zu bewusstsein bringt, dem zustand in dem wir uns befinden, der kraftwirkung die uns überrascht, den werth und das vermögen einer gottheit zumisst, dann ist der augenblicksgott empfunden und geschaffen. In voller unmittelbarkeit wird die einzelne erscheinung vergöttlicht, ohne dass ein auch noch so begrenzter gattungsbegriff irgendwie hineinspielte: das eine ding, das du vor dir siehst, das selbst und nichts weiter ist der gott“. (Usener, Götternamen, S. 280).
Wir registrieren hier lediglich als Resultat des Prozesses die Entstehung einerseits der „Seele“, andrerseits der „Götter“ und „Dämonen“,
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„übernatürlicher“ Mächte also, deren Beziehungen zu den Menschen zu ordnen nun das Reich des „religiösen“ Han[127]delns ausmacht. Die „Seele“ ist dabei zunächst ein weder persönliches noch unpersönliches Wesen. Nicht nur, weil sie sehr vielfach naturalistisch identifiziert wird mit dem, was nach dem Tode nicht mehr da ist, mit dem Hauch oder mit dem Puls des Herzens, in dem sie sitzt und durch dessen Verspeisung man sich z. B. den Mut des Feindes aneignen kann. Sondern vor allem, weil sie oft gar nichts Einheitliches ist: die Seele, die den Menschen im Traum verläßt, ist etwas anderes als die, welche in der „Ekstase“ aus ihm oben, wo dann das Herz im Halse schlägt und der Atem keucht, herausfährt, oder die, welche seinen Schatten bewohnt oder die, welche nach dem Tode im Leichnam oder nahe beim Leichnam, solange noch etwas von ihm übrig ist, haust oder die, welche im Ort seines gewöhnlichen Aufenthalts noch irgendwie fortwirkt, mit Neid und Zorn sieht, wie die Erben das einst dem Toten gehörige genießen, oder den Nachfahren im Traum oder als Vision erscheint, drohend oder beratend, oder in irgendein Tier oder in einen anderen Menschen hineinfahren kann, vor allem in ein neugeborenes Kind – all dies je nachdem zum Segen oder Unsegen. Daß die „Seele“ als eine dem „Körper“ gegenüber selbständige Einheit konzipiert wird, ist ein selbst in den Erlösungsreligionen nicht durchweg akzeptiertes Resultat – ganz abgesehen davon, daß einzelne von diesen (der Buddhismus) Weber wendet sich hier gegen die Behauptung Tylors (wie oben, Anm. 8), es habe eine stufenweise Entwicklung von der Seele zu Geistern und dann zu Göttern gegeben.
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gerade diese Vorstellung wieder ablehnen. [127] Der Buddhismus kennt nicht mehr das zentrale Selbst des atman, der Einzelseele, deren Streben es war, mit der Weltseele brahman vereinigt zu werden, das in den Upanishaden noch Träger des Lebens und Bewußtseins des Menschen war und das in der Seelenwanderung die Kontinuität des Menschen sicherte. An seine Stelle trat Nirvana, das Ziel der Auslöschung des Selbst.
[A 230]Nicht die Persönlichkeit oder Unpersönlichkeit oder Überpersönlichkeit „übersinnlicher“ Mächte ist das zunächst Spezifische dieser ganzen Entwicklung, sondern: daß jetzt nicht nur Dinge und Vorgänge eine Rolle im Leben spielen, die da sind und geschehen, sondern außerdem solche, welche und weil sie etwas „bedeuten“. Der Zauber wird dadurch aus einer direkten Kraftwirkung zu einer Symbolik. Neben die unmittelbar physische Angst vor dem physischen Leichnam – wie sie auch die Tiere haben –, welche so oft für die Bestattungsformen maßgebend war (Hockerstellung, Verbrennung), ist zunächst die Vorstellung getreten, daß man die [128]Totenseele unschädlich machen, also sie fort oder in das Grab bannen, ihr dort ein erträgliches Dasein verschaffen oder ihren Neid auf den Besitz der Lebenden beseitigen oder endlich sich ihr Wohlwollen sichern müsse, um in Ruhe vor ihr zu leben. Unter den mannigfach abgewandelten Arten des Totenzaubers hatte die ökonomisch weittragendste Konsequenz die Vorstellung, daß dem Toten seine gesamte persönliche Habe ins Grab folgen müsse. Sie wird allmählich abgeschwächt zu der Forderung, daß man wenigstens eine gewisse Zeit nach seinem Tode die Berührung seines Besitzes meiden, oft auch den eigenen Besitz möglichst nicht genießen solle, um seinen Neid nicht zu wecken. Die chinesischen Trauervorschriften bewahren noch sehr vollständig diesen Sinn mit seinen ökonomisch und politisch (da auch die Wahrnehmung eines Amts als während der Trauerzeit zu meidenden Besitzes – Pfründe – galt)
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gleich irrationalen Konsequenzen. Ist nun aber einmal ein Reich der Seelen, Dämonen und Götter entstanden, welches ein nicht im Alltagssinn greifbares, sondern ein regelmäßig nur durch Vermittlung von Symbolen und Bedeutungen zugängliches hinterweltliches Dasein führt, – ein Dasein, welches infolgedessen als schattenhaft und immer wieder einmal direkt als unwirklich sich darstellte, – so wirkt das auf den Sinn der magischen Kunst zurück. Steckt hinter den realen Dingen und Vorgängen noch etwas anderes, eigentliches, Seelenhaftes, dessen Symptome oder gar nur Symbole jene sind, so muß man nicht die Symptome oder Symbole, sondern die Macht, die sich in ihnen äußert, zu beeinflussen suchen durch Mittel, die zu einem Geist oder einer Seele sprechen, also etwas „bedeuten“: durch Symbole. Es ist dann nur eine Frage des Nachdrucks, welchen die berufsmäßigen Kenner dieser Symbolik ihrem Glauben und dessen gedanklicher Durchbildung zu geben vermögen, der Machtstellung also, welche sie innerhalb der Gemeinschaft erringen, je nach der Bedeutsamkeit der Magie als solcher für die besondere Eigenart der Wirt[129]schaft und je nach der Stärke der Organisation, – welche sie sich zu schaffen wissen –, und eine Flutwelle symbolischen Handelns begräbt den urwüchsigen Naturalismus unter sich. Das hat dann weittragende Konsequenzen. [128] Über diesen Sachverhalt äußerte sich Weber ausführlicher in seiner Konfuzianismusstudie: Die Erben eines Verstorbenen in China mußten während der Trauerzeit nicht nur die Hinterlassenschaft der Toten meiden, sondern auch auf die Nutzung ihres eigenen Besitzes weitgehend verzichten. Da chinesische Beamte ihre Ämter häufig als Privatpfründe verstanden, legten sie im Trauerfall diese nieder. Verordnungen verschiedener Kaiser mit dem Ziel, die entstehenden Ämtervakanzen zu beschränken, griffen nicht und wurden meist aus Angst vor den Toten wieder aufgehoben. (Vgl. MWG I/19, S. 219).
Wenn der Tote nur durch symbolische Handlungen zugänglich ist und nur in Symbolen der Gott sich äußert, so kann er auch mit Symbolen statt mit Realitäten zufriedengestellt werden. Schaubrote, puppenbildliche Darstellungen der Weiber und der Dienerschaft treten an die Stelle der wirklichen Opferung: das älteste Papiergeld diente nicht der Bezahlung von Lebenden, sondern von Toten.
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Nicht anders in den Beziehungen zu den Göttern und Dämonen. Immer mehr Dinge und Vorgänge attrahieren außer der ihnen wirklich oder vermeintlich innewohnenden realen Wirksamkeit noch „Bedeutsamkeiten“, und durch bedeutsames Tun sucht man reale Wirkungen zu erzielen. Schon jedes rein magisch, im naturalistischen Sinn, als wirksam erprobte Verhalten wird natürlich streng in der einmal erprobten Form wiederholt. Das erstreckt sich nun auf das ganze Gebiet symbolischer Bedeutsamkeiten. Die geringste Abweichung vom Erprobten kann sie unwirksam machen. Alle Kreise menschlicher Tätigkeit werden in diesen symbolistischen Zauberkreis hineingerissen. Daher werden die größten Gegensätze rein dogmatischer Anschauungen auch innerhalb der rationalisierten Religionen leichter ertragen, als Neuerungen der Symbolik, welche die magische Wirkung der Handlung gefährden oder – die beim Symbolismus neu hinzutretende Auffassung – gar [130]den Zorn des Gottes oder der Ahnenseele erwecken könnten. Fragen wie die: ob ein Kreuz mit zwei oder [A 231]drei Fingern zu schlagen sei, waren der wesentliche Grund noch des Schismas in der russischen Kirche des 17. Jahrhunderts; [129] Laut Johann Jakob Maria de Groot gab man in China (nach einigen Quellen bereits im 3. Jahrhundert) aus Furcht vor Grabräuberei den Verstorbenen Papiergeld mit ins Grab, das für die Manen der Toten bestimmt war. De Groot sprach von „paper mock money“. (De Groot, Johann Jakob Maria, The Religious System of China. Its Ancient Forms, Evolution, History and Present Aspects, Manners, Customs and Social Institutions Connected therewith. Vol. II, Book I: Disposal of the Dead, Part III: The Grave (First Half). – Leyden: Brill o. J. [1892], S. 712 ff.). Andernorts bemerkte de Groot: „Allmählich aber sind im Lauf der Zeiten Nachahmungen aus Holz, Ton, Stroh, Papier und anderem Material an Stelle der wirklichen Gegenstände getreten, und anstatt daß man diese dem Toten ins Grab legt, werden sie nun auf dem Grabe oder zu Hause geopfert und verbrannt. Die erste Rolle spielen dabei die papiernen Silberbarren, welche bei fast jedem Opfer an Stelle wirklichen Geldes für die Seele massenhaft verbrannt werden“. (De Groot, Johann Jakob Maria, Die Religionen der Chinesen, in: Die orientalischen Religionen (Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hg. von Paul Hinneberg, Teil 1, Abt. 3,1). – Berlin, Leipzig: B. G. Teubner 1906, S. 162–193, Zitat: S. 171; hinfort: De Groot, Religionen der Chinesen).
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die Unmöglichkeit, zwei Dutzend Heilige in einem Jahre durch Fortfall der ihnen heiligen Tage gefährlich zu kränken, hindert die Annahme des gregorianischen Kalenders in Rußland noch heute. [130] Der russische Metropolit (seit 1649) und Patriarch (1652–1658) Nikon erließ 1653 eine Anordnung, die u. a. vorsah, das Kreuz mit drei Fingern zu schlagen. Auf den Synoden von 1656 wurden diejenigen verurteilt, die sich nicht mit drei Fingern bekreuzigten, sondern nur mit zwei Fingern. Nikon forderte, daß liturgische Bücher und gottesdienstliche Gebräuche den griechischen und altslawischen Büchern und Liturgien angepaßt würden. Die Gegner seiner Kirchenreform traten nach dem Rücktritt Nikons in offene Opposition, was zum Raskol führte, der Spaltung der orthodoxen Kirche in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.
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Falsches Singen zog bei den rituellen Singtänzen der indianischen Magier die sofortige Tötung des Betreffenden nach sich, Erst im Februar 1918 wurde in Rußland der gregorianische Kalender eingeführt, d. h. nach Abfassung dieser Textpassage. Ferdinand Kattenbusch wies darauf hin, daß bereits Peter der Große es unterlassen habe, „mit der allgemeinen Einführung des julianischen Kalenders auch dessen Reform, die durch Papst Gregor XIII. i. J. 1582 decretirt war (‚gregorianischer Kalender‘), zu recipiren. […] Die gregorianische Berechnung ergab die Nothwendigkeit, zehn Tage ausfallen zu lassen, wenn die Gegenwart ihre Zeit richtig entsprechend dem Stande der Sonne bestimmen wollte. […] In diesem Jahrhundert [dem 19.] ist bereits eine Differenz von zwölf Tagen zwischen dem russischen und dem abendländischen Kalender vorhanden“. (Kattenbusch, Ferdinand, Lehrbuch der vergleichenden Confessionskunde, Band 1. – Freiburg i. Br.: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1892, S. 449).
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um den bösen Zauber oder den Zorn des Gottes zu beschwichtigen. Die religiöse Stereotypierung [131]der Produkte der bildenden Kunst als älteste Form der Stilbildung ist bedingt sowohl direkt durch magische Vorstellungen als indirekt durch die im Gefolge der magischen Bedeutsamkeit des Produkts eintretende berufsmäßige Herstellung, welche schon an sich das Schaffen nach Vorlagen an die Stelle des Schaffens nach dem Naturobjekt setzt; wie groß aber die Tragweite des Religiösen dabei war, zeigt sich z. B. in Ägypten darin, daß die Entwertung der traditionellen Religion durch den monotheistischen Anlauf Amenophis’ IV. (Echnaton) sofort: dem Naturalismus Luft schafft. Die magische Verwendung der Schriftsymbole; – die Entwicklung jeder Art von Mimik und Tanz als sozusagen homöopathischer, apotropäisch oder exorzistisch oder magisch-zwingender, Symbolik; – die Stereotypierung der zulässigen Tonfolgen oder wenigstens Grundtonfolgen („raga“ Weber äußerte sich auch in seiner Schrift: Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik. – München: Drei Masken Verlag 1921 (MWG I/14; hinfort: Weber, Musikstudie) über diesen Sachverhalt. Er bemerkte dort: „Da jede Abweichung von einer einmal praktisch bewährten Formel deren magische Wirkungskraft vernichtete und den Zorn der übersinnlichen Mächte herbeiführen konnte, so war die genaue Einprägung der Tonformeln im eigentlichsten Sinne ‚Lebensfrage‘, ‚falsches‘ Singen ein – oft nur durch sofortige Tötung des Schuldigen zu sühnender – Frevel […].“ (Ebd., S. 30). Der Ethnologe und Soziologe Heinrich Schurtz, Altersklassen und Männerbünde. Eine Darstellung der Grundformen der Gesellschaft. – Berlin: Georg Reimer 1902, S. 395 (hinfort: Schurtz, Altersklassen und Männerbünde), und Kurt Breysig, Die Geschichte der Menschheit, Band 1: Die Amerikaner des Nordwestens und des Nordens. – Berlin: Georg Bondi 1907, S. 151 und 311 (hinfort: Breysig, Geschichte der Menschheit), berichteten von den Wintertänzen der KwakiutI in Britisch-Kolumbia, daß Teilnehmer in früheren Zeiten bei falscher Schrittfolge oder Stürzen getötet wurden. Beide Autoren stützten sich auf die Feldforschungen von Franz Boas, The Social Organization and the Secret Societies of the KwakiutI Indians. From the Report of the U.S. National Museum for 1895. – Washington: Government Printing Office 1897 (hinfort: Boas, Social Organization).
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in Indien, im Gegensatz zur Koloratur); – der Ersatz der oft ziemlich entwickelten empirischen Heilmethoden (die ja vom Standpunkt des Symbolismus und der animistischen Besessenheitslehre nur ein Kurieren der Symptome waren) durch eine vom Standpunkt dieser Anschauungen aus rationale Methode der exorzistischen oder symbolistisch-homöopathischen Therapie, welche sich zu jener ebenso verhielten, wie die aus gleichen Wurzeln entsprungene Astrologie zur empirischen Kalenderrechnung: – all dies gehört der gleichen, für die inhaltliche Kulturentwicklung unermeßlich folgereichen, hier aber nicht weiter zu erörternden Erscheinungswelt an. Die erste und grundlegende Einwirkung „religiöser“ Vorstellungskreise auf die Lebensführung und die Wirtschaft ist also generell stereotypierend. Jede Änderung eines Brauchs, der irgendwie unter dem Schutz übersinnlicher Mächte sich vollzieht, kann die Interessen von Geistern und Göttern berühren. Zu den natürlichen Unsicherheiten und Gehemmtheiten jedes Neuerers fügt so die Religion mächtige Hemmungen hinzu: das Heilige ist das spezifisch Unveränderliche. [131] Charakteristischstes Element der klassischen indischen Musik, das Struktur- und Gestaltungsprinzip der Melodie, wobei vollständige siebenstufige Tonleiterintervalle nicht erforderlich sind.
Im einzelnen sind die Übergänge vom präanimistischen Naturalismus bis zum Symbolismus durchaus flüssig. Wenn dem geschlachteten Feinde das Herz aus der Brust oder die Geschlechtsteile vom Leibe oder das Gehirn aus dem Schädel gerissen, sein [132]Schädel im eigenen Hause aufgestellt oder als kostbarstes Brautgeschenk verehrt, jene Körperteile aber oder diejenigen besonders schneller oder starker Tiere verspeist werden, so glaubt man sich wirklich damit die betreffenden Kräfte direkt naturalistisch anzueignen. Der Kriegstanz ist zunächst Produkt der aus Wut und Angst gemischten Aufregung vor dem Kampf und erzeugt direkt die Heldenekstase: insoweit ist auch er nicht symbolisch. Sofern er aber (nach Art etwa unserer „sympathetischen“ Zauberwirkungen)
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den Sieg mimisch antizipiert und dadurch magisch verbürgen soll, und soweit jene Schlachtung von Tieren und Menschen in die Form fester Riten gebracht und nun die Geister und Götter des eigenen Stammes zur Teilnahme an der Mahlzeit aufgefordert werden, soweit endlich die Teilnehmer an der Verspeisung eines Tiers sich als untereinander besonders nahe verwandt glauben, weil die „Seele“ des gleichen Tiers in sie gefahren ist, steht der Übergang zur „Symbolik“ vor der Tür. [132] Die Bezeichnung „sympathetische" Magie (von griech.: sympaschein, „das Gleiche leiden“) stammt von James George Frazer. Magie beruhe darauf, daß Dinge aus der Ferne durch eine geheime Sympathie aufeinander einwirkten: entweder dadurch, daß sie einander ähnlich seien (homöopathische Magie) oder daß sie einmal miteinander in Kontakt gestanden hätten (Übertragungsmagie). (Frazer, James George, The Golden Bough. A Study in Magic and Religion, Part I: The Magic Art and the Evolution of Kings, vol. 1, 3. Aufl. – London: MacMillan & Co. Ltd. 1911, S. 51 ff.
Man hat die Denkweise, welche dem voll entwickelten symbolistischen Vorstellungskreis zugrunde liegt, als „mythologisches Denken“
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bezeichnet und dessen Eigenart dann im einzelnen nä[133]her zu kennzeichnen gesucht. Uns kann das hier nicht beschäftigen, und nur die eine generell wichtige Eigenart dieser Denkweise: die Bedeutung der Analogie, in der wirksamsten Form: des Gleichnisses, ist für uns wichtig, weil sie lange nachwirkend nicht nur religiöse Ausdrucksformen, sondern [A 232]auch das juristische Denken, noch bis in die Präjudizienbehandlung bei rein empirischen Kunstlehren des Rechts hinein, beherrscht hat, und der syllogistischen Begriffsbildung durch rationale Subsumtion erst langsam gewichen ist. Wilhelm Wundt bemerkte zum mythologischen Denken: „Darum gelten ‚Beseelung (Personifikation)‘ und ‚Verbildlichung (Metapher)‘ als die Haupteigenschaften des mythologischen Denkens, und im Unterschiede von Poesie und Wissenschaft wird es außerdem als ein ‚unbewußtes Vorstellen‘ definiert, das ‚außerhalb der Gesetze des logischen Denkens verlaufe‘, während es doch ‚für den Geist eine unmittelbare Gewißheit und Wirklichkeit besitze‘. Der tiefere Gehalt der mythologischen Vorstellungen wird aber in den religiösen Ideen gesehen, als deren Symbole sie gedeutet werden können“. (Wundt, Wilhelm, Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte, Band 2: Mythus und Religion, Teil 1. – Leipzig: Wilhelm Endemann 1905, S. 552). Eduard Meyer, der den Terminus „mythisches Denken“ benutzte, sah darin sowohl die „psychologische Grundlage“ der Religion als auch den Beginn ihrer Überwindung. Denn „mythisches Denken“ ist laut Meyer geprägt von dem theoretischen und praktischen Bedürfnis nach Beeinflussung und Erklärung der Wirklichkeit und arbeitet mit der Übertragung menschlicher Analogien auf Naturvorgänge. Erst nach seiner Überwindung kann sich der „Fortschritt des wissenschaftlichen Denkens“ voll entfalten. Vgl. Meyer, Eduard, Geschichte des Altertums, Band 1, 1: Einleitung, Elemente der Anthropologie, 2. Aufl. – Stuttgart, Berlin: J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger [133]1907, S. 89 ff. (hinfort: Meyer, Elemente der Anthropologie). Das Handexemplar Webers ist in der Max Weber-Arbeitsstelle, Bayerische Akademie der Wissenschaften München, vorhanden.
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Die ursprüngliche Heimat dieses analogischen Denkens ist die symbolistisch rationalisierte Magie, die ganz auf ihm beruht. Auch „Götter“ werden durchaus nicht von Anfang an als „menschenartige“ Wesen vorgestellt. Sie gewinnen die Gestalt perennierender Wesen, die ihnen essentiell ist, natürlich erst nach Überwindung der noch in die Veden hineinspielenden rein naturalistischen Vorstellung, daß z. B. das konkrete Feuer der Gott, oder doch der Körper eines konkreten Feuergottes sei, Weber führte diese Nachwirkung mythologischen Denkens in der sog. „Rechtssoziologie“ genauer aus: „Diese Art der Rechtslehre produzierte naturgemäß eine formalistische, an Präjudizien [Entscheidungen, die einer späteren Entscheidung als Norm dienen] und Analogien gebundene Behandlung des Rechts. […] Aus den ihr immanenten Entwicklungsmotiven geht ein rational systematisiertes Recht nicht hervor. Auch nur in begrenztem Sinn eine Rationalisierung des Rechts überhaupt. Denn die Begriffe die sie bildete, waren an handfesten, greifbaren, der Alltagserfahrung anschaulich geläufigen und in diesem Sinn formalen Tatbeständen orientiert, welche sie tunlichst nach äußeren eindeutigen Merkmalen gegeneinander abgrenzte und durch die vorhin erwähnten Mittel nach Bedarf erweiterte. Nicht aber waren sie Allgemeinbegriffe, welche durch Abstraktion vom Anschaulichen, durch logische Sinndeutung, durch Generalisierung und Subsumtion gebildet und syllogistisch als Normen angewendet wurden.“ (WuG1 S. 456; MWG I/22-3).
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zugunsten der anderen, daß der ein für allemal mit sich identische Gott entweder die ein[134]zelnen Feuer habe, hergebe, über sie verfüge oder sich in ihnen jedesmal irgendwie verkörpere. Wirklich sicher aber wird diese abstrakte Vorstellung erst durch ein kontinuierlich ein und demselben Gott gewidmetes Tun, den „Kultus“, und durch seine Verbindung mit einem kontinuierlichen Verband von Menschen, eine Dauergemeinschaft, für die er als Dauerndes solche Bedeutung hat. Wir werden auf diesen Vorgang bald zurückzukommen haben. Dieser Vorgang wurde beispielsweise im alten Indien beobachtet. „Wie das Feuer überall auf der Erde als Heiligtum des Herdes und Schutz des Hauses verehrt wird, so wird es in der priesterlichen Religion der Veden als Opferflamme angebetet; agni (= ignis), das gewöhnliche indische Wort für Feuer, ist auch der Name des Gottes. Von einer persönlichen Ausgestaltung Agnis ist im Veda nur wenig die Rede; die Gottheit ist mit ihrem Element identisch und alle Betrachtungen, die über das Feuer sich machen lassen, kommen auch dem Gott zu gute“. (Lehmann, Edvard, Die Inder, in: Chantepie de la Saussaye, Pierre Daniël (Hg.), Lehrbuch der Religionsgeschichte, Band 2, 3., vollständig neu bearbeitete Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1905, S. 4–161, Zitat: S. 27; hinfort: Lehmann, Die Inder).
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Ist einmal die Kontinuierlichkeit der Göttergestalten gesichert, so kann das Denken der berufsmäßig mit ihnen Befaßten sich mit der systematisierenden Ordnung dieser Vorstellungsgebiete beschäftigen. [134] Siehe unten, S. 139 ff.
Die „Götter“ stellen oft, und zwar keineswegs immer nur bei geringer gesellschaftlicher Differenzierung, ein ordnungsloses Durcheinander zufällig durch Kultus erhaltener Zufallsschöpfungen dar. Noch die vedischen Götter bilden keinerlei geordneten Götterstaat. Aber die Regel ist, sobald einerseits systematisches Denken über die religiöse Praxis und andererseits die Rationalisierung des Lebens überhaupt mit ihren zunehmend typischen Ansprüchen an die Leistungen der Götter eine gewisse im einzelnen sehr verschiedene Stufe erreicht haben, die „Pantheonbildung“, d. h. die Spezialisierung und feste Charakterisierung bestimmter Göttergestalten einerseits, ihre Ausstattung mit festen Attributen und irgendwelche Abgrenzung ihrer „Kompetenzen“ gegeneinander andererseits. Dabei ist aber zunehmende anthropomorphisierende Personifikation der Göttergestalten keineswegs identisch oder parallelgehend mit zunehmender Abgrenzung und Festigkeit der Kompetenzen. Oft im Gegenteil. Die Kompetenzen der römischen numina sind ungleich fester und eindeutiger abgegrenzt als die der hellenischen Göttergestalten;
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dagegen ist die Vermenschlichung und plastische Veranschaulichung der letzteren als eigentlicher „Persönlichkeiten“ ungleich weitergegangen als in der genuinen römischen Religion. Der wesentlichste soziologische Grund liegt in diesem Fall darin, daß die genuine römische Vor[135]stellung vom Übersinnlichen in ihrer allgemeinen Struktur weit stärker die einer nationalen Bauern- und Patrimonialherrenreligion geblieben war, die hellenische dagegen der Entwicklung zu einer interlokalen Ritterkultur wie der des homerischen Zeitalters mit ihren Heldengöttern ausgesetzt wurde. Die teilweise Übernahme dieser Konzeptionen und ihr indirekter Einfluß auf römischem Boden änderte Während die Griechen ihre Götter als handelnde Personen auffaßten, trat bei den Römern die Person hinter ihre Funktion und ihre Wirkung zurück: das unpersönliche numen stand stellvertretend für die göttliche Persönlichkeit; numen (Plural: numina) wird mit „göttlichem Willen, göttlichem Wesen und Wirken“ übersetzt.
d
an der nationalen Religion nichts, viele von ihnen gewannen dort nur ein ästhetisches Dasein, während die römische Tradition in ihren Hauptcharakterzügen unangetastet in der rituellen Praxis fortbestand und, aus später zu erörternden Gründen,[135]A: ändert
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sich auch der orgiastisch-ekstatischen und Mysterienreligiosität gegenüber im Gegensatz zum Hellenentum dauernd ablehnend verhielt. Ganz naturgemäß ist aber jede Abzweigung von magischen Wirksamkeiten weit weniger elastisch als die „Kompetenz“ eines als Person gedachten „Gottes“. Die römische Religion blieb „religio“, d. h., einerlei ob dieses Wort etymologisch von religare oder von relegere abzuleiten ist: [135] Siehe unten, S. 231 f. und 336 f.
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Gebundenheit an die erprobte kultische Formel und „Rücksichtnahme“ auf die überall im Spiel befindlichen numina aller Art. Neben dem Zuge zum Formalismus, der darin begründet war, stützte die spezifisch römische Religiosität noch eine weitere wichtige Eigentümlichkeit gegenüber dem Hellenentum: das Unpersönliche hat eine innere Verwandtschaft zum Sachlich-Rationalen. Das gesamte Alltags[A 233]leben des Römers und jeder Akt seines Handelns war durch die religio mit einer sakralrechtlichen Kasuistik umgeben, welche seine Aufmerksamkeit rein quantitativ ebenso in Anspruch nahm, wie die Ritualgesetze der Juden und Hindus und das taoistische Sakralrecht der Chinesen. Die Zahl der Gottheiten, welche in den priesterlichen indigi[136]tamenta Der christliche Rhetor Lactantius Caelius Firmianus (250/60 – nach 317) leitete in seinen Divinae Institutiones religio von „religare“ (lat.: wieder herstellen, wieder verbinden, anknüpfen) ab, Cicero hingegen von dem Verb „relegere“ (lat.: sorgsam beachten). Cicero verstand unter religio die „sorgsame Beachtung all dessen, was zum Kult der Götter gehört“ (De natura deorum, 2, 72). Friedrich Max Müller, Vorlesungen über den Ursprung, S. 10–14, und Walter Friedrich Otto, Religio und Superstitio, in: Archiv für Religionswissenschaft, Band 12, Heft 4, 1909, S. 533–554 (hinfort: Otto, Religio und Superstitio 1909), und dass., Band 14, Heft 3/4, 1911, S. 406–422, gingen ausführlich auf diese beiden Etymologien ein.
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aufgezählt wurden, ist unendlich in ihrer sachlichen Spezialisierung: jede Handlung nicht nur, sondern jeder konkrete Teil einer solchen stand unter dem Einfluß besonderer numina, und der Vorsicht halber mußten bei allen wichtigen Akten neben den dii certi [136]In der antiken Literatur (bei Servius, Georgica und bei Censorinus, De die natali) werden „indigitamenta“ als altrömische Pontifikalbücher erwähnt. Sie bestehen aus Listen mit Götternamen, den Beinamen dieser Götter und den Gelegenheiten, bei denen sie angerufen werden. Die Indigitamentengötter hatten nach diesen beiden Autoren beschränkte Funktionen.
e
,[136]A: alii cuti
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den traditionell in ihrer kausalen Bedeutung und Kompetenz feststehenden Göttern, Der römische Schriftsteller Marcus Terentius Varro (um 116–27 v. Chr.) bezeichnete im 14. Buch seiner Enzyklopädie Antiquitates rerum humanarum et divinarum, das in Fragmenten und in Textauszügen bei Augustinus, Tertullian und Arnobius überliefert ist, die dii certi (lat.: „sichere Götter“) als Gottheiten, deren Natur, Bedeutung und Aufgabenbereich sich mit Sicherheit ermitteln ließ. Hermann Usener fand in ihnen eine Bestätigung für seine Theorie der „Sondergötter“: „Ich will sie [Varros di certi] nach dem vorschlag eines freundes sondergötter nennen“. (Usener, Götternamen, S. 75). Unter „Sondergott“ verstand Usener eine göttliche Macht, die eine räumlich, zeitlich oder sozial begrenzte Funktion ausübte.
f
auch die in dieser Hinsicht mehrdeutigen (incertiFehlt in A; Göttern, sinngemäß ergänzt.
g
)A: (incubi
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und die, deren Geschlecht und Wirkung oder Existenz überhaupt zweifelhaft war, angerufen und verehrt werden, für gewisse Akte der Feldbestellung allein ein Dutzend der ersteren. Wie dem Römer die Ekstasis (römisch: superstitio) der Hellenen eine ordnungswidrige abalienatio mentis, so war diese Kasuistik der römischen (und der darin noch weitergehenden etruskischen) religio dem Hellenen eine unfreie Deisidämonie. Laut Varro (15. Buch der Antiquitates) waren die dii incerti (lat.: „unsichere Götter“) diejenigen römischen Gottheiten, deren Natur, Bedeutung und Aufgabenbereich sich nicht genau ermitteln ließ.
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Die Sorge um die Befriedigung der numina wirkte dahin, alle ein[137]zelnen Handlungen gedanklich in ihre begrifflich auffindbaren Teilmanipulationen zu zerlegen und jeder solchen ein numen zuzuschreiben, unter dessen besonderer Fürsorge sie stand. Analogien finden sich in Indien und auch sonst, nirgends aber ist – weil die Aufmerksamkeit der rituellen Praxis sich gänzlich hierauf konzentrierte – die Zahl der durch rein begriffliche Analyse, also durch gedankliche Abstraktion gewonnenen numina, welche zu indigitieren Der Terminus superstitio (lat.: „Aberglaube“) charakterisierte eine verwerfliche Form der Frömmigkeit. In Rom wurde die Bezeichnung für nichtrömische Gebräuche und Zeremonien verwendet. Ab der ersten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts trat sie in Gegensatz zu religio auf. Der Ausdruck abalienatio mentis bedeutet „Veräußerung des Verstandes“. Mit deisidaimonia (von griech.: deido „sich fürchten“, und daimon) ist die übertriebene Furcht vor Göttern und übersinnlichen Mächten gemeint. Walter Friedrich Otto: „Während in Griechenland der Enthusiasmus ein mächtiges Leben entfaltete, begegnete der ernste Römer ihm mit Mißtrauen und Widerwillen. Man sah in der superstitio nur die abalienatio mentis, dann die in ihrer Aufregung ihrer selbst nicht mehr mächtige, unvernünftige Furcht, δεισιδαιμονία“. (Otto, Religio und Superstitio 1909, wie oben, S. 135, Anm. 25, S. 554).
h
[137]A: indizitieren
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waren, eine so große bei den Römern. Die dadurch bedingte spezifische Eigentümlichkeit der römischen Lebenspraxis ist nun – und darin liegt der Gegensatz etwa gegen die Wirkung der jüdischen und asiatischen Rituale – die unausgesetzte Pflege einer praktisch rationalen sakralrechtlichen Kasuistik, eine Art von sakraler Kautelarjurisprudenz [137] Den Vorgang, die Götter, deren Hilfe man sich sichern wollte, mit den dafür richtigen Formeln anzurufen, nannten die Römer indigitare.
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und die Behandlung dieser Dinge gewissermaßen als Advokatenprobleme. Das Sakralrecht wurde so zur Mutter rationalen juristischen Denkens, und noch die livianische Historiographie z. B. verleugnet jenes religiös bedingte unterscheidende Merkmal des Römertums nicht, wenn, gegenüber der Pragmatik etwa der jüdischen, der Nachweis der sakral- und staatsrechtlichen „Korrektheit“ der einzelnen institutionellen Neuerungen für sie überall im Mittelpunkt steht: nicht Sünde, Strafe, Buße, Rettung, sondern juristische Etikettenfragen. Mit Kautelarjurisprudenz ist juristische Tätigkeit gemeint, die sich mit der Beobachtung von Verhaltensmaßregeln bei Rechtsgeschäften, besonders beim Abfassen von Verträgen, befaßt.
Für die Gottesvorstellungen aber, mit denen wir uns hier zunächst zu befassen haben, knüpfen jene teils parallel, teils aber konträr verlaufenden Prozesse der Anthropomorphisierung einerseits, der Kompetenzabgrenzung andererseits zwar an die schon vorhandenen Gottheitsgattungen an, tragen aber beide die Tendenz in sich, zu einer immer weiteren Rationalisierung teils der Art der Gottesverehrung, teils der Gottesbegriffe selbst zu führen.
Es bietet nun für unsere Zwecke geringes Interesse, die einzelnen Arten von Göttern und Dämonen hier durchzugehen, obwohl oder vielmehr weil sie natürlich, ähnlich wie der Wortschatz einer Sprache, ganz direkt vor allem von der ökonomischen Situation [138]und den historischen Schicksalen der einzelnen Völker bedingt sind. Da diese sich für uns in Dunkel verlieren, ist sehr oft nicht mehr erkennbar, warum von den verschiedenen Arten von Gottheiten gerade diese den Vorrang behauptet haben. Es kann dabei auf die für die Wirtschaft wichtigen Naturobjekte ankommen, von den Gestirnen angefangen, oder auf organische Vorgänge, welche von Göttern oder Dämonen besessen oder beeinflußt, hervorgerufen oder verhindert werden: Krankheit, Tod, Geburt, Feuer, Dürre, Regen, Gewitter, Ernteausfall. Je nach der überwiegenden ökonomischen Bedeutung bestimmter einzelner Ereignisse kann dabei ein einzelner Gott innerhalb des Pantheon den Primat erringen, wie etwa der Himmelsgott, je nachdem mehr als Herr des Lichts und der Wärme oder, besonders oft bei den Viehzüchtern, als Herr der Zeugung aufgefaßt. Daß die Verehrung der chthonischen Gottheiten (Mutter Erde) im allgemeinen ein gewisses Maß relativer Bedeutung des Ackerbaus voraussetzt, ist klar, doch geht sie nicht immer damit parallel.
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Auch [A 234]läßt sich nicht behaupten, daß die Himmelsgötter – als Vertreter des sehr oft in den Himmel verlegten Heldenjenseits – überall die adligen im Gegensatz zu den bäuerlichen Erdgöttern [138] Weber bezieht sich hier vermutlich auf den Altertumsforscher und Rechtshistoriker Johann Jakob Bachofen (1815–1887). Dieser wies an mehreren Stellen seines Werkes: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, 2. unveränderte Aufl. – Basel: Benno Schwabe 1897 (hinfort: Bachofen, Das Mutterrecht), auf die Beziehungen zwischen Ackerbau und Mutterrecht hin. „Das Prinzip des Ackerbaues ist das der geordneten Geschlechtsverbindung. Beiden gehört das Mutterrecht. Wie das Korn des Ackerfeldes aus der durch die Pflugschar geöffneten Furche an’s Tageslicht tritt, so das Kind aus dem mütterlichen sporium […]“ (ebd., S. 8). An anderer Stelle (ebd., S. 275) bemerkte Bachofen: „[…] so ergibt sich das Bild eines Zustandes, der uns die Gynaikokratie von Neuem als den Mittelpunkt und Träger frühzeitig erreichter höherer Ackerbaugesittung erkennen lässt“.
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gewesen seien. Noch weniger, daß die „Mutter Erde“ als Gottheit mit mutterrechtlicher Sippenordnung parallel ginge. Die Antithese „Himmelsgötter – chthonische unterirdische Götter“ ist seit Aischylos (Die Schutzflehenden [Hiketiden] 24, 154 Ag. 89) oft belegt. Vgl. auch Wide, Sam, Chthonische und himmlische Götter, in: Archiv für Religionswissenschaft, Band 10, 1907, S. 257–268.
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Allerdings aber pflegen die chthonischen Gotthei[139]ten, die den Ernteausfall beherrschen, stärker lokalen und volkstümlichen Charakter zu haben als die andern. Und allerdings ist das Übergewicht der himmlischen, auf Wolken oder auf Bergen residierenden persönlichen Götter gegenüber den Erdgottheiten sehr oft bedingt durch die Entwicklung ritterlicher Kultur und hat die Tendenz, auch ursprüngliche Erdgottheiten den Aufstieg unter die Himmelsbewohner antreten zu lassen. Demgegenüber pflegen die chthonischen Götter, bei vorwaltendem Ackerbau, oft zwei Bedeutungen miteinander zu verbinden: sie beherrschen den Ernteausfall und spenden also den Reichtum, und sie sind die Herrscher der unter die Erde bestatteten Toten. Daher hängen oft, z. B. in den eleusinischen Mysterien die beiden wichtigsten praktischen Interessen: Reichtum und Jenseitsschicksal von ihnen ab. Andererseits sind die himmlischen Götter die Herren über den Gang der Gestirne. Die festen Regeln, an welche diese offenbar gebunden sind, lassen daher ihre Herrscher besonders oft zu Herren alles dessen werden, was feste Regeln hat oder haben sollte, so vor allem Rechtsfindung und gute Sitte. „Mutter Erde“ war Thema des Heidelberger Altphilologen Albrecht Dieterich (1866–1908). Seine Theorie ging davon aus, daß die Erde die Mutter aller Menschen sei. Aus ihr seien alle hervorgegangen und zu ihr würden sie nach ihrem Tod wieder zurückkehren, um aus ihr wiedergeboren zu werden. Vor dem Heidelberger „Eranos-Kreis“ hielt Dieterich am 28. Februar 1904 ein Referat über „Mutter Erde“, bei dem auch Max Weber [139]anwesend war (vgl. die Eranos-Protokolle, dazu: Lepsius, Μ. Rainer, Der Eranos-Kreis Heidelberger Gelehrter 1904–1908. Ein Stück Heidelberger Wissenschaftsgeschichte anhand der neu aufgefundenen Protokollbücher des Eranos. Vortrag zur Sitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, am 16. April 1983, in: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für das Jahr 1983. – Heidelberg: Carl Winter 1984, S. 46–48). Dieterich veröffentlichte 1905 seine Monographie, Mutter Erde. Ein Versuch über Volksreligion. – Leipzig: B. G. Teubner 1905, nachdem die ersten zwei Kapitel zuvor schon im Archiv für Religionswissenschaft, Band 8, 1905, S. 1–50, erschienen waren. Demnach ist der Glaube an die Mutter Erde, an die gebärende Erde, einer der ältesten Gedanken der Völker, ja der Menschheit überhaupt und die älteste Volksreligion (hier nach der Buchfassung, S. 91 und 101). Für Dieterich ist die Verehrung der „Mutter Erde“ nicht, wie für Johann Jakob Bachofen, zwingend mit Mutterrecht verbunden. Das Vordringen des Vatergottes habe nichts mit einer Zurückdrängung von Mutterrecht, sondern mit einem Vordringen orientalischer Religionen zu tun (vgl. ebd., S. 88–90).
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Friedrich Max Müller beschrieb den von Weber geschilderten Vorgang am Beispiel des indischen Ordnungsbegriffes rita, einem vedischen Begriff für die wahre Natur und Ordnung der Dinge. (Müller, Vorlesungen über den Ursprung, S. 272–281).
Die zunehmende objektive Bedeutung und subjektive Reflexion über die typischen Bestandteile und Arten des Handelns führen zu sachlicher Spezialisierung. Und zwar entweder in ganz abstrakter Art wie bei den Göttern des „Antreibens“
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und vielen ähnlichen [140]in Indien oder zu qualitativer Spezialisierung nach den inhaltlichen einzelnen Richtungen des Handelns, wie etwa Beten, Fischen, Pflügen. Das klassische Beispiel für diese schon ziemlich abstrakte Form der Götterbildung ist die höchste Konzeption des altindischen Götterpantheons: Brahma, der „Gebetsherr“. Wie die Brahmanenpriester die Fähigkeit wirksamen Gebets, d. h. wirksamen magischen Götterzwangs, monopolisiert haben, so monopolisiert nun dieser Gott wieder die Verfügung über dessen Wirksamkeit und damit, konsequent weitergedacht, über das allem religiösen Handeln Wichtigste; er wird damit schließlich, wenn nicht der einzige, so doch der höchste Gott. In wesentlich unscheinbarerer Art hat in Rom Janus, als der Gott des richtigen „Anfangs“, der über alles entscheidet, eine relativ universelle Bedeutung gewonnen. Es gibt aber, wie keinerlei individuelles Handeln, so auch kein Gemeinschaftshandeln, das nicht seinen Spezialgott hätte und auch, wenn die Vergesellschaftung dauernd verbürgt sein soll, seiner nicht Hermann Oldenberg verdeutlichte diesen Vorgang an dem indischen Gott Savitar, dem „Gott ‚Erreger‘ oder ‚Antreiber‘ […], dessen Name sein Wesen ausspricht: er streckt [140]seine goldnen Arme aus alle Bewegung anzutreiben […]. Die Sonne lässt er ihren Tageslauf vollenden […]. Das Wesentliche an der Conception des Savitar ist nicht die Vorstellung der Sonne, […] sondern das Wesentliche ist der abstracte Gedanke dieses Antreibens selbst”. (Oldenberg, Religion des Veda, S. 64 f.). Oldenberg bemerkte andernorts: „Neben den Naturgöttern stehen einige andere Gottheiten, denen von Haus aus eben das Wesen zukommt, welches jene im Lauf der Geschichte anzunehmen die Tendenz haben: bestimmte Typen des Handelns zu vertreten. Da ist der Gott Antreiber (Savitar) […]“. (Oldenberg, Hermann, Die Indische Religion, in: Die orientalischen Religionen (Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hg. von Paul Hinneberg, Teil 1, Abt. 3,1). – Berlin, Leipzig: B. G. Teubner 1906, S. 51–86, Zitat: S. 55).
i
bedürfte. Wo immer ein Verband oder eine Vergesellschaftung nicht als eine persönliche Machtstellung eines einzelnen Gewalthabers erscheint, sondern als ein „Verband“,[140]Fehlt in A; seiner nicht sinngemäß ergänzt.
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da hat sie ihren besonderen Gott nötig. Das gilt zunächst für die Verbände des Hauses und der Sippe. Hier ist die Anknüpfung an die Geister der (wirklichen oder fiktiven) Ahnen das Gegebene, dem die numina und Gottheiten des Herdes und Herdfeuers zur Seite treten. Das Maß von Bedeutung, welches ihrem vom Haupt des Hauses Weber ging auf den Begriff „Verband“ in dem 1913 veröffentlichten Aufsatz „Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie“ ein: „Wie das an einer rationalen Vereinbarung orientierte Gesellschaftshandeln zum Einverständnishandeln, so verhält sich die Anstalt mit ihren rationalen Satzungen zum ‚Verband‘. Als Verbandshandeln gilt uns ein nicht an Satzung, sondern an Einverständnis orientiertes, also: ein Einverständnishandeln […]“. (Weber, Kategorienaufsatz, S. 288).
j
bzw. [141]der „gens“ zu vollziehenden Kult zukam, ist historisch höchst verschieden und von der Struktur und praktischen Bedeutung der Familie abhängig. In aller Regel geht eine Hochentwicklung speziell des häuslichen Ahnenkults mit patriarchaler Struktur der Hausgemeinschaft parallel, weil nur diese das Haus zum Mittelpunkt auch der männlichen Interessen macht. Aber beides ist, wie schon das Beispiel Israels beweist, nicht schlechthin miteinander verknüpft, denn es können die Götter anderer, namentlich politischer oder religiöser Verbände, gestützt auf die Macht ihrer Priester, den Hauskult und das Hauspriestertum des Familienhauptes weit zurückdrängen oder ganz vernichten. Wo deren Macht und Bedeutung ungebrochen dasteht, bildet sie natürlich ein außerordentlich starkes, die Familie und gens fest und nach außen streng exklusiv zusammenschließendes und auch die inneren ökonomischen Verhältnisse der Hausgemeinschaften auf das tiefste beeinflussendes streng persönliches Band. Alle rechtlichen Beziehungen der [A 235]Familie, die Legitimität der Ehefrau und des Erben, die Stellung der Haussöhne zum Vater und der Brüder zueinander, sind dann von hier aus mit determiniert und stereotypiert. Die religiöse Bedenklichkeit des Ehebruchs vom Standpunkt der Familie und Sippe aus liegt darin, daß dadurch ein nicht Blutsverwandter in die Lage kommt, den Ahnen der Sippe zu opfern und dadurch deren Zorn gegen die Blutsverwandten zu erregen. Denn die Götter und numina eines streng persönlichen Verbandes verschmähen die Opfer, welche von Unberechtigten dargebracht werden. Die starre Durchführung des AgnatenprinzipsA: Hauses,
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hängt sicher hiermit sehr stark zusammen, wo sie besteht. Ebenso alle anderen Fragen, welche die priesterliche Legitimation des Hausherrn angehen. Das Erbrecht, zumal das Einzelerbrecht des Ältesten oder dessen Bevorzugung[,] hat neben den militärischen und ökonomischen regelmäßig auch diese sakralen Motive. Vor allem die ostasiatische (chinesische und japanische) und im Okzident die römische Hausgemeinschaft und Sippe verdanken die Erhaltung ihrer patriarchalen Struktur unter allem Wandel der ökonomischen Bedingungen [142]ganz vornehmlich dieser sakralen Grundlage. Wo diese religiöse Gebundenheit der Hausgemeinschaft und des Geschlechts besteht, da können umfassendere, insbesondere politische, Vergesellschaftungen nur den Charakter 1. entweder einer sakral geweihten Konföderation von (wirklichen oder fiktiven) Sippen oder 2. einer patrimonialen, nach Art einer abgeschwächten Hausherrschaft konstruierten Herrschaft eines (königlichen) Großhaushalts über diejenigen der „Untertanen“ haben. Im zweiten Fall ist die Konsequenz, daß die Ahnen, numina, genii oder persönliche Götter jenes mächtigsten Haushalts neben die Hausgötter der Untertanenhaushalte treten und die Stellung des Herrschers sakral legitimieren. Das letztere ist in Ostasien, in China in Kombination mit der Monopolisierung des Kults der höchsten Naturgeister für den Kaiser als Oberpriester, der Fall. Die sakrale Rolle des „genius“ des römischen Princeps sollte, mit der dadurch bedingten universellen Aufnahme der kaiserlichen Person in den Larenkult, [141] In Rom bezeichnete das Agnatenprinzip die Rechtsbeziehung zwischen denjenigen Personen, die blutsverwandt waren von seiten des Vaters. Es wurde vor allem durch die „patria potestas“ begründet, die im römischen Recht vom Familienoberhaupt ausgeübte, ursprünglich unumschränkte väterliche Gewalt über alle Mitglieder seines Haushaltes.
k
Ähnliches leisten.[142]A: Laienkult,
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Im ersten Fall entsteht dagegen ein Sondergott [142] Augustus wählte die der Republik vertraute Bezeichnung Princeps (lat.: „der Erste“, „Vornehmste“) zur Charakterisierung seiner überlegenen Machtstellung, um diese von Königtum und Diktatur abzuheben. Die Bezeichnung wurde von den nachfolgenden Machthabern beibehalten. Genius umschreibt den „inneren Menschen“ eines Mannes, bei der Frau ist es Juno. Der genius wird als Doppelgänger aufgefaßt, der bei der Geburt in den Körper eintritt und ihn nach dem Tod wieder verläßt. Georg Wissowa beschrieb den von Max Weber angesprochenen Sachverhalt wie folgt: „Das Wesentliche an der Umgestaltung [durch Kaiser Augustus] war jedoch die Neuerung, daß die Compita [Larenkapellen] nunmehr zu Stätten des Kaiserkultes wurden […] und der Gottesdienst jetzt Laribus augustis oder mit vollem Ausdrucke Laribus Augustis et Genio Caesaris […] galt“. (Wissowa, Georg, Religion und Kultus der Römer, 2. Aufl. – München: C. H. Beck 1912, S. 172; hinfort: Wissowa, Religion und Kultus der Römer).
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des politischen Verbandes als solchen. Ein solcher war Jahve. Daß er ein Konföderationsgott, nach der Überlieferung ursprünglich ein solcher des Bundes der Juden und Midianiter war, Der Begriff „Sondergott“ wurde von dem Philologen und Religionshistoriker Hermann Usener geprägt, vgl. dazu oben, S. 136, Anm. 27.
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führte zu der so überaus wichtigen Konsequenz, daß seine Beziehung zum israelitischen Volk, welches ihn zugleich mit der politischen Konföderati[143]on und der sakralrechtlichen Ordnung seiner sozialen Verhältnisse durch Eidschwur angenommen hatte, als ein „berith“, ein – von Jahve oktroyiertes und durch Unterwerfung akzeptiertes – Vertragsverhältnis galt, aus dem rituelle, sakralrechtliche und sozialethische Pflichten der menschlichen, aber auch sehr bestimmte Verheißungen des göttlichen Partners folgten, an deren Unverbrüchlichkeit ihn, in den einem Gott von ungeheurer Machtfülle gegenüber gebotenen Formen, zu mahnen man sich berechtigt fühlen durfte. Der ganz spezifische Verheißungscharakter der israelitischen Religiosität, in dieser Intensität trotz noch so vieler sonstiger Analogien in keiner anderen wiederkehrend, hatte hier seine erste Wurzel. Die Erscheinung dagegen, daß eine politische Verbandsbildung die Unterstellung unter einen Verbandsgott bedingt, ist universell. Der mittelländische „Synoikismos“ Uber den Bundesschluß zwischen Jahwe und seinem Volk (vertreten durch Moses) berichtet das alttestamentliche Buch 2. Mose. Der Schwiegervater des Moses, Jethro, war Midianiter (2. Mose 3, 1), Angehöriger eines im nordwestlichen Arabien beheimateten Nomadenstammes.
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ist, wenn nicht notwendig die erstmalige Schaffung, so die Neukonstituierung einer Kultgemeinschaft unter einer Polisgottheit. Die Polis ist zwar die klassische Trägerin der wichtigen Erscheinung des politischen „Lokalgottes“. Keineswegs die einzige. Im Gegenteil hat in aller Regel jeder politische Dauerverband seinen Spezialgott, der den Erfolg des politischen Verbandshandelns verbürgt. Er ist bei voller Entwicklung durchaus exklusiv nach außen. Er nimmt, im Prinzip wenigstens, nur von den Verbandsgenossen Opfer und Gebete an. Wenigstens sollte er es tun. Da man dessen nicht völlig sicher sein kann, so ist sehr oft der Verrat der Art[,] ihn wirksam zu beeinflussen, streng verpönt. Der Fremde ist eben nicht nur politischer, sondern auch religiöser Ungenosse. Auch der an Namen und Attributen gleiche Gott des fremden Verbandes ist nicht identisch mit dem des eigenen. Die Juno der Vejienter [143] Der Terminus synoikismos (von griech.: συνοικίζειν, „zusammen wohnen“, „an einem Wohnort zusammenbringen“) bezeichnet die Zusammenlegung von Häusern und Dörfern zu einer Stadt, entweder durch die Gründung einer neuen Siedlung oder durch Verleihung von Autonomie an bestehende Ortschaften, und die Verbrüderung ihrer Einwohnerschaft.
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ist nicht die Juno der Römer, so wenig wie für [A 236]den Neapolitaner die Madonna der einen Kapelle die der anderen ist: die eine verehrt, die andere verachtet und beschimpft er, wenn sie Konkurrenten hilft. Oder er sucht[,] sie diesen abspenstig zu machen. Man verspricht den Göt[144]tern des Feindes Aufnahme und Verehrung im eigenen Land, wenn sie die Feinde verlassen („evocare Deos“), wie es z. B. Camillus vor Veji tat. Die Einwohner der etruskischen Stadt Veji, nördlich von Rom.
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Oder man stiehlt oder erobert die Götter. Nur lassen sich das nicht alle gefallen. Die eroberte Lade Jahves bringt Plagen über die Philister. [144] Der römische Geschichtsschreiber Titus Livius gibt im 5. Buch seiner Römischen Geschichte die Evokation (von „evocare Deos“, lat.: die Götter herausrufen) der Göttin Juno durch den Römer Camillus wieder: „Zugleich bitte ich dich, Königin Juno, die du jetzt Veji bewohnst, uns, den Siegern, in unsere Stadt [Rom] zu folgen, die bald auch die deine sein wird und wo dich ein deiner Größe würdiges Heiligtum aufnehmen soll“. Die Stadt Veji wurde 396 v. Chr. durch Camillus zerstört.
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In aller Regel ist der eigene Sieg auch der Sieg des eigenen stärkeren Gottes über den fremden schwächeren Gott. Nicht jeder politische Verbandsgott ist ein an den Sitz der Leitung des Verbandes rein örtlich gebundener Lokalgott. Die Darstellung der Wüstenwanderung Israels Ausführlich beschrieben in 1. Samuel 5, 1–12. Die Philister waren eine Gruppe der sog. „Seevölker“, die seit dem 14. vorchristlichen Jahrhundert aus dem ägäischen Raum über das Mittelmeer und Kleinasien in die westlichen Randgebiete des Vorderen Orients eindrangen.
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läßt ihn mit dem Volke und vor ihm her ziehen, ebenso wie die Laren 2. Mose 15, 22–18, 27.
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der römischen Familie den Ort mit dieser wechseln. Und – im Widerspruch mit jener Darstellung – es gilt als ein Spezifikum Jahves, daß er ein „aus der Ferne“, nämlich vom Sinai her, den er als Völkergott bewohnt, wirkender, nur in den Kriegsnöten des Volkes mit den Heerscharen (Zebaoth) im Gewittersturm heranziehender Gott ist. Mit „Laren“ wurden die römischen Schutzgottheiten der Felder, des Hauses, der Familie und des familiären Besitzes bezeichnet, die gemeinsam mit den Penaten (den Gottheiten der Vorratskammern) im Haus verehrt wurden und tägliche Speiseopfer erhielten.
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Man nimmt wohl mit Recht an, daß diese spezifische, aus der Annahme eines fremden Gottes durch Israel folgende Qualität der „Fernwirkung“ mitbeteiligt war bei der Entwicklung der Vorstellung von Jahve als dem universellen, allmächtigen Gott überhaupt. Denn in aller Regel ist die Qualität eines Gottes als Lokal[145]gott und auch die exklusive „Monolatrie“, Im Hintergrund steht die biblische Auffassung von Jahwe als Gott des Sturmes (etwa 1. Samuel 12, 18; Psalm 29; Psalm 104, 1–4; Hiob 38, 25 ff. und 34–38) und als Krieger und Kämpfer (etwa 5. Mose 33, 2; Richter 4–5; Psalm 50, 2 f.; 97, 1–6; 98, 1 f.). In Jesaia 30, 27 heißt es: „Siehe, des HErrn Name kommt von ferne, sein Zorn brennet, und ist sehr schwer; seine Lippen sind voll Grimmes und seine Zunge wie ein verzehrend Feuer“. Über Jahwe als „Gott aus der Ferne“ äußerte sich Weber auch in seiner Judentumsstudie: „Diese ‚Ferne‘ gab ihm von vornherein eine besondere Majestät“. (Weber, Judentum II, S. 395).
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welche er zuweilen von seinen Anhängern in Anspruch nimmt, keineswegs der Weg zum Monotheismus, sondern umgekehrt oft eine Stärkung des Götterpartikularismus. Und umgekehrt bedeutet die Entwicklung der Lokalgötter eine ungemeine Stärkung des politischen Partikularismus. Zumal auf dem Boden der Polis. Exklusiv nach außen, wie eine Kirche gegen die andere, jeder Bildung eines durch die verschiedenen Verbände hindurchgreifenden einheitlichen Priestertums absolut hinderlich, bleibt sie unter seiner Herrschaft im Gegensatz zu unserem als „Anstalt“ [145] Zur Bedeutung von Monolatrie, Henotheismus und Monotheismus für die Jahwevorstellung äußerte sich Weber in seiner späteren Judentumsstudie: „Man hat sich neuerdings darüber gestritten, ob Monolatrie (exklusive Verehrung nur eines von mehreren Göttern), Henotheismus (aktuelle Behandlung des gerade angerufenen Gottes als des einzig mächtigen) oder Monotheismus (prinzipielle Einzigartigkeit) die alte Jahwevorstellung beherrscht haben. In dieser Art ist wohl schon die Frage falsch gestellt.“ (Weber, Judentum II, S. 405).
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gedachten „Staat“ ein ganz wesentlich persönlicher Verband von Kultgenossen des Stadtgottes, seinerseits wieder gegliedert in persönliche Kultverbände von Stammes-, Geschlechts- und Hausgottheiten, die gegeneinander wiederum exklusiv sind in bezug auf ihre Spezialkulte. Exklusiv aber auch nach innen, gegen diejenigen, welche außerhalb all dieser Spezialkultverbände der Sippen und Häuser stehen. Wer keinen Hausgott (Zeus herkeios) hat, ist in Athen amtsunfähig, Weber ging auf den Anstaltsbegriff in dem 1913 veröffentlichten Aufsatz „Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie“ ein: „Wir wollen solche Gemeinschaften, bei denen dieser Sachverhalt, also: 1. im Gegensatz zum freiwilligen ‚Zweckverein‘: die Zurechnung auf Grund rein objektiver Tatbestände unabhängig von Erklärungen der Zugerechneten, – 2. im Gegensatz zu den einer absichtsvollen rationalen Ordnung entbehrenden, in dieser Hinsicht also amorphen Einverständnisvergemeinschaftungen, die Existenz solcher rationaler von Menschen geschaffener Ordnungen und eines Zwangsapparates als einer das Handeln mitbestimmenden Tatsache, als ‚Anstalten‘ bezeichnen“. (Weber, Kategorienaufsatz, S. 287).
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wie [146]in Rom, wer nicht zu dem Verband der patres gehört. Der plebejische Sonderbeamte (trib[unus] plebis) ist nur durch menschlichen Eidschwur gedeckt (sacro sanctus), hat keine auspicia Die Anforderung, daß Bewerber für ein öffentliches Amt eine Kultstätte des Schutzgottes des Hauses, des Zeus herkeios (vom griech. Adj.: herkeios, „hausbeschützend“), nachweisen mußten, ist durch Aristoteles Athenaion politeia 55, 3 überliefert. Bei der Dokimasie (der Bestätigungsprüfung der ausgelosten Beamten) wurde u. a. die Frage gestellt, ob der designierte Beamte „zu einer Cultgemeinschaft des Apollon der Väter und des Zeus des Hofes [Ζεὺς Έρκεῖος] gehöre, und zu welchen Heiligthümern dieser beiden attischen Stammesgötter er eingepfarrt sei“. (Zitiert nach Kaibel, Georg und Kiessling, Adolf, Aristoteles Schrift vom Staatswesen der Athener. – Strassburg: Karl J. Trübner 1891, S. 93 f.). In seiner Studie „Die Stadt“ äußerte sich Weber zu demselben Sachverhalt: „Einen Kultmittelpunkt seiner Sippe (Ζεὺς Έρκεῖος) mußte in Athen nachweisen können, wer amtsfähig für die legitimen Ämter sein wollte“. (MWG I/22-5, S. 117).
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und daher kein legitimes imperium, sondern eine „potestas“.[146]A: auspicien
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Den Höchstgrad von Entwicklung erreicht die lokale Ortsbindung der Verbandsgottheit da, wo das Gebiet des Verbandes als solches [146] Die tribuni plebis (Volkstribunen) waren aus den sog. „Ständekämpfen“ (den Auseinandersetzungen zwischen Patriziern und Plebejern im 5. und 4. vorchristlichen Jahrhundert) hervorgegangene Beamte, die die Plebs gegen Willkürmaßnahmen der patrizischen Magistrate (der Staatsbeamten) schützen sollten. Die zehn plebejischen Volkstribunen besaßen ein Vetorecht gegenüber Kollegen, Magistraten, Volks- und Senatsbeschlüssen. Ihre Macht beruhte auf der durch Eid der Bürgerschaft garantierten Unverletzlichkeit ihrer Person (sacrosanctitas) und auf dem Interzessionsrecht (dem Verbietungsrecht von gleich oder höher stehenden Beamten gegenüber dem Handeln eines Kollegen). Die Magistrate durften bei Amtsantritt oder vor wichtigen Amtsgeschäften auspicia publica (etwa aus dem Vogelflug) einholen, als sichtbare Zeichen der göttlichen Zustimmung zur menschlichen Handlung. Theodor Mommsen bemerkte dazu: „Daher sind Zeichenschau und Beamtengewalt, auspicium und imperium nichts anderes als Bezeichnungen desselben Begriffs nach verschiedenen Seiten, jene des himmlischen, diese des irdischen Verkehrs“. (Mommsen, Theodor, Römisches Staatsrecht, Band 1, 3. Aufl. – Leipzig: S. Hirzel 1887, S. 90). Der Begriff „imperium“ bezeichnete im römischen Recht die Amtsgewalt der höchsten Magistrate (Diktatoren, Konsuln, Prätoren und Reiteroberste), die Heereskommando und Rechtsprechung umfaßte. Als „potestas“ galt die Amtsbefugnis der Magistrate, das Recht zu befehlen und zu verbieten.
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als dem Gott spezifisch heilig gilt. So zunehmend Palästina dem Jahve, derart, daß die Tradition den in der Fremde Wohnenden, der an seinem Kultverband teilnehmen und ihn verehren will, sich einige Fuhren palästinensischer Erde holen läßt.A: solcher
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2. Könige 5, 1–27 berichtet, daß sich der syrische Feldherr Naeman, nachdem ihn der israelitische Prophet Elisa vom Aussatz geheilt hatte, zu Elisas Gott bekannt habe. Er nahm als Dank für seine Heilung israelitische Erde mit in seine Heimatstadt Damaskus („soviel zwei Maultiere tragen“, ebd., 17), um auf ihr Jahwe einen Altar in Damaskus zu errichten. Naeman will „nicht mehr andern Göttern opfern und Brandopfer tun, sondern dem HErrn“ (ebd., 17), muß aber daneben auch noch am Kult des syrischen Gottes Rimmon teilnehmen.
Die Entstehung von eigentlichen Lokalgöttern ist ihrerseits an die feste Siedelung nicht nur, sondern auch an weitere, den lokalen Verband zum Träger politischer Bedeutsamkeiten stempelnde, Voraussetzungen geknüpft. Zur vollen Entwicklung gelangte er
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normalerweise auf dem Boden der Stadt als eines vonLies: der lokale Verband
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Hofhalt und Person des Herrschers unabhängig bestehenden politischen Sonderverbandes mit korporativen Rechten. Daher nicht in Indi[147]en, Ostasien, Iran und nur in geringem Maße, als Stammesgott, in Nordeuropa. Dagegen außerhalb des Gebietes der rechtlichen Städteorganisationen in Ägypten, schon im Stadium der zoolatrischen Religiosität, für die Gaueinteilung.A: vom
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Von den Stadtstaaten aus griff die Lokalgottheit auf Eidgenossenschaften wie die der Israeliten, Aitoler [147] Der Begriff „Gaue“ bezeichnet die Aufteilung Ägyptens in Verwaltungseinheiten (in 22 oberägyptische und 20 unterägyptische Gaue). Diese Einteilung ist seit der Zeit des Pharao Djoser (ca. 2650–2600 v. Chr.) belegt.
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usw. über, die an ihrem Vorbild orientiert sind. Ideengeschichtlich ist diese Auffassung des Verbandes als lokalen Kultträgers ein Zwischenglied zwischen der rein patrimonialen Betrachtung des politischen Gemeinschaftshandelns und dem rein sachlichen Zweckverbands- und Anstaltsgedanken etwa der modernen „Gebietskörperschafts“-Idee. Die Aitoler waren ein nordwestgriechischer Stammesverband mit illyrischem Einschlag. Sie waren als Söldner begehrt und in hellenistischer Zeit als Seeräuber gefürchtet.
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Der Begriff „Gebietskörperschaft“ wurde geprägt von Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 2. Band: Geschichte des deutschen Körperschaftsbegriffs. – Berlin: Weidmann’sche Buchhandlung 1873, und von Hugo Preuß, Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf Grundlage der Genossenschaftstheorie. – Berlin: Julius Springer 1889. Unter „Gebietskörperschaft'' wird eine Körperschaft verstanden, die auf einem abgegrenzten Teil des Staatsgebiets die Gebietshoheit hat und von den in ihrem Gebiet lebenden Einwohnern gebildet wird.
[A 237]Nicht nur die politischen Verbände, sondern ebenso die beruflichen Vergesellschaftungen haben ihre Spezialgottheiten oder Spezialheiligen. Sie fehlen im vedischen Götterhimmel noch ganz, entsprechend dem Zustand der Wirtschaft. Dagegen der altägyptische Schreibergott
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ist ebenso Zeichen des Aufstiegs der Bürokratisierung[,] wie die über die ganze Erde verbreiteten Spezialgötter und -heiligen für Kaufleute und alle Arten von Gewerben die zunehmende Berufsgliederung anzeigen. Noch im 19. Jahrhundert setzte das chinesische Heer die Kanonisierung seines Kriegsgottes Gemeint ist der altägyptische Gott Thoth, der u. a. als Erfinder der Sprache, Schreiber und Protokollführer der Götter galt. Seine Funktion als Übermittler von Götterentscheidungen erlaubte es den Griechen, ihn mit dem Götterboten Hermes gleichzusetzen.
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durch: ein Symptom für die Auffassung des Militärs als eines [148]gesonderten „Berufs“ neben anderen. Im Gegensatz zu den Kriegsgöttern der mittelländischen Antike und der Meder, In seiner Konfuzianismusstudie schrieb Weber: „Der Taoismus hat ja eine ganze Anzahl von solchen Spezialgöttern zu Ehren gebracht. So den als Kriegsgott kanonisierten Heros der kaiserlichen Truppen.“ (MWG I/19, S. 414).
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die stets große Nationalgötter sind. [148] Ein Volk im nordwestlichen Iran.
Wie je
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nach den natürlichen und sozialen Existenzbedingungen die Göttergestalten selbst, ebenso verschiedenartig sind die Chancen eines Gottes, den Primat im Pantheon oder schließlich das Monopol der Göttlichkeit für sich zu erobern. Streng „monotheistisch“ ist im Grunde nur das Judentum und der Islam. Sowohl der hinduistische wie der christliche Zustand des oder der höchsten göttlichen Wesen sind theologische Verhüllungen der Tatsache, daß ein sehr wichtiges und eigenartiges religiöses Interesse: die Erlösung durch die Menschwerdung eines Gottes, dem strikten Monotheismus im Wege stand. Vor allem hat nirgends der mit sehr verschiedener Konsequenz begangene Weg zum Monotheismus das Vorhandensein der Geisterwelt und der Dämonen dauernd ausgerottet – auch nicht in der Reformation –[,] sondern sie nur der Übermacht des alleinigen Gottes, theoretisch wenigstens, unbedingt untergeordnet. Praktisch aber kam und kommt es darauf an: wer innerhalb des Alltages stärker in die Interessen des Einzelnen eingreift, ob der theoretisch „höchste“ Gott oder die „niederen“ Geister und Dämonen. Sind dies die letzteren, dann wird die Religiosität des Alltages durch die Beziehung zu ihnen vorwiegend bestimmt; ganz einerlei wie der offizielle Gottesbegriff der rationalisierten Religion aussieht. Wo ein politischer Lokalgott existiert, gerät der Primat natürlich oft in dessen Hände. Wenn sich dann innerhalb einer zur Lokalgötterbildung vorgeschrittenen Vielheit seßhafter Gemeinschaften der Umkreis des politischen Verbandes durch Eroberung erweitert, so ist die regelmäßige Folge, daß die verschiedenen Lokalgötter der verschmolzenen Gemeinschaften dann zu einer Gesamtheit vergesellschaftet werden. Innerhalb deren tritt ihre ursprüngliche oder auch eine inzwischen durch neue Erfahrungen über ihre spezielle Einflußsphäre bedingte, sachliche oder funktionelle Spezialisierung, in sehr verschiedener Schärfe, arbeitsteilig hervor. Der Lokalgott des größten Herrscher- oder Priestersitzes: der Marduk von Babel, der Ammon von Theben steigen dann zum Range größter Götter auf, um mit dem etwaigen [149]Sturz oder der Verlegung der Residenz oft auch wieder zu verschwinden, wie Assur mit dem Untergang des assyrischen Reichs.[148]A: ja
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Denn wo einmal die politische Vergesellschaftung als solche als ein gottgeschützter Verband gilt, da erscheint eine solche politische Einheit so lange als nicht gesichert, bis auch die Götter der Einzelglieder mit einverleibt und vergesellschaftet, oft auch lokal synoikisiert sind: Was dem Altertum in dieser Hinsicht geläufig war, hat sich noch bei der Überführung der großen Heiligenreliquien der Provinzialkathedralen in die Hauptstadt des geeinigten russischen Reiches [149] Assur war die zeitweilige Hauptstadt Assyriens, des nördlichen Teils des heutigen Iraks, benannt nach dem obersten Gott der Assyrer, Assur. Im 13. vorchristlichen Jahrhundert wurde Assyrien erstmalig Großmacht, es beherrschte ganz Mesopotamien und Nordsyrien. 614 v. Chr. wurde die Stadt von den Medern zerstört. Die Reste der Stadt bilden den Ruinenhügel Kalat Scherkat am rechten Tigrisufer.
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wiederholt. Im Jahr 1395 ließ der russische Metropolit Kyprian die Madonna von Wladimir von Kiew nach Moskau transportieren.
Die sonst möglichen Kombinationen der verschiedenen Prinzipien der Pantheon- und Primatbildung sind unermeßlich und die Göttergestalten meist ebenso labil in ihren Kompetenzen, wie die Beamten patrimonialer Gebilde. Die Kompetenzabgrenzung wird gekreuzt durch die Gepflogenheit des religiösen Attachements an einen speziellen, jeweils besonders bewährten Gott oder der Höflichkeit gegen den Gott, an den man sich gerade wendet, diesen als funktionell universell zu behandeln, ihm also alle möglichen, sonst an andere Götter vergebenen Funktionen zuzumuten: den von Max Müller mit Unrecht als besondere Entwicklungsstufe angenommenen sog. „Henotheismus“.
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Für die Primatbildung spielen rein rationale Momente stark mit. Wo immer ein erhebliches Maß von Festigkeit bestimmter Vorschriften irgend[A 238]welcher Art, beson[150]ders oft: stereotypierte religiöse Riten, in dieser ihrer Regelmäßigkeit besonders stark hervortritt und einem rationalen religiösen Denken bewußt wird, da pflegen diejenigen Gottheiten, welche am meisten feste Regeln in ihrem Verhalten zeigen, also die Himmels- und Gestirngötter, die Chance des Primats zu haben. In der Alltagsreligiosität spielen diese Gottheiten, welche sehr universelle Naturerscheinungen beeinflussen und daher der metaphysischen Spekulation als sehr groß, zuweilen selbst als Weltschöpfer gelten, gerade weil diese Naturerscheinungen in ihrem Verlauf nicht allzu stark schwanken, folglich in der Praxis des Alltags nicht das praktische Bedürfnis erwecken, durch die Mittel der Zauberer und Priester beeinflußt zu werden, meist keine erhebliche Rolle. Es kann ein Gott die ganze Religiosität eines Volkes maßgebend prägen (wie Osiris in Ägypten), wenn er einem besonders starken religiösen – in diesem Falle soteriologischen – Interesse entspricht, ohne doch den Primat im Pantheon zu gewinnen. Die „ratio“ fordert den Primat der universellen Götter, und jede konsequente Pantheonbildung folgt in irgendeinem Maße auch systematisch-rationalen Prinzipien, weil sie stets mit unter dem Einfluß entweder eines berufsmäßigen Priesterrationalismus oder des rationalen Ordnungsstrebens weltlicher Menschen steht. Und vor allem die schon früher erwähnte Ein von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling geprägter und von Friedrich Max Müller in die Religionswissenschaft eingeführter Begriff, den Müller als „Monotheismus des Affektes und der Stimmung“ beschrieb und der die Einstellung dessen charakterisiert, der im Augenblick der Verehrung mit dem angerufenen Gott so verkehrt, als wäre er der einzige. Müller bezeichnete mit dem Terminus „Henotheismus“ eine Phase der religiösen Entwicklung, in der „ein Glaube an einzelne abwechselnd als höchste hervortretende Götter“ herrscht. (Müller, Vorlesungen über den Ursprung, S. 312). Die früheste Gotteserfahrung sei weder monotheistisch noch polytheistisch. Der Mensch nehme Gott in der Natur wahr, ohne die Existenz anderer Götter auszuschließen oder eine Hierarchie zwischen Göttern anzunehmen (vgl. auch unten, S. 153, Anm. 69). Zu Müllers Henotheismus hat sich Weber auch in seiner Hinduismusstudie geäußert. (MWG I/20, S. 84).
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Verwandtschaft der rationalen Regelmäßigkeit des durch göttliche Ordnung verbürgten Laufs des Gestirnes mit der Unverbrüchlichkeit der heiligen Ordnung auf Erden macht sie zu berufenen Hütern dieser beiden Dinge, an welchen einerseits die rationale Wirtschaft und andererseits die gesicherte und geordnete Herrschaft der heiligen Normen in der sozialen Gemeinschaft hängen. Die Interessenten und Vertreter dieser heiligen Norm sind zunächst die Priester, und deshalb ist die Konkurrenz der Gestirngötter Varuna und Mitra, welche die heilige Ordnung schützen, mit dem waffengewaltigen Gewittergott Indra, dem Drachentöter, ein Symptom der Konkurrenz der nach fester Ordnung und ordnungsgemäßer Beherrschung des Lebens strebenden Priesterschaft mit der Macht des kriegerischen Adels, welchem der tatendurstige Heldengott und die ordnungsfremde Irrationalität [151]der Aventiure [150] Siehe oben, S. 139.
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und des Verhängnisses adäquate Beziehungen zu überirdischen Mächten sind. Wir werden diesen wichtigen Gegensatz noch mehrfach wirksam finden. [151] Das Wort (mittelhochdeutsch: „unerwartetes Ereignis“, „Abenteuer“) bezeichnet sowohl die Abenteuer der Helden als auch die Kapitel der nach den Heldenabenteuern gegliederten mittelalterlichen Epen.
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Systematisierte heilige Ordnungen, wie sie eine Priesterschaft propagiert (Indien, Iran, Babel) und rational geordnete Untertanenbeziehungen, wie sie der Beamtenstaat schafft (China, Babel) dienen meist den himmlischen oder astralen Gottheiten zum Aufstieg im Pantheon. Wenn in Babel die Religiosität in steigender Eindeutigkeit in den Glauben an die Herrschaft der Gestirne, speziell der Planeten, über alle Dinge, von den Wochentagen angefangen bis zum Jenseitsschicksal und damit in den astrologischen Fatalismus ausmündet, so ist das freilich erst ein Produkt der späteren Priesterwissenschaft und der nationalen Religion des politisch freien Staates noch fremd. – Ein Pantheon-Herrscher oder Pantheon-Gott ist an sich noch kein „universeller“, internationaler Weltgott. Aber natürlich ist er regelmäßig auf dem Wege dazu. Jedes entwickelte Denken über die Götter verlangt zunehmend, daß die Existenz und Qualität eines Wesens als Gott eindeutig feststehe, der Gott also in diesem Sinn „universell“ sei. Auch die Weltweisen der Hellenen deuteten ja die Gottheiten ihres leidlich geordneten Pantheon in alle anderwärts vorgefundenen Gottheiten hinein. Die Tendenz jener Universalisierung steigert sich mit steigendem Übergewicht des Pantheonherrschers: je mehr dieser also „monotheistische“ Züge annimmt. Die Weltreichbildung in China, die Erstreckung des Priesterstandes der Brahmanen durch alle politischen Einzelbildungen hindurch in Indien, die persische und die römische Weltreichbildung haben alle die Entstehung des Universalismus und Monotheismus – in irgendwelchem Maße beide, wenn auch nicht immer beide gleichmäßig – begünstigt, wenn auch mit höchst verschiedenem Erfolg. Siehe unten, S. 227 und S. 362.
Die Weltreichbildung (oder die gleichartig wirkende irdische soziale Angeglichenheit) ist keineswegs der einzige und unentbehrliche Hebel dieser Entwicklung gewesen. Zum mindesten die Vor[152]stufe
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des universalistischen Monotheismus: die [A 239]Monolatrie,[152]A: Vorstöße
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findet sich gerade in dem religionsgeschichtlich wichtigsten Fall, dem Jahvekult, als Konsequenz ganz konkreter historischer Ereignisse: einer Eidgenossenschaftsbildung. Der Universalismus ist in diesem Fall Produkt der internationalen Politik, deren pragmatische Interpreten die prophetischen Interessenten des Jahvekults und der Jahvesittlichkeit waren, mit der Konsequenz, daß auch die Taten der fremden Völker, welche Israels Lebensinteressen so mächtig berührten, als Taten Jahves zu gelten begannen. [152] Laut Bruno Baentsch, Altorientalischer und israelitischer Monotheismus. Ein Wort zur Revision der entwicklungsgeschichtlichen Auffassung der israelitischen Religionsgeschichte. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1906, wandelte sich die anfängliche Monolatrie Israels zu einem universalen Monotheismus, als Israel seit dem achten vorchristlichen Jahrhundert in weltpolitische Auseinandersetzungen hineingeriet. Diese Ausweitung zum universalen Monotheismus gründete sich auf das absolute Vertrauen auf die mit dem Bund von Gott gegebene Verheißung an sein Volk.
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Hier ist ganz greifbar der spezifisch und eminent historische Charakter, welcher der Spekulation der jüdischen Prophetie anhaftet, im schroffen Gegensatz gegen die Naturspekulation der Priesterschaften in Indien und Babylon, und Dies ist besonders deutlich bei dem Propheten Jesaia (45) zu beobachten: Der persische Herrscher Kyros II. wird als Werkzeug in der Hand Jahwes dargestellt.
r
die aus Jahves Verheißungen sich unabweisbar ergebende Aufgabe: die Gesamtheit der so bedrohlich und, angesichts dieser Verheißungen, so befremdlich verlaufenden Entwicklung des in die Völkergeschicke verflochtenen eigenen Volksschicksals als „Taten Jahves“, als einer „Weltgeschichte“ also, zu erfassen, was dem zum Lokalgott der Polis Jerusalems umgewandelten, alten kriegerischen Gott der Eidgenossenschaft die prophetischen universalistischen Züge überweltlicher heiliger Allmacht und Unerforschlichkeit verliehFehlt in A; und sinngemäß ergänzt.
s
.A: lieh
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Der monotheistische und damit[,] der Sache nach, universalistische Anlauf des Pharao Amenophis IV. (Echnaton) zum Sonnenkult entstammte gänzlich anderen Situationen: einerseits auch hier einem [153]weitgehenden priesterlichen und wohl auch Laienrationalismus, der[,] im scharfen Gegensatz gegen die israelitische Prophetie, rein naturalistischen Charakters ist, andererseits dem praktischen Bedürfnis des an der Spitze eines bürokratischen Einheitsstaates stehenden Monarchen, mit der Beseitigung der Vielheit der Priestergötter auch die Übermacht der Priester selbst zu brechen und die alte Machtstellung der vergotteten Pharaonen durch Erhebung des Königs zum höchsten Sonnenpriester herzustellen. Der universalistische Monotheismus der christlichen und islamischen und der relative Monotheismus Adalbert Merx führte aus: „Darum schildert er [der Verfasser des Buches Josua] nicht die ‚bewunderungswerten Werke‘ der Israeliten und Barbaren, sondern die Großtaten Gottes für Israel an den Barbaren […]. Das ist der große Wurf in diesem Werke: Universalhistorische Anlage, Herauswachsenlassen Israels aus der Völkerschar […]“. (Merx, Adalbert, Die Bücher Moses und Josua. Eine Einführung für Laien (Religionsgeschichtliche Volksbücher für die deutsche christliche Gegenwart, II. Reihe, 3 I.–II., hg. von Friedrich Michael Schiele). – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1907, S. 17 f.).
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in zarathustrischer Verkündigung sind, die ersten beiden historisch als Fortentwicklungen vom Judentum abhängig, die letztere sehr wahrscheinlich durch außeriranische (vorderasiatische) Einflüsse mitbestimmt. Sie sind alle durch die Eigenart der „ethischen“ im Gegensatz zur „exemplarischen“ Prophetie – ein später zu erörternder Unterschied [153] Der Begriff „relativer Monotheismus“ stammt von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: „Versteht man daher unter Monotheismus nur das Gegentheil von Vielgötterei, so ist im Bewußtseyn noch wirklich Monotheismus; aber es ist leicht einzusehen, daß dieser – zwar für die in ihm begriffene Menschheit absoluter ist, an sich und für uns aber bloß relativer. Denn der absolut-Eine Gott ist der, welcher auch nicht die Möglichkeit anderer Götter außer sich zuläßt, der bloß relativ-einzige der, welcher nur wirklich keinen andern vor, neben oder nach sich hat“. (Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von, Einleitung in die Philosophie der Mythologie (ders., Sämmtliche Werke, Abt. 2, Band 1). – Stuttgart, Augsburg: J. G. Cotta 1856, S. 127).
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– bedingt. Alle andern relativ monotheistischen und universalistischen Entwicklungen sind also Produkte philosophischer Spekulation von Priestern und Laien, welche praktische religiöse Bedeutung nur da gewannen, wo sie mit soteriologischen (Erlösungs-)Interessen sich vermählten (wovon später). Siehe unten, S. 189.
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Siehe unten, S. 266 ff.
Die praktischen Hemmungen der in irgendeiner Form fast überall in Gang gekommenen Entwicklung zum strengen Monotheismus, welche seine Durchsetzung in der Alltagsreligion überall, außer im Judentum, Islam und Protestantismus, relativiert haben, lagen durchweg in den mächtigen ideellen und materiellen Interessen der an den Kulten und Kultstätten der Einzelgötter interessierten Priesterschaften einerseits, und den religiösen Interessen der Laien an einem greifbaren, nahen, zu der konkreten Lebenslage oder dem konkreten Personenkreis unter Ausschluß anderer in [154]Beziehung zu bringenden, vor allem: einem der magischen Beeinflussung zugänglichen religiösen Objekt andererseits. Denn die Sicherheit der einmal erprobten Magie ist viel größer als die Wirkung der Verehrung eines magisch nicht zu beeinflussenden, weil übermächtigen Gottes. Die Konzeption der „übersinnlichen“ Gewalten als Götter, selbst als eines überweltlichen Gottes, beseitigt daher die alten magischen Vorstellungen keineswegs schon an sich (auch im Christentum nicht), aber sie läßt allerdings eine nun zu besprechende doppelte Möglichkeit der Beziehung zu ihnen entstehen.
Eine irgendwie nach Analogie des beseelten Menschen gedachte Macht kann entweder, ebenso wie die naturalistische „Kraft“ eines Geistes, in den Dienst des Menschen gezwungen werden: Wer das Charisma dazu hat, die richtigen Mittel anzuwenden, der ist stärker auch als ein Gott und kann ihn nach seinem Willen nötigen. Das religiöse Handeln ist dann nicht „Gottesdienst“, sondern „Gotteszwang“, [A 240]die Anrufung des Gottes nicht Gebet, sondern magische Formel: eine unausrottbare Grundlage der volkstümlichen[,] vor allem der indischen Religiosität, aber sehr universell verbreitet, wie ja auch der katholische Priester noch etwas von dieser Zaubermacht in der Vollziehung des Meßwunders und in der Schlüsselgewalt
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übt. Die orgiastischen und mimischen Bestandteile des religiösen Kultus, vor allem Gesang, Tanz, Drama, daneben die typischen festen Gebetsformeln, haben, nicht ausschließlich, aber dem Schwerpunkt nach, hier ihren Ursprung. Oder die Anthropomorphisierung geht dahin, die freie, durch Bitten, Gaben, Dienste, Tribute, Schmeicheleien, Bestechungen, und schließlich namentlich durch eigenes[,] seinem Willen entsprechendes Wohlverhalten zu gewinnende Gnade eines mächtigen irdischen Herrn auch auf das Verhalten der Götter zu übertragen, die[,] nach seiner Analogie, als gewaltige, zunächst nur quantitativ stärkere Wesen gedacht sind. Dann entsteht die Notwendigkeit des „Gottesdienstes“. [154] In der katholischen Kirche wird unter „Schlüsselgewalt“ die Befugnis verstanden, Freisprechung von Sünden zu erteilen oder zu versagen. Zugrunde liegt Matthäus 16, 19: „Und will dir [Petrus] des Himmelreichs Schlüssel geben: alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein.“
[155]Natürlich sind auch die spezifischen Elemente des „Gottesdienstes“: Gebet und Opfer, zunächst magischen Ursprungs. Bei dem Gebet bleibt die Grenze zwischen magischer Formel und Bitte flüssig, und gerade der technisch rationalisierte Gebetsbetrieb in Form von Gebetsmühlen und ähnlichen technischen Apparaten, von in den Wind gehängten oder an die Götterbilder gesteckten oder an die Heiligenbilder gehefteten Gebetsstreifen oder von rein quantitativ bemessenen Rosenkranzleistungen (fast alles Produkte der indischen Rationalisierung des Gotteszwangs) steht
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überall der ersteren mehr als der letzteren nahe. Dennoch kennen auch sonst undifferenzierte Religionen das eigentliche individuelle Gebet, als „Bitte“, meist in der rein geschäftlichen rationalen Form, daß dem Gott die Leistungen des Betenden für ihn vorgehalten und Gegenleistungen dafür begehrt werden. Auch das Opfer taucht zunächst auf als magisches Mittel. Teils direkt im Dienst des Götterzwangs: auch die Götter brauchen den die Ekstase erregenden Somasaft der Zauberpriester, um Taten zu verrichten, daher kann man sie, nach der alten Vorstellung der Arier, durch das Opfer zwingen. Oder aber man kann mit ihnen sogar einen Pakt schließen, der beiden Teilen Pflichten auferlegt: die folgenschwere Vorstellung namentlich der Israeliten. Oder das Opfer ist Mittel der magischen Ablenkung des einmal entstandenen Grimms des Gottes auf ein anderes Objekt, sei dies ein Sündenbock[155]A: stehen
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oder (und namentlich) ein Menschenopfer. Noch wichtiger und wahrscheinlich auch älter ist aber das andere Motiv: das Opfer, speziell das Tieropfer, soll eine „communio“, eine als Verbrüderung wirkende Tischgemeinschaft zwischen den Opfernden und dem Gott[,] herstellen: [155] Am jüdischen Versöhnungstag wurden einem Bock durch Handauflegen des Hohenpriesters die Sünden des Volkes Israel übertragen. Danach wurde der Bock in die Wüste geschickt. (3. Mose 16, 3 ff.).
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eine Bedeutungswandlung der noch älteren Vorstellung: daß das Zerreißen und Essen eines starken, später ei[156]nes heiligen, Tiers dessen Kraft den Essenden mitteile. Ein magischer Sinn solcher oder anderer Art – denn es gibt der Möglichkeiten viele – kann, auch wenn eigentlich „kultische“ Vorstellungen stark sinnbestimmend einwirken, dennoch der Opferhandlung das Gepräge geben. Er kann auch an Stelle eigentlich kultischen Sinns wieder herrschend werden: die Opferrituale schon des William Robertson Smith: „Wir dürfen es […] als gesichert ansehen, dass durch das ganze semitische Gebiet die Grundidee des Opfers nicht die des heiligen Tributs ist, sondern die einer Gemeinschaft zwischen dem Gott und seinen Verehrern durch gemeinsame Teilhabe an dem ‚lebenden‘ Fleisch und Blut eines heiligen Opfertieres“. (Smith, William Robertson, Die Religion der Semiten. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1899, S. 266; hinfort: Smith, Religion der Semiten).
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Atharva Veda, erst recht aber der Brahmanas sind, im Gegensatz zum altnordischen Opfer, fast reine Zauberei. Eine Abwendung vom Magischen bedeutet dagegen die Vorstellung des Opfers entweder als eines Tributs, z. B. der Erstlingsfrüchte, auf daß die Gottheit den Menschen den Rest gönne, oder vollends als einer selbst auferlegten „Strafe“ zur rechtzeitigen Abwendung der Rache des Gottes als Bußopfer. Auch dies involviert freilich noch kein „Sündenbewußtsein“; es vollzieht sich zunächst (so in Indien) in kühler Geschäftlichkeit. Steigende Vorstellungen von der Macht eines Gottes und dessen Charakter als persönlichen Herrn bedingen dann steigendes Vorwiegen der nicht magischen Motive. Der Gott wird ein großer Herr, der nach Belieben auch versagen kann und dem man sich[156]A: der
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also nicht mit magischen Zwangsmaßregeln, sondern nur mit Bitten und Geschenken nahen darf. Alles aber, was diese Motive dem einfachen „Zauber“ gegenüber neu hinzubringen, sind zunächst ebenso nüchterne rationale Elemente wie die Motive des Zauberns selbst. „Do ut des“ ist der durchgehende Grundzug. Dieser Charakter [A 241]haftet der Alltags- und Massenreligiosität aller Zeiten und Völker und auch allen Religionen an. Abwendung „diesseitigen“ äußerlichen Übels und Zuwendung „diesseitiger“ äußerlicher Vorteile ist der Inhalt aller normalen „Gebete“, auch der allerjenseitigsten Religionen. Jeder Zug, der darüber hinausführt, ist das Werk eines spezifischen Entwicklungsprozesses mit eigentümlich zwiespältiger Eigenart. Einerseits eine immer weitergehende rationale Systematisierung der Gottesbegriffe und ebenso des Denkens über die möglichen Beziehungen des Menschen zum Göttlichen. Andrerseits aber, im Resultat, zu einem charakteristischen Teil ein Zurücktreten jenes ursprünglichen praktischen rechnenden Rationalismus. Denn der „Sinn“ des spezifisch religiösen Sichverhaltens wird, parallel mit jener Rationalisierung des [157]Denkens, zunehmend weniger in rein äußeren Vorteilen des ökonomischen Alltags gesucht, und insofern also das Ziel des religiösen Sichverhaltens „irrationalisiert“, bis schließlich diese „außerweltlichen“, d. h. zunächst: außerökonomischen Ziele als das dem religiösen Sichverhalten Spezifische gelten. Eben deshalb aber ist das Vorhandensein spezifischer persönlicher Träger dieser in dem eben angegebenen Sinn „außerökonomischen“ Entwicklung eine von deren Voraussetzungen. Fehlt in A; sich sinngemäß ergänzt.
Man kann diejenigen Formen der Beziehungen zu den übersinnlichen Gewalten, die sich als Bitte, Opfer, Verehrung äußern,
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als „Religion“ und „Kultus“ von der „Zauberei“ als dem magischen Zwange scheiden[157]A: äußert,
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und dementsprechend als „Götter“ diejenigen Wesen bezeichnen, welche religiös verehrt und gebeten, als „Dämonen“ diejenigen, welche magisch gezwungen und gebannt werden. Die Scheidung ist fast nirgends restlos durchführbar, denn auch das Ritual des in diesem Sinn „religiösen“ Kultus enthält fast überall massenhafte magische Bestandteile. Und die historische Entwicklung jener Scheidung ist sehr oft einfach so erfolgt, daß bei Unterdrückung eines Kultes durch eine weltliche oder priesterliche Gewalt zugunsten einer neuen Religion die alten Götter als „Dämonen“ fortexistieren. [157] Diese Unterscheidung nahm auch Eduard Meyer vor. Für ihn begann die Religion erst mit dem Kultus, der dauerhaften und geregelten Verknüpfung des menschlichen Verbandes mit der Gottheit. Im Kult sah er den „vollendetste[n] Ausdruck der Kausalitätsidee, den das mythische Denken erzeugt hat“. Dem Kult voraus ging, so Meyer, das Zauberwesen, die „zwischen Menschen und Geistern für den einzelnen Moment geschaffenen Beziehungen“. (Meyer, Elemente der Anthropologie, wie oben, S. 132, Anm. 19, S. 91–104, Zitate: S. 102 und 90). Hermann Oldenberg vertrat für den indischen Bereich gleichfalls eine „Trennung von Cultus und Zauberei, man kann annähernd auch sagen von Glauben und ‚Aberglauben‘ […]“. (Oldenberg, Religion des Veda, S. 476 f.).
2.dA: § 2. Zauberer – Priester.
A: § 2.
Die soziologische Seite jener Scheidung aber ist die Entstehung eines „Priestertums“ als etwas von den „Zauberern“ zu Unterscheidendem. Der Gegensatz ist in der Realität durchaus flüssig, wie fast alle soziologischen Erscheinungen. Auch die Merkmale [158]der begrifflichen Abgrenzung sind nicht eindeutig feststellbar. Man kann entsprechend der Scheidung von „Kultus“ und „Zauberei“ als „Priester“ diejenigen berufsmäßigen Funktionäre bezeichnen, welche durch Mittel der Verehrung die „Götter“ beeinflussen, im Gegensatz zu den Zauberern, welche „Dämonen“ durch magische Mittel zwingen. Aber der Priesterbegriff zahlreicher großer Religionen, auch der christlichen, schließt gerade die magische Qualifikation ein. Oder man nennt „Priester“ die Funktionäre eines regelmäßigen organisierten stetigen Betriebs der Beeinflussung der Götter, gegenüber der individuellen Inanspruchnahme der Zauberer von Fall zu Fall. Der Gegensatz ist durch eine gleitende Skala von Übergängen überbrückt, aber in seinen „reinen“ Typen eindeutig, und man kann dann als Merkmal des Priestertums das Vorhandensein irgendwelcher fester Kultstätten, verbunden mit irgendwelchem sachlichen Kultapparat behandeln. Oder aber man behandelt als entscheidend für den Priesterbegriff: daß die Funktionäre, sei es erblich oder individuell angestellt, im Dienst eines vergesellschafteten sozialen Verbandes, welcher Art immer er sei, tätig werden, also als dessen Angestellte oder Organe und lediglich im Interesse seiner Mitglieder, nicht wie die Zauberer, welche einen freien Beruf ausüben. Auch dieser begrifflich klare Gegensatz ist natürlich in der Realität flüssig. Die Zauberer sind nicht selten zu einer festen Zunft, unter Umständen zu einer erblichen Kaste, zusammengeschlossen, und diese kann innerhalb bestimmter Gemeinschaften das Monopol der Magie haben. Auch der katholische Priester ist nicht immer „angestellt“, sondern z. B. in Rom nicht selten ein armer Vagant, der von der [A 242]Hand in den Mund von den einzelnen Messen lebt, deren Wahrnehmung er nachgeht. Oder man scheidet die Priester als die durch spezifisches Wissen und festgeregelte Lehre und Berufsqualifikation Befähigten von den kraft persönlicher Gaben (Charisma) und deren Bewährung durch Wunder und persönliche Offenbarung Wirkenden,
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also einerseits den Zauberern, andererseits den „Propheten“. Aber die Scheidung zwischen den meist ebenfalls und zuweilen sehr hochgelernten Zauberern und den keineswegs immer be[159]sonders hochgelernt[158]A: wirkenden,
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wirkenden Priestern ist dann nicht einfach. Der Unterschied müßte qualitativ, in der Verschiedenheit des allgemeinen Charakters der Gelerntheit hier und dort gefunden werden. In der Tat werden wir später (bei Erörterung der Herrschaftsformen)[159]A: hochgelernten
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die teils durch irrationale Mittel auf Wiedergeburt ausgehende „Erweckungserziehung“, teils auch eine rein empirische Kunstlehre darstellende Schulung der charismatischen Zauberer von der rationalen Vorbildung und Disziplin der Priester zu scheiden haben, obwohl in der Realität auch hier beides ineinandergleitend übergeht. Nähme man aber dabei als Merkmal der „Lehre“ als einer das Priestertum auszeichnenden Differenz die Entwicklung eines rationalen religiösen Gedankensystems und, was für uns vor allem wichtig ist, die Entwicklung einer systematisierten spezifisch religiösen „Ethik“ auf Grund einer zusammenhängenden, irgendwie festgelegten, als „Offenbarung“ geltenden Lehre an, etwa so wie der Islam seine Unterscheidung von Buchreligionen und einfachem Heidentum machte, so wären nicht nur die japanischen Schintopriester, sondern z. B. auch die machtvollen Hierokratien der Phöniker aus dem Begriff der Priesterschaft ausgeschlossen und eine allerdings grundlegend wichtige, aber nicht universelle Funktion des Priestertums zum Begriffsmerkmal gemacht. [159] Siehe WuG1, S. 776–778 (MWG I/22-4) und WuG1, S. 784 (MWG I/22-4).
Den verschiedenen, niemals glatt aufgehenden, Möglichkeiten der Unterscheidung wird es für unsere Zwecke am meisten gerecht, wenn wir hier die Eingestelltheit eines gesonderten Personenkreises auf den regelmäßigen, an bestimmte Normen, Orte und Zeiten gebundenen und auf bestimmte Verbände bezogenen Kultusbetrieb als wesentliches Merkmal festhalten. Es gibt kein Priestertum ohne Kultus, wohl aber Kultus ohne gesondertes Priestertum: so in China, wo ausschließlich die Staatsorgane und der Hausvater den Kultus der offiziell anerkannten Götter und Ahnengeister besorgen. Unter den typisch reinen „Zauberern“ andererseits gibt es zwar Noviziat und Lehre, wie etwa in der Bruder[160]schaft der Hametzen
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bei den Indianern und ähnliche in der ganzen Welt, welche zum Teil eine sehr starke Macht in Händen haben und deren dem Wesen nach magische Feiern eine zentrale Stellung im Volksleben einnehmen, denen aber ein kontinuierlicher Kultusbetrieb fehlt und die wir deshalb nicht „Priester“ nennen wollen. Sowohl beim priesterlosen Kultus aber wie beim kultlosen Zauberer fehlt regelmäßig eine Rationalisierung der metaphysischen Vorstellungen, ebenso wie eine spezifisch religiöse Ethik. Beides pflegt in voller Konsequenz nur eine selbständige und auf dauernde Beschäftigung mit dem Kultus und den Problemen praktischer Seelenleitung eingeschulte Berufspriesterschaft zu entwickeln. Die Ethik ist daher in der klassisch chinesischen Denkweise zu etwas ganz anderem als einer metaphysisch rationalisierten „Religion“ entwickelt. Ebenso die Ethik des kultus- und priesterlosen alten Buddhismus. Und die Rationalisierung des religiösen Lebens ist, wie später zu erörtern, [160] Hametzen hießen die Mitglieder eines Geheimbundes der KwakiutI in Britisch-Kolumbien. Über die Einweihung eines neuen Mitgliedes berichteten Heinrich Schurtz, Altersklassen und Männerbünde, wie oben, S. 130, Anm. 16, S. 394–399 (Schurtz sprach von „Hamatsa“), und Kurt Breysig, Geschichte der Menschheit, wie oben, S. 130, Anm. 16, S. 312–317. Beide Autoren stützten sich auf die Feldforschungen von Franz Boas, Social Organization, wie oben, S. 130, Anm. 16.
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überall da gebrochen oder ganz hintangehalten worden, wo das Priestertum es nicht zu einer eigenen ständischen Entwicklung und Machtstellung gebracht hat, wie in der mittelländischen Antike. Sie hat sehr eigenartige Wege da eingeschlagen, wo ein Stand ursprünglicher Zauberer und heiliger Sänger die Magie rationalisierte, aber nicht eine eigentlich priesterliche Amtsverfassung entwickelte, wie die Brahmanen in Indien. Aber nicht jede Priesterschaft entwickelt das der Magie gegenüber prinzipiell Neue: eine rationale Metaphysik und religiöse Ethik. Diese setzt vielmehr der – nicht ausnahmslosen – Regel nach das Eingreifen außerpriesterlicher Mächte voraus. Einerseits eines Trägers von metaphysischen oder religiös-ethischen „Offenbarungen“: des Propheten. Andererseits die Mit[A 243]wirkung der nicht priesterlichen Anhänger eines Kultus: der „Laien“. Ehe wir die Art betrachten, wie durch die Einwirkung dieser außerpriesterlichen Faktoren die Religionen nach Überwindung der überall auf der Erde sehr ähnlichen Stufen der Magie fortentwickelt werden, müs[161]sen wir gewisse typische Entwicklungstendenzen feststellen, welche durch das Vorhandensein priesterlicher Interessenten eines Kultus in Bewegung gesetzt werden. Siehe unten, S. 176 f. und WuG1 S. 782 f. (MWG I/22-4).
3.g[161]A: § 3. Gottesbegriff. Religiöse Ethik. Tabu.hIn A folgt eine Inhalts- und Seitenübersicht.
[161]A: § 3.
In A folgt eine Inhalts- und Seitenübersicht.
Die einfachste Frage: ob man einen bestimmten Gott oder Dämon überhaupt durch Zwang oder Bitte zu beeinflussen versuchen soll, ist zunächst lediglich eine Frage des Erfolgs. Wie der Zauberer sein Charisma, so hat der Gott seine Macht zu bewähren. Zeigt sich der Versuch der Beeinflussung dauernd nutzlos, so ist entweder der Gott machtlos oder die Mittel seiner Beeinflussung sind unbekannt, und man gibt ihn auf. In China genügen noch heute wenige eklatante Erfolge[,] um einem Götterbild den Ruf, Macht (Schen ling)
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zu besitzen, und damit die Frequenz der Gläubigen zu verschaffen. Der Kaiser als Vertreter der Untertanen gegenüber dem Himmel verleiht den Göttern im Fall der Bewährung Titel und andere Auszeichnungen. Aber wenige eklatante Enttäuschungen genügen eventuell, einen Tempel für immer zu leeren. Der historische Zufall, daß der, aller Wahrscheinlichkeit spottende, felsenfeste Prophetenglaube des Jesaia: sein Gott werde Jerusalem, wenn nur der König [161] Der Begriff schen bedeutet „Geist“ oder „Geistwesen“, aber auch „geheimnisvoll“, „wirksam“, ling bezeichnet „Geist“, „Seele", zugleich aber auch „geheimnisvoll“, „mächtig“, „göttlich“, „wirksam“. Johann Jakob Maria de Groot übersetzte „schen-ling“ mit „Macht oder geistliche Macht“. (De Groot, Religionen der Chinesen, wie oben, S. 129, Anm. 13, S. 174).
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fest bleibe, dem Assyrerheer nicht in die Hände fallen lassen, wirklich eintraf, war das seitdem unerschütterliche Fundament der Stellung dieses Gottes sowohl wie seiner Propheten. Nicht anders erging es schon dem präanimistischen Fetisch und dem Charisma des magisch Begabten. Erfolglosigkeit büßt der Zauberer eventuell mit dem Tode. Eine Priesterschaft ist ihm gegenüber dadurch im Vorteil, daß sie die Verantwortung der Mißerfolge von sich persönlich auf den Gott abschieben kann. Aber mit dem Prestige ihres Gottes sinkt auch das ihrige. Es sei denn, daß [162]sie Mittel findet, diese Mißerfolge überzeugend so zu deuten, daß die Verantwortung dafür nicht mehr auf den Gott, sondern auf das Verhalten seiner Verehrer fällt. Und auch dies ermöglicht die Vorstellung vom „Gottesdienst“ gegenüber dem „Gotteszwang“. Die Gläubigen haben den Gott nicht genügend geehrt, seine Begierde nach Opferblut oder Somasaft nicht genügend gestillt, womöglich ihn darin zugunsten anderer Götter zurückgesetzt. Daher erhört er sie nicht. Aber unter Umständen hilft auch erneute und gesteigerte Verehrung nicht: die Götter der Feinde bleiben die stärkeren. Dann ist es um seine Reputation geschehen. Man fällt zu diesen stärkeren Göttern ab, es sei denn, daß es auch jetzt noch Mittel gibt, das renitente Verhalten des Gottes derart zu motivieren, daß sein Prestige nicht gemindert, ja sogar noch gefestigt wird. Auch solche Mittel auszudenken ist aber einer Priesterschaft unter Umständen gelungen. Am eklatantesten derjenigen Jahves, dessen Beziehung zu seinem Volke sich aus Gründen, die noch zu erörtern sein werden, Gemeint ist König Hiskia, vgl. 2 Könige 18, 13–19, 37; 2 Chronik 32, 1–22 und Jesaia 36–38.
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um so fester knüpfte, in je tieferes Ungemach es verstrickt wurde. Damit dies aber geschehen könne, bedarf es zunächst der Entwicklung einer Reihe von neuen Attributen des Göttlichen. [162] Siehe unten, S. 174 f. und S. 192 f.
Den anthropomorphisierten Göttern und Dämonen kommt zunächst eine eigentlich qualitative Überlegenheit dem Menschen gegenüber nur relativ zu. Ihre Leidenschaften sind maßlos wie die starker Menschen und maßlos ihre Gier nach Genuß. Aber sie sind weder allwissend noch allmächtig – im letzteren Fall könnten ihrer ja nicht mehrere sein – noch auch, weder in Babylon noch bei den Germanen, notwendig ewig: nur wissen sie sich oft die Dauer ihrer glanzvollen Existenz durch magische Speisen oder Tränke, die sie sich vorbehalten haben, zu sichern, so wie [A 244]ja auch der Zaubertrank des Medizinmannes den Menschen das Leben verlängert. Qualitativ geschieden werden unter ihnen die für die Menschen nützlichen von den schädlichen Mächten und natürlich die ersteren regelmäßig als die guten und höheren „Götter“, die man anbetet, den letzteren entgegengesetzt als den niederen „Dämonen“, die nun oft mit allem Raffinement einer irgend ausdenkbaren, verschmitzten Tücke ausgestattet, nicht angebetet, sondern magisch gebannt werden. Aber nicht immer vollzieht sich eine Scheidung [163]auf dieser Basis und erst recht nicht immer in Form einer solchen Degradation der Herren der schädlichen Mächte zu Dämonen. Das Maß von kultischer Verehrung, welches Götter genießen, hängt nicht von ihrer Güte und auch nicht einmal von ihrer universellen Wichtigkeit ab. Gerade den ganz großen guten Göttern des Himmels fehlt ja oft jeder Kultus, nicht weil sie dem Menschen „zu fern“ sind, sondern weil ihr Wirken zu gleichmäßig und durch seine feste Regelmäßigkeit auch ohne besondere Einwirkung gesichert erscheint. Mächte von ziemlich ausgeprägt diabolischem Charakter dagegen, wie etwa der Seuchengott Rudra in Indien, sind nicht immer die schwächeren gegenüber den „guten“ Göttern, sondern können mit ungeheurer Machtfülle bekleidet werden.
Neben die unter Umständen wichtige qualitative Differenzierung von guten und diabolischen Gewalten tritt nun aber – und darauf kommt es uns hier an – innerhalb des Pantheons die Entwicklung spezifisch ethisch qualifizierter Gottheiten. Die ethische Qualifikation der Gottheit ist keineswegs dem Monotheismus vorbehalten. Sie gewinnt bei ihm weittragendere Konsequenzen, ist aber an sich auf den verschiedensten Stufen der Pantheonbildung möglich. Zu den ethischen Gottheiten gehört naturgemäß besonders oft der spezialisierte Funktionsgott für die Rechtsfindung und derjenige, welcher über die Orakel Gewalt hat.
Die Kunst der „Divination“ erwächst zunächst direkt aus der Magie des Geisterglaubens. Die Geister wirken, wie alle anderen Wesen, nicht schlechthin regellos. Kennt man die Bedingungen ihrer Wirksamkeit, so kann man ihr Verhalten aus Symptomen: omina,
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welche erfahrungsgemäß ihre Disposition andeuten, kombinieren. Die Anlage von Gräbern, Häusern und Wegen, die Vornahme von wirtschaftlichen und politischen Handlungen müssen an dem nach früheren Erfahrungen günstigen Ort und zu günstiger Zeit geschehen. Und wo eine Schicht, wie die sog. taoistischen Priester in China, von der Ausübung dieser Divinationskunst lebt, kann ihre Kunstlehre (das Fung-schui in China) eine unerschütterliche Macht gewinnen. Alle ökonomische Rationalität scheitert [164]dann an dem Widerspruch der Geister: keine Eisenbahn- oder Fabrikanlage, die nicht auf Schritt und Tritt mit ihnen in Konflikt geriete. Erst der Kapitalismus in seiner Vollkraft hat es vermocht, mit diesem Widerstand fertig zu werden. [163] Unter „omina“ werden gute oder schlechte Vorzeichen verstanden, die auf ein zukünftiges Ereignis hindeuten. Zu Omina kann alles werden, was sich am Himmel oder auf der Erde befindet: etwa der Flug der Vögel, Mißbildungen der Eingeweide, Sonnen- und Mondfinsternisse, das Rauschen der Bäume usw.
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Noch im russisch-japanischen Kriege [164] In seiner Konfuzianismusstudie behandelte Weber denselben Sachverhalt: „[…] vollends Eisenbahnanlagen, Fabrikanlagen mit Rauch […] – hätten ganze Gegenden magisch verpestet. Die magische Stereotypierung der Technik und Ökonomik, verankert an diesem Glauben und an den Sportelinteressen der Geomanten, schloß die Entstehung von Verkehrs- und gewerblichen Betrieben moderner Art als bodenständiges Produkt völlig aus. Es bedurfte erst des im Sattel sitzenden Hochkapitalismus und des Engagements gewaltiger Mandarinen-Vermögen in den Eisenbahnkapitalien, um diese ungeheure Barriere zu überrennen […]“. (MWG I/19, S. 406).
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scheint aber das japanische Heer einzelne Gelegenheiten aus Gründen ungünstiger Divination verpaßt zu haben, – während schon Pausanias bei Plataiai offenbar die Gunst oder Ungunst der Vorzeichen geschickt den Bedürfnissen der Taktik entsprechend zu „stilisieren“ gewußt hat. Der Krieg zwischen Rußland und Japan von 1904–1905.
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Wo nun die politische Gewalt den Rechtsgang an sich zieht, den bloßen unmaßgebenden Schiedsspruch bei der Sippenfehde in ein Zwangsurteil oder bei religiösen oder politischen Freveln die alte Lynchjustiz der bedrohten Gesamtheit in ein geordnetes Verfahren gebracht hat, ist es fast immer göttliche Offenbarung (Gottesurteil), welche die Wahrheit ermittelt. Wo eine Zaubererschaft es verstanden hat[,] die Orakel und die Gottesurteile und ihre Vorbereitung in die Hand zu bekommen, ist ihre Machtstellung oft eine dauernd überwältigende. Der Spartiate Pausanias war Oberbefehlshaber über die siegreichen Griechen bei der Schlacht von Plataiai im südlichen Böotien (479 v. Chr.) gegen das persische Landheer unter Mardonios. Hauptquelle der Schlacht ist Herodot (Historien IX, 18–86). Der spartanische Seher Teisamenos sagte den Griechen voraus, daß sie die Schlacht verlieren würden, wenn sie den Fluß Asopos überschreiten und das persische Heer angreifen würden. Wenn sie aber den Angriff der Perser nur abwehren würden und sich lediglich verteidigten, dann würden sie bei der Schlacht von Plataiai als Sieger hervorgehen. Pausanias verzögerte daraufhin den Beginn der Schlacht. Den Persern unter Mardonios wurde ebenfalls eine militärische Niederlage prophezeit, wenn sie die Schlacht eröffnen würden (IX, 34–35). Mardonios fürchtete jedoch die anwachsenden Massen der sich versammelnden griechischen Stämme und drängte darauf, die Schlacht zu eröffnen. Er erinnerte seine Heerführer an eine alte Weissagung, nach der die Perser in Griechenland einfallen, das Orakel von Delphi plündern und anschließend vernichtet werden würden. Wenn sie also das delphische Heiligtum schonen würden, träfe die Voraussage nicht ein. Die Schlacht soll daraufhin von den Persern begonnen worden sein.
Ganz der Realität der Dinge im Leben entsprechend ist der Hüter der Rechtsordnung keineswegs notwendig der stärkste Gott: [165]weder Varuna in Indien, noch Maat in Ägypten, noch weniger Lykos in Attika oder Dike oder Themis und auch nicht Apollon waren dies. Nur ihre ethische Qualifikation, dem Sinn der „Wahrheit“, die das Orakel oder Gottesurteil doch immer irgendwie verkünden soll, entsprechend, zeichnet sie aus. Aber nicht[,] weil er ein Gott ist, schützt der „ethische“ Gott die Rechtsordnung und die gute Sitte – mit „Ethik“ haben die anthropo[A 245]morphen Götter zunächst nichts Besonderes, jedenfalls aber weniger als die Menschen, zu schaffen. Sondern weil er nun einmal diese besondere Art von Handeln in seine Obhut genommen hat. Die ethischen Ansprüche an die Götter steigen nun aber 1. mit steigender Macht und also steigenden Ansprüchen an die Qualität der geordneten Rechtsfindung innerhalb großer befriedeter politischer Verbände, – 2. mit steigendem Umfang der durch meteorologische Orientierung der Wirtschaft bedingten rationalen Erfassung des naturgesetzlichen Weltgeschehens als eines dauernd sinnvoll geordneten Kosmos, – 3. mit steigender Reglementierung immer neuer Arten von menschlichen Beziehungen durch konventionelle Regeln und steigender Bedeutung der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen von der Innehaltung dieser Regeln, insbesondere aber 4. mit steigender sozialer und ökonomischer Bedeutung der Verläßlichkeit des gegebenen Wortes: des Wortes des Freundes, Vasallen, Beamten, Tauschpartners, Schuldners oder wessen es sei, – mit einem Wort: mit steigender Bedeutung der ethischen Bindung des Einzelnen an einen Kosmos von „Pflichten“, welche sein Verhalten berechenbar machen. Auch die Götter, an die man sich um Schutz wendet, müssen nun offenbar entweder selbst einer Ordnung unterworfen sein oder ihrerseits, wie große Könige, eine solche geschaffen und zum spezifischen Inhalt ihres göttlichen Willens gemacht haben. Im ersten Fall tritt hinter ihnen eine übergeordnete unpersönliche Macht auf, die sie innerlich bindet und den Wert ihrer Taten mißt, ihrerseits aber verschieden geartet sein kann. Universelle unpersönliche Mächte übergöttlicher Art treten zunächst als „Schicksals“-Gewalten auf.
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So das „Verhängnis“ (Moira) der [166]Hellenen, eine Art von irrationaler, insbesondere ethisch indifferenter Prädestination der großen Grundzüge jedes Einzelschicksals, die innerhalb gewisser Grenzen elastisch, deren allzu flagrante Verletzung aber durch verhängniswidrige Eingriffe auch für die größten Götter gefährlich (ὑπέϱμοϱον) [165] Die frühe griechische Dichtung, Epos und Tragödie, war von der Vorstellung geprägt, daß Schicksalsmächte nicht allein Menschen, sondern auch Götter zwingen. Die Stoa hat daraus einen philosophischen Schicksalsbegriff entwickelt, der das ethische Problem der Zurechenbarkeit von Handlungen entstehen ließ.
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ist. Das erklärt dann neben anderen Dingen auch die Erfolglosigkeit so vieler Gebete. So geartet ist die normale innere Stellungnahme kriegerischen Heldentums, dem der rationalistische Glaube an eine rein ethisch interessierte, sonst aber parteilose, weise und gütige „Vorsehung“ besonders fremd ist. Es tritt hier wiederum jene schon kurz berührte [166] Das griechische Adjektiv ὑπέρμορον (Tl.: hypermoron) bezeichnet das, was über das vorbestimmte Schicksal hinausgeht und durch eigene Schuld zustande kommt.
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tiefe Spannung zwischen Heldentum und jeder Art von religiösem oder auch rein ethischem Rationalismus zutage, der wir immer wieder begegnen werden. Siehe oben, S. 150 f.
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Denn ganz anders sieht die unpersönliche Macht bürokratischer oder theokratischer Schichten, z. B. der chinesischen Bürokratie oder der indischen Brahmanen aus. Sie ist eine providentielle Macht harmonischer und rationaler Ordnung der Welt, je nachdem im Einzelfall mehr kosmischen oder mehr ethischen sozialen Gepräges, regelmäßig aber beides umfassend. Kosmischen, aber doch zugleich auch spezifisch ethisch-rationalen Charakter hat die übergöttliche Ordnung der Konfuzianer ebenso wie die der Taoisten, beides unpersönliche providentielle Mächte, welche die Regelmäßigkeit und glückliche Ordnung des Weltgeschehens verbürgen: die Anschauung einer rationalistischen Bürokratie. Noch stärker ethisch ist der Charakter der indischen Rita, der unpersönlichen Macht der festen Ordnung des religiösen Zeremoniells ebenso wie des Kosmos und daher auch des Tuns der Menschen im allgemeinen: die Anschauung der vedischen, eine wesentlich empirische Kunst mehr des Gotteszwangs als der Gottesverehrung übenden Priesterschaft. Oder die spätere indische übergöttliche Alleinheit des allein dem sinnlosen Wechsel und der Vergänglichkeit aller Erscheinungswelt nicht unterworfenen Seins: die Anschauung einer dem Welttreiben indifferent gegenüberstehenden Intellektuellenspekulation. Auch wo aber die Ordnung der Natur und der damit regelmäßig gleichge[167]setzten sozialen Verhältnisse, vor allem des Rechts, nicht als den Göttern übergeordnet, sondern als Schöpfung von Göttern gelten, – wir werden später fragen: Siehe unten, S. 227 und S. 362.
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unter welchen Bedingungen dies eintritt –, wird als selbstverständlich vorausgesetzt, daß der Gott diese von ihm geschaffenen Ordnungen gegen Verletzung sichern werde. Die gedankliche Durchführung dieses Postulats hat weitgehende Konsequenzen für das religiöse Handeln und die allgemeine Stellungnahme der Menschen zum Gott. Sie [A 246]gibt den Anlaß zur Entwicklung einer religiösen Ethik, der Scheidung der göttlichen Anforderung an den Menschen, gegenüber jenen Anforderungen oft unzulänglicher „Natur“. Neben die beiden urwüchsigen Arten der Beeinflussung übersinnlicher Mächte: ihrer magischen Unterwerfung unter menschliche Zwecke oder ihrer Gewinnung dadurch, daß man sich ihnen nicht etwa durch Übung irgendwelcher ethischen Tugenden, sondern durch Befriedigung ihrer egoistischen Wünsche angenehm macht, tritt jetzt die Befolgung des religiösen Gesetzes als das spezifische Mittel, das Wohlwollen des Gottes zu erringen. [167] Siehe unten, S. 190 ff.
Nicht freilich erst mit dieser Auffassung beginnt eine religiöse Ethik. Im Gegenteil gibt es eine solche, und zwar von höchst wirksamer Art, gerade in Gestalt von rein magisch motivierten Normen des Verhaltens, deren Verletzung als religiöser Greuel gilt. Bei entwickeltem Geisterglauben wird ja jeder spezifische, zumal jeder nicht alltägliche, Lebensprozeß dadurch hervorgebracht, daß ein spezifischer Geist in den Menschen hineingefahren ist: bei Krankheit ebenso wie etwa bei Geburt, Pubertät, Menstruation. Dieser Geist kann nun als „heilig“ oder als „unrein“ gelten – das ist wechselnd und oft zufällig bedingt, gilt aber im praktischen Effekt fast völlig gleich. Denn jedenfalls muß man es unterlassen, diesen Geist zu reizen und dadurch zu veranlassen, entweder in den unberufenen Störer selbst hineinzufahren oder diesen oder auch den jeweils von ihm Besessenen magisch zu schädigen. Also wird der Betreffende physisch und sozial gemieden und muß andere, ja unter Umständen die Berührung seiner eigenen Person meiden, aus diesem Grunde z. B. zuweilen – wie polynesische charismatische Fürsten – vorsichtig gefüttert werden, um seine eigene Speise nicht [168]magisch zu infizieren.
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Besteht einmal diese Vorstellungsweise, dann können natürlich auch durch zauberische Manipulationen von Menschen, welche das magische Charisma besitzen, Gegenstände oder Personen für andere mit der Qualität des „Tabu“ versehen werden: ihre Berührung würde bösen Zauber zur Folge haben. Diese charismatische Tabuierungsgewalt ist nun vielfach ganz rational und systematisch ausgeübt worden, in größtem Maßstab besonders im indonesischen und Südseegebiet. Zahlreiche ökonomische und soziale Interessen: Wald- und Wildschutz (nach Art der vom frühmittelalterlichen König gebannten Forsten), [168] „For example, sacred kings and priests in Polynesia were not allowed to touch food with their hands, and had therefore to be fed by others“. (Frazer, James George, The Golden Bough. A Study in Magic and Religion, Part II: Taboo and the Perils of the Soul, 3. AufI. – London: MacMillan & Co. Ltd. 1911, S. 138).
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Sicherung von knapp werdenden Vorräten in Teuerungszeiten gegen unwirtschaftlichen Verzehr, Schaffung von Eigentumsschutz, speziell für bevorrechtigtes priesterliches oder adeliges Sondereigentum, Sicherung der gemeinsamen Kriegsbeute gegen individuelles Plündern (so durch Josua im Fall des Achan), Der Forstbann garantierte dem fränkischen König das ausschließliche Nutzungsrecht in seinen Wäldern. In ottonisch-salischer Zeit bildeten die Königsforsten den Kern der materiellen Ausstattung der Reichskirchen.
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sexuelle und persönliche Trennung von Ständen im Interesse der Reinhaltung des Blutes oder der Erhaltung des ständischen Prestige stehen unter der Garantie des Tabu. In der zum Teil unglaublichen Irrationalität seiner, oft gerade für die durch Tabu Privilegierten selbst, qualvoll lästigen Normen zeigt dieser erste und allgemeinste Fall einer direkten Dienstbarmachung der Religion für außerreligiöse Interessen zugleich auch die höchst eigenwillige Eigengesetzlichkeit des Religiösen. Die Rationalisierung des Tabus führt eventuell zu einem System von Normen, nach denen ein für allemal gewisse Handlungen als religiöse Greuel gelten, für welche irgendeine Sühne, unter Umständen die Tötung dessen, der sie beging, eintreten muß, wenn nicht der böse Zauber alle Volksgenossen treffen soll, und es entsteht so ein System tabuistisch garantierter Ethik: Speiseverbote, Verbot der Arbeit an tabuierten „Unglückstagen“ (wie der Sabbat [169]ursprünglich war) Das biblische Buch Josua 7, 1–26 berichtet, daß Achan im eroberten Jericho trotz des Banns Jahwes geplündert habe. Dies habe den Zorn Jahwes auf das gesamte israelitische Volk nach sich gezogen. Josua ließ ihn mitsamt seiner ganzen Familie steinigen.
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oder Heiratsverbote innerhalb bestimmter Personen-, speziell Verwandtenkreise. Immer natürlich in der Art, daß das einmal, sei es aus rationalen oder konkreten irrationalen Gründen: Erfahrungen über Krankheiten und anderen bösen Zauber, üblich Gewordene zum „Heiligen“ wird. In einer anscheinend nicht hinlänglich aufzuklärenden Art haben sich nun tabuartige Normen speziell mit der Bedeutsamkeit gewisser in einem einzelnen Objekt, besonders in Tieren, hausenden Geistern für bestimmte soziale Kreise verknüpft. Daß Tierinkarnationen von Geistern als heilige Tiere zu Kultmittelpunkten lokaler, politischer Verbände werden können, dafür ist Ägypten das hervorragendste Bei[A 247]spiel. Sie und andere Objekte oder Artefakte können aber auch zu Mittelpunkten anderer, je nachdem mehr naturgewachsener oder mehr künstlich geschaffener sozialer Verbände werden. Zu den verbreitetsten hieraus sich entwickelnden sozialen Institutionen gehört der sog. Totemismus: [169] Aus dem babylonischen Festkalender geht hervor, daß der 7., 14., 19., 21. und 28. Tag jeden Monats als „böse Tage“ galten, an denen Könige, Wahrsager und Ärzte gewisse Dinge unterlassen mußten. Hugo Greßmann führte in dem Artikel: Feste und Feiern Israels, in: RGG1, Band 2, 1910, Sp. 863–868, aus, daß ein „Zusammenhang dieser ‚bösen Tage‘, für die bisher der Name Sabbath nicht belegt ist, mit dem israelitischen Sabbath […] zwar keineswegs sicher, aber doch wahrscheinlich“ sei, weil diese Siebenertage in Babylonien und in Israel den Charakter von Ruhetagen hätten (ebd., Sp. 865). Von der Herleitung des biblischen Wortes Sabbat aus dem babylonischen šabattu, der als „Vollmondstag“ gedeutet wurde, distanzierte sich Greßmann.
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eine spezifische Beziehung zwischen einem Objekt, meist einem Naturobjekt, im reinsten Typus: einem Tier, und einem bestimmten Menschenkreise, dem es als Symbol der Verbrüderung, ursprünglich wohl: der durch gemeinsame Verzehrung des Tieres erworbenen, gemeinsamen Besessenheit von dessen „Geist“, gilt. Die inhaltliche Tragweite der Verbrüderung schwankt ebenso wie der Inhalt der Beziehung der Genossen zum Totemobjekt. Bei voll entwickeltem Typus enthalten die ersteren alle Brüderlichkeitspflichten einer exogamen Sippe, die letzteren das Tötungs- und Speiseverbot, außer bei kultischen Mahlen der Gemeinschaft, und eventuell, meist auf Grund des häufigen (aber nicht universellen) Glaubens, von dem Totemtier abzustammen, auch noch andere kultartige Pflichten. Über die Entwicklung dieser weithin über die Erde verbreiteten totemisti[170]schen Verbrüderungen herrscht ungeschlichteter Streit. Totemismus stammt von totam, das in der Sprache der nordamerikanischen Ojibwa-Indianer (einer Gruppe der Algonkin) ein nichtmenschliches Wesen (meist Tier) bezeichnet, das eine Gruppe von Menschen vertritt.
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Für uns muß im wesentlichen genügen: daß das Totem, der Funktion nach, das animistische Gegenstück der Götter jener Kultgenossenschaften ist, welche, wie früher erwähnt, [170] Der schottische Rechtshistoriker John Ferguson MacLennan hatte 1869/70 in seiner Studie: The Worship of Animals and Plants, in: The Fortnightly Review, vol. 6, 1869, S. 407–427, und vol. 7, 1870, S. 194–216, die Bezeichnung „Totemismus“ geprägt. MacLennan setzte ihn in Beziehung zu dem bereits seit längerem bekannten sog. „Fetischismus“. Laut MacLennan handele es sich beim Totemismus um Fetischismus, der jedoch mit drei sozialen Funktionen verknüpft sei: das Totem sei mit einem Stamm verbunden, werde in mütterlicher Linie weitergegeben und schreibe Heiraten außerhalb der Gruppe, Exogamie, vor (ebd., 1869, S. 422). William Robertson Smith und Émile Durkheim schlossen sich dieser Sicht an. 1910 wies Alexander A. Goldenweiser in einer umfassenden kritischen Abhandlung (Totemism, an Analytical Study, in: The Journal of American Folk-Lore, vol. 23, 1910, S. 179–293) nach, daß es sich bei Totemismus um ein „Konglomerat“ (ebd., S. 266) unterschiedlicher Erscheinungen handele, die nicht notwendig zusammen vorkämen.
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mit den verschiedensten Arten von sozialen Verbänden sich deshalb zu verbinden pflegen, weil das nicht „versachlichte“ Denken auch einen rein künstlichen und sachlichen „Zweckverband“ der persönlichen und religiös garantierten Verbrüderung nicht entbehren konnte. Daher attrahierte die Reglementierung des Sexuallebens insbesondere, in deren Dienst die Sippe sich stellte, überall eine tabuartige religiöse Garantie, wie sie am besten die Vorstellungen des Totemismus boten. Aber das Totem ist nicht auf sexualpolitische Zwecke und überhaupt nicht auf die „Sippe“ beschränkt und keineswegs notwendig auf diesem Gebiet zuerst erwachsen, sondern eine weitverbreitete Art, Verbrüderungen unter magische Garantie zu stellen. Der Glaube an die einst universelle Geltung und erst recht die Ableitung fast aller sozialen Gemeinschaften und der gesamten Religion aus dem Totemismus, ist als eine gewaltige Übertreibung heute wohl durchweg aufgegeben. Allein für die magisch geschützte und erzwungene Arbeitsteilung der Geschlechter und die Berufsspezialisierung und damit für die Entwicklung und Reglementierung des Tausches als regulärer Binnenerscheinung (im Gegensatz zum Außenhandel) haben diese Motive eine oft sehr bedeutende Rolle gespielt. Siehe WuG1, S. 187 (MWG I/22-1) und WuG1, S. 219 f. (MWG I/22-1).
Die Tabuierungen, speziell die magisch bedingten Speiseverbote, zeigen uns eine neue Quelle der so weittragenden Bedeutung des Instituts der Tischgemeinschaft. Die eine war, wie wir [171]sahen,
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die Hausgemeinschaft. Die zweite ist die durch den tabuistischen Unreinheitsgedanken bedingte Beschränkung der Tischgemeinschaft auf Genossen der gleichen magischen Qualifikation. Beide Quellen der Tischgemeinschaft können in Konkurrenz und Konflikt miteinander geraten. Wo beispielsweise die Frau einer anderen Sippe zugerechnet wird als der Mann, darf sie sehr häufig den Tisch mit dem Mann nicht teilen, unter Umständen ihn gar nicht essen sehen. Ebenso aber darf der tabuierte König oder dürfen tabuierte privilegierte Stände (Kasten) oder religiöse Gemeinschaften weder den Tisch mit anderen teilen noch dürfen die höher privilegierten Kasten bei ihren Kultmahlen oder unter Umständen sogar bei ihrer täglichen Mahlzeit den Blicken „unreiner“ Außenstehender ausgesetzt sein. Andererseits ist daher die Herstellung der Tischgemeinschaft sehr oft eins derjenigen Mittel, religiöse und damit unter Umständen auch ethnische und politische Verbrüderung herbeizuführen. Der erste große Wendepunkt in der Entwicklung des Christentums war die in Antiochia zwischen Petrus und den unbeschnittenen Proselyten hergestellte Tischgemeinschaft, auf welche Paulus daher in seiner Polemik gegen Petrus das entscheidende Gewicht legt. [171] Siehe WuG1, S. 196 (MWG I/22-1).
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Außerordentlich groß sind andererseits die Hemmungen des Verkehrs und der Entwicklung der Marktgemeinschaft ebensowie wie anderer sozialer Vergemeinschaftung, welche durch tabuartige Normen geschaffen werden. Die absolute Unreinheit des außerhalb der eigenen [A 248]Konfes[172]sion Stehenden, wie sie der Schiitismus im Islam kennt, Antiochia war eine Stadt in Syrien am Orontes, von Seleukos I. Nikator 300 v. Chr. gegründet, Hauptstadt des Seleukidenreiches. Hierher flohen Anhänger Jesu, als sie in Jerusalem verfolgt wurden. Hier wurden sie zuerst „Christen“ genannt (Apostelgeschichte 11, 19–21). In Antiochia gab es nach der Bekehrung von Heiden zum Glauben an Jesus Christus die ersten Konflikte mit jüdischen Christen über die Verbindlichkeit des jüdischen Gesetzes (Galater 2, 11 f.). Auf dem sog. „Apostelkonzil von Jerusalem“ um 48/49 n. Chr. (Galater 2 sowie Apostelgeschichte 15) beschlossen die Vertreter heidenchristlicher Gemeinden (Paulus und Barnabas) mit den Leitern der palästinischen Urgemeinde (den sog. „Säulen“ Jakobus, Petrus und Johannes), daß in heidenchristlichen Gemeinden das Evangelium nicht mit einer Verpflichtung auf die jüdische Lebensweise verbunden sein müsse. In Galater 2, 12–14 berichtete Paulus, daß Petrus in der Gemeinde von Antiochia zunächst mit unbeschnittenen Heidenchristen Tischgemeinschaft gehalten habe, diese aber aufgab, als Mitglieder der Gemeinde in Jerusalem, die von dem Herrenbruder Jakobus geführt wurde, nach Antiochia kamen. Paulus stellte ihn zur Rede: „So du, der du ein Jude bist, heidnisch lebest, und nicht jüdisch, warum zwingest du denn die Heiden, jüdisch zu leben?“ (Galater 2, 14). Die Rüge des Paulus galt nicht der Übertretung der jüdischen Speisegebote, sondern der Heuchelei des Petrus.
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hat für seine Anhänger bis in die Neuzeit hinein, wo man durch Fiktionen aller Art abhalf, elementare Verkehrshindernisse gebildet. Die Tabuvorschriften der indischen Kasten haben mit weit elementarerer Gewalt den Verkehr zwischen den Personen gehemmt, als das Fung-schui-System des chinesischen Geisterglaubens dem Güterverkehr sachliche Hindernisse in den Weg gelegt hat.[172] Bei Ignaz Goldziher heißt es über die Schiiten: „Sie glauben durch die Berührung von Christen verunreinigt zu werden. Selbst ein Gefäß, aus dem ein Christ getrunken, oder aus dem er gegessen hat oder auch nur während des Essens benutzt hat, wird von ihnen niemals mehr benutzt, sie zerstören es allsogleich“. (Goldziher, Ignaz, Vorlesungen über den Islam. – Heidelberg: Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung 1910, S. 245; hinfort: Goldziher, Vorlesungen über den Islam). Goldziher stützte sich auf die Beobachtungen des amerikanischen Forschers Selah Merill, der im Auftrag der American Palestine Exploration Society in den Jahren 1875–1877 Feldforschungen bei libanesischen Bauern betrieben und diese 1881 in London unter dem Titel „East of the Jordan“ publiziert hatte. Goldziher nannte in einer Fußnote zusätzliche Beispiele aus der Ethnographie, die die „Unreinheit“ von Nicht-Muslimen in der Sicht der Schiiten belegten (ebd., S. 276).
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Natürlich zeigen sich die Schranken der Macht des Religiösen gegenüber den elementaren Bedürfnissen des Alltags auch auf diesem Gebiet: „Die Hand eines Handwerkers ist (nach indischem Kastentabu) immer rein“, Vgl. oben, S. 164, Anm. 83.
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ebenso Minen und Ergasterien In Baudhayanas Rechtsbuch (I,5,9) heißt es :„The Veda declares that the hand of an artisan is always pure, so is every vendible commodity exposed for sale and food obtained by begging, which a student holds in his hand“. (Zitiert nach Bühler, Georg, The Sacred Laws of the Âryas as taught in the schools of Âpastamba, Gautama, Vâsishtha, and Baudhâyana, Part II (The Sacred Books of the East, vol. 14). – Oxford: Clarendon Press 1882, S. 170).
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und was im Laden zum Verkauf ausliegt oder was ein Bettelstudent (asketischer Brahmanenschüler) an Nahrung in seine Hand nimmt. Nur das sexuelle Kastentabu pflegt in sehr starkem Maße zugunsten der polygamen Interessen der Besitzenden durchbrochen zu werden: die Töchter niederer Kasten waren in begrenztem Maß meist als Nebenweiber zugelassen. Und wie das Fung-schui in China, so wird auch das Kastentabu in Indien durch die bloße Tatsache des sich durchsetzenden Eisenbahnverkehrs langsam aber sicher illusorisch gemacht. Die Kastentabuvorschriften hätten den Kapitalismus formell nicht unmöglich gemacht. Aber daß der ökonomische Rationalismus da, wo die Tabuierungsvorschriften eine derartige Macht einmal gewonnen hatten, nicht seine bodenständige Heimat [173]finden konnte, liegt auf der Hand. Dazu waren trotz aller Erleichterungen schon die inneren Hemmungen der arbeitsteiligen Zusammenfügung von Arbeitern getrennter Berufe und das heißt: getrennter Kasten, in einem Betriebe doch immerhin zu wirksam. Die Kastenordnung wirkt, wenn auch nicht den positiven Vorschriften, so doch ihrem „Geiste“ und ihren Voraussetzungen nach, in der Richtung fortgesetzter, immer weiterer handwerksmäßiger Arbeitsspezialisierung. Und die spezifische Wirkung der religiösen Weihe der Kaste auf den „Geist“ der Wirtschaftsführung ist eine dem Rationalismus gerade entgegengesetzte. Die Kastenordnung macht die einzelnen arbeitsteiligen Tätigkeiten, soweit sie diese zum Unterschiedsmerkmal der Kasten nimmt, zu einem religiös zugewiesenen und daher geweihten „Beruf“. Jede, auch die verachtetste, Kaste Indiens sieht in ihrem Gewerbe – das Diebsgewerbe nicht ausgenommen – eine von spezifischen Göttern oder doch von einem spezifischen göttlichen Willen gestiftete und ihr ganz speziell zugewiesene Lebenserfüllung und speist ihr Würdegefühl aus der technisch vollendeten Ausführung dieser „Berufsaufgabe“. Aber diese „Berufsethik“ ist, mindestens für das Gewerbe, in einem bestimmten Sinn spezifisch „traditionalistisch“ und nicht rational. Ihre Erfüllung und Bewährung findet sie auf dem Gebiet der gewerblichen Produktion in der absoluten qualitativen Vollkommenheit des Produkts. Fern liegt ihr der Gedanke der Rationalisierung der Vollzugsweise, die aller modernen rationalen Technik oder der Systematisierung des Betriebs zur rationalen Erwerbswirtschaft, die allem modernen Kapitalismus zugrunde liegt. Die ethische Weihe dieses Wirtschaftsrationalismus, des „Unternehmers“, gehört der Ethik des asketischen Protestantismus an. Die Kastenethik verklärt den „Geist“ des Handwerks, den Stolz nicht auf den in Geld qualifizierten Wirtschaftsertrag oder auf die in rationaler Arbeitsverwendung sich bewährenden Wunder der rationalen Technik, sondern den Stolz auf die in der Schönheit und Güte des Produkts sich bewährende persönliche, virtuose, kastenmäßige Handfertigkeit des Produzenten. Für die Wirkung der indischen Kastenordnung im speziellen war – wie zur Erledigung dieser Zusammenhänge schon hier erwähnt sein mag In der Antike manufakturartig organisierte Betriebe mit Arbeitsteilung und größerer Arbeiterzahl.
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– vor allem [174]entscheidend der Zusammenhang mit dem Seelenwanderungsglauben, daß die Verbesserung der Wiedergeburtschancen nur durch Bewährung innerhalb der für die eigene Kaste vorgeschriebenen Berufstätigkeit möglich ist. Jedes Heraustreten aus der eigenen Kaste, insbesondere jeder Versuch, in die Tätigkeitssphären anderer, höherer, Kasten einzugreifen, bringt bösen Zauber und die Chance ungünstiger Wiedergeburt mit sich. Dies erklärt es, daß, nach häufigen Beobachtungen in Indien, gerade die untersten Kasten – denen natürlich die Besserung ihrer Wiedergeburtschancen [A 249]besonders am Herzen liegt – am festesten an ihren Kasten und den Pflichten hingen und (im ganzen) nie daran dachten, die Kastenordnung etwa durch „soziale Revolutionen“ oder „Reformen“ umstürzen zu wollen. Das biblische, auch von Luther stark betonte: „bleibe in deinem Beruf“, [173] Weber kommt unten im Text genauer darauf zu sprechen, S. 255 ff., S. 299 f., S. 399 und S. 438.
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ist hier zu einer religiösen Kardinalpflicht erhoben und durch schwere religiöse Folgen sanktioniert. [174] Im ersten Brief des Paulus an die Gemeinde von Korinth finden sich mehrere Stellen, die das Verbleiben in dem Beruf bzw. Stand den Gläubigen nahelegen. In 1. Korinther 7, 17 heißt es: „Doch wie einem jeglichen Gott hat ausgeteilet, wie einen jeglichen der Herr berufen hat, also wandle er“. 1. Korinther 7, 20 empfiehlt: „Ein jeglicher bleibe in dem Beruf, darinnen er berufen ist". 1. Korinther 7, 24 legt nahe: „Ein jeglicher, lieben Brüder, worinnen er berufen ist, darinnen bleibe er bei Gott“. Bereits das nachbiblische Buch Jesus Sirach kennt die Vorschrift (11, 20 f.). „Bleibe in Gottes Wort, und übe dich drinnen, und beharre in deinem Beruf; […] Vertraue du Gott, und bleibe in deinem Beruf“. Zu Luthers Stellung zum Beruf äußerte sich Weber in seiner „Protestantischen Ethik“ (Weber, Protestantische Ethik I, S. 35–54), dort mit der entsprechenden Referenzliteratur.
Wo der Geisterglauben zum Götterglauben rationalisiert wird, also nicht mehr die Geister magisch gezwungen, sondern Götter kultisch verehrt und gebeten sein wollen, schlägt die magische Ethik des Geisterglaubens in die Vorstellung um: daß denjenigen, welcher die gottgewollten Normen verletzt, das ethische Mißfallen des Gottes trifft, welcher jene Ordnungen unter seinen speziellen Schutz gestellt hat. Es wird nun die Annahme möglich, daß es nicht Mangel an Macht des eigenen Gottes sei, wenn die Feinde siegen oder anderes Ungemach über das eigene Volk kommt, sondern daß der Zorn des eigenen Gottes über seine Anhänger durch die Verletzungen der von ihm geschirmten ethischen Ordnungen erregt, die eigenen Sünden also daran schuld seien und daß der Gott mit einer ungünstigen Entscheidung gerade sein Lieblings[175]volk hat züchtigen und erziehen wollen. Immer neue Missetaten Israels, eigene der jetzigen Generation oder solche der Vorfahren, wissen seine Propheten aufzufinden, auf welche der Gott mit seinem schier unersättlichen Zorn reagiert, indem er sein eigenes Volk anderen, die ihn gar nicht einmal anbeten, unterliegen läßt. Dieser Gedanke, in allen denkbaren Abwandlungen überall verbreitet, wo die Gotteskonzeption universalistische Züge annimmt, formt aus den magischen, lediglich mit der Vorstellung des bösen Zaubers operierenden Vorschriften die „religiöse Ethik“: Verstoß gegen den Willen des Gottes wird jetzt eine ethische „Sünde“, die das „Gewissen“ belastet, ganz unabhängig von den unmittelbaren Folgen. Übel, die den einzelnen treffen, sind gottgewollte Heimsuchungen und Folgen der Sünde, von denen der Einzelne durch ein Gott wohlgefälliges Verhalten: „Frömmigkeit“, befreit zu werden, „Erlösung“ zu finden, hofft. Fast nur in diesem elementaren rationalen Sinn der Befreiung von ganz konkreten Übeln tritt der folgenschwere Gedanke der „Erlösung“ noch im Alten Testament auf. Und die religiöse teilt mit der magischen Ethik zunächst durchaus auch die andere Eigenart: daß es ein Komplex oft höchst heterogener, aus den allerverschiedensten Motiven und Anlässen entstandener, nach unserer Empfindungsart „Wichtiges“ und „Unwichtiges“ überhaupt nicht scheidender, Gebote und Verbote ist, deren Verletzung die „Sünde“ konstituiert. Nun aber kann eine Systematisierung dieser ethischen Konzeptionen eintreten, welche von dem rationalen Wunsch: durch gottgefälliges Tun sich persönliche äußere Annehmlichkeiten zu sichern, bis zu der Auffassung der Sünde als einer einheitlichen Macht des Widergöttlichen führt, in deren Gewalt der Mensch fällt, der „Güte“ aber als einer einheitlichen Fähigkeit zur heiligen Gesinnung und einem aus ihr einheitlich folgenden Handeln und der Erlösungshoffnung als einer irrationalen Sehnsucht, „gut“ sein zu können lediglich oder doch primär um des bloßen beglückenden Besitzes des Bewußtseins willen, es zu sein. Eine lückenlose Stufenfolge der allerverschiedensten, immer wieder mit rein magischen Vorstellungen gekreuzten Konzeptionen führt zu diesen sehr selten und von der Alltagsreligiosität nur intermittierend in voller Reinheit erreichten Sublimierungen der Frömmigkeit als einer kontinuierlich, als konstantes Motiv wirkenden Grundlage einer spezifischen Lebensführung. Noch dem Vorstellungskreis des Magischen gehört jene Konzepti[176]on der „Sünde“ und „Frömmigkeit“ als einheitlicher Mächte an, welche beide als eine Art von materiellen Substanzen auffaßt, welche das Wesen des „böse“ oder „gut“ Handelnden nach Art eines Gifts oder eines dagegen wirkenden Heilserums oder nach Art etwa einer Körpertemperatur auffassen, wie sich das in Indien findet: „tapas“, die (durch Askese erreichte) Macht des Heiligen, die ein Mensch im Leibe hat, heißt ursprünglich jene „Hitze“, welche der Vogel beim Brüten, der Weltschöpfer bei der Erzeugung der Welt, der Magier bei der durch Mortifikation erzeugten heiligen Hysterie, welche zu übernatürlichen Fähigkeiten führt, in sich entwickelt. Von der Vor[A 250]stellung:
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daß der gut Handelnde eine besondere „Seele“ göttlicher Provenienz in sich aufgenommen habe, und weiter bis zu den später zu erörternden Formen[176]A: den durch die Vorstellungen:
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des innerlichen „Habens“ des Göttlichen ist ein weiter Weg. Und ebenso von der Auffassung der „Sünde“ als eines magisch zu kurierenden Gifts im Leibe des Übeltäters durch die Vorstellung eines bösen Dämons, von dem er besessen ist, bis zur teuflischen Macht des „radikal Bösen“,[176] Siehe unten, S. 313 f. und 324 ff.
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mit der er kämpft und der er in Gefahr ist zu verfallen. Der Begriff des „radikal Bösen" findet sich in Immanuel Kants Schrift: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hg. von Karl Vorländer, 3. Aufl. (Philosophische Bibliothek Band 45). – Leipzig: Dürr’sche Buchhandlung 1903, In dem Absatz „Der philosophischen Religionslehre erstes Stück“ legte Kant dar, daß es im Menschen zwei Triebe gibt, einen sittlichen und einen sinnlichen. Das natürliche Wesen des Menschen läßt seine sinnlichen Triebe überwiegen. Daraus folgt, daß der Mensch einen natürlichen, angeborenen Hang zum Bösen hat, was Kant das „radikal Böse“ nannte (ebd., S. 33). Aufgabe des Menschen ist es, dem sittlichen Prinzip zu folgen, wobei ihm der Glaube an eine göttliche Macht hilft.
Bei weitem nicht jede religiöse Ethik hat den Weg bis zu diesen Konzeptionen durchlaufen. Die Ethik des Konfuzianismus kennt das radikal Böse und überhaupt eine einheitliche widergöttliche Macht der „Sünde“ nicht. Die hellenische und römische ebenfalls nicht. In beiden Fällen hat außer einem selbständigen organisierten Priestertum auch jene historische Erscheinung gefehlt, welche nicht unbedingt immer, aber allerdings normalerweise die Zentralisierung der Ethik unter dem Gesichtspunkt religiöser Erlösung schafft: die Prophetie. In Indien hat die Prophetie nicht gefehlt, [177]aber – wie noch zu erörtern
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– einen sehr spezifischen Charakter gehabt, und dementsprechend auch die dort sehr hoch sublimierte Erlösungsethik. Prophetie und Priestertum sind die beiden Träger der Systematisierung und Rationalisierung der religiösen Ethik. Daneben aber fällt als dritter, die Entwicklung bestimmender Faktor der Einfluß derjenigen ins Gewicht, auf welche Propheten und Priester ethisch zu wirken suchen: der „Laien“. Wir müssen die Art des Mit- und Gegeneinanderwirkens dieser drei Faktoren zunächst ganz allgemein in Kürze erörtern. [177] Siehe unten, S. 189 f.
4.j[177]A: § 4. „Prophet“.kIn A folgt eine Inhalts- und Seitenübersicht.
[177]A: § 4.
In A folgt eine Inhalts- und Seitenübersicht.
Was ist, soziologisch gesprochen, ein Prophet? Wir unterlassen hier, die Frage der „Heilbringer“, welche Breysig
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s. Zt. angeschnitten hat, allgemein zu erörtern. Nicht jeder anthropomorphe Gott ist ein vergötterter Bringer äußeren oder inneren Heils und bei weitem nicht jeder Bringer von solchem ist zu einem Gott oder auch nur Heiland geworden, so weitverbreitet die Erscheinung auch gewesen ist. Laut Kurt Breysig, Entstehung des Gottesgedankens, ist der Gottesgedanke nicht aus einer Personifikation von Naturgewalten abzuleiten, sondern geht auf persönliche Heilbringer zurück. Als Heilbringer verstand er „eine Gestalt der Überlieferung […], von der man menschen-, oder teils menschen-, teils tierhaftes Auftreten auf der Erde erzählt, der man schon während ihres irdischen Lebens übermenschliche Kräfte beimißt und die zumeist nach ihrem Entschwinden in die Gestalt eines Geistes von sehr hohen Kräften übergeht“ (ebd., S. 6). Ihr wird keine kultische Verehrung zuteil (ebd., S. 7).
Wir wollen hier unter einem „Propheten“ verstehen einen rein persönlichen Charismaträger, der kraft seiner Mission eine religiöse Lehre oder einen göttlichen Befehl verkündet. Wir wollen dabei hier keinen grundsätzlichen Unterschied darnach machen: ob der Prophet eine (wirklich oder vermeintlich) alte Offenbarung neu verkündet oder füglich neue Offenbarungen zu bringen beansprucht, ob er also als „Religionserneuerer“ oder als „Religionsstifter“ auftritt. Beides kann ineinander übergehen, und insbesondere [178]ist nicht die Absicht des Propheten selbst maßgebend dafür, ob aus seiner Verkündigung eine neue Gemeinschaft entsteht; dazu können auch die Lehren unprophetischer Reformatoren den Anlaß geben. Auch ob mehr die Anhängerschaft an die Person wie bei Zarathustra, Jesus, Muhammed oder mehr an die Lehre als solche – wie bei Buddha und der israelitischen Prophetie – hervortritt, soll uns in diesem Zusammenhang nichts angehen. Entscheidend ist für uns die „persönliche“ Berufung. Das scheidet ihn vom Priester. Zunächst und vor allem, weil dieser im Dienst einer heiligen Tradition, der Prophet dagegen kraft persönlicher Offenbarung oder Gesetzes Autorität beansprucht. Es ist kein Zufall, daß[,] mit verschwindenden Ausnahmen, kein Prophet aus der Priesterschaft
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hervorgegangen ist. Die indischen Heilslehrer sind regelmäßig keine Brahmanen, die israelitischen keine Priester, und nur Zarathustra könnte vielleicht aus Priesteradel stammen.[178] In A folgt: auch nur
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Im Gegensatz zum Propheten spendet der Priester Heilsgüter kraft seines Amts. Freilich kann das Priesteramt an ein persönliches Charisma geknüpft sein. Aber auch dann bleibt der Priester als Glied eines vergesellschafteten [A 251]Heilsbetriebs durch sein Amt legitimiert, während der Prophet ebenso wie der charismatische Zauberer lediglich kraft persönlicher Gabe wirkt. Vom Zauberer unterscheidet er sich dadurch, daß er inhaltliche Offenbarungen verkündet, der Inhalt seiner Mission nicht in Magie, sondern in Lehre oder Gebot besteht. Äußerlich ist der Übergang flüssig. Der Zauberer ist sehr häufig Divinationskündiger, zuweilen nur dies. Die Offenbarung funktioniert in diesem Stadium kontinuierlich als Orakel oder als Traumeingebung. Ohne Befragung der Zauberer kommen Neuregelungen von Gemeinschaftsbeziehungen ursprünglich kaum irgendwo zustande. In Teilen Australiens sind es noch heute nur die im Traum eingegebenen Offenbarungen von Zauberern, welche den Versammlungen der Sippenhäupter zur Annahme unterbreitet werden, und es ist sicherlich eine „Säkularisation“, wenn dies dort vielfach schon jetzt fort[179]gefallen ist. [178] Zarathustra bezeichnete sich in den Gathas als Priester: „der ich, der Priester, durch Aša [Wahrheit, Ordnung] die rechten Pfade“ kennen lerne, Yasna 33.6. (Zitiert nach Bartholomae, Gatha's des Awesta, S. 36).
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Und ferner: ohne jede charismatische, und das heißt normalerweise: magische, Beglaubigung hat ein Prophet nur unter besonderen Umständen Autorität gewonnen. Zum mindesten die Träger „neuer“ Lehren haben ihrer fast immer bedurft. Es darf keinen Augenblick vergessen werden, daß Jesus seine eigene Legitimation und den Anspruch, daß er und nur er den Vater kenne, daß nur der Glaube an ihn der Weg zu Gott sei,[179] Baldwin Spencer und Francis James Gillen haben in Australien religiöse Spezialisten („men skilled in magic“) beschrieben. Diese können in Kontakt zur Ahnen- und Geisterwelt treten. In Träumen erhalten sie Offenbarungen spiritueller Wesen, die sie auf Sippenversammlungen vortragen. Laut den beiden Autoren hat der Kontakt der australischen Ureinwohner zur europäischen Kolonialmacht zum Verschwinden dieser Erscheinung geführt. (Spencer, Baldwin, Gillen, F. J., The Native Tribes of Central Australia. – London: Macmillan and Co., Ltd. 1899, S. 278–281, Zitat: S. 281).
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durchaus auf das magische Charisma stützte, welches er in sich spürte, daß dieses Machtbewußtsein weit mehr als irgend etwas anderes es zweifellos auch war, was ihn den Weg der Prophetie betreten ließ. Die Christenheit des apostolischen und nachapostolischen Zeitalters kennt den wandernden Propheten als eine reguläre Erscheinung. In Johannes 14, 6–7 heißt es: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. Wenn ihr mich kennetet, so kennetet ihr auch meinen Vater. Und von nun an kennet ihr ihn, und habt ihn gesehen“.
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Immer wird dabei der Beweis des Besitzes der spezifischen Gaben des Geistes, bestimmter magischer oder ekstatischer Fähigkeiten verlangt. Sehr oft wird die Divination ebenso wie die magische Therapeutik und Beratung „berufsmäßig“ ausgeübt. So von den im Alten Testament, besonders in den Chroniken Beide Zeitspannen zusammen umfassen den Zeitraum des Frühchristentums. Als „apostolisches Zeitalter“ wird die Zeitspanne vom Tod Jesu bis zur Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. benannt; das „nachapostolische Zeitalter“ dauerte bis zum Aufkommen der ersten gnostischen Bewegungen, bis ca. Mitte des zweiten Jahrhunderts. Als Jesus seine Jünger aussandte, um zu heilen und predigen, gebot er ihnen, auf jede Vorsorge zu verzichten und ganz darauf zu vertrauen, daß sie unterwegs Speise, Trank und Unterkunft erhalten (Lukas 10, 5–7). Die Didache (vgl. unten, S. 281, Anm. 40) kannte noch Wanderpropheten bzw. -apostel. (Didache 11, 1 f.).
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und prophetischen Büchern, massenhaft erwähnten „Propheten“ (nabi, nabijim). Aber eben von ihnen unterscheidet sich der Prophet im hier gemeinten Sinn des Worts rein ökonomisch: durch die Unentgeltlichkeit seiner [180]Prophetie. Die Bezeichnung „Chronik“ stammt von dem Kirchenlehrer Hieronymos (um 347–419). Die beiden Geschichtsbücher mit der hebräischen Überschrift „[Buch der] Tagesbegebenheiten“ im Alten Testament stammen aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert.
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Zornig wehrt sich Amos dagegen, ein „nabi“ genannt zu werden. [180] Alttestamentliche Prophetenbücher polemisieren wiederholt gegen nebîʾîm. Micha wirft ihnen vor, Heil gegen Bezahlung zu verkünden (Micha 3, 3).
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Und der gleiche Unterschied besteht auch gegenüber den Priestern. Der typische Prophet propagiert die „Idee“ um ihrer selbst willen, nicht – wenigstens nicht erkennbar und in geregelter Form – um Entgelts willen. Die Unentgeltlichkeit der prophetischen Propaganda, z. B. der ausdrücklich festgehaltene Grundsatz: Amos 7, 14: „Amos antwortete und sprach zu Amazja: Ich bin kein Prophet, noch keines Propheten Sohn, sondern ich bin ein Hirt, der Maulbeeren ablieset“. In seiner Judentumsstudie bemerkte Weber: „Damit war offenbar gemeint: ein berufsmäßig geschulter Ekstatiker, der daraus ein Gewerbe macht“. (Weber, Judentum II, S. 372).
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daß der Apostel, Prophet, Lehrer des alten Christentums kein Gewerbe aus seiner Verkündigung mache, nur kurze Zeit die Gastfreundschaft seiner Getreuen in Anspruch nehme, Dieser Grundsatz kommt an mehreren Stellen der Didache vor. „Jeder Apostel, der zu euch kommt, soll wie der Herr aufgenommen werden. Er soll aber nur einen Tag bleiben, wems Not thut, auch den anderen [Tag], wenn er aber drei [Tage] bleibt, so ist er ein falscher Prophet“ (11, 4 f.). In 11, 6 heißt es: „Wenn der Apostel fortgeht, soll er nichts mitnehmen als Brot, bis er seine Herberge erreicht; fordert er dagegen Geld, so ist er ein falscher Prophet“. 11, 12 lautet: „Wer aber im Geiste sagt: Gieb mir Geld oder etwas anderes, so höret nicht auf ihn […]“. (Zitate nach: Renesse, Emil von, Die Lehre der zwölf Apostel. – Giessen: J. Ricker'sche Buchhandlung 1897; hinfort: Renesse, Lehre der zwölf Apostel). Der herumreisende Apostel Paulus verzichtete ebenfalls auf sein Recht, auf Kosten der Gemeinde zu essen und zu trinken (1. Korinther 9, 13–18).
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entweder von seiner Hände Arbeit oder (wie der Buddhist) von dem ohne ausdrückliche Bitte Gegebenen leben muß, wird in den Episteln des Paulus (und, in jener anderen Wendung, in der buddhistischen Mönchsregel)[180]A: nehmen,
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immer erneut mit größtem Nachdruck betont („wer nicht arbeitet, soll nicht essen“ Im „Sutra der Befreiung" (Pratimôkscha Sûtra, dem „kanonischen Compendium der buddhistischen Disciplin und Casuistik“), im „Buch der dreizehn Vorschriften“ und im Ordinationsformular wird der buddhistische Mönch darauf verpflichtet, nur von dem zu leben, was ihm freiwillig als Almosen geschenkt wird. (Vgl. Koeppen, Carl Friedrich, Die Religion des Buddha. Erster Band. Die Religion des Buddha und ihre Entstehung. – Berlin: Ferdinand Schneider 1857, S. 357; hinfort: Koeppen, Religion des Buddha). Das Betteln um Lebensmittel ist ihm streng untersagt. Bei Hermann Oldenberg heißt es: „Ein ordinierter Mönch darf nicht nehmen, was ihm nicht gegeben ist, was man Diebstahl nennt – auch nicht einen Grashalm“. (Oldenberg, Hermann, Buddha. Sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde. – Berlin: Wilhelm Hertz (Bessersche Buchhandlung) 1881, S. 358; hinfort: Oldenberg, Buddha).
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gilt den Missionaren) und [181]ist natürlich auch eines der Hauptgeheimnisse des Propagandaerfolges der Prophetie selbst. – 2. Thessalonicher 3, 10: „Und da wir bei euch waren, geboten wir euch solches, daß, so jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen“.
Die Zeit der älteren israelitischen Prophetie, etwa des Elia, ist in ganz Vorderasien und auch in Hellas eine Epoche stark prophetischer Propaganda gewesen. Vielleicht im Anschluß an die Neubildung der großen Weltreiche in Asien und der nach längerer Unterbrechung wieder zunehmenden Intensität des internationalen Verkehrs beginnt, namentlich in Vorderasien, die Prophetie in allen ihren Formen. Griechenland ist damals der Invasion des thrakischen Dionysoskultes ebenso wie der allerverschiedensten Prophetien ausgesetzt gewesen. Neben den halbprophetischen Sozialreformern brachen rein religiöse Bewegungen in die schlichte magische und kultische Kunstlehre der homerischen Priester ein. Emotionale Kulte ebenso wie die emotionale, auf „Zungenreden“ beruhende Prophetie und die Schätzung der Rauschekstasen brachen die Entwicklung von theologisierendem Rationalismus (Hesiod) und den Anfängen der kosmogonischen und philosophischen Spekulationen, der philosophischen Geheimlehren und Erlösungsreligionen und gingen parallel mit der überseeischen Kolonisation und vor allem der Polisbildung und Umbildung [A 252]auf der Basis des Bürgerheeres. Wir haben hier diese von Rohde
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glänzend analysierten Vorgänge des 8. und 7. Jahrhunderts, die teilweise bis ins 6. und selbst 5. Jahrhundert hinabreichen – also zeitlich sowohl der jüdischen wie der persischen wie der indischen Prophetie, wahrscheinlich auch den uns nicht mehr bekannten vorkonfuzianischen Leistungen der chinesischen Ethik darin entsprachen, – nicht zu schildern. Sowohl was die ökonomischen Merkmale: Gewerbsmäßigkeit oder nicht, betrifft, und was das Vorhandensein einer „Lehre“ anlangt, sind diese hellenischen „Propheten“ untereinander sehr verschieden. Auch der Hellene (Sokrates) unterschied gewerbsmäßige Lehre und unentgeltliche Ideenpropaganda.[181] Max Weber bezieht sich auf Rohde, Psyche I und II.
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Und auch in Hellas war die einzige wirkliche Gemeindereligiosität: die orphische und [182]ihre Erlösung durch das Merkmal einer wirklichen Heilslehre von aller anderen Art von Prophetie und Erlösungstechnik, insbesondere derjenigen der Mysterien, klar unterschieden. Wir haben hier vor allem die Typen der Prophetie von denen der sonstigen religiösen oder anderen Heilbringer zu sondern. Sokrates spielt auf die Praxis der Sophisten an (speziell Gorgias von Leontinoi, Prodikos von Keos und Hippias von Elis), sich für ihren Unterricht und ihre Vorträge entlohnen zu lassen (Plato, Apologie 19e–20a). Er selbst lehnte Bezahlung als Lehrer ab. Diese Haltung des Sokrates bezeugen Xenophon (Memorabilia Sokratis, erstes Buch, zweites Kapitel: „[…] und pflegte von denen, die Freude an seinem Unterricht hatten, kein Geld zu nehmen“) und Plato (Euthyphron 3d; Apologie 19d–20a, 31b und 33a).
Auch in historischer Zeit oft flüssig ist der Übergang vom „Propheten“ zum „Gesetzgeber“, wenn man unter diesem eine Persönlichkeit versteht, welche im Einzelfall mit der Aufgabe betraut wird, ein Recht systematisch zu ordnen oder neu zu konstituieren, wie namentlich die hellenischen Aisymneten (Solon, Charondas usw.). Es gibt keinen Fall, daß ein solcher Gesetzgeber oder sein Werk nicht mindestens die nachträgliche göttliche Gutheißung erhalten hätte. Ein „Gesetzgeber“ ist etwas anderes als der italienische Podestà, den man von auswärts, nicht um eine soziale Neuordnung zu schaffen, sondern um einen koteriefreien unparteiischen Herrn zu haben, berief, also im Fall von Geschlechterfehden innerhalb der gleichen Schicht. Die Gesetzgeber werden dagegen, wenn nicht immer, so in aller Regel, dann zu ihrem Amt berufen, wenn soziale Spannungen bestehen. Besonders oft, wenn der überall typische früheste Anlaß planvoller „Sozialpolitik“ eingetreten ist: ökonomische Differenzierung der Kriegerschaft durch neuentstandenen Geldreichtum der einen und Schuldverknechtung der andern und eventuell daneben unausgeglichene politische Aspirationen der durch ökonomischen Erwerb reich gewordenen Schichten gegenüber dem alten Kriegeradel. Der Aisymnet soll den Ständeausgleich vollziehen und ein für immer gültiges neues „heiliges“ Recht schaffen und göttlich beglaubigen lassen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Moses eine historische Figur war.
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Ist dies der Fall, dann gehört er seiner Funktion nach zu den Aisymneten.[182] Die These von der Historizität des Mose vertrat etwa C. F. Lehmann-Haupt: „Und daß wir keineswegs genötigt sind, Moses als eine Schöpfung der Sage zu betrachten […]“. (Lehmann-Haupt, C. F., Israel. Seine Entwicklung im Rahmen der Weltgeschichte. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1911, S. 57). Webers Behauptung richtet sich gegen eine Ansicht, wie sie Eduard Meyer öfters vertrat, etwa: „Der Mose, den wir kennen, ist der Ahnherr der Priester von Qadeš, also eine mit dem Kultus in Beziehung stehende Gestalt der genealogischen Sage, nicht eine geschichtliche Persönlichkeit“. (Meyer, Eduard, Die Israeliten und ihre Nachbarstämme. Alttestamentliche Untersuchungen. – Halle: Max Niemeyer 1906, S. 451, Anm. 1; hinfort: Meyer, Die Israeliten).
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Denn die Be[183]stimmungen des ältesten israelitischen heiligen Rechts setzen Geldwirtschaft und dadurch entweder schon entstandene oder doch drohende scharfe Interessengegensätze innerhalb der Eidgenossen voraus. Der Ausgleich oder die Vorbeugung gegen diese Gegensätze (z. B. die Seisachthie des Erlaßjahrs) Mose wurde von Weber bereits in den „Agrarverhältnissen im Altertum“ als Aisymnet im „hellenischen“ Sinn bezeichnet. (Weber, Agrarverhältnisse3, S. 91).
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und die Organisation der israelitischen Eidgenossenschaft mit einem einheitlichen Nationalgott sind sein Werk, welches, dem Charakter nach, zwischen demjenigen Muhammeds und der antiken Aisymneten etwa in der Mitte steht. An dieses Gesetz knüpft sich denn auch, ganz wie an den Ständeausgleich in so vielen anderen Fällen [183] Im Sabbatjahr („Erlaßjahr“), jedem siebten Jahr im jüdischen Kalender, sollte ein Gläubiger seinem „Nächsten oder seinem Bruder“ die Schulden erlassen (5. Mose 15, 1–3). Biblische Rechtsbücher schrieben vor, daß ein Gläubiger seinen israelitischen Schuldknechten nach sechs Jahren Dienst die Freiheit und das Bürgerrecht wiederzugeben habe (2. Mose 21, 2; 5. Mose 15, 12). In seiner Judentumsstudie sprach Weber ebenfalls vom Sabbatjahr als einer „Seisachthie“ (Solons Lastenabschüttelung zur Lösung der Agrarfrage in Attika). (Weber, Judentum I, S. 125).
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(vor allem in Rom und Athen) die Expansionsperiode des neugeeinigten Volks nach außen. Und es war nach Moses in Israel „kein Prophet gleich ihm“;[183]A: Fällen,
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das heißt kein Aisymnet. Nicht nur nicht alle Propheten sind also Aisymneten in jenem Sinn, sondern gerade die üblicherweise sogenannte Prophetie gehört nicht hierher. Gewiß erscheinen auch die späteren Propheten Israels als „sozialpolitisch“ interessiert. Das „Wehe“ ertönt über diejenigen, welche die Armen bedrücken In 5. Mose 34, 10 heißt es nach dem Tod des Mose: „Und es stund hinfort kein Prophet in Israel auf wie Mose, den der HErr erkannt hätte von Angesicht zu Angesicht“.
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und versklaven, Acker an Acker fügen, Amos 5, 11: „Darum, weil ihr die Armen unterdrückt, und nehmet das Korn mit großen Lasten von ihnen […]“.
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die Rechtsfindung gegen Geschenke beugen, Jesaia 5, 8: „Weh denen, die ein Haus an das andre ziehen, und einen Acker zum andern bringen, bis daß kein Raum mehr da sei, daß sie allein das Land besitzen!“
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– durchaus die typischen Ausdrucksformen aller antiken Klassendifferenzierung, verschärft wie überall durch die inzwischen eingetretene Organisation der Polis Jerusalem. Dieser Zug darf aus dem Bilde der meisten israelitischen Propheten nicht gestrichen werden. Um so weniger, als z. B. der indischen Prophetie jeder derartige Zug fehlt, obwohl man die Verhältnisse Indiens zur Zeit Buddhas als den hellenischen des [184]6. Jahrhunderts relativ ziemlich ähnlich bezeichnet hat. 5. Mose 16, 19: „Du sollst das Recht nicht beugen, und sollst auch keine Person ansehen, noch Geschenke nehmen […]“.
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Der Unterschied folgt aus noch zu erörternden [184] Wilhelm Bousset nahm ein „prophetisches Zeitalter“ an, das mehrere Kulturen gleichzeitig prägte: „Es beginnt das prophetische Zeitalter. […] Im achten und siebenten Jahrhundert treten in Israel die großen Propheten auf, vielleicht gleichzeitig, vielleicht beträchtlich älter ist Zarathustra […]. Mit dem siebenten und sechsten Jahrhundert beginnt in Griechenland eine religiöse Bewegung, deren Ausläufer etwa die großen Tragiker, dann Sokrates und vor allem Plato sind, im sechsten Jahrhundert wirkt Buddha in Indien, gleichzeitig etwa Kong-tse […]. Ein merkwürdiges Zusammentreffen. Es ist, als wenn der Baum des religiösen Lebens der Menschheit gleichzeitig an verschiedenen Punkten neue Triebe ansetzt“. (Bousset, Wilhelm, Das Wesen der Religion, 3. Aufl. – Halle: Gebauer-Schwetschke 1906, S. 84 f.). Edvard Lehmann vertrat eine ähnliche Sicht: „So war es zu Buddhas Zeit und ganz ebenso war es bei den Griechen, sobald das Denken voll bewußt geworden war: auch die Epikuräer verstanden das Glück als schmerzfreie Lust und entdeckten nun, daß überall wo Lust ist, auch Schmerz ist, und darum nirgends eigentliches Glück.“ (Lehmann, Edvard, Der Buddhismus als indische Sekte als Weltreligion. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1911, S. 133; hinfort: Lehmann, Der Buddhismus). In einem Brief vom 28. September 1912 hatte Max Weber den Verleger Oskar Siebeck um die Übersendung des Buches von Lehmann über den Buddhismus für seine Studien gebeten. (MWG II/7, S. 680).
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religiösen [A 253]Gründen. Für die israelitische Prophetie sind aber diese sozialpolitischen Argumentationen, was andererseits auch nicht verkannt werden darf, nur Mittel zum Zweck. Sie sind in erster Linie an der auswärtigen Politik als der Tatenbühne ihres Gottes interessiert. Das dem Geist des mosaischen Gesetzes widerstreitende Unrecht, auch das soziale, kommt für sie nur als Motiv und zwar als eins der Motive für Gottes Zorn in Betracht, nicht aber als Grundlage eines sozialen Reformprogramms. Charakteristischerweise ist gerade der einzige soziale Reformtheoretiker: Hesekiel, ein priesterlicher Theoretiker und kaum noch Prophet zu nennen. Siehe unten, S. 189 f.
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Jesus vollends ist an sozialer Reform als solcher schlechterdings nicht interessiert. Zarathustra teilt den Haß seines viehzüchtenden Volks gegen die räuberischen Nomaden, aber er ist zentral religiös, an dem Kampf gegen den magischen Rauschkult und für den Glauben an seine eigene göttliche Mission interessiert, deren Konsequenzen lediglich die ökonomischen Seiten seiner Prophetie sind. Erst recht trifft dies bei Muhammed zu, dessen Sozialpolitik, von Omar in ihre Konsequenzen [185]getrieben, fast ganz an dem Interesse der inneren Einigung der Gläubigen zum Kampf nach außen, zum Zweck der Erhaltung eines Maximum von Gottesstreitern hängt. Diese Ansicht vertrat auch Eduard Meyer: „Für Ezechiel dagegen, den Priester im Prophetenmantel, ist das Priestertum wesentlich: er ist gar kein Prophet, obwohl er sich als solcher geriert, sondern ein schriftstellernder Priester, der das theologische System des Judentums begründet hat“. (Meyer, Elemente der Anthropologie, wie oben, S. 132, Anm. 19, S. 147, Fn. 1).
Den Propheten spezifisch ist, daß sie ihre Mission nicht kraft menschlichen Auftrags übernehmen, sondern usurpieren. Das tun freilich auch die „Tyrannen“ der hellenischen Polis, welche funktionell oft den legalen Aisymneten sehr nahestehen und auch ihre spezifische Religionspolitik (häufig z. B. die Förderung des
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emotionalen, bei der Masse im Gegensatz zum Adel populären Dionysoskults)[185] Fehlt in A; des sinngemäß ergänzt.
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gehabt haben. Aber die Propheten usurpieren ihre Gewalt kraft göttlicher Offenbarung und dem Schwerpunkt nach zu religiösen Zwecken, und die für sie typische religiöse Propaganda liegt ferner in der gerade entgegengesetzten Richtung wie die typische Religionspolitik der hellenischen Tyrannen: in dem Kampf gegen die Rauschkulte. Muhammeds von Grund aus politisch orientierte Religion und seine Stellung in Medina, welche zwischen derjenigen eines italienischen Podestà und etwa der Stellung Calvins in Genf in der Mitte steht, wächst dennoch aus primär rein prophetischer Mission heraus: er, der Kaufmann, war zuerst ein Leiter pietistischer bürgerlicher Konventikel in Mekka, bis er zunehmend erkannte, daß die Organisation des Beuteinteresses der Kriegergeschlechter die gegebene äußere Grundlage für seine Mission sei. [185] Der athenische Tyrann Peisistratos (um 600–528/27 v. Chr.) richtete die großen Dionysien ein und sah in der Verehrung des Gottes Dionysos eine der wichtigsten Aufgaben des Staates. Der Tyrann Kleisthenes von Sikyon (um 600–570 v. Chr.) versuchte, in Sikyon den Kult des Adrastos (eines Heros aus aiolischem Geschlecht in Argos) mit seinen „tragischen Chören“ auf Dionysos zu übertragen (Herodot, Historien V, 63). Auch Periander in Korinth förderte den Dionysoskult. (Herodot, Historien I, 23).
Andererseits ist der Prophet durch Übergangsstufen verbunden mit dem ethischen, speziell dem sozialethischen Lehrer, der, neuer oder erneuten Verständnisses alter Weisheit voll, Schüler um sich sammelt. Private in privaten Fragen, Fürsten in öffentlichen Dingen der Welt berät und eventuell zur Schöpfung ethischer Ordnungen zu bestimmen sucht. Die Stellung des Lehrers religiöser oder philosophischer Weisheit zum Schüler ist namentlich in den asiatischen heiligen Rechten außerordentlich fest und autoritär geregelt [186]und gehört überall zu den festesten Pietätsverhältnissen, die es gibt. Die magische wie die Heldenlehre ist in aller Regel so geordnet, daß der Novize einem einzelnen erfahrenen Meister zugewiesen wird oder ihn sich – etwa so wie der „Leibfuchs“ den „Leibburschen“ im deutschen Couleurwesen
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– aussuchen darf, dem er nun in persönlicher Pietät attachiert ist und der seine Ausbildung überwacht. Alle Poesie der hellenischen Knabenliebe stammt aus dieser Pietätsbeziehung, und bei Buddhisten und Konfuzianern und in aller Mönchserziehung pflegt ähnlich verfahren zu werden. Der Typus ist am konsequentesten in der Stellung des „Guru“ im indischen heiligen Recht durchgeführt, des brahmanischen Lehrers, dessen Lehre und Lebensleitung jeder zur vornehmen Gesellschaft Gehörige jahrelang sich rückhaltlos hingeben muß. Er hat souveräne Gewalt, und das Obödienzverhältnis, welches etwa der Stellung eines Famulus des okzidentalen Magisters entspricht, wird der Familienpietät vorangestellt, ebenso wie die Stellung des Hofbrahmanen (Purohita) offiziell in einer Art geordnet ist, welche dessen Machtstellung weit über die mächtigsten Beichtväter des Abendlandes erhebt. Allein der Guru ist lediglich ein Lehrer, der erworbenes, nicht nur offenbartes, Wissen weiter[A 254]gibt und nicht kraft eigener Autorität, sondern im Auftrag lehrt. Auch der philosophische Ethiker und Sozialreformer aber ist kein Prophet in unserem Sinn, so nahe er ihm stehen kann. Gerade die ältesten, legendenumwobenen Weisen der Hellenen, Empedokles und ähnliche, vor allem Pythagoras, stehen freilich dem Prophetentum am nächsten und haben teilweise auch Gemeinschaften mit eigener Heilslehre und Lebensführung hinterlassen, auch die Heilandsqualität, zum Teil wenigstens, prätendiert. Es sind Typen von Intellektuellenheilslehrern, welche den indischen Parallelerscheinungen vergleichbar sind, nur bei weitem nicht deren Konsequenz in der Abstellung von Leben und Lehre auf „Erlösung“ erreicht haben. Noch weniger können die Stifter und Häupter der eigentlichen „Philosophenschulen“ als „Propheten“ in unserem Sinn aufgefaßt [187]werden, so nahe sie ihnen zuweilen kamen. Gleitende Übergänge führen von Konfuzius, in dessen Tempel selbst der Kaiser den Kotau vollzieht, [186] Der Ausdruck couleur (frz.: „Farbe“) bezeichnet die Farben, die von den Mitgliedern studentischer Verbindungen bei feierlichen Anlässen in Band, Mütze und Bierzipfel getragen wurden. Die jungen Mitglieder studentischer Verbindungen, die „Füchse“, hatten für die älteren, die „Burschen“, bestimmte Dienste zu verrichten und wurden von diesen in die Regeln des Verbindungslebens eingeführt.
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zu Platon. Beide waren lediglich schulmäßig lehrende Philosophen, getrennt durch die bei Konfuzius zentrale, bei Platon mehr gelegentliche Abgestelltheit auf bestimmenden sozialreformerischen Einfluß auf Fürsten. Von dem Propheten aber trennt sie das Fehlen der aktuellen emotionalen Predigt, welche, einerlei, ob durch Rede oder Pamphlete oder schriftlich verbreitete Offenbarungen nach Art der Suren Muhammeds, dem Propheten eigentümlich ist. Dieser steht stets dem Demagogen oder politischen Publizisten näher als dem „Betrieb“ eines Lehrers, und andererseits ist die Tätigkeit etwa des Sokrates, der sich ebenfalls im Gegensatz gegen das professionelle Weisheitsgewerbe stehend fühlt, begrifflich von der Prophetie durch das Fehlen einer direkt offenbarten religiösen Mission geschieden. Das „Daimonion“ [187] Mit Kotau wird der Kniefall vor den Eltern oder vor Höhergestellten bezeichnet. Wilhelm Grube schrieb über den Kaiser von China, „daß er sich vor dem Altare des Himmelstempels und vor dem des Konfuziustempels auf sein Antlitz niederwirft, während er sich vor den Heiligtümern der übrigen Tempel auf die bloße Verneigung beschränkt“. (Grube, Wilhelm, Religion und Kultus der Chinesen. – Leipzig: Rudolf Haupt 1910, S. 10).
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reagiert bei Sokrates auf konkrete Situationen, und zwar vorwiegend abmahnend und warnend. Es findet sich bei ihm als Schranke seines ethischen, stark utilitarischen Rationalismus etwa an der Stelle, wo bei Konfuzius die magische Divination steht. Es ist schon aus jenem Grunde nicht einmal mit dem „Gewissen“ der eigentlich religiösen Ethik gleichzusetzen, geschweige denn, daß es als ein prophetisches Organ gelten dürfte. Und so ist es mit allen Philosophen und ihren Schulen, wie sie China, Indien, die hellenische Antike, das jüdische, arabische und christliche Mittelalter in untereinander, soziologisch betrachtet, ziemlich ähnlicher Form gekannt haben. Sie können, wie bei den Pythagoräern, mehr der mystagogisch-rituellen, oder, wie bei den Kynikern, der exemplarischen Heilsprophetie (im bald zu erörternden Sinn) Bei daimonion handelt es sich um ein substantiviertes Adjektiv und Diminutiv zu daimon. Sokrates nannte seine „innere Stimme“ so.
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in der von ihnen produzierten und propagierten Lebensführung nahestehen. Sie können, wie die Kyniker, in ihrem Protest sowohl gegen die [188]weltlichen Kulturgüter wie gegen die Sakramentsgnade der Mysterien, äußere und innere Verwandtschaft mit indischen und orientalischen asketischen Sekten zeigen. Der Prophet im hier festgehaltenen Sinn fehlt ihnen überall da, wo die Verkündigung einer religiösen Heilswahrheit kraft persönlicher Offenbarung fehlt. Diese soll hier als das entscheidende Merkmal des Propheten festgehalten werden. Die indischen Religionsreformer endlich nach Art des Çankara Siehe unten, S. 189.
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und Ramanuja,[188]A: Cankara
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und die Reformatoren von der Art Luthers, Zwinglis, Calvins, Wesleys sind von der Kategorie der Propheten dadurch getrennt, daß sie weder kraft einer inhaltlich neuen Offenbarung noch wenigstens kraft eines speziellen göttlichen Auftrags zu sprechen prätendieren, wie dies z. B. der Stifter der Mormonenkirche, – der, auch in rein technischer Hinsicht[,] mit Muhammed Ähnlichkeit zeigt,A: Ramanjua,
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– und vor allem die jüdischen Propheten, aber auch z. B. Montanus und Novatianus und auch, allerdings mit einem stark rational lehrhaften Anflug, Mani und Manus, [188] Am 6. April 1830 begründete der Stifter des Mormonentums, Joseph Smith jun. (1805–1844), die „Church of Jesus Christ of Latter-Day Saints“. Smith gilt seinen Anhängern als göttlich inspirierter Prophet, der die „heilige Schrift“ des Mormonentums, das „Book of Mormon“, übersetzt hat. Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen Muhammed und Smith behandelte Eduard Meyer, Ursprung und Geschichte der Mormonen. Mit Exkursen über die Anfänge des Islâms und des Christentums. – Halle: Max Niemeyer 1912, S. 67–80.
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mit mehr emotionalem George Fox, taten. Das Textverderbnis konnte nicht aufgeklärt werden.
Scheidet man alle bisher genannten, oft sehr dicht angrenzenden Formen aus dem Begriff aus, dann bleiben immer noch verschiedene Typen.
Zunächst der Mystagoge. Er praktiziert Sakramente, d. h. magische Handlungen, welche Heilsgüter verbürgen. Durch die ganze Welt hat es Erlöser dieser Art gegeben, die sich von dem gewöhnlichen Zauberer nur graduell durch die Sammlung einer speziellen Gemeinde um sich unterscheiden. Sehr oft haben sich [A 255]dann auf Grund eines für erblich geltenden, sakramentalen Charisma Dynastien von Mystagogen entwickelt, welche durch Jahrhunderte hindurch ihr Prestige behaupteten, Schüler mit Vollmachten ausstatteten und so eine Art von Hierarchenstellung einnahmen. Namentlich in Indien, wo der Titel Guru auch auf solche Heilsspen[189]der und ihre Bevollmächtigten angewendet wird. Ebenso in China, wo z. B. der Hierarch der Taoisten und einige geheime Sektenhäupter erblich eine solche Rolle spielten. Der gleich zu erwähnende
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Typus der exemplarischen Prophetie schlägt in der zweiten Generation sehr regelmäßig in Mystagogentum um. Massenhaft sind sie auch in ganz Vorderasien zu Hause gewesen und in dem erwähnten [189] Siehe unten auf dieser Seite, Zeile 30 ff.
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prophetischen Zeitalter nach Hellas hinübergekommen. Aber z. B. auch die weit älteren Adelsgeschlechter, welche erbliche Leiter der Eleusinischen Mysterien waren, repräsentieren wenigstens noch einen Grenzfall nach der Seite der einfachen Erbpriestergeschlechter hin. Der Mystagoge spendet magisches Heil, und es fehlt ihm oder bildet doch nur ein untergeordnetes Anhängsel: die ethische Lehre. Statt dessen besitzt er eine vornehmlich erblich fortgepflanzte magische Kunstlehre. Auch pflegt er von seiner vielbegehrten Kunst ökonomisch existieren zu wollen. Wir wollen daher auch ihn aus dem Prophetenbegriff ausscheiden, selbst wenn er neue Heilswege offenbart. Siehe oben, S. 179 ff.
Dann bleiben noch zwei Typen von Prophetentum in unserem Sinn, deren einer am klarsten durch Buddha, deren anderer besonders klar durch Zarathustra und Muhammed repräsentiert wird. Entweder ist nämlich der Prophet, wie in den letzten Fällen, ein im Auftrag eines Gottes diesen und seinen Willen – sei dies ein konkreter Befehl oder eine abstrakte Norm – verkündendes Werkzeug, der kraft Auftrags Gehorsam als ethische Pflicht fordert (ethische Prophetie). Oder er ist ein exemplarischer Mensch, der anderen an seinem eigenen Beispiel den Weg zum religiösen Heil zeigt, wie Buddha, dessen Predigt weder von einem göttlichen Auftrag, noch von einer ethischen Gehorsamspflicht etwas weiß, sondern sich an das eigene Interesse der Heilsbedürftigen wendet, den gleichen Weg wie er selbst zu betreten (exemplarische Prophetie). Dieser zweite Typus eignet vornehmlich der indischen, in vereinzelten Exemplaren auch der chinesischen (Laotse) und vorderasiatischen, der erste aber ausschließlich der vorderasiatischen Prophetie, und zwar ohne Unterschied der Rasse. Denn weder die Veden, noch die chinesischen klassischen Bücher, deren älteste Bestandteile in beiden Fällen aus Preis- und Dankliedern heiliger [190]Sänger und aus magischen Riten und Zeremonien bestehen, lassen es irgend wahrscheinlich erscheinen, daß dort jemals eine Prophetie des ethischen Typus nach der Art der vorderasiatisch-iranischen bestanden haben könnte. Der entscheidende Grund dafür liegt in dem Fehlen des persönlichen überweltlichen ethischen Gottes, welcher in Indien überhaupt nur in sakramental-magischer Gestalt innerhalb der späteren volkstümlichen hinduistischen Religiosität seine Heimat hatte, im Glauben derjenigen sozialen Schichten aber, innerhalb welcher sich die entscheidenden prophetischen Konzeptionen des Mahavira und Buddha vollzogen, nur intermittierend und stets wieder pantheistisch umgedeutet auftauchte, in China vollends in der Ethik der sozial ausschlaggebenden Schicht ganz fehlte. Inwieweit dies vermutlich mit der sozial bedingten intellektuellen Eigenart jener Schichten zusammenhing, darüber später.
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Soweit innerreligiöse Momente mitwirkten, war für Indien wie für China entscheidend, daß die Vorstellung einer rational geregelten Welt ihren Ausgangspunkt nahm von der zeremoniellen Ordnung der Opfer, an deren unwandelbaren Regelmäßigkeit alles hängt: vor allem die unentbehrliche Regelmäßigkeit der meteorologischen Vorgänge, animistisch gedacht: das normale Funktionieren und die Ruhe der Geister und Dämonen, welche sowohl nach klassischer wie nach heterodoxer chinesischer Anschauung durch eine ethisch richtig geführte Regierung, wie sie dem echten Tugendpfad (Tao) entspricht, verbürgt wird und ohne die auch nach vedischer Lehre alles fehlschlägt. Rita und Tao sind daher in Indien bzw. China übergöttliche unpersönliche Mächte. Der überweltliche persönliche ethische Gott dagegen ist eine vorderasiatische Konzeption. Sie entspricht so sehr dem[,] auf Erden [A 256]allmächtigen[,] einen König mit seinem rationalen bürokratischen Regiment, daß ein Kausalzusammenhang nicht gut abweisbar ist. Über die ganze Erde hin ist der Zauberer in erster Linie Regenmacher, denn von rechtzeitigem, genügendem und auch nicht übermäßigem Regen hängt die Ernte ab. Der pontifikale chinesische Kaiser ist es bis in die Gegenwart geblieben, denn wenigstens in Nordchina überwiegt die Bedeutung des unsicheren Wetters diejenige der Bewässerungsanlage, so groß deren Wichtigkeit dort [191]ist. Mauer- und Binnenschiffahrtskanalbauten, die eigentliche Quelle der kaiserlichen Bürokratie, waren noch wichtiger. Meteorologische Störungen sucht er durch Opfer, öffentliche Buße und Tugendübungen, z. B. durch Abstellung von Mißbräuchen in der Verwaltung, etwa durch eine Razzia auf unbestrafte Verbrecher, abzuwenden, weil stets der Grund der Erregung der Geister und der Störung der kosmischen Ordnung entweder in persönlichen Verfehlungen des Monarchen oder in sozialer Unordnung vermutet wird. [190] Siehe unten, S. 265 ff.
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Zu den Dingen, die Jahve, gerade in den älteren Teilen der Überlieferung, als Lohn für seine damals noch wesentlich bäuerlichen Anhänger in Aussicht stellt, gehört ebenfalls: der Regen. Nicht zu wenig und auch nicht zu viel (Sintflut) davon verspricht er. Aber rundum, in Mesopotamien wie Arabien, war nicht der Regen der Erzeuger der Ernte, sondern ausschließlich die künstliche Bewässerung. Sie allein ist in Mesopotamien, ähnlich wie in Ägypten die Stromregulierung, die Quelle der absoluten Herrschaft des Königs, der seine Einkünfte gewinnt, indem er durch zusammengeraubte Untertanen Kanäle und an diesen Städte bauen läßt. In den eigentlichen Wüsten- und Wüstenrandgebieten Vorderasiens ist dies wohl eine der Quellen der Vorstellung von einem Gott, der die Erde und den Menschen nicht, wie sonst meist, gezeugt, sondern aus dem Nichts „gemacht“ hat: auch die Wasserwirtschaft des Königs schafft ja die Ernte im Wüstensand aus dem Nichts. [191] Pierre Daniël Chantepie de la Saussaye schrieb über China: „Hierauf haben nun die Herrscher zu achten; diese Ordnung ist die Grundlage des Staates. Störungen im Naturlauf sind Warnungen, auch im Staat die Harmonie herzustellen. Die natürliche, politische, sociale, sittliche Weltordnung stehen nicht bloss in engem Zusammenhang miteinander, sie sind ganz identisch, oder richtiger, noch nicht unterschieden“. (Chantepie de la Saussaye, Pierre Daniël, Die Chinesen, in: ders. (Hg.), Lehrbuch der Religionsgeschichte, Band 1. – Freiburg i. Br.: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1887, S. 232–261, Zitat: S. 242). Weber äußerte sich darüber auch in seiner Konfuzianismusstudie (MWG I/19, S. 176 f.).
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Der König schafft sogar das Recht durch Gesetze und [192]rationale Kodifikationen, – etwas, was die Welt in Mesopotamien In seiner Konfuzianismusstudie argumentierte Weber ähnlich: „In Vorderasien nun begünstigte die alte zentralisierte bureaukratische Verwaltung unzweifelhaft die Möglichkeit der Vorstellung des höchsten Gottes als eines Himmelskönigs, der Welt und Menschen aus dem Nichts ‚geschaffen‘ hat […]. Auch in Vorderasien selbst ist der himmlische König ja gerade dort zur höchsten, […] schlechthin überweltlichen Machtstellung emporgestiegen, wo er, in Palästina im Gegensatz zu den Wüstengebieten, nach seiner Gnade Regen und Sonnenschein als Quelle der Fruchtbarkeit sandte.“ (MWG I/19, S. 160).
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zum ersten Male erlebte. Und so erscheint es, auch abgesehen von dem Fehlen jener sehr eigenartigen Schichten, welche Träger der indischen und chinesischen Ethik waren, und die dortige „gottlose“ religiöse Ethik schufen, sehr begreiflich, daß unter diesem Eindruck auch die Ordnung der Welt als das Gesetz eines frei schaltenden, überweltlichen, persönlichen Herrn konzipiert werden konnte. Zwar in Ägypten, wo ursprünglich der Pharao selbst ein Gott war, scheiterte später der Anlauf Echnatons zum astralen Monotheismus an der schon unüberwindlichen Macht der Priesterschaft, welche den volkstümlichen Animismus systematisiert hatte. Und im Zweistromlande stand das alte, ebenfalls schon politisch und durch Priester systematisierte Pantheon und die feste Ordnung des Staats dem Monotheismus ebenso wie jeder demagogischen Prophetie im Wege. Aber der Eindruck des pharaonischen sowohl wie des mesopotamischen Königtums auf die Israeliten war eher noch gewaltiger als der des persischen Königs, des „Basileus“ [192] 1902 wurde der in Susa aufgefundene Gesetzeskorpus des Hammurabi, des sechsten Königs der sog. „ersten babylonischen Dynastie“, publiziert. Die Gesetzessammlung umfaßt im wesentlichen Privat- und Strafrecht.
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ϰατ᾽ ἐξοχήν, auf die Hellenen (wie er sich trotz seiner Niederlage z. B. in der Ausgestaltung einer pädagogischen Schrift[,] der Basileus (griech.: „König“) war u. a. der griechische Titel des persischen Großkönigs.
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„Kyrupaideia“[192]A: zur
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[,] ausspricht). Die Israeliten waren dem „Diensthause“ des irdischen Pharao nur entronnen, weil ein göttlicher König half. Die Errichtung des irdischen Königtums wird ausdrücklich als Abfall von Jahve als dem eigentlichen Volkskönig erklärt, Die Kyrupaideia (griech.: „Erziehung des Kyros“) wurde von Xenophon (um 425–ca. 355 v. Chr.) verfaßt. Sie schildert in acht Büchern den Aufstieg des achämenidischen Großkönigs Kyros II.
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und die israelitische Prophetie ist ganz und gar an dem [193]Verhältnis zu den politischen Großmächten: den großen Königen, orientiert, welche Israel zuerst als Zuchtruten Gottes zerschmetterten, dann wieder, kraft göttlicher Eingebung, ihm die Heimkehr aus dem Exil gestatten. Auch Zarathustras Vorstellungskreis scheint an den Konzeptionen westlicher Kulturländer orientiert. Die erste Entstehung sowohl der dualistischen wie der monotheistischen Prophetie scheint daher, neben anderen konkreten historischen Einflüssen, in ihrer Eigenart stark mitbedingt durch den Eindruck der relativ nahegelegenen großen Zentren straffer sozialer Organisation auf minder rationalisierte Nachbarvölker, welche Zorn und Gnade eines himmlischen Königs in ihrer eigenen beständigen Gefährdung durch die erbarmungslose Kriegsführung furchtbarer Nachbarn erblickten. Der Wunsch Israels nach Einrichtung eines Königtums wird in einigen biblischen Texten als Untreue gegenüber Gott gedeutet: 1. Samuel 8, 7; Richter 8, 22 f. In seiner Judentumsstudie sprach Weber über den „Abfall“ von Jahwe als „eines spezifisch verderblichen Frevels“ und verwies in diesem Zusammenhang auf die Abhandlung von Johannes Hehn, Die biblische und die babylonische Gottesidee. Die israelitische Gottesauffassung im Lichte der altorientalischen Religionsgeschichte. – Leipzig: C. J. Hinrichs 1913, S. 272. Weber bemerkte: „Mit Recht macht Hehn […] darauf aufmerksam, daß die[193]ser Begriff [Abfall] schon als solcher auf dem Boden keiner andern Religion Vorderasiens wiederkehrt. Er ist eben nur aus dem alten berith-Verhältnis überhaupt erklärlich“. (Weber, Judentum II, S. 389, Fn. 111).
[A 257]Mag aber die Prophetie mehr ethischen oder mehr exemplarischen Charakter haben, immer bedeutet – das ist das Gemeinsame – die prophetische Offenbarung, zunächst für den Propheten selbst, dann für seine Helfer: einen einheitlichen Aspekt des Lebens, gewonnen durch eine bewußt einheitliche sinnhafte Stellungnahme zu ihm. Leben und Welt, die sozialen wie die kosmischen Geschehnisse, haben für den Propheten einen bestimmten systematisch einheitlichen „Sinn“, und das Verhalten der Menschen muß, um ihnen Heil zu bringen, daran orientiert und durch die Beziehung auf ihn einheitlich sinnvoll gestaltet werden. Die Struktur dieses „Sinnes“ kann höchst verschieden sein, und er kann logisch heterogen scheinende Motive zu einer Einheit zusammenschmieden, denn nicht in erster Linie logische Konsequenz, sondern praktische Wertungen beherrschen die ganze Konzeption. Immer bedeutet sie, nur in verschiedenem Grade und mit verschiedenem Erfolge, einen Versuch der Systematisierung aller Lebensäußerungen, der Zusammenfassung also des praktischen Verhaltens zu einer Lebensführung, gleichviel, wie diese im Einzelfall aussehen möge. Immer enthält er ferner die wichtige religiöse Konzeption der „Welt“, als eines „Kosmos“, an welchen nun die Anforderung gestellt wird, daß er ein irgendwie „sinnvoll“ geordnetes Ganze bilden müsse, und dessen Einzelerscheinungen an [194]diesem Postulat gemessen und gewertet werden. Alle stärksten Spannungen der inneren Lebensführung sowohl wie der äußeren Beziehung zur Welt entstammen dann dem Zusammenstoß dieser Konzeption der Welt als eines, dem religiösen Postulat nach, sinnvollen Ganzen mit den empirischen Realitäten. Die Prophetie ist allerdings keineswegs die einzige Instanz, welche mit diesem Problem zu schaffen hat. Auch alle Priesterweisheit und ebenso alle priesterfreie Philosophie, intellektualistische und vulgäre, befaßt sich irgendwie mit ihm. Die letzte Frage aller Metaphysik lautete von jeher so: wenn die Welt als Ganzes und das Leben im besonderen einen „Sinn“ haben soll, – welches kann er sein und wie muß die Welt aussehen, um ihm zu entsprechen? Aber die religiöse Problematik der Propheten und Priester ist der Mutterschoß, welcher die priesterfreie Philosophie, wo sie sich überhaupt entwickelte, aus sich entlassen hat, um sich dann mit ihr, als einer sehr wichtigen Komponente religiöser Entwicklung, auseinandersetzen zu müssen. Wir müssen daher die gegenseitigen Beziehungen von Priestern, Propheten und Nichtpriestern näher erörtern.
5.t[194]A: § 5. Gemeinde.uIn A folgt eine Inhalts- und Seitenübersicht.
[194]A: § 5.
In A folgt eine Inhalts- und Seitenübersicht.
Der Prophet gewinnt sich, wenn seine Prophetie Erfolg hat, ständige Helfer: Sodalen (wie Bartholomae den Terminus der Gathas übersetzt),
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Schüler (alttestamentlich und indisch), Gefährten (indisch und islamisch), Jünger (bei Jesaja und neutestamentlich), welche im Gegensatz zu den zünftig oder durch Amtshierarchie vergesellschafteten Priestern und Wahrsagern ihm rein persönlich anhängen, – eine Beziehung, die bei der Kasuistik der Herrschaftsformen noch zu erörtern sein wird. [194] Christian Bartholomae besprach in zwei Abhandlungen den Terminus „Sodale“: 1904 gab Bartholomae, Altiranisches Wörterbuch, S. 198, das jungawestische airyaman (m.) und das gathisch-awestische airyə̄man (m.) mit dem Terminus „Sodale" wieder, übersetzte diesen als „Genosse” und bezeichnete ihn als Angehörigen des Priesterstandes. 1905 definierte Bartholomae, Gatha’s des Awesta, S. 130 f., „Sodale“ als „in sozialem Sinn Angehöriger der ersten der drei Stände in der zaraθuštrischen Religionsgemeinschaft, des Priesterstands“.
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Und neben diesen ständigen, [195]an seiner Mission aktiv mitarbeitenden, auch ihrerseits meist irgendwie charismatisch qualifizierten Helfern besteht der Kreis von Anhängern, welche ihn durch Unterkunft, Geld, Dienste unterstützen und von seiner Mission ihr Heil erwarten, daher auch ihrerseits je nachdem nur von Fall zu Fall zum Gelegenheitshandeln sich verbinden oder dauernd, zu einer Gemeinde, vergesellschaftet sein können. Die „Gemeinde“ in diesem religiösen Sinn – die zweite Kategorie von Gemeinde neben dem aus ökonomischen, fiskalischen oder anderen politischen Gründen vergesellschafteten Nachbarschaftsverband – taucht ebenfalls nicht nur bei Prophetie im hier festgehaltenen Sinne auf und entsteht andrerseits auch nicht bei jeder Prophetie. Sie entsteht bei ihr überhaupt erst als ein Produkt der Veralltäglichung, indem entweder der Prophet selbst oder seine [A 258]Schüler den Fortbestand der Verkündigung und Gnadenspendung dauernd sichern, daher auch die ökonomische Existenz der Gnadenspendung und ihrer Verwalter dauernd sicherstellen und nun für die dadurch mit Pflichten Belasteten auch die Rechte monopolisieren. Sie findet sich deshalb auch bei Mystagogen und bei Priestern unprophetischer Religionen. Für den Mystagogen ist ihre Existenz ein normales Merkmal im Gegensatz zum bloßen Zauberer, der entweder einen freien Beruf ausübt, oder, zünftig organisiert, einen bestimmten nachbarschaftlichen oder politischen Verband, nicht eine besondere religiöse Gemeinde, versorgt. Nur pflegt die Mystagogengemeinde, wie diejenige der eleusinischen Mysten, meist im Zustand einer nach außen nicht geschlossenen und in ihrem Bestand wechselnden Vergemeinschaftung zu verharren. Wer gerade des Heils bedürftig ist, tritt in eine oft nur zeitweilige Beziehung zum Mystagogen und seinen Helfern. Immerhin bilden doch z. B. die eleusinischen Mysten eine Art von interlokaler Gemeinschaft. Anders wiederum steht es bei der exemplarischen Prophetie. Der exemplarische Prophet zeigt einen Heilsweg durch persönliches Beispiel. Nur wer diesem Beispiel unbedingt folgt – z. B. die Bettelmönche Mahaviras und Buddhas – gehört zu einer engeren, der „exemplarischen“ Gemeinde, innerhalb deren dann wieder noch persönlich mit dem Propheten verbundene Jünger mit besonderer Autorität stehen können. Außerhalb der exemplarischen Gemeinde aber stehen fromme Verehrer (in Indien die „Upasakas“), welche für ihre Person den vollen Heilsweg nicht beschreiten, aber ein relatives Opti[196]mum von Heil durch Bezeugung von Devotion gegenüber den exemplarisch Heiligen erlangen wollen. Entweder entbehren sie jeder dauernden Vergemeinschaftung, wie ursprünglich die buddhistischen Upasakas, oder sie sind irgendwie auch ihrerseits mit festen Rechten und Pflichten vergesellschaftet, wie dies regelmäßig geschieht, wenn aus der exemplarischen Gemeinde besondere Priester oder priesterartige Seelsorger oder Mystagogen, wie die buddhistischen Bonzen, Siehe WuG1, S. 760 f. (MWG I/22-4).
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ausgeschieden und mit Besorgung von Kultpflichten (die der älteste Buddhismus nicht kannte) [196] Deutsches Lehnwort für Bōzu, die Bezeichnung für buddhistische Mönche und Priester.
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betraut wurden. Die Regel bleibt aber die freie Gelegenheitsvergesellschaftung, und dieser Zustand ist der Mehrzahl der Mystagogen und exemplarischen Propheten mit den Tempelpriesterschaften der einzelnen, zu einem Pantheon vergesellschafteten Gottheiten gemeinsam. Sie alle sind durch Stiftungen materiell gesichert und werden durch Opfergaben und Geschenke sustentiert, welche der jeweils Bedürftige spendet. Von einer dauernden Laiengemeinde ist dann noch nicht die Rede, und unsere Vorstellungen von einer religiösen Konfessionszugehörigkeit sind unbrauchbar. Anhänger eines Gottes ist der Einzelne nur im gleichen Sinn, wie etwa ein Italiener Anhänger eines bestimmten Heiligen. Unausrottbar scheint freilich das grobe Mißverständnis, z. B. die Mehrzahl oder gar alle Chinesen im konfessionellen Sinn als Buddhisten anzusehen, weil ein großer Teil von ihnen, in der Schule mit der allein offiziell approbierten konfuzianischen Ethik auferzogen, zwar für jeden Hausbau taoistische Divinationspriester zu Rate zieht und für tote Verwandte nach konfuzianischem Ritus trauert, aber daneben buddhistische Seelenmessen für sie lesen läßt. Bei Carl Friedrich Koeppen heißt es: „Ein äusserer Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung liegt namentlich darin, dass in den ältesten buddhistischen Grottenklöstern jedes Object des Cultus fehlt“. (Koeppen, Religion des Buddha, wie oben, S. 180, Anm. 23, S. 491).
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Außer den dau[197]ernd am Kult des Gottes Mitwirkenden und eventuell einem engen Kreis dauernder Interessenten gibt es hier nur Gelegenheitslaien, „Mitläufer“, – wenn man den modernen parteitechnischen Ausdruck für die nicht organisierten Mitwähler analog anwenden will. Edvard Lehmann schrieb 1911: „Wenn demnach der Buddhismus in China unerschütterlich fort besteht, so hat das seine praktische Ursache. Die Totenmessen der buddhistischen Mönche können die Chinesen nicht entbehren: die haben nämlich die Macht, die Seelen, die im Grabe verweilen, einem besseren Los, einem höheren Rang, vielleicht den höchsten Rang eines Bodhisattva entgegen zu führen. […] Der Buddhismus ist ein Reichsmedikament, das vorrätig gehalten wird, jedoch nicht reichlicher als gerade notwendig, und das man stets nur in kleinen und seltenen Dosen anwendet“. [197](Lehmann, Der Buddhismus, wie oben, S. 184, Anm. 34, S. 254 f.). Ähnliche Ausführungen machte Lehmann bereits 1905 in seinem Artikel „Die Inder“. (Lehmann, Die Inder, wie oben, S. 133, Anm. 21, S. 120).
Allein naturgemäß entspricht dieser Zustand, schon rein ökonomisch, im allgemeinen nicht dem Interesse der den Kult Besorgenden, und diese suchen daher auf die Dauer überall[,] wo es angeht[,] zur Gemeindebildung, d. h. also zu einer dauernden Vergesellschaftung der Anhängerschaft mit festen Rechten und Pflichten überzugehen. Die Umbildung der persönlichen Anhängerschaft in eine Gemeinde ist demnach die normale Form, in welcher die Lehre der Propheten in den Alltag, als Funktion einer ständigen Institution, eingeht. Die Schüler oder Jünger des Propheten werden dann Mystagogen oder Lehrer oder Priester oder Seelsorger (oder alles zusammen) einer ausschließlich religiösen Zwecken dienenden Vergesellschaftung: der Laien[A 259]gemeinde. Das gleiche Resultat kann aber auch von anderen Ausgangspunkten her erreicht werden. Wir sahen,
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daß die Priester, im Übergang von der Zaubererfunktion zum eigentlichen Priestertum, entweder selbst grundherrliche Priestergeschlechter waren oder Haus- und Hofpriester von Grundherren und Fürsten oder ständisch organisierte gelernte Opferpriester, an die sich im Bedarfsfall sowohl der Einzelne wie die Verbände wenden, welche aber im übrigen sich jeder nicht standeswidrigen Beschäftigung hingeben können. Oder endlich: Verbandspriester eines, sei es beruflichen oder anderen, vor allem auch: eines politischen Verbandes. Eine eigentliche „Gemeinde“, gesondert von anderen Verbänden, besteht in all diesen Fällen nicht. Sie kann indessen entstehen, wenn es entweder einem Opferpriestergeschlecht gelingt, die Spezialanhängerschaft seines Gottes als Gemeinde exklusiv zu organisieren, oder – und meist – wenn der politische Verband vernichtet wird, die religiöse Anhängerschaft an den Verbandsgott und seine Priester aber als Gemein[198]de fortbesteht. Der erste von beiden Typen findet sich in Indien und Vorderasien durch mannigfache Zwischenstufen, verbunden mit dem Übergang mystagogischer oder exemplarischer Prophetie oder von religiösen Reformbewegungen zur Dauerorganisation von Gemeinden. Viele kleine hinduistische Denominationen sind durch Vorgänge dieser Art entstanden. Der Übergang vom politischen Verbandspriestertum zur religiösen Gemeinde dagegen ist zuerst in größerem Umfang mit der Entstehung der vorderasiatischen Weltreiche, vor allem des persischen, verknüpft gewesen. Die politischen Verbände wurden vernichtet, die Bevölkerung entwaffnet, die Priesterschaften dagegen, mit gewissen politischen Befugnissen ausgestattet, in ihrer Stellung garantiert. Ähnlich, wie die Zwangsgemeinde aus dem Nachbarschaftsverband zur Sicherung fiskalischer Interessen, so wurde hier die religiöse Gemeinde als ein Mittel der Domestikation der Unterworfenen verwertet. So entstand durch Erlasse der persischen Könige von Kyros bis Artaxerxes Der Verweis konnte nicht aufgelöst werden.
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das Judentum als eine vom König anerkannte religiöse Gemeinde mit einem theokratischen Zentrum in Jerusalem.[198]A: Ataxerxes
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Ein Sieg der Perser hätte vermutlich dem delphischen Apollon und den Priestergeschlechtern anderer Götter, vielleicht auch orphischen Propheten, ähnliche Chancen gebracht. In Ägypten entwickelte das nationale Priestertum nach dem Untergang der politischen Selbständigkeit eine Art „kirchlicher“ Organisation, die erste dieser Art, wie es scheint, mit Synoden. [198] Kyros II. ermöglichte durch die Eroberung Babylons (539 v. Chr.) den Juden die Rückkehr aus dem babylonischen Exil und gab 536 v. Chr. den Auftrag zum Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem (Esra 1, 2–4). Der achämenidische Herrscher Artaxerxes erteilte später dem jüdischen Priester Esra, der den amtlichen persischen Titel „Schreiber des Gesetzes des Himmelsgottes“ führte, in einem offiziellen Schreiben den Auftrag, die Verhältnisse in Juda und Jerusalem entsprechend dem Gesetz (dat) seines Gottes zu ordnen. Wer das Gesetz nicht befolge, solle bestraft werden (Esra 7, 12–26). Aufgrund abweichender Chronologien in den Büchern Esra und Nehemia ist es umstritten, ob es Artaxerxes I. (465–425/24 v. Chr.) oder Artaxerxes II. (404–359 v. Chr.) war.
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In Indien dagegen [199]entstanden die religiösen Gemeinden in dem dortigen enger begrenzten Sinn als „exemplarische“ Gemeinden, indem durch die Vielfalt der ephemeren politischen Gebilde hindurch zunächst die ständische Einheit des Brahmanentums und der Asketenregeln perennierte und infolgedessen auch die entstehenden Erlösungsethiken durch die politischen Grenzen hindurchgriffen. In Iran gelang es den zarathustrischen Priestern im Lauf der Jahrhunderte eine geschlossene religiöse Organisation zu propagieren, welche unter den Sassaniden politische „Konfession“ wurde (die Achaemeniden waren nur Mazdasnanier, aber keine Zarathustrier, Gemeint ist die Zeit der Ptolemäerherrschaft in Ägypten (323–30 v. Chr.). In seinen „Agrarverhältnissen im Altertum“ erwähnte Weber ebenfalls eine Entwicklung von Kirchen in der Ptolemäerzeit Ägyptens: „Aber: im ganzen hat der Staat nur die Verwaltung der Kircheneinkünfte direkt an sich gezogen. Die Landessynoden der ägyptischen Priesterschaft blieben bestehen“. (Weber, Agrarverhältnisse3, S. 133). Die Termini „Synode“ bzw. „Landessynode“ verwendete auch Walter Otto, Priester und Tempel im hellenistischen Ägypten. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Hellenismus, Band 1. – Leipzig, [199]Berlin: B. G. Teubner 1905, S. 72–75 (hinfort: Otto, Priester und Tempel I). Laut Otto seien Berichte über „Landessynoden“ (ebd., S. 73) der ägyptischen Priesterschaft erstmals in der Ptolemäerzeit nachzuweisen. Vor der Regierungszeit des Königs Ptolemaios V. Epiphanes (204–180 v. Chr.) fanden Synoden mindestens einmal jährlich in Alexandria statt, „außerordentliche Synoden“ (ebd., S. 74) sind für die Stadt Sais im 20. Jahr des Ptolemaios II. Philadelphos belegt. Auch die Bezeichnung „Kirche“ für ägyptische Kultgemeinden in hellenistischer Zeit kommt bei Walter Otto vor. Im zweiten Band seiner Abhandlung (Leipzig, Berlin: B. G. Teubner 1908) begründete Otto seine Anwendung des „rein juristischen Begriff[es] der Kirche“ auf ägyptische Verhältnisse (ebd., S. 281– 285): Die ägyptische Religionsgemeinschaft sei eine „Korporation im Staate“, sogar eine „öffentliche Korporation“, habe eine „streng einheitliche Verfassung“ und verfüge über einen „Gemeinwillen“ und „Gemeinvermögen“.
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wie ihre Dokumente zeigen). Zu Webers Zeit gingen die Forschungsmeinungen darüber auseinander, ob die Achämeniden Zarathustrier waren oder nicht. Die Diskussion entzündete sich an den Inschriften der achämenidischen Herrscher: Diese kannten wohl Ahura Mazda als den Hochgott, ließen aber jeden Bezug auf Zarathustra vermissen. Weber wendet sich hier gegen eine Ansicht, wie sie von Eduard Meyer vertreten wurde: „Die immer wieder auftauchende Meinung, daß Darius von Zarathustra nichts gewußt habe […], ist mir unverständlich; jedes Wort seiner Inschriften erweist ihn als Zarathustrier. Dass von Kyros dasselbe gilt, wird, wer die Sachlage besonnen überlegt, nicht bezweifeln […]“. (Meyer, Eduard, Geschichte des Alterthums, Band 3: Das Perserreich und die Griechen, 1. Hälfte: Bis zu den Friedensschlüssen von 448 und 446 v. Chr., 1. Aufl. – Stuttgart: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger 1901, S. 21).
Die Beziehungen zwischen politischer Gewalt und religiöser Gemeinde, aus welcher der Begriff der „Konfession“ entsteht, gehören in die Analyse der „Herrschaft“.
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Hier ist nur festzustellen: „Gemeindereligiosität“ ist eine verschieden eindeutig ausgeprägte und labile Erscheinung. Wir wollen nur da von ihrem Bestand reden, wo die Laien 1. zu einem dauernden Gemeinschaftshandeln vergesellschaftet sind, auf dessen Ablauf sie 2. irgendwie auch aktiv einwirken. Ein bloßer Verwaltungssprengel, der die Kompeten[200]zen der Priester abgrenzt, ist eine Parochie, aber noch keine Gemeinde. Aber selbst der Parochiebegriff fehlt, als etwas von der weltlichen, politischen oder ökonomischen, Gemeinde Gesondertes, Siehe WuG1, S. 779 ff. (MWG I/22-4).
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der chinesischen, altindischen und im allgemeinen auch der hinduistischen Religiosität. Die hellenischen und sonstigen antiken Phratrien und ähnliche Kultgemeinschaften sind keine Parochien, sondern politische oder sonstige Verbände, deren Gemeinschaftshandeln der Fürsorge eines Gottes untersteht. Die altbuddhistische Parochie ferner ist nur ein Bezirk, innerhalb dessen [A 260]die wandernden Mönche, die sich jeweils gerade darin aufhalten, an den Halbmonatsversammlungen teilzunehmen verbunden sind. Die mittelalterliche okzidentale, anglikanische, lutherische, orientalische, christliche und islamische Parochie ist im wesentlichen ein passiver kirchlicher Lastenverband und Kompetenzbezirk des Pfarrers. In diesen Religionen hatte im allgemeinen auch die Gesamtheit aller Laien überhaupt keinerlei Gemeindecharakter. Kleine Reste von Gemeinderechten sind in einigen orientalischen christlichen Kirchen erhalten und fanden sich auch im katholischen Okzident und im Luthertum. Dagegen waren sowohl das altbuddhistische Mönchtum, wie die altislamische Kriegerschaft, wie das Judentum, wie die alte Christenheit Gemeinden mit freilich sehr verschieden straffer, hier im einzelnen noch nicht zu erörternder Art der Vergesellschaftung. Übrigens ist ein gewisser faktischer Einfluß der Laien, der im Islam namentlich bei den Schiiten relativ groß, wenn auch rechtlich nicht verbürgt ist, – der Schah pflegt keinen Priester zu bestellen[,] ohne der Zustimmung der örtlichen Laienschaft sicher zu sein,[200]A: gesondertes,
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– mit dem Fehlen einer fest geregelten örtlichen Gemeindeorganisation vereinbar. Dagegen bildet es die später zu besprechende [200] Die Rechtsgelehrten (arab.: ʿulamāʾ), von Weber „Priester“ genannt, galten in der Schia als Repräsentanten des verborgenen Imam und waren befugt, in Fragen des Rechts Entscheidungen zu treffen. Ihr Ansehen war verschieden groß, je nach dem Grad ihrer theologischen und juristischen Bildung sowie ihrer rhetorischen Fähigkeiten. Wenn in Iran der Schah einen von ihnen als oberste Autorität anerkannte, mußte er dabei das informelle Ansehen des Betreffenden unter den Gläubigen berücksichtigen. Der Schah selber besaß nach schiitischer Auffassung eine nur vorläufige Legitimität, die mit der Wiederkehr des verborgenen Imam endete.
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Eigenart jeder „Sekte“, im ei[201]gentlich technischen Wortsinn, daß sie auf der geschlossenen Vergesellschaftung der einzelnen örtlichen Gemeinden geradezu als auf ihrer Grundlage beruht. Von diesem Prinzip, welches innerhalb des Protestantismus die Täufer und „Independenten“, dann die „Kongregationalisten“ vertraten, führen gleitende Übergänge bis zur typischen Organisation der reformierten Kirche, welche auch da, wo sie tatsächlich universelle Organisation ist, doch die Zugehörigkeit von dem vertragsmäßigen Eintritt in die einzelne Gemeinde abhängig macht. Auf die Problematik, welche sich aus diesen Verschiedenheiten ergibt, kommen wir zurück. Siehe WuG1, S. 812–817 (MWG I/22-4).
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Hier interessiert uns von den Konsequenzen der folgenschweren Entwicklung einer eigentlichen Gemeindereligiosität vor allem die eine: daß nun innerhalb der Gemeinde die Beziehung zwischen Priestern und Laien für die praktische Wirkung der Religiosität maßgebende Bedeutung gewinnt. Der großen Machtstellung der Priester steht, je mehr die Organisation spezifischen Gemeindecharakter trägt, desto mehr die Notwendigkeit gegenüber, im Interesse der Erhaltung und Propagierung der Anhängerschaft den Bedürfnissen der Laien Rechnung zu tragen. Im gewissen Umfang ist freilich jede Art von Priesterschaft in ähnlicher Lage. Um ihre Machtstellung zu behaupten, muß sie oft in weitgehendem Maße den Laienbedürfnissen entgegenkommen. Die drei im Kreise der Laien wirksamen Mächte aber, mit welchen das Priestertum sich auseinanderzusetzen hat, sind 1. die Prophetie, – 2. der Laientraditionalismus, – 3. der [201] Der Verweis konnte nicht aufgelöst werden.
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Laienintellektualismus. Diesen Mächten gegenüber wirken sich die Notwendigkeiten und Tendenzen des priesterlichen Betriebs rein als solchen als eine ebenfalls wesentlich mitbestimmende Macht aus. Wir sprechen zunächst von diesem letzteren Faktor in Verbindung mit dem zuerst genannten. [201]A: Der
Der ethische und exemplarische Prophet ist regelmäßig selbst Laie und stützt seine Machtstellung jedenfalls auf die Laienanhängerschaft. Kraft ihres Sinns entwertet jede Prophetie, nur in verschiedenem Maße, die magischen Elemente des Priesterbetriebs. Der Buddha und seinesgleichen lehnen ebenso wie die israelitischen Propheten nicht nur die Zugehörigkeit zu den gelernten [202]Magiern und Wahrsagern (die in den israelitischen Quellen ebenfalls Propheten genannt werden),
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sondern die Magie überhaupt als nutzlos ab. Nur die spezifisch religiöse, sinnhafte Beziehung zum Ewigen gibt das Heil. Zu den buddhistischen Todsünden gehört es, sich grundlos magischer Fähigkeiten zu rühmen, [202] Im Alten Testament bezeichnet der Begriff „Prophet“ nicht nur die bekannten Schriftpropheten, sondern auch Mitglieder einer Wahrsagergruppe (etwa in 1. Könige 22, 7 f.).
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deren Existenz an sich, gerade auch bei den Ungläubigen, weder die indischen Propheten noch die israelitischen noch die christlichen Apostel und die altchristliche Tradition überhaupt je bezweifelt hat. Infolge jener Ablehnung stehen sie aber auch, nur in verschieden ausgeprägter Art, skeptisch zum eigentlichen Priesterbetrieb. Nicht Brandopfer will der Gott der israelitischen Propheten, sondern Gehorsam gegen sein Gebot. Die buddhistische Ethik kennt zehn Arten von Sünden (duçtscharitra, „schlechte Handlungen“). Die zehnte Sünde betraf „schlimme Ansichten“ und umfaßte Aberglauben im weitesten Sinn, Ketzerei und Zweifel an der richtigen Lehre. (Vgl. Koeppen, Religion des Buddha, wie oben, S. 180, Anm. 23, S. 445). Bei Edvard Lehmann heißt es: „Wenn ein Mönch den Wunsch nähren sollte: ‚lch will magische Kräfte entwickeln; […]‘ – so muß er gefestigt stehen in den Vorschriften, sein Denken zur Ruhe bringen, Verzückung üben, die höchste Einsicht erwerben und an einsamen Orten leben.“ (Lehmann, Der Buddhismus, wie oben, S. 184, Anm. 34, S. 199).
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Mit vedischem Wissen und Ritual ist für die Erlösung des Buddhisten nichts getan, und das ehrwürdige [A 261]Somaopfer ist dem Ahuramazda der ältesten Gathas ein Greuel. Jeremia 7, 22 f.: „Denn ich habe euren Vätern des Tages, da ich sie aus Ägyptenland führete, weder gesagt, noch geboten von Brandopfern und anderen Opfern; Sondern dies gebot ich ihnen und sprach: Gehorchet meinem Wort, so will ich euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein“.
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Daher besteht überall Spannung zwischen dem Das Trinken des Haoma (entspricht dem vedischen Soma) war verbunden mit dem Opfern von Stieren, die in einem Zustand der Raserei abgeschlachtet wurden. Zarathustra wandte sich voller Entrüstung gegen diese Opfer. In Yasna 32.12 heißt es dazu: „Weil sie [die Druggenossen] durch ihre Lehre die Menschen vom besten Tun abspenstig machen, so kündet ihnen Mazdah Böses an, (ihnen), die das Leben des Rinds unter Freudengeschrei zugrunde richten […]“. Ebenso wandte er sich gegen den Rauschtrank des Haoma. Yasna 48.10: „Wann, o Mazdah, werden die Ritter die Botschaft verstehen lernen? Wann wirst du den Unflat dieses Rauschtranks treffen, durch den böslich die Karpan [Angehörige des Priesterstandes der nichtzarathustrischen Daevareligion Irans] und durch den mit Absicht die üblen Herrscher der Länder betrügen?“ (Beide Zitate nach Bartholomae, Gatha's des Awesta, S. 30 und 90).
d
Propheten, seinem Laienanhang und den Vertretern der priesterlichen [203]Tradition, und es ist eine[202]A: den
e
Machtfrage, zuweilen auch, wie in Israel, durch die außenpolitische Lage bedingt, inwieweit der Prophet seiner Mission ungestört nachgehen kann oder zu ihrem Märtyrer wird. Zarathustra stützte sich neben seiner eigenen Familie auf Adels- und Fürstengeschlechter gegen den ungenannten Gegenpropheten,[203] Fehlt in A; eine sinngemäß ergänzt.
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die indischen Propheten und Muhammed ebenso, die israelitischen auf den bürgerlichen und bäuerlichen Mittelstand. Alle aber nützten das Prestige aus, welches das prophetische Charisma als solches gegenüber den Technikern des Alltagskultes [203] Zarathustra lebte am Hofe des Fürsten Visthaspa, laut den Angaben der Gathas inmitten von Ungläubigen und Feinden. Das Avesta berichtet von dem Sieg des Visthaspa gegen den ungläubigen König Ardschataspa. Gemeint sein könnte auch der Grǝhma, ein der zarathustrischen Lehre feindlich gegenüberstehender Priester oder Prophet der Daeva-Religion, einer der Druggenossen, die den ahurischen Glauben ablehnten. In den Gathas ist mit „Druggenosse“ gelegentlich ein Prophet gemeint, etwa in Yasna 31.18, 32.14 oder 44.12 (vgl. Bartholomae, Gatha’s des Awesta, S. 123 ff.).
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bei den Laien fand:A: Alltagskultes,
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die Heiligkeit neuer Offenbarung steht gegen die Heiligkeit der Tradition, und je nach dem Erfolge der beiderseitigen Demagogie schließt die Priesterschaft mit der neuen Prophetie Kompromisse, rezipiert oder überbietet ihre Lehre, beseitigt sie oder wird selbst beseitigt. A: fanden:
6.hA: § 6. Heiliges Wissen. Predigt. Seelsorge.
A: § 6.
In jedem Fall aber tritt an die Priesterschaft die Aufgabe heran, die siegreiche neue Lehre oder die gegen prophetische Angriffe behauptete alte Lehre systematisch festzulegen, abzugrenzen, was als heilig gilt oder nicht[,] und dies dem Glauben der Laien einzuprägen, um ihre eigene Herrschaft zu sichern. Nicht immer ist es akute Gefährdung durch eine direkt priesterfeindliche Prophetie, was diese in Indien besonders uralte Entwicklung in Fluß bringt. Auch das bloße Interesse an der Sicherung der eigenen Stellung gegen mögliche Angriffe und die Notwendigkeit, die eigene bewährte Praxis gegenüber der Skepsis der Laien zu sichern, kann ähnliche Ergebnisse herbeiführen. Wo immer aber diese Entwicklung einsetzt, zeitigt sie zwei Erscheinungen: kanonische Schriften und [204]Dogmen. Beide freilich, namentlich die letztere, in sehr verschiedenem Umfang. Kanonische Schriften enthalten die Offenbarungen und heiligen Traditionen selbst, Dogmen sind Priesterlehren über den Sinn beider. Die Sammlung der religiösen Offenbarung einer Prophetie oder umgekehrt des überlieferten Besitzes an heiligem Wissen kann in Form mündlicher Tradition geschehen. Lange Jahrhunderte hindurch ist das brahmanische heilige Wissen nur mündlich überliefert und die Schriftform direkt perhorresziert worden, – was der literarischen Form jenes Wissens dauernd den Stempel aufgedrückt und im übrigen auch die nicht ganz geringen Abweichungen der Texte der einzelnen Çakas (Schulen) bedingt hat. Der Grund war, daß jenes Wissen nur der Qualifizierte, zweimal Geborene
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besitzen durfte. Es dem Unwiedergeborenen, kraft seiner Kaste Ausgeschlossenen (dem Çudra) mitzuteilen, war schwerer Frevel. Diesen Charakter des Geheimwissens hat die magische Kunstlehre im Zunftinteresse ursprünglich überall. Aber überall gibt es Bestandteile schon des Wissens der Zauberer, welche zum Gegenstand einer systematischen Erziehung gerade auch der übrigen Volksgenossen gemacht wurden. Die Grundlage des ältesten, überall verbreiteten magischen Erziehungssystems ist die animistische Annahme: daß ebenso wie der Magier selbst für seine Kunst einer Wiedergeburt, des Besitzes einer neuen Seele bedürfe, so auch das Heldentum auf Charisma beruhe, daher geweckt, erprobt, durch magische Manipulationen in den Helden gebannt werden, daß auch der Held zum Heldentum wiedergeboren werden müsse. Die charismatische Erziehung in diesem Sinn, mit ihren Noviziaten, Mutproben, Torturen, Graden der Weihe und Würde, ihrer Jünglingsweihe und Wehrhaftmachung ist eine in Rudimenten fast überall erhaltene universelle Institution aller kriegerischen Vergesellschaftung. Wenn aus den zünftigen Zauberern in gleitendem Übergang Priester werden, so hört diese überaus wich[205]tige Funktion der Laienerziehung nicht auf zu bestehen, und das Bestreben der Priesterschaft geht überall dahin, sie in der Hand zu behalten. Dabei schwindet das Geheimwissen als solches zunehmend, und aus der Priesterlehre wird eine literarisch fixierte Tradition, welche die Priesterschaft durch Dogmen interpretiert. [A 262]Eine solche Buchreligion wird nun Grundlage eines Bildungssystems nicht nur für die eigenen Angehörigen der Priesterschaft, sondern auch und gerade für die Laien. – [204] Nicht durch natürliche Geburt, sondern durch eine Initiation (upanayana) wird man Hindu; erst durch sie ein „Zweimalgeborener“ (dvija). Durch die Upanayana-Zeremonie („Schüleraufnahme“), bei der die Jugendlichen der drei oberen Kasten (Brahmanen, Kschatriyas und Vaiçyas) die dreifache Schnur anlegen, der damit verbundenen Weihen und der Rezitation des Gayatri-Gebets erlangen sie die „zweite“, die geistige, Wiedergeburt (vgl. Oldenberg, Religion des Veda, S. 466–471). Die Initiierten nehmen an gemeinsamen Opfern und Riten teil, von denen die Çudras, die Angehörigen der geringeren Kasten, ausgeschlossen sind.
Nicht alle, aber die meisten kanonischen heiligen Sammlungen haben ihren Abschluß gegen profane oder doch religiös unverbindliche Elaborate im Kampf zwischen mehreren um die Herrschaft in der Gemeinde konkurrierenden Gruppen und Prophetien empfangen. Wo ein solcher Kampf nicht bestand, oder doch den Inhalt der Tradition nicht bedrohte, ist daher die Kanonisation der Schriften formell oft sehr allmählich erfolgt. So ist der jüdische Kanon charakteristischerweise erst, und zwar vielleicht als Damm gegen apokalyptische Prophetien auf der Synode von Jamnia (90 n. Chr.)
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bald nach dem Untergang des theokratischen Staats, und auch da noch nur dem Prinzip nach beschlossen worden. Die Veden offenbar erst infolge des Gegensatzes gegen intellektuelle Heterodoxie. Der christliche Kanon infolge der Gefährdung der auf die Frömmigkeit der Kleinbürgermassen aufgebauten Religiosität durch die intellektuelle Soteriologie der Gnostiker. Die alte buddhistische Intellektuellensoteriologie im Pali-Kanon [205] Jamnia (Jabne im Hebräischen) war in der Zeit nach der Zerstörung des Tempels von Jerusalem durch die römische Armee (70 n. Chr.) bis 132 der wichtigste Sitz der rabbinischen Gelehrsamkeit. Die Rabbinen von Jamnia trafen Entscheidungen, die zur Entstehung eines normativen Judentums beitrugen. Dazu gehörte es, die für den Gottesdienst geeigneten Bücher zu bestimmen und die ungeeigneten auszuscheiden. Eine „Synode von Jamnia“, auf der alle diese Entscheidungen getroffen worden wären, ist jedoch in den Quellen nicht nachgewiesen, geschweige denn eine Zeitangabe.
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umgekehrt infolge ihrer Gefährdung durch die propagandistische volkstümliche Erlösungsreligion des Mahayana. Die klassischen Schriften des Konfuzianismus sind ebenso wie Esras Priestergesetz Europäische Bezeichnung für den Tripitaka der Theravadabuddhisten. Der Tripitaka („Dreikorb“) ist die in Pali abgefaßte heilige Schrift des Hinayanabuddhismus und besteht aus drei Schriftsammlungen („Körben“).
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von der politischen Gewalt oktroyiert, empfingen aber eben deshalb auch, die ersteren gar nicht, die letzteren erst spät, die Qualität ei[206]gentlicher Heiligkeit, welche stets Priesterwerk ist. Nur der Koran mußte schon deshalb auf Befehl des Khalifen redigiert werden und war sofort heilig, weil für den Halbanalphabeten Muhammed die Existenz eines heiligen Buchs als solchen als Merkmal des Prestiges einer Religion gegolten hatte. Vgl. oben, S. 198, Anm. 58.
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Dies hing mit verbreiteten Tabu-Vorstellungen über die magische Bedeutung von Schrifturkunden zusammen, wie sie auch, schon lange vor Schließung des Kanon, für die Thora und die als authentisch geltenden prophetischen Schriften bestanden, durch deren Berührung man sich „die Hände verunreinigte“. [206] Der arabische Historiker Al-Ṭabarī (839–923) berichtet in „Geschichte der Propheten und Könige“, der Engel Gabriel sei Mohammed erschienen und habe ihn aufgefordert: „rezitier“ (p. 1147). Das entsprechende Wort qara’a kann auch „lies“ übersetzt werden. Islamische Theologen haben dies bevorzugt getan, da sie in Mohammed einen des Lesens unkundigen Mann sahen, der nur durch ein Wunder die Offenbarungen habe aufschreiben können. Sie haben als Argument dafür vorgebracht, daß Mohammed in Sure 7, 157 f. der „ummî Prophet“ genannt wird und Sure 2, 78 die „ummiyyûn, die die Schrift nicht kennen“, erwähnt. Der Text des Koran wurde erst nach Mohammeds Tode von Zaid b. Ṯābit festgelegt, im Auftrag entweder des Kalifen Abu Bakr (632–634) oder ʿOṯman (644–656).
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Im einzelnen interessiert uns der Vorgang hier nicht. Ebenso nicht, was alles in kanonisierte heilige Schriften aufgenommen wird. Die magische Dignität der Sänger bedingt es, daß in die Veden neben Heldenepen auch Spottlieder auf den trunkenen Indra Die Mischna überliefert rabbinische Aussprüche, wonach biblische Schriftrollen die sie berührenden Hände verunreinigen können (Kelim 15, 6). Der Dissens, ob dies auch für das Hohelied oder das Predigerbuch gelte oder nicht (Yadaim 3, 5), hing mit ihrem umstrittenen Status als Wort Gottes zusammen. Nur wenn man ihn annahm, mußte man im Umgang mit ihnen vorsichtig sein, da sie die Hände verunreinigten. (Yadaim 4, 5 f.).
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und Gedichte allen möglichen Inhalts, in den alttestamentlichen Kanon ein Liebeslied, Hermann Oldenberg nannte Indra, einen der bedeutendsten kriegerischen Götter der indischen Veden, einen „gewaltigen Zecher“ (Oldenberg, Religion des Veda, S. 170 f.) und führte Beispiele aus dem Rigveda an, die die Trinkabenteuer des Gottes dokumentieren (V, 29, 7; I, 82, 6 und den Monolog des trunkenen Indra in X, 119).
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die persönliche Bedeutsamkeit aller Äußerungen der Propheten, daß in den neutestamentlichen ein reiner Privatbrief des Paulus, Gemeint ist das alttestamentliche „Hohelied“, eine Sammlung volkstümlicher Liebes- und Hochzeitslieder, traditionell auf König Salomo zurückgeführt.
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in den Koran offenbar Suren über höchst menschliche Familienverdrießlichkeiten[207]des Propheten Der Philemonbrief des Paulus ist ein Privatbrief. Philemon war ein christlicher Bürger in der Stadt Kolossai, dessen christlicher Sklave zu Paulus geflohen war. Paulus schickte ihn zurück und gab ihm den Brief an Philemon mit. Darin bat er den Glaubensbruder, er möge den entlaufenen Sklaven so aufnehmen, als sei es Paulus selber. Für erlittenen Sachschaden wolle Paulus aufkommen.
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hineingelangt sind. Die Schließung eines Kanons pflegt durch die Theorie gedeckt zu werden, daß eine bestimmte vergangene Epoche allein mit dem prophetischen Charisma gesegnet gewesen sei: so nach der rabbinischen Theorie die Zeit von Moses bis Alexander, [207] Als Mohammed die Frau seines Adoptivsohnes Zaid, namens Zainab, heiratete, stieß dieses auf Kritik. Sure 33, 37 f. rechtfertigt die Verbindung.
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nach der römischen nur das apostolische Zeitalter. Darin spricht sich das Bewußtsein des Gegensatzes prophetischer und priesterlicher Systematik im ganzen richtig aus. Ein Prophet ist Systematisator im Sinn der Vereinheitlichung der Beziehung des Menschen zur Welt aus letzten einheitlichen Wertpositionen heraus. Die Priesterschaft systematisiert den Gehalt der Prophetie oder der heiligen Überlieferungen im Sinn kasuistisch-rationaler Gliederung und Adaptierung an die Denk- und Lebensgewohnheiten ihrer eignen Schicht und der von ihr beherrschten Laien. „Bis hierher [der Zeit Alexanders] haben die Propheten im heiligen Geist geweissagt. Von da an und weiter neige dein Ohr und höre auf die Worte der Weisen“, so das rabbinische Erzählwerk Seder Olam Rabba 30 aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. Der jüdische Geschichtsschreiber Josephus (37–ca. 100) vertrat die Auffassung, daß die Propheten in der Zeit von Mose bis Artaxerxes aufgetreten seien. (Contra Apionem I, 37–41).
Das praktisch Wichtige an der Entwicklung einer Religiosität zur Buchreligion – sei es im vollen Sinne des Worts: Gebundenheit an einen als heilig geltenden Kanon oder in dem abgeschwächten Sinn der Maßgeblichkeit schriftlich fixierter heiliger Normen, wie etwa im ägyptischen Totenbuch, – ist die Entwicklung der priesterlichen Erziehung von dem ältesten rein charismatischen Stadium hinweg zur literarischen Bildung. Je wichtiger die Schriftkunde für die Führung auch rein weltlicher Geschäfte wird, je mehr diese also den Charakter der bürokratischen, nach Reglements und Akten prozedierenden Verwaltung annehmen, desto mehr gleitet die Erziehung auch der weltlichen Beamten und Gebildeten in die Hände der schriftkundigen Priesterschaft hinüber[,] oder aber diese selbst besetzt – wie in den Kanzleien des Mittelalters – ihrerseits die auf Schriftlichkeit des Verfahrens be[A 263]ruhenden Ämter. In welchem Maße eines von beiden geschieht, hängt neben dem Grade der Bürokratisierung der Verwaltung auch von dem Grade ab, in welchem andere Schichten, vor allem der Kriegsadel, ein eigenes Erziehungssystem entwickeln und in die eigenen Hände neh[208]men. Von der Gabelung der Erziehungssysteme, welche daraus resultieren kann, ferner von der gänzlichen Unterdrückung oder Nichtentwicklung eines rein priesterlichen Erziehungssystems, welche die Folge von Machtlosigkeit der Priester oder vom Fehlen einer Prophetie oder einer Buchreligion sein kann, wird später zu sprechen sein.
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– [208] Siehe WuG1, S. 777 f. (MWG I/22-4).
Auch für die Entwicklung des spezifischen Inhalts der Priesterlehre bildet nicht den einzigen, wohl aber den stärksten Anreiz, die religiöse Gemeindebildung. Sie schafft die spezifische Wichtigkeit der Dogmen. Denn mit ihr tritt das Bedürfnis, gegen fremde konkurrierende Lehren sich abzugrenzen und propagandistisch die Oberhand zu behalten, beherrschend hervor und damit die Bedeutung der Unterscheidungslehre. Diese Bedeutung kann freilich durch außerreligiöse Motive wesentlich verstärkt werden. Daß Karl der Große für die fränkische Kirche auf dem filioque bestand
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– einem der Trennungsgründe zwischen Orient und Okzident, – und den bilderfreundlichen Kanon ablehnte, hatte politische gegen die byzantinische Kirchensuprematie gerichtete Gründe. Die Anhängerschaft an gänzlich unverständliche dogmatische Formeln, wie die monophysitische Lehre grade bei den breiten Massen im Orient und Ägypten, war Ausdruck des antikaiserlichen und antihellenischen separatistischen Nationalismus, wie ja später die monophysitische koptische Kirche die Araber als Herrscher den Römern vorzog. Die westliche Kirche fügte dem Nicaeno-Constantinopolitanum die Lehre hinzu, der Heilige Geist gehe sowohl vom Vater als auch vom Sohn aus („procedit de patre filioque“). Von der Ostkirche abgelehnt, galt das filioque in der fränkischen Kirche seit 767. 809 wurde es auf einer Synode in Aachen unter Karl dem Großen anerkannt.
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Und so oft. Aber regelmäßig ist es in der Hauptsache doch die priesterliche Bekämpfung des tiefverhaßten Indifferentismus, der Gefahr, daß der Eifer der Anhängerschaft erlahmt, ferner die Unterstreichung der Wichtigkeit der Zugehörigkeit zur eigenen Denomination und die Erschwerung des Übergangs zu anderen, was die Unterscheidungszeichen und Leh[209]ren so stark in den Vordergrund schiebt. Das Vorbild geben die magisch bedingten Tätowierungen der Totem- oder Kriegsverbandsgenossen. Die Unterscheidungsbemalung der hinduistischen Sekten steht ihr äußerlich am nächsten. Aber die Beibehaltung der Beschneidung und des Sabbattabu „Kopten“ sind Christen ägyptischer Sprache. Die koptische Kirche hat die Konzilsentscheidung von Chalkedon 451 n. Chr. abgelehnt und sich zur christologischen Lehre des Monophysitismus bekannt. Diese Anhänger der „Einnaturenlehre“ vertraten die Auffassung, daß es in der Person Jesu Christi nur eine einzige Natur gebe, nämlich die göttliche. Byzantinische Herrscher versuchten mit Gewalt, die Kircheneinheit wiederherzustellen. Als die islamischen Heere der Araber 639–42 nach Ägypten vorstießen, begrüßten die Kopten sie als Befreier vom byzantinischen Joch.
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wird im Alten Testament wiederholt als auf die Unterscheidung von anderen Völkern abgezweckt hingestellt und hat jedenfalls mit unerhörter Stärke so gewirkt. Daß der christliche Wochenfeiertag auf den Tag des Sonnengottes gelegt wurde, [209] Die Beschneidung der Vorhaut ist im Alten Testament Erinnerungszeichen an den Bund Gottes mit den Vätern (5. Mose 30, 6; Jeremia 4, 4) und unterscheidet den männlichen Juden vom Heiden (vgl. Hesekiel 44, 7). Die Beachtung des Sabbattages als Ruhetag galt als „Zeichen“ des Bundes von Jahwe mit seinem Volk Israel (2. Mose 31, 12– 17). Die Sabbatruhe wurde in der Zeit des Zweiten Tempels ein Erkennungsmerkmal von Juden.
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war vielleicht durch die Übernahme des soteriologischen Mythos mystagogischer vorderasiatischer Erlösungslehren der Sonnenreligion mitbedingt, wirkte aber schroff scheidend gegen die Juden. Daß Muhammed seinen wöchentlichen Gottesdienst auf den Freitag verlegte, war, nachdem die Gewinnung der Juden mißglückte, vielleicht vornehmlich durch den Wunsch nach Unterscheidung bedingt, während sein absolutes Weinverbot in alter und neuer Zeit, schon bei den Rechabiten, Der Sonntag galt in der antiken Planetenwoche als der auf den Saturntag folgende, dem Sonnengott geweihte Tag. Im Judentum war der Sonntag der erste Werktag. Die Christen feierten ihn als „Herrentag“, an dem Christus auferstanden war. Kaiser Konstantin I. hat 321 den Sonntag als einen Tag ohne Gerichtsverhandlung vorgeschrieben.
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bei Gottesstreitern, zu viel Analogien hat, um notwendig durch das Bedürfnis, einen Damm gegen die unter Weinzwang (beim Abend[210]mahl) stehenden christlichen Priester aufzurichten, bedingt sein zu müssen, wie man geglaubt hat. Entsprechend dem Charakter der exemplarischen Prophetie haben die Unterscheidungslehren in Indien durchweg mehr rein praktisch-ethischen, oder, ihrer inneren Verwandtschaft mit der Mystagogie entsprechend, rituellen Charakter. Die berüchtigten 10 Punkte, welche auf dem Konzil von Vesali die große Spaltung des Buddhismus hervorriefen, enthalten lediglich Fragen der Mönchsregel, Bei den Rechabiten handelt es sich um eine im Alten Testament (Jeremia 35, 2–19) erwähnte, auf Jonadab ben Rekab zurückgeführte Gruppe, deren Mitglieder sich verpflichteten, keinen Wein zu trinken, in Zelten zu wohnen und keinen Ackerbau zu betreiben. In seiner Judentumsstudie setzte Weber ebenfalls die Rechabiten in Bezug zu Mohammed: „Muhammeds sowohl wie Jonadab ben Rechab’s Verkündigungen sind nicht als Produkte populationistischer oder ökonomischer Bedingungen zu ‚erklären‘, so sehr ihr Inhalt durch solche mitbestimmt wurde. Sondern sie waren Ausdrücke persönlicher Erlebnisse und Absichten“. (Weber, Judentum II, S. 350 f.). Auch Eduard Meyer, Die Israeliten, wie oben, S. 182, Anm. 27, S. 84 f., zog Parallelen zwischen den Rechabiten und dem Islam: „lm Grunde sind es ja dieselben Ideen, aus denen der Islâm und die wahhabitische Reform erwachsen sind“. Dies belegte er mit einem Zitat aus Wellhausen, Julius, Das arabische Reich und sein Sturz. – Berlin: Georg Reimer 1902, S. 19 (hinfort: Wellhausen, Arabisches Reich): „Der Unterhalt meiner Gemeinde – so soll Muhammad gesagt haben – beruht auf den Hufen ihrer Rosse und den Spitzen ihrer Lanzen, so lange sie nicht den Acker bestellen; wenn sie aber anfangen, das zu tun, so werden sie wie die übrigen Menschen“.
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darunter offensichtlich Details, die nur zum Zweck der Begründung der mahayanischen Sonderorganisation betont wurden. Dagegen kennen die asiatischen Religionen fast gar keine Dogmatik als Unterscheidungsmerkmal. Zwar verkündet der Buddha seine vierfache Wahrheit über die großen Illusionen als Begründung der praktischen Erlösungslehre des edlen achtfältigen Pfades. [210] Über das „Konzil von Vesali“ – Vesali (auch: Vaiçali) ist eine Stadt im östlichen Indien – bemerkte Weber in seiner Hinduismusstudie: „Die mahayanistische Tradition läßt das große Schisma zuerst auf dem Konzil (Sanghiti) von Vaiçali (angeblich dem zweiten) zum Ausbruch kommen, welches angeblich 110 Jahre nach Buddhas Tode, vielleicht aber erst unter Açoka und auf seine Veranlassung stattfand. Unabhängig von der historischen Korrektheit der Einzelheiten ist der Grund der ältesten Spaltung sowohl nach der Tradition wie nach der Natur der Sache selbst im wesentlichen klar. Die berühmten ‚10 Thesen’ der Vajji-Mönche, über welche eine Einigung nicht stattfand, waren durchweg disziplinärer, nicht dogmatischer Natur“. (MWG I/20, S. 385 f.). Laut Carl Friedrich Koeppen hielten die Vajji-Mönche aus Vesali in ihren zehn Thesen folgende Dinge für erlaubt: „1. Salz über sieben Tage aufzuheben; 2. nach der Mahlzeit noch eine Mahlzeit zu halten; 3. in der Umgegend zu geniessen, was im Kloster untersagt ist; 4. gewisse Cärimonien – statt in der öffentlichen Halle – in den Cellen zu verrichten; 5. etwas ohne vorhergegangene Erlaubniss der Oberen zu thun; 6. bei einem Vergehen sich auf das Beispiel der Oberen zu berufen; 7. Molken nach dem Mittagsessen zu trinken; 8. berauschende Getränke zu geniessen; 9. auf Teppichen zu sitzen; 10. Gold und Silber als Almosen anzunehmen". (Koeppen, Religion des Buddha, wie oben, S. 180, Anm. 23, S. 147).
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Aber die Erfassung jener Wahrhei[211]ten um ihrer praktischen Konsequenzen willen ist Ziel der Erlösungsarbeit, nicht eigentlich ein Dogma im Sinne des Okzidents. Ebensowohl bei der Mehrzahl der älteren indischen Prophetien. Und während in der christlichen Gemeinde eins der allerersten [A 264]wirklich bindenden Dogmen charakteristischerweise die Erschaffung der Welt durch Gott aus dem Nichts In der „Predigt von Benares" soll Siddharta Gautama zum ersten Mal seine Lehre verkündet haben. Die „vier erhabenen Wahrheiten“ des Buddhismus lauten: das Leid, die Entstehung des Leidens, die Aufhebung des Leidens und der Weg, der zur Aufhebung des Leidens führt. Dieser Weg wird „heiliger, achtfältiger Pfad“ genannt (Skt.: Astangika-Marga, Pali: Atthangika-Magga). Die einzelnen Stufen des Pfades sind: 1) vollkommene Erkenntnis (Erkenntnis der „vier edlen Wahrheiten“ und der Unpersönlichkeit des Daseins), 2) vollkommener Entschluß (zur Entsagung, zum Wohlwollen und zur Nichtschädigung von Lebewesen), 3) vollkommene Rede (Vermeidung von Lüge, übler Nachrede und „Geschwätz“), 4) vollkommenes Handeln, 5) vollkommener Lebenserwerb (Verzicht auf berauschende Mittel und Vermeidung von Berufsausübungen, die anderen Lebewesen schaden), 6) vollkommene Anstrengung (Förderung von karmisch Heilsamem), 7) vollkommene Achtsamkeit (beständiges Achten auf Körper, Geist, Gefühle und Denkobjekte), 8) vollkommene Sammlung (des Geistes).
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war, die Festlegung also des überweltlichen Gottes gegenüber der gnostischen Intellektuellenspekulation, bleiben in Indien die kosmologischen und sonstigen metaphysischen Spekulationen eine Angelegenheit der Philosophenschulen, denen in bezug auf Orthodoxie eine zwar nicht schrankenlose, aber immerhin weitgehende Latitüde gewährt wurde. In China lehnte die konfuzianische Ethik die Bindung an metaphysische Dogmen schon deshalb gänzlich ab, weil die Magie und der Geisterglauben im Interesse der Erhaltung der Ahnenkulte: die Grundlage der patrimonial-bürokratischen Obödienz (wie ausdrücklich gesagt ist) unantastbar bleiben muß. Auch innerhalb der ethischen Prophetie und ihrer Gemeindereligiosität ist das Maß von eigentlicher Dogmenproliferation verschieden stark. Der alte Islam begnügte sich mit dem Bekenntnis zu Gott und dem Propheten und den wenigen praktisch rituellen Hauptgeboten als Bedingung der Zugehörigkeit. Je mehr aber die Gemeinde und die Priester oder Gemeindelehrer Träger einer Religion sind, desto umfangreicher werden die dogmatischen Unterscheidungen praktischer und theoretischer Art. So bei den späteren Zarathustriern, den Juden, den Christen. Aber die Glaubenslehre der Juden teilt mit derjenigen des Islam die Eigenschaft so großer Einfachheit, daß für eigentlich dogmatische Erörterungen nur ausnahmsweise Anlaß war. Nur die Gnadenlehre, im übrigen aber praktisch-sittliche, rituelle und rechtliche Fragen stellen in beiden Fällen das Streitgebiet dar. Bei den Zarathustriern steht es erst recht so. Nur bei den Christen hat sich eine umfangreiche, streng bindende und systematisch rationalisierte Dogmatik theoretischer Art teils über kosmologische Dinge, teils über den soteriologischen Mythos [212](Christologie), [211] In der sog. „creatio ex nihilo“ hat Gott die Welt aus dem Nichts geschaffen. In der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts entwickelten christliche Theologen diese Lehre in Abgrenzung zu Gnostikern. Letztere waren der Auffassung, nicht der höchste Gott, sondern ein niederer Demiurg hätte die materielle Welt geschaffen.
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teils über die Priestergewalt (die Sakramente) gebildet, zunächst auf dem Boden der hellenistischen Reichshälfte, im Mittelalter umgekehrt, im Abendland wesentlich stärker als in den orientalischen Kirchen, in beiden Fällen da am stärksten, wo eine starke Organisation der Priesterschaft gegenüber den politischen Gewalten das größte Maß von Selbständigkeit besaß. Aber vor allem die Eigenart des von der hellenischen Bildung herkommenden Intellektuellentums, die besonderen metaphysischen Voraussetzungen und Spannungen, welche der Christuskult schuf, und die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit der zunächst außerhalb der Christengemeinde gebliebenen Bildungsschicht einerseits, andrerseits die wieder sozial bedingte, den reinen Intellektualismus, im Gegensatz zu den asiatischen Religionen, mißtrauisch ablehnende Art der Stellung der christlichen Kirchen als einer Gemeindereligiosität von stark kleinbürgerlichen Laien, auf deren Stellung die Bischöfe Rücksicht zu nehmen hatten, waren es, welche im Alterum dieses Maß und diese Tendenz zur starken Dogmenentwicklung provozierten. Mit der Vernichtung der Ἑλληνιϰὴ παιδεία durch die im Orient stark aus kleinbürgerlichen unhellenischen Kreisen aufsteigenden Mönche [212] Lehre der christlichen Kirche von der Person Jesu Christi. Auf dem Konzil von Nicäa wurde 325 festgelegt, daß Jesus Christus der wahre Sohn Gottes sei und das gleiche Wesen habe wie der Vater. 451 wurde auf dem Konzil von Chalkedon das Glaubensbekenntnis verabschiedet, daß in der Person Christi zwei Naturen (die göttliche und die menschliche) „ungemischt und ungetrennt“ enthalten seien. Das Konzil von Konstantinopel von 680/81 verabschiedete den Lehrsatz: „Es gibt in dem einen Christus, dem fleischgewordenen Wort, zwei Willen und Energien, göttlich die eine, menschlich die andere, untrennbar, ohne Vermischung miteinander vereint, zusammenwirkend zum Heil des Menschengeschlechts“.
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war auch die rationale Dogmenbildung im Orient zu Ende. Daneben aber sprach auch die Organisationsform der Religionsgemeinschaften mit; das völlige und absichtsvolle Fehlen jeglicher hierarchischen Organisation im alten Buddhismus würde jede Einigung über die rationale Dogmatik nach christlicher Art, wenn die Erlösungslehre einer solchen überhaupt bedurft hätte, gehemmt haben. Denn damit die priesterliche Gedankenarbeit und der mit ihr konkurrierende, durch die priesterliche Erziehung geweckte Laienrationalismus die Einheit [213]der Gemeinde nicht gefährde, pflegt eine Instanz postuliert zu werden, welche über die Orthodoxie einer Lehre entscheidet. In einer hier nicht zu erörternden langen Entwicklung hat die römische Gemeinde Die Ansicht, daß das christliche Mönchtum für den Untergang der Ἑλληνιϰὴ παιδεία (der „griechischen Bildung“) verantwortlich gewesen sei, hat Edward Gibbon populär gemacht. (Gibbon, Edward, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire. Edited in seven volumes. – London: Methuen & Co. 1897–1900).
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, aus der Hoffnung, daß Gott die Gemeinde der Welthauptstadt[213] Fehlt in A; Gemeinde sinngemäß ergänzt.
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nicht werde irren lassen, das unfehlbare Lehramt ihres Bischofs entstehen lassen. Nur hier besteht diese konsequente Lösung, welche die Inspiration des Lehramtsträgers in Fällen der Lehrentscheidung voraussetzt. Sowohl der Islam wie die orientalische Kirche – der erstere in Anknüpfung an die Zuversicht des Propheten: daß Gott die Gemeinde der Gläubigen nie in einem Irrtum werde übereinstimmen lassen, [213]Bei Adolf Harnack heißt es: „Die römische Gemeinde besaß seit dem Ende des 1. Jahrhunderts einen faktischen Primat in der Christenheit. Als Gemeinde der Welthauptstadt, als die Kirche des Petrus und Paulus, als die Ekklesia, welche das Meiste für die Katholizierung und Unifizierung der Kirchen getan hat, […] hatte sie den faktischen Primat erworben“. (Harnack, Adolf, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Band 1: Die Mission in Wort und Tat, 2., neu durchgesehene Aufl. – Leipzig: J. C. Hinrichs 1906, S. 455; hinfort: Harnack, Mission I).
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die letztere in Anlehnung an die altkirchliche Praxis – hielten aus mehrfachen hetero[A 265]genen, später zu erwähnenden Ignaz Goldziher: „Inmitten der theoretischen Unsicherheit des Usus ist im Kreise der islamischen Theologen ein Grundsatz zur Geltung gekommen und mit verschiedenartiger Anwendung immerfort in Geltung geblieben, wonach ‚meine Gemeinde – so läßt man den Propheten sprechen – niemals in einem Irrtume (ḍalāla) übereinstimmen wird‘, oder in jüngerer Fassung und gruppenmäßiger Verbindung: ‚Allah hat euch vor drei Dingen Schutz gewährt […] und ihr werdet nie in einer Irrlehre übereinstimmen‘. Es ist hierin die Lehre von der Unfehlbarkeit des consensus ecclesiae ausgesprochen; im arabischen terminus idschmāʿ (Übereinstimmung) ist diese fundamentale Anschauung der islamischen Orthodoxie festgelegt“. (Goldziher, Vorlesungen über den Islam, wie oben, S. 172, Anm. 5, S. 54).
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Motiven an dem „Konsens“ der berufenen Träger der kirchlichen Lehrorganisation, je nachdem also mehr der Priester oder mehr der Theologen, als Bedingung der Gültigkeit dogmatischer Wahrheit fest und haben damit die Dogmenproliferation gehemmt. Der Dalai Lama andererseits hat zwar neben der politischen eine kirchenregimentliche, aber bei dem magisch-ritualistischen Charakter der Religiosität keine eigentliche Lehramtsgewalt. Die Exkommunikationsgewalt hinduistischer Gurus wird aus ähnlichen Gründen, schwerlich aus dogmatischen Anlässen angewendet. – Siehe WuG1, S. 474 f. (MWG I/22-3) und WuG1, S. 481 (MWG I/22-3) und WuG1, S. 804 (MWG I/22-4).
[214]Die priesterliche Arbeit an der Systematisierung der heiligen Lehre erhält ihre Nahrung fortwährend neu aus den neuen Bestandteilen der Berufspraxis der Priester gegenüber derjenigen der magischen Zauberer. Es entsteht in der ethischen Gcmeindereligion die Predigt als etwas gänzlich neues und die rationale Seelsorge als etwas der Art nach, gegenüber der magischen Nothilfe, wesentlich anderes.
Predigt, d. h. Kollektivbelehrung über religiöse und ethische Dinge im eigentlichen Sinn des Worts[,] ist normalerweise Spezifikum der Prophetie und der prophetischen Religion. Wo sie außerhalb ihrer auftaucht, ist sie ihr nachgeahmt. Ihre Bedeutung schrumpft regelmäßig, wo immer die offenbarte Religion sich durch Veralltäglichung in einen Priesterbetrieb verwandelt hat[,] und steht in umgekehrter Proportion zu den magischen Bestandteilen einer Religiosität. Der Buddhismus bestand, soweit die Laien in Betracht kamen, ursprünglich lediglich in Predigt, und in den christlichen Religionen bedeutet sie um so mehr, je vollständiger die magisch-sakramentalen Bestandteile eliminiert sind. Am meisten daher innerhalb des Protestantismus, wo der Priesterbegriff gänzlich durch den Predigerbegriff ersetzt ist.
Die Seelsorge, die religiöse Pflege der Individuen, ist in ihrer rational-systematischen Form gleichfalls ein Produkt prophetischer offenbarter Religion. Ihre Quelle ist das Orakel und die Beratung durch den Zauberer in Fällen, wo Krankheit oder andere Schicksalsschläge auf magische Versündigung schließen lassen, und es sich nun fragt, durch welche Mittel der erzürnte Geist oder Dämon oder Gott zu beruhigen sei. Hier ist auch die Quelle der „Beichte“. Ursprünglich hat dies mit „ethischen“ Einwirkungen auf die Lebensführung gar nichts zu tun. Das bringt erst die ethische Religiosität, vor allem die Prophetie. Die Seelsorge kann auch dann verschiedene Formen annehmen. Soweit sie charismatische Gnadenspendung ist, steht sie den magischen Manipulationen innerlich nahe. Sie kann aber auch individuelle Belehrung über konkrete religiöse Pflichten in Zweifelsfällen sein, oder endlich, in gewissem Sinn, zwischen beiden stehen, Spendung von individuellem religiösem Trost in innerer oder äußerer Not.
In dem Maß ihrer praktischen Einwirkung auf die Lebensführung verhalten sich Predigt und Seelsorge verschieden. Die Predigt entfaltet ihre Macht am stärksten in Epochen prophetischer [215]Erregung. Schon weil das Charisma der Rede individuell ist, sinkt sie im Alltagsbetrieb ganz besonders stark bis zu völliger Wirkungslosigkeit auf die Lebensführung herab. Dagegen ist die Seelsorge in allen Formen das eigentliche Machtmittel der Priester gerade gegenüber dem Alltagsleben und beeinflußt die Lebensführung um so stärker, je mehr die Religion ethischen Charakter hat. Namentlich die Macht ethischer Religionen über die Massen geht ihrer Entfaltung parallel. Wo ihre Macht ungebrochen ist, da wird, wie in magischen Religionen (China) der berufsmäßige Divinationspriester, so hier der Seelsorger, in allen Lebenslagen um Rat angegangen, von Privaten sowohl wie von den Funktionären der Verbände. Die Ratschläge der Rabbinen im Judentum, der katholischen Beichtväter, pietistischen Seelenhirten und gegenreformatorischen Seelendirektoren im Christentum, der brahmanischen Purohitas an den Höfen, der Gurus und Gosains im Hinduismus, der Muftis und Derwisch-Scheikhs im Islam sind es, welche die Alltagslebensführung der Laien und die Haltung der politischen Machthaber kontinuierlich und oft sehr entscheidend beeinflußt haben. Die private Lebensführung namentlich da, wo die Priesterschaft eine ethische Kasuistik mit [A 266]einem rationalen System kirchlicher Bußen verknüpft hat, wie es die an der römisch-rechtlichen Kasuistik geschulte, abendländische Kirche in virtuoser Weise getan hat. Vornehmlich diese praktischen Aufgaben von Predigt und Seelsorge sind es auch, welche die Systematisierung der kasuistischen Arbeit der Priesterschaft an den ethischen Geboten und Glaubenswahrheiten in Gang erhalten und sie überhaupt erst zur Stellungnahme zu den zahllosen konkreten Problemen zwingen, welche in der Offenbarung selbst nicht entschieden sind. Sie sind es daher auch, welche die inhaltliche Veralltäglichung der prophetischen Anforderungen in Einzelvorschriften einerseits kasuistischen und insofern (gegenüber der Prophetenethik) rationaleren Charakters, andererseits den Verlust derjenigen inneren Einheit mit sich ziehen, welche der Prophet in die Ethik gebracht hatte: der Ableitung des Gesollten aus einem spezifisch „sinnhaften“ Verhältnis zu seinem Gott, wie er selbst es besitzt und kraft dessen er, statt nach der äußeren Erscheinung der einzelnen Handlung, nach deren sinnhafter Bedeutung für das Gesamtverhältnis zu Gott fragte. Die Priesterpraxis bedarf der positiven Vorschriften und der Laienkasuistik, und der [216]gesinnungsethische Charakter der Religiosität pflegt daher unvermeidlich zurückzutreten.
Es versteht sich schon an sich, daß die positiven inhaltlichen Vorschriften der prophetischen und der sie kasuistisch umgestaltenden priesterlichen Ethik letztlich ihr Material den Problemen entnehmen müssen, welche die Gewohnheiten und Konventionen und die sachlichen Notwendigkeiten der Laienumwelt ihnen an Problematik zur seelsorgerischen Entscheidung vorlegen. Je mehr also eine Priesterschaft die Lebenspraxis auch der Laien dem göttlichen Willen entsprechend zu reglementieren und, vor allem, darauf ihre Macht und ihre Einkünfte zu stützen trachtet, desto weiter muß sie in der Gestaltung ihrer Lehre und ihres Handelns dem traditionellen Vorstellungskreise der Laien entgegenkommen. Dies ist ganz besonders dann der Fall, wenn keine prophetische Demagogie den Glauben der Massen aus seiner magisch motivierten Traditionsgebundenheit geworfen hat. Je mehr die breite Masse alsdann Objekt der Beeinflussung und Stütze der Macht der Priester wird, desto mehr muß deren systematisierende Arbeit gerade die traditionellsten, also die magischen Formen religiöser Vorstellungen und Praktiken ergreifen. Mit steigenden Machtansprüchen der ägyptischen Priesterschaft ist daher gerade der animistische Tierkult zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses geschoben worden. Die systematische Denkschulung der Priester an sich in Ägypten war dabei gegenüber der Frühzeit sicher gewachsen. Ebenso war die Systematisierung des Kultus in Indien seit der Verdrängung des Hotar,
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des heiligen charismatischen Sängers, aus der ersten Stelle durch den Brahmanen, den geschulten Zeremonienmeister des Opfers, gestiegen. Der Atharvaveda ist als literarisches Produkt viel jünger als der Rigveda, und die Brahmanas sind abermals wesentlich jünger. Aber das im Atharvaveda systematisierte religiöse Material ist weit älterer Provenienz als das Ritual der vornehmen vedischen Kulte und als die sonstigen Bestandteile der älteren Veden; es ist wesentlich mehr reines Zauberritual als diese, und in den Brahmanas hat sich dieser Prozeß der Popularisierung und zugleich Magisierung der priesterlich systematisierten [217]Religiosität noch weiter fortgesetzt. Die älteren vedischen Kulte sind eben – wie Oldenberg hervorhebt[216] Der Hotar (Skt., abgeleitet von dem Verb für „gießen“) war der Hauptpriester und Hymnenrezitator des vedischen Opfers. Zum Prozeß seiner Verdrängung durch den Brahmanen vgl. Oldenberg, Religion des Veda, S. 386–399.
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– Kulte der Besitzenden, das Zauberritual dagegen alter Massenbesitz. Ebenso ergeht es aber auch den Prophetien. Gegenüber dem auf den sublimsten Höhen vornehmer Intellektuellenkontemplation gewachsenen, alten Buddhismus ist die Mahayanareligiosität eine Popularisierung, welche zunehmend sich reiner Zauberei oder doch sakramentalem Ritualismus annäherte. Nicht anders ist es der Lehre Zarathustras, Laotses und der hinduistischen Religionsreformer, in weitem Umfang auch der Lehre Muhammeds, ergangen, sobald ihr Glaube Laienreligion wurde. Das Zendavesta[217] Laut Hermann Oldenberg waren die Opferhandlungen für die Götter des Veda kostspielig (Oldenberg, Religion des Veda, S. 594), wohingegen der „Cultus der Bannungen und Beschwörungen, des Glückszaubers und alles sonstigen mannichfachen Zaubers“ für „kleine Leute, welche Indra und den Götterschaaren das Gelage des Rauschtranks darzubringen nicht im Stande sind“, erschwinglich war (ebd., S. 596). Oldenberg sah durch die Erkenntnisse von Ethnologie und Völkerpsychologie bestätigt, daß der Glaube an Naturdämonen und „dem Menschen dienstbar machende Zauberkunst“ bei breiteren Bevölkerungsschichten weltweit vorhanden war (ebd., S. 58).
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hat selbst den von Zarathustra ausdrücklich und vornehmlich bekämpften Haomakult, Das Avesta (awestisch: „Grundtext“, „normative Überlieferung“) ist die heilige Schrift des Parsismus, die zur Zeit der Sassaniden (3.–7. nachchristliches Jahrhundert) kodifiziert wurde und aus 21 Nasks („Bündeln“ von Schriften) besteht. Im europäischen Sprachgebrauch zur Zeit Max Webers wurde dem Ausdruck Avesta noch der Begriff Zend (awestisch: „Erklärung“) zugeordnet. Unter Zend sind die erst in späterer priesterlicher Tradition entstandenen Erklärungen, Übersetzungen und Umschreibungen der Avestatexte zu verstehen.
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nur vielleicht einiger von ihm perhorreszierter bacchantischer[217]A: Harmakult,
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Bestand[A 267]teile entkleidet, sanktioniert. Der Hinduismus zeigte immer wieder die Tendenz, zunehmend stärker zur Magie oder allenfalls zur halbmagischen Sakramentssoteriologie hinüberzugleiten. Die Propaganda des Islam in Afrika beruht vornehmlich auf der vom alten Islam verworfenen Unterschicht massiver Magie, durch die er alle andere Religiosität unterbietet. Dieser meist als „Verfall“ oder Verknöcherung“ der Prophetien bewertete Prozeß ist fast unvermeidlich. Denn zwar der Prophet selbst ist regelmäßig ein selbstherrlicher Laiendemagoge, der die überlieferte ritualistische Priestergnade durch gesinnungsethische Systematisierung ersetzen will. Aber seine Beglaubigung bei den Laien beruht regelmäßig [218]darauf, daß er ein Charisma hat, und das bedeutet in aller Regel: daß er ein Zauberer ist, nur ein viel größerer und mächtigerer als andere es auch sind, daß er noch nicht dagewesene Macht über die Dämonen, selbst über den Tod hat, Tote auferweckt, womöglich selbst von den Toten aufersteht oder andere Dinge tut, welche andere Zauberer nicht können. Es hilft ihm nichts, wenn er sich gegen solche Zumutungen verwahrt. Denn nach seinem Tode geht die Entwicklung über ihn hinweg. Um bei den breiten Laienschichten irgendwie fortzuleben, muß er entweder selbst Kultobjekt, also Inkarnation eines Gottes werden, oder die Bedürfnisse der Laien sorgen wengistens dafür, daß die ihnen angepaßteste Form seiner Lehre im Wege der Auslese überlebt. A: perhorreszierten bacchantischen
Diese beiden Arten von Einflüssen: die Macht des prophetischen Charismas und die beharrenden Gewohnheiten der Masse wirken also, in vieler Hinsicht in entgegengesetzter Richtung, auf die systematisierende Arbeit der Priesterschaft ein. Allein auch abgesehen von der fast immer aus Laienkreisen hervorgehenden oder sich auf sie stützenden Prophetie existieren nun innerhalb der Laien nicht ausschließlich traditionalistische Mächte. Neben ihnen bedeutet auch der Rationalismus der Laien eine Macht, mit welcher die Priesterschaft sich auseinanderzusetzen hat. Träger dieses Laienrationalismus können verschiedene Schichten sein.
7.l[218]A: § 7. Stände, Klassen und Religion.mIn A folgt eine Inhalts- und Seitenübersicht.
[218]A: § 7.
In A folgt eine Inhalts- und Seitenübersicht.
Das Los des Bauern ist so stark naturgebunden, so sehr von organischen Prozessen und Naturereignissen abhängig und auch ökonomisch aus sich heraus so wenig auf rationale Systematisierung eingestellt, daß er im allgemeinen nur da Mitträger einer Religiosität zu werden pflegt, wo ihm durch innere (fiskalische oder grundherrliche) oder äußere (politische) Mächte Versklavung oder Proletarisierung droht. Sowohl das eine wie das andere, zuerst äußere Bedrohung und dann Gegensatz gegen grundherrliche – und wie immer in der Antike zugleich stadtsässige – Mächte[,] traf z. B. auf die altisraelitische Religion zu. Die ältesten Dokumente, beson[219]ders das Deboralied,
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zeigen, daß der Kampf der dem Schwerpunkt nach bäuerlichen Eidgenossen, deren Verband etwa den Aitolern,[219] Das der alttestamentlichen Richterin und Prophetin Debora, der Gattin des Lappidot, zugeschriebene Lied (Richter 5, 1–31) feiert den Sieg der von Barak geführten nördlichen Stämme Israels über die von Sisera angeführten Kanaaniter. Sisera soll über neunhundert eiserne Wagen verfügt haben (Richter 4, 3). Das Deboralied galt zu Webers Zeit als eine der ältesten historischen Überlieferungen im Alten Testament. (Vgl. etwa Wellhausen, J[ulius], Prolegomena zur Geschichte Israels, 3. Aufl. – Berlin: Georg Reimer 1886, S. 306; Stade, Bernhard, Geschichte des Volkes Israel, Band 1 (Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen, hg. von Wilhelm Oncken, 1. Hauptabtheilung, 6. Theil). – Berlin: G. Grote 1887, S. 178).
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Samniten, Vgl. oben, S. 147, Anm. 55.
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Schweizern zu vergleichen ist – den letzteren auch insofern, als die große, das Land der Israeliten Ein Volksstamm in Mittelitalien. Die Samniten rivalisierten lange mit Rom um die Vorherrschaft. Die fehlende politische Einheit der Bergstämme in den nordsüdlich verlaufenden Apenninentälern führte nach langem Widerstand im 3. Jahrhundert v. Chr. zur Unterwerfung durch Rom.
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durchschneidende Handelsstraße von Ägypten zum Euphrat eine dem „Paßstaat“-Charakter der Schweiz ähnliche Situation (frühe Geldwirtschaft und Kulturberührung) schuf –, sich gegen die stadtsässigen philistäischen und kanaanitischen Grundherren, von eisernen Wagen kämpfende Ritter, geschulte „Kriegsleute von Jugend auf“ (wie es von Goliath heißt)[219] Fehlt in A; der Israeliten sinngemäß ergänzt.
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richtete, welche versuchten, die Bauernschaft der Gebirgsabhänge, auf denen „Milch und Honig fließt“, 1. Samuel 17, 33: „Saul aber sprach zu David: Du kannst nicht hingehen wider diesen Philister [Goliath], mit ihm zu streiten; denn du bist ein Knabe, dieser aber ist ein Kriegsmann von seiner Jugend auf“.
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sich zinsbar zu machen. Es war eine Konstellation von [A 268]großer Tragweite, daß dieser Kampf, ebenso wie die Ständeeinigung und Expansion der mosaischen Periode, sich immer erneut vollzog unter der Führung von Heilanden der Jahvereligion (Moschuach, Messias, wie Gideon und seinesgleichen, die sog. „Rich[220]ter“, genannt werden). Das Land, „in dem Milch und Honig fließt“, ist das von Jahwe verheißene, gelobte Land, das „Gebiet der Kanaaniter, Hethiter, Amoriter, Perisiter, Hiwwiter und Jebusiter“ (2. Mose 3, 8; 4. Mose 13, 27 und 16, 13; Josua 5, 6; Jeremia 32, 22; Baruch 1, 20; Hesekiel 20, 6). In seinem Artikel „Agrarverhältnisse im Altertum“ bemerkte Weber: „Aber allerdings sind die Hebräer der vorköniglichen Zeit ein aus dem ,jenseitigen‘, d. h. ostjordanischen Lande über den Fluß und dann weiter über das Bergland vorgedrungenes, und nun weiter nach der Küste zu abwechselnd vordrängendes und seinerseits bedrängtes ‚Bergvolk‘, welches ,Milch und Honig‘, die Produkte der Bergabhänge, schätzt“. (Weber, Agrarverhältnisse3, S. 91).
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Durch diese Beziehung kam schon in die alte Bauernfrömmigkeit eine über das Niveau der sonst üblichen Bauernkulte hinausreichende religiöse Pragmatik hinein. Zur eigentlich ethischen Religion wurde der mit den mosaischen Sozialgesetzen[220] Als „Richter“ (hebr.: šofeṭim, zu šafaṭ, „richten“, „urteilen“) wurden die charismatischen Führer Israels in der Zeit zwischen Josua und Samuel bezeichnet. Das biblische Buch der Richter versteht unter ihnen sowohl militärische Führer, die Israel aus höchster Not erretteten, wie auch Richter im engeren Sinn. Der Richter Gideon erhielt von Jahwe den Auftrag, das Volk Israel von den Midianitern zu befreien (vgl. Richter 6–8). In seiner „Einleitung“ zu „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ äußerte sich Weber zum selben Sachverhalt: „Bei einem politisch bedrängten Volk, wie den Israeliten, haftete der Heilands-(Moschuach-)Name zuerst an den von der Heldensage überlieferten Rettern aus politischer Not (Gideon, Jephtah) und bestimmte von da aus die ‚messianischen‘ Verheißungen“. (MWG I/19, S. 92). māšûaḥ ist Partizip Passiv von hebr. māšaḥ, „salben“, Messias ist die griechische Form von hebr. māšîaḥ, aramäisch: mešîḥāʾ, m., „Gesalbter“. Im Alten Testament galten Hoherpriester und König als Gesalbte Jahwes. Nach dem Ende des Königtums 587 v. Chr. bezeichnete es den erwarteten König der Zukunft. (Sacharja 9, 9 f.).
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verknüpfte Jahvekult endgültig erst auf dem Boden der Polis Jerusalem. Freilich, wie der soziale Einschlag der Prophetie zeigt, auch hier wieder unter Mitbeteiligung von ackerbürgerlichem, gegen die stadtsässigen Großgrund- und Geldbesitzer gerichteten, Sozialmoralismus und unter Berufung auf die sozialen Bestimmungen des mosaischen Ständeausgleichs. Aber die prophetische Religiosität ist jedenfalls nicht spezifisch bäuerlich beeinflußt. Für den Moralismus des ersten und einzigen Theologen der offiziellen hellenischen Literatur: Hesiod, war ebenfalls ein typisches Plebejerschicksal mitverantwortlich. Aber auch er war ganz gewiß kein typischer „Bauer“. Je stärker bäuerlich orientiert eine Kulturentwicklung ist: im Okzident in Rom, im fernen Osten in Indien, in Vorderasien in Ägypten, desto stärker fällt gerade dies Bevölkerungselement in die Wagschale des Traditionellen und desto mehr entbehrt wenigstens die Volksreligiosität der ethischen Rationalisierung. Auch in der späteren jüdischen und der christlichen Religionsentwicklung kommen die Bauern als Träger rational [221]ethischer Bewegungen teils gar nicht oder direkt negativ, wie im Judentum, teils wie im Christentum, nur ausnahmsweise und dann in kommunistisch-revolutionärer Form vor. Die puritanische Donatistensekte im römischen Afrika, der Provinz der stärksten Bodenakkumulation, scheint allerdings stark in bäuerlichen Kreisen verbreitet gewesen zu sein, steht aber damit im Altertum wohl allein. Die Taboriten, Im Alten Testament werden drei Gesetzessammlungen auf Mose zurückgeführt, die soziale Probleme zwischen den Bürgern entschärften (u. a. die Schuldsklaverei jüdischer Mitbürger): das „Bundesbuch“ (2. Mose 20, 22–23, 19), das „deuteronomistische Gesetzbuch“ (5. Mose 12, 1–26, 15) und das „Heiligkeitsgesetz“ (3. Mose 17, 1–26, 46). Propheten hatten darüber geklagt, daß wohlhabende Israeliten arme Brüder um ihr Land und ihre Freiheit brachten (etwa Micha 2, 1–5). Diese Gesetze hatten Ähnlichkeiten mit Gesetzen der griechischen Stadtstaaten, den Poleis.
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soweit sie bäuerlichen Kreisen entstammen, ferner die Propaganda des „göttlichen Rechts“ [221] Radikale Gruppe der Hussiten, die chiliastische und sozialrevolutionäre Vorstellungen vertrat, wie die Errichtung eines irdischen Gottesreiches durch das Schwert oder die Ablehnung aller kirchlichen Einrichtungen. Benannt waren die Taboriten nach ihrem Zentrum Tabor in Südböhmen.
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im deutschen Bauernkrieg, die englischen radikalen kleinbäuerlichen Kommunisten und vor allem die russischen Bauernsektierer haben regelmäßig in mehr oder minder ausgeprägten feldgemeinschaftlichen In den sozialen Unruhen, die dem deutschen Bauernkrieg von 1524/25 vorausgingen, hatten Bauern die Wiederherstellung des „alten Rechts“ gefordert. Anders bäuerliche Geheimbünde (der Bundschuh), die für das „göttliche Recht“ kämpften. Unter den Forderungen, die sie erhoben, war die Aufhebung der Leibeigenschaft sowie die Freigabe von Jagd und Fischfang, von Wasser und Weide.
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Institutionen agrarkommunistische Anknüpfungspunkte, sind mit Proletarisierung bedroht und wenden sich gegen die offizielle Kirche in erster Linie in deren Eigenschaft als Zehntempfängerin und Stütze fiskalischer und grundherrlicher Gewalten. Ihre Verbindung mit religiösen Forderungen ist in dieser Art überhaupt nur möglich gewesen auf dem Boden einer schon bestehenden ethischen Religiosität, welche spezifische Verheißungen enthält, die zu Anknüpfungspunkten für ein revolutionäres Naturrecht dienen können, – wovon anderwärts. In seinen „Rußlandstudien“ (MWG I/10) definierte Max Weber den Begriff „Feldgemeinschaft“ wie folgt: „Unter ‚Feldgemeinschaft‘ ist hier stets jenes System (der sog. ,strengen F[eld]-G[emeinschaft]‘) verstanden, bei welchem der Einzelne seinen Anteil (Ackerland etc.) nicht von der Familie erbt, sondern von der Gemeinde (durch Umteilung) zugewiesen erhält“. (MWG I/10, S. 191, Fn. 57b).
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Also nicht auf asiatischem Boden, wo Kombination religiöser Prophetie mit revolutionären Strömungen (in China) in ganz anderer Art, nicht als eigentliche Bauernbewegung vorkommt. Die Bauern sind nur sehr selten die Schicht, welche irgendeine nicht magische Religiosität ursprünglich getragen hat. Die Prophetie Zarathustras appelliert allerdings dem Anscheine nach an den (relativen) Rationalismus der bäuerlichen ge[222]ordneten Arbeit und Viehzucht, im Kampf gegen die tierquälerische (vermutlich, wie bei dem Rauschkult, gegen den Moses kämpfte, Siehe WuG1, S. 496 (MWG I/22-3).
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mit bacchantischer Zerreißung von Rindern verknüpfte) Orgienreligiosität der falschen Propheten. [222] Das biblische Buch 2. Mose 32, 17 ff. schildert das Vorgehen des Mose gegen die Verehrung einer goldenen Kultstatue nach dem Auszug Israels aus Ägypten. Bei Heinrich Graetz heißt es: „Dieses Abbild des Apis oder Menis, das goldene Kalb, umtanzten die Stumpfsinnigen als eine Gottheit. Es waren allerdings nur einige Tausende, die Mose, als er vom Berge herniedergestiegen war, durch die ihm anhänglichen Leviten mit dem Tode bestrafen ließ. Nur mit äußerster Strenge konnte das Götzentum aus der Mitte der Israeliten vertilgt werden“. (Graetz, Heinrich, Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, 1. Band. – Leipzig: Oskar Leiner o. J., S. 41 f.). Weber hielt die Abhandlungen von Graetz für „die einzige umfassende Geschichte der Juden in deutscher Sprache“. (Postkarte an Werner Sombart vom 1. Februar 1906, unveröffentlicht, Archiv der Akademie der Künste Berlin; NI. Carl Hauptmann, K 146 [[MWG I/11]]). Später führte Max Weber dazu aus: „Der ‚Tanz um das goldene Kalb‘, gegen welchen nach der Tradition Mose, die ‚Hurerei‘, gegen welche die Propheten eifern, die kultischen Reigen, von denen überall die Spuren vorhanden sind, die in den Rechtssammlungen, in den Legenden […] und bei den Propheten ausdrücklich bezeugte Existenz der Hierodulen […] ergeben den sexual-orgiastischen Charakter der alten fröhlichen Baalskulte.“ (Weber, Judentum III, S. 621 f.)
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Da dem Parsismus nur der beackerte Boden als magisch „rein“, der Ackerbau also als das absolut Gottgefällige galt, Vgl. oben, S. 202, Anm. 68.
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so hat er auch nach der stark umgestaltenden Adaptierung an den Alltag, den er gegenüber der Urprophetie bedeutete, einen ausgeprägt agrarischen und infolgedessen in seinen sozialethischen Bestimmungen einen spezifisch antibürgerlichen Zug beibehalten. Aber soweit die zarathustrische Prophetie selbst ökonomische Interessen für sich in Bewegung setzte, dürften dies ursprünglich mehr solche von Fürsten und Grundherren an der Prästationsfähigkeit „Wer Getreide durch Aussähen anbaut: der baut das Gesetz (ascha) an, der fördert die mazdayasnische Religion vorwärts, der bringt diese mazdayasnische Religion zum Gedeihen“ (Videvdad 3, 31). (Zitiert nach Wolff, Fritz, Avesta. Die Heiligen Bücher der Parsen, übersetzt auf der Grundlage von Bartolomae’s altiranischem Wörterbuch. – Straßburg: Karl J. Trübner 1910, S. 329 f.).
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ihrer Bauern gewesen sein, als die von Bauern selbst. In der Regel bleibt die Bauernschaft auf Wetterzauber und animistische Magie oder Ritualismus, auf dem Boden einer ethischen Religiosität aber auf eine streng formalistische Ethik, des „do ut des“ dem Gott und Priester gegenüber, eingestellt. Abgabe- oder Leistungsfähigkeit.
[223][A 269]Daß gerade der Bauer als der spezifische Typus des gottwohlgefälligen und frommen Menschen gilt, ist – vom Zarathustrismus und den Einzelbeispielen einer meist durch patriarchalistisch-feudale oder umgekehrt durch intellektualistisch-weltschmerzliche Literatenopposition gegen die Stadtkultur und ihre Konsequenzen abgesehen – eine durchaus moderne Erscheinung. Keine der bedeutenderen ostasiatischen Erlösungsreligionen weiß davon etwas. Der indischen, am konsequentesten der buddhistischen Erlösungsreligiosität ist er religiös verdächtig oder direkt verpönt (wegen der ahimsa, des absoluten Tötungsverbots). Die israelitische Religiosität der vorprophetischen Zeit ist noch stark Bauernreligiosität. Die Verklärung des Ackerbaus als gottwohlgefällig
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dagegen in der nachexilischen Zeit ist literatenhafte und patriarchalistische Opposition gegen die bürgerliche Entwicklung. Die wirkliche Religiosität sah wohl schon damals anders aus und vollends später, zur Zeit der pharisäischen Epoche. Der spätjüdischen Gemeindefrömmigkeit der Chaberim ist „Landmann“ und „gottlos“ einfach identisch,[223] „Ob dir's sauer wird mit deiner Nahrung und Ackerwerk, das laß dich nicht verdrießen; denn Gott hat’s so geschaffen“ heißt es in den Sprüchen des Jesus Sirach aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. (Sirach 7, 16). Eine ähnliche Ermahnung findet sich in den Testamenten der zwölf Patriarchen, Testament Issachar 5, 3–6.
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der Nichtstädter sowohl politisch wie religiös ein Jude zweiter Klasse. Denn wie beim buddhistischen und hinduistischen, so ist es beim jüdischen Ritualgesetz praktisch so gut wie unmöglich, als Bauer wirklich korrekt zu leben. Die nachexilische und vollends die talmudische Rabbinentheologie ist in ihren praktischen Konsequenzen direkt landbauerschwerend. Die zionistische Besiedelung Palästinas stieß z. B. noch jetzt auf das spätjüdische Theologenprodukt des Sabbatjahrs als absolutes Hindernis, für welches die osteuropäischen Rabbinen (im Gegensatz zu dem Doktrinarismus der deutschen Orthodoxie) erst einen durch die spezifische Gottwohlgefälligkeit dieser Siedelung begründeten Dispens konstruieren mußten. Die städtischen Pharisäer (aus dem Aramäischen wörtlich: „die Abgesonderten“) verstanden sich als Genossen (hebr.: ḥăberîm), die sich von anderen Juden, die die Reinheitsgebote weniger gewissenhaft beachteten, absonderten und diese herablassend „Volk des Landes“ (ʿam hāʾāreṣ) nannten.
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Dem Frühchristentum heißt der [224]Heide einfach Landmann (paganus). Noch die mittelalterlichen Kirchen in ihrer offiziellen Doktrin (Thomas v. Aquin) Die biblische Anweisung, alle sieben Jahre das Land brach liegen zu lassen (2. Mose 23, 10 f.; 3. Mose 25, 1–7) bezog sich auf das Land Israel, nicht auf Diasporaland. [224]Mit der Entstehung des Zionismus und der erneuten Besiedlung des Landes Israels (ʾereṣ Israel) wurde diese Vorschrift für jüdische Siedler zu einem praktischen Problem. Vor dem Sabbatjahr 1889 kam unter führenden Rabbinern eine Diskussion auf, ob es erlaubt sei, für begrenzte Zeit Land und Weinberge an Nicht-Juden zu verkaufen, damit das Land auch im Sabbatjahr genutzt werden könne. Während der russische Rabbi Isaac Elhanan Spektor (1817–1896) aus Kovno den Verkauf für zwei Jahre an Moslems gestattete, widersetzte sich die Aschkenasische Gemeinde von Jerusalem und ihre Rabbiner Moses Joshua Judah Leib Diskin (1817–1898) und Samuel Salant (1816–1909) diesem „Dispens“. Vor dem Sabbatjahr 1910 lebte die Kontroverse erneut auf. Nun setzte sich der Oberrabbiner von Jaffa, Abraham Isaac Kook (1865–1935), für den befristeten Verkauf von Land an Moslems ein, Rabbi Jacob David Ben Ze’ev Willowski (1845–1913) aus Safed lehnte ihn ab. Willowski richtete einen internationalen Hilfsfond für diejenigen Juden ein, die ihr Land im Sabbatjahr 1910 brach liegen ließen. (Vgl. Sabbatical Year in Post-Biblical Times, in: Encyclopaedia Judaica, vol. 14. – Jerusalem: Keter Publishing House Ltd. 1971, S. 582–586). Weber hat sich in einem Brief vom 18. August 1913 an Ernst J. Lesser (The Jewish National and University Library, Jerusalem, Autograph Collection/Max Weber; MWG II/8) mit dem Zionismus und dessen Problemen umfassend auseinandergesetzt. Weber zweifelte nicht, daß den Juden eine neue Besiedlung Palästinas gelingen könne, allerdings wären sie dabei „Spielball der Launen der großen Mächte“. Dazu käme noch etwas anderes. Im Unterschied zum Syndikalismus würden sie sich auf eine „Verheißung“ berufen. Doch könnten wirklich „eine gut rentierende Colonie“, „ein ‚autonomer‘ Kleinstaat“, „Krankenhäuser, gute Schulen jemals als eine ‚Erfüllung‘ und nicht viel mehr als eine Kritik jener ,grandiosen Verheißungen‘ wirken“? Was tatsächlich fehle, seien Tempel und Hohepriester. Weber fragte nach einem jüdischen, „Hierarch“, dem die 12 Millionen Juden in der ganzen Welt gefühlsmäßig unterstehen, und einer Orthodoxie, die sich ihm fügen würde. Daß das jüdische Würdegefühl an religiöse Bedingungen geknüpft ist, sei die „eigentliche innere Problematik des Zionismus“.
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behandeln den Bauer im Grunde als Christen minderen Ranges, jedenfalls mit äußerst geringer Schätzung. Die religiöse Verklärung des Bauern und der Glaube an den ganz spezifischen Wert seiner Frömmigkeit ist erst Produkt einer sehr modernen Entwicklung. Sie ist zunächst dem Luthertum, in einem ziemlich stark fühlbaren Gegensatz zum Calvinismus und den meisten protestantischen Sekten, demnächst der modernen, slawophil beeinflußten, russischen Religiosität, spezifisch. Kirchlichen Gemeinschaften also, [225]welche durch die Art ihrer Organisation in besonders starkem Maß mit fürstlichen und adeligen, autoritären Interessen verknüpft und von ihnen abhängig sind. Für das modernisierte Luthertum – denn die Stellung von Luther selbst ist das noch nicht – war der Kampf gegen den intellektualistischen Rationalismus und politischen Liberalismus, für die slawophile religiöse Bauernideologie daneben noch der Kampf gegen den Kapitalismus und modernen Sozialismus das leitende Interesse, während die Verklärung des russischen Sektierertums durch die „Narodniki“ Weber, Protestantische Ethik I, S. 42, Fn. 2, erwähnte die Abhandlung von Max Maurenbrecher, Thomas von Aquino’s Stellung zum Wirtschaftsleben seiner Zeit. Einleitung und erster Teil. – Leipzig: J. J. Weber 1898. Maurenbrecher bemerkte: „Schliesslich zeigt schon die geringe Beachtung, die er [Thomas] agrarischen Verhältnissen überhaupt zu teil werden lässt, einen wie geringen Wert er diesem Teile der Bevölkerung zugeschrieben hat“ (ebd., S. 73). Ein Nachweis der Abwertung findet sich auch ebd., S. 40, Anm. 1. In seinem Kommentar der aristotelischen Politik interpretiert Thomas von Aquin die Stadt als vollkommenste Form menschlichen Zusammenlebens, weshalb ihm das städtische [225]Leben als die für den Menschen natürliche Lebensform gilt. Wer nicht Bewohner einer Stadt sei, müsse entweder verbannt worden oder so arm sein, daß er gezwungen sei, den Acker zu bebauen oder das Vieh zu hüten (ebd., S. 38–41).
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den antirationalistischen Protest des Intellektualismus mit der Revolte des proletarisierten Bauernstandes gegen die den herrschenden Gewalten dienstbare Bürokratenkirche in Beziehung setzen und dadurch beide religiös verklären möchte. Als „Narodniki“ wurden die Anhänger des Narodnitschestwo bezeichnet, einer Strömung in der russischen Intelligenz seit Anfang der 1870er Jahre. Durch Propaganda unter dem Volk (narod) wollten sie politische Aufklärung betreiben, um eine Veränderung der Verhältnisse zu erreichen. Ihre Ziele waren populistischer Natur und dienten der Verteidigung der traditionellen Lebenswelt gegen die Zerstörung durch moderne Institutionen, daher auch als „agrarkommunistisch“ bezeichnet. Aus der Bewegung heraus wurde 1876 eine geheime Organisation gegründet („Zemla i Volja“), die die Veränderung der Gesellschaft statt durch friedliche Propaganda durch Gewaltaktionen herbeiführen sollte. Diese Organisation spaltete sich 1879 in einen gemäßigten und in einen radikalen Flügel auf.
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In allen Fällen handelt es sich also dabei in sehr starkem Maße um Rückschläge gegen die Entwicklung des modernen Rationalismus, als dessen Träger die Städte gelten. Ganz im Gegensatz dazu gilt in der Vergangenheit die Stadt als Sitz der Frömmigkeit, und noch im 17. Jahrhundert erblickt Baxter in den (durch hausindustrielle Entwicklung herbeigeführten) Beziehungen der Weber von Kidderminster zur Großstadt London ausdrücklich eine Förderung der Gottseligkeit unter ihnen.[225]A: möchten.
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Tatsächlich ist die frühchristliche Religiosität städtische [226]Religiosität, die Bedeutung des Christentums steigt unter sonst gleichen Umständen, wie Harnack In seiner „Protestantischen Ethik“ bemerkte Weber: „So sagt Baxter von seinen Handwebern in Kidderminster: And their constant converse and traffic with London doth much to promote civility and piety among tradesmen […]“. (Weber, Protestantische Ethik II, S. 78, Fn. 14; Weber zitierte Baxter nach: Works of the English Puritan Divines. Baxter. With an Essay on his Life, Ministry, and Theology by Thomas W. Jenkyn. – London: Thomas Nelson 1846, S. XXXVIII (Punkt 15)). 1649 wurde Richard Baxter Pfarrer in Kidderminster, einer westenglischen Stadt in der Grafschaft Worcester.
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überzeugend dargetan hat, mit der Größe der Stadt. Und im Mittelalter ist die Kirchentreue ebenso wie die sektiererische Religiosität ganz spezifisch auf dem Boden der Städte entwickelt. Es ist ganz unwahrscheinlich, daß eine organisierte Gemeindereligiosität[,] wie die frühchristliche es wurde, sich so wie geschehen, außerhalb eines städtischen, und das heißt: eines im okzidentalen Sinn „städtischen“ Gemeindelebens hätte entwickeln können. Denn sie setzt jene Sprengung der Tabu[A 270]schranken zwischen den Sippen, jenen Amtsbegriff, jene Auffassung der Gemeinde als einer „Anstalt“, [226] Bei Adolf Harnack, Mission II, S. 278, heißt es: „Das Christentum war Städtereligion: je größer die Stadt, desto stärker – wahrscheinlich auch relativ – die Zahl der Christen“. In einem Brief an Adolf Harnack vom 5. Februar 1906 (MWG II/5, S. 32 f.) bedankte sich Weber für die Übersendung der zweiten Auflage von Harnacks zweibändigem Werk, das Weber „keineswegs unbekannt“ war. Er hoffte, später auf Studien über „die Kirche in der Sozialgeschichte“ und die „Sozialgeschichte der Kirche“ zurückzukommen, wobei er die Bände von Harnack für unentbehrlich hielt.
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eines sachlichen Zwecken dienenden körperschaftlichen Gebildes, welches sie ihrerseits verstärkte und deren Wiederaufnahme durch die entstehende Städteentwicklung des europäischen Mittelalters sie sehr stark erleichterte, doch auch wieder als schon vorhandene Konzeptionen voraus. Diese Konzeptionen aber sind in der Welt ausschließlich auf dem Boden der Mittelmeerkultur, speziell des hellenistischen und endgültig des römischen Stadtrechts wirklich voll entwickelt worden. Aber auch die spezifischen Qualitäten des Christentums als ethischer Erlösungsreligion und persönlicher Frömmigkeit fanden ihren genuinen Nährboden auf dem Boden der Stadt und haben dort immer wieder neue Triebe angesetzt, im Gegensatz gegen die ritualistische, magische oder formalistische Umdeutung, welche durch das Übergewicht der feudalen Mächte begünstigt wurde. Ernst Troeltsch trug am 21. Oktober 1910 auf der ersten Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt a.M. die These vor, das Christentum habe sich im Lauf seiner langen Geschichte in drei verschiedenen sozialen Typen ausgeformt: der Kirche als einer Gnadenanstalt, der Sekte als einer rigorosen Gemeinschaft der Heiligen und der Mystik als eines gemeinschaftslosen individuellen religiösen Erlebens. (Troeltsch, Naturrecht, S. 170–175). Weber griff in der anschließenden Diskussion die Unterscheidung auf: „Eine ‚Sekte‘ ist – wenn man sie von einer ‚Kirche‘ begrifflich scheiden will – eben nicht, wie diese, eine Anstalt, sondern eine Gemeinschaft von religiös Qualifizierten“ (Weber, Verhandlungen 1910, S. 196 f.).
[227]Der Kriegsadel und alle feudalen Mächte pflegen nicht leicht Träger einer rationalen religiösen Ethik zu werden. Der Lebensführung des Kriegers ist weder der Gedanke einer gütigen Vorsehung noch derjenige systematischer ethischer Anforderungen eines überweltlichen Gottes wahlverwandt. Begriffe wie „Sünde“, „Erlösung“, religiöse „Demut“ pflegen dem Würdegefühl aller politisch herrschenden Schichten, vor allem aber des Kriegsadels, nicht nur fern zu liegen, sondern es direkt zu verletzen. Eine Religiosität, welche mit diesen Konzeptionen arbeitet, zu akzeptieren und sich vor dem Propheten oder Priester zu beugen, muß einem Kriegshelden oder vornehmen Mann – dem Römeradel noch der taciteischen Zeit wie dem konfuzianischen Mandarinen – unvornehm und würdelos erscheinen. Den Tod und die Irrationalitäten des menschlichen Schicksals innerlich zu bestehen, ist dem Krieger eine alltägliche Sache, und die Chancen und Abenteuer des Diesseits erfüllen sein Leben derart, daß er etwas anderes als den Schutz gegen bösen Zauber und zeremonielle, dem ständischen Würdegefühl adäquate und zu Bestandteilen der Standeskonvention werdende Riten, allenfalls priesterliche Gebete für Sieg oder glücklichen, in einen Heldenhimmel führenden Tod von einer Religiosität nicht verlangt und ungern akzeptiert. Stets ist, wie schon in anderem Zusammenhang erwähnt,
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der gebildete Hellene, mindestens der Idee nach, auch ein Krieger geblieben. Der schlichte animistische Seelenglaube, der die Art der Jenseitsexistenz und letztlich diese selbst durchaus dahingestellt sein läßt, aber jedenfalls dessen ziemlich sicher ist, daß das dürftigste irdische Dasein dem Königtum über den Hades vorzuziehen sei, ist bei den Hellenen bis in die Zeit völliger Entpolitisierung der normale Glaube geblieben, über den nur die Mysterien mit ihrer Darbietung von Mitteln zur ritualistischen Verbesserung des Diesseits- und Jenseitsloses in gewissem Umfang, radikal aber nur die orphische Gemeindereligiosität mit ihrer Seelenwanderungslehre hinausführten. Zeiten starker prophetischer oder reformatorischer religiöser Erregung reißen allerdings auch und oft gerade den Adel in die Bahn der prophetischen ethischen Reli[228]giosität, weil sie eben alle ständischen und Klassenschichten durchbricht und weil der Adel der erste Träger der Laienbildung zu sein pflegt. Allein die Veralltäglichung der prophetischen Religiosität pflegt sehr bald den Adel aus dem Kreise der religiös erregten Schichten wieder auszuscheiden. Schon die Zeit der Religionskriege in Frankreich zeigt die ethischen Konflikte der Hugenottensynoden, z. B. mit einem Führer wie Condé[,] [227] In seiner Konfuzianismusstudie (MWG I/19, S. 305) bemerkte Weber: „Der hellenische vornehme Gebildete dagegen war und blieb in erster Linie Ephebe und Hoplit, solange die Bildung hellenisch – und nicht ‚hellenistisch‘ – war“.
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über ethische Fragen. Der schottische ebenso wie der englische und französische Adel ist aus der calvinistischen Religiosität, innerhalb deren er oder wenigstens einige seiner Schichten anfänglich eine erhebliche Rolle gespielt hatte, schließlich fast vollständig wieder ausgeschieden. [228] 1559 wurde in Paris die erste protestantische Nationalsynode abgehalten. Die „Verschwörung von Amboise“ (1560) und das „Blutbad von Vassy“ (1562) führten zu den Religionskriegen zwischen Katholiken und den französischen Prostestanten, den Hugenotten. Louis I. de Bourbon, erster Prince de Condé, wurde neben Gaspard de Coligny (1519–1572) zu einem der führenden Feldherren der Hugenotten. 1561 wurden die „Religionsgespräche von Poissy“ eröffnet, an denen u. a. der Genfer Theologe und Calvin-Schüler Theodor Beza teilnahm.
Mit ritterlichem Standesgefühl vereinbar ist die prophetische Religiosität naturgemäß da, wo sie ihre Verheißungen dem Glaubenskämpfer spendet. Diese Konzeption setzt die Exklusivität des einen Weltgottes und die sittliche Verworfenheit der Ungläubigen als seiner Feinde, deren unbehelligte Existenz seinen gerechten Zorn erregt, voraus. Sie fehlt daher der Antike im Okzident ebenso wie aller asiastischen Religiosität bis auf Zarathustra. Aber auch hier fehlt noch der [A 271]direkte Zusammenhang des Kampfs gegen den Unglauben mit den religiösen Verheißungen. Diesen hat zuerst der Islam geschaffen. Vorstufe und wohl auch Vorlage dafür waren die Verheißungen des jüdischen Gottes an sein Volk, wie sie Muhammed, nachdem er von einem pietistischen Konventikelführer in Mekka zum Podestà von Jathrib-Medina geworden und von den Juden als Prophet endgültig abgelehnt war, verstand und umdeutete. Die alten Kriege der israelitischen Eidgenossenschaft unter Jahves Heilanden galten der Überlieferung als „heilige“ Kriege. Der heilige Krieg, d. h. der Krieg im Namen eines Gottes zur speziellen Sühnung eines Sakrilegs[,] ist der Antike, speziell der hebräischen
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, mit seinen Konsequenzen: Bannung und absolute [229]Vernichtung der Feinde und aller ihrer Habe,[228]A: hellenischen
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auch sonst nicht fremd. Aber hier war das Spezifikum: daß das Volk Jahves als dessen spezielle Gemeinde dessen Prestige an seinen Feinden bewährt. Als Jahve der Universalgott geworden war, schuf daher die Prophetie und die Psalmenreligiosität statt des Besitzes des verheißenen Landes die weitergehende Verheißung der Erhöhung Israels als des Volkes Jahves über die anderen Völker, [229] Weber bezieht sich auf einen jüdischen Handlungstyp, der in den hellenischen antiken Stadtstaaten so nicht bekannt war. Im Blick auf die Landnahme schreibt das „Kriegsgesetz“ vor: „Aber in den Städten dieser Völker, die dir der HErr, dein Gott, zum Erbe geben wird, sollst du nichts leben lassen, was Odem hat, Sondern sollst sie verbannen, […]“. (5. Mose 20, 16 f., vgl. auch 13, 13–19; 1. Samuel 15, 18). In 4. Mose 21, 1–3 wird berichtet, daß Israel nach seinem Sieg über die von König Arad angeführten Kanaaniter den Bann vollstreckte. (Vgl. auch Josua 6, 17–25; Richter 1, 17).
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die alle dereinst Jahve zu dienen und Israel zu Füßen zu liegen gezwungen werden sollen. Hieraus machte Muhammed das Gebot des Glaubenskriegs bis zur Unterwerfung der Ungläubigen unter die politische Gewalt und Zinsherrschaft der Gläubigen. Daß die Heiden nach Jerusalem ziehen werden, um Jahwe mit ihren Gütern zu ehren und seinem Volk Israel zu dienen, spricht Jesaja 60 als Hoffnung aus. In den Psalmen Salomos aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. heißt es vom Messias: „Und er hält die Heidenvölker unter seinem Joche, daß sie ihm dienen“ (17, 30). (Kautzsch, Emil Friedrich, Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, 2. Band: Die Pseudepigraphen des Alten Testaments. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1900, S. 146). Ähnliche Gedanken finden sich in: Psalm 2, 8 und 72, 11, Daniel 7, 13 f. und Sibyllinische Orakel III, 716–723.
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Ihre Vertilgung wird, soweit sie „Buchreligionen“ angehören, nicht verlangt, im Gegenteil ihre Schonung schon im Interesse der Finanzen geboten. Erst der christliche Glaubenskrieg steht unter der augustinischen Devise „coge intrare“: Nicht-islamische Völker, die im Besitz einer heiligen Schrift waren (die Juden und die Christen), besaßen bei Zahlung einer Kopfsteuer (ǧizya) den Status von Schutzbefohlenen. In Koran, Sure 9, 29 heißt es: „Bekämpfet diejenigen der Schriftbesitzer, welche nicht glauben an Gott und den Jüngsten Tag, und die das nicht verbieten, was Gott und sein Gesandter verboten, und sich nicht zur wahren Religion bekennen; so lange, bis sie ihre Kopfsteuer entrichten und gänzlich unterworfen sind“. Ignaz Goldziher bemerkte dazu: „Es ist dabei den Kämpfern des Islams zunächst nicht so sehr um Bekehrung als um Unterwerfung der Ungläubigen zu tun“. (Goldziher, Vorlesungen über den Islam, wie oben, S. 172, Anm. 5, S. 25).
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die Ungläubigen oder Ketzer haben nur [230]die Wahl zwischen Konversion und Ausgerottetwerden. Der islamische Glaubenskrieg noch mehr, weil noch ausdrücklicher, als derjenige der Kreuzritter – denen Papst Urban die Notwendigkeit der Expansion zur Gewinnung von Lehen für den Nachwuchs sehr nachdrücklich nahezulegen nicht versäumte Eine Rechtfertigung für die Zwangsbekehrung Andersgläubiger findet sich in einem Brief des Kirchenvaters Augustinus an Vincentius von Cartenna aus dem Jahre 408 (Epistel 93, 5). Unter Bezug auf Lukas 14, 23 („Und der Herr sprach zu dem Knechte: Gehe aus auf die Landstraßen und an die Zäune, und nötige sie, hereinzukommen, auf daß mein Haus voll werde“) schrieb er: „cogite intrare“ (lat.: zwinge sie, einzutreten). Hintergrund sind die Auseinandersetzungen des Augustinus mit den Donatisten.
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– war eine wesentlich an feudalen Renteninteressen orientierte Unternehmung zur grundherrlichen Landnahme. Der Glaubenskrieg ist in den Regeln für die Vergebung von Spahipfründen noch im türkischen Lehensrecht wichtiges Qualifikationsmerkmal für Vorzugsansprüche. [230] Papst Urban II. rief auf der Synode von Clermont (18. bis 28. November 1095) zum ersten Kreuzzug auf. Einer der Augenzeugen der Kreuzzugsrede, der Bischof Baldricus von Dolé, berichtete, daß Papst Urban II. den Kreuzfahrern Erwerbschancen im Heiligen Land zusicherte: „Facultates etiam inimicorum vestrae erunt; quoniam et illorum thesauros expoliabitis, et vel victoriosi ad propria remeabitis, vel sanguine vestro purpurati, perenne bravium adipiscemini“. (Vgl. Baldricus episcopus Dolensis, Historia Jerosolimitana, in: Recueil des Historiens des Croisades. Historiens Occidentaux, tome quatrième. – Paris: Imprimérie Nationale 1879, S. 15 c).
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Die Verheißungen, welche, abgesehen von der Herrscherstellung, selbst im Islam an die kriegerische Propaganda geknüpft sind, insbesondere also das islamische Paradies als Lohn für den Tod im Glaubenskrieg, Spahi oder Sipahi (türk.-pers.: „Krieger“) bezeichnete ursprünglich den zur Stellung von Soldaten verpflichteten Adel, später die von den Inhabern der türkischen Kriegerlehen zu stellenden Reiter. Wie Joseph von Hammer-Purgstall bemerkte, „sollten die Lehen nur wirklichen Söhnen von Sipahi oder belehnten Reitern verliehen […] werden. Die Vermehrung derselben hatte vormahls bloss nach dem Fusse der auf dem Schlachtfelde erworbenen Verdienste Statt, so dass, wer Kopf oder Zunge einbrachte, bey jedem zehn Aspern der Einkünfte seines Lehens einen Asper Vermehrung erhielt. Fünfzehn eingebrachte Köpfe oder Zungen gaben rechtmässigen Anspruch auf die Verleihung eines grösseren Lehens, Siamet“. (Hammer-Purgstall, Joseph von, Geschichte des Osmanischen Reiches, Band 4: Vom Regierungsantritte Murad des Dritten bis zur zweyten Entthronung Mustafa's I. – 1574–1623. – Pest: C. A. Hartleben 1829, S. 190 f.).
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sind natürlich so wenig Erlösungsverheißungen im eigentlichen Sinne dieses Wortes Sure 47, 5–7: „Und die so da kämpfen für die Religion Gottes, deren Werke wird Gott nicht verloren sein lassen; er wird sie vielmehr leiten, und die Bestrebungen ihres Herzens beglücken, und sie in das Paradies führen, das er ihnen angekündigt“.
q
wie die Verheißung von Walhall,[230]A: Wortes,
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des Heldenparadieses, welches dem indischen Kshatriya, der in der Schlacht fällt – wie dem Kriegshelden, der des Lebens, [231]sobald er den Sohn seines Sohnes sieht, satt wird, – verheißen ist, Walhall (altnordisch: „Halle der Gefallenen“) galt in der nordgermanischen Mythologie als Wohnsitz des Gottes Odin und als Aufenthaltsort für die im Kampf gefallenen Krieger.
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oder die irgendeines anderen Kriegerhimmels. Und diejenigen religiösen Elemente des alten Islam, welche den Charakter einer ethischen Erlösungsreligion darstellen, traten demgegenüber denn auch, solange er wesentlich Kriegerreligion blieb, stark zurück. Die Religiosität der dem islamischen Kriegsorden entsprechenden, in den Kreuzzügen zunächst gegen den Islam geschaffenen, mittelalterlichen zölibatären Ritterorden aber, besonders der Templer, [231] Bei Edward Washburn Hopkins heißt es: „But it is the same if one be slain or not, for he that dies in battle wins victory from death; […] ‚death in battle is the womb of heaven‘. […] To escape is a disgrace; to die in battle is best; to ask for mercy is a sin; sweet is it to die in battle; the path to heaven lies in fighting“. (The Social and Military Position of the Ruling Caste in Ancient India, as represented by the Sanskrit Epic, in: Journal of the American Oriental Society, vol. 13, 1889, S. 57–376, Zitat: S. 186). Eine ähnliche Ausführung findet sich in Webers Hinduismusstudie (MWG I/20, S. 130 mit Hg.-Anm. 47, die auf Hopkins verweist).
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ebenso die der indischen, aus der Verbindung islamischer Ideen mit einem anfänglich streng pazifistischen Hinduismus entstandenen und durch die Verfolgung zum Ideal des rücksichtslosen Glaubenskampfes getriebenen Sikhs und endlich diejenige der zeitweilig politisch wichtigen japanischen kriegerischen Buddhamönche hatten ebenfalls mit „Erlösungsreligiosität“ im allgemeinen nur formal etwas zu tun. Selbst ihre formale Orthodoxie war oft von zweifelhafter Echtheit. Mitglieder des 1119 in Palästina gegründeten französischen Ritterordens. 1307 wurden die Templer in Frankreich wegen angeblicher Ketzerei einem Inquisitionsverfahren unterzogen, ihr Orden 1312 aufgehoben.
Wenn so der Kriegerstand in den Formen des Rittertums der Erlösungs- und Gemeindereligiosität fast durchweg negativ gegenübersteht, so ist dies Verhältnis teilweise anders innerhalb „stehender“, d. h. wesentlich bürokratisch organisierter Berufsheere mit „Offizieren“. Das chinesische Heer allerdings hat einfach, wie jeder andere Beruf, seinen Spezialgott, einen staatlich kanonisierten Heros. Und die leidenschaftliche Parteinahme des byzantinischen Heeres für die Bilderstürmer entstammte nicht ewa puritanischen Prinzipien, sondern lediglich der durch den Islam beeinflußten Stellungnahme seiner Rekrutierungsprovinzen. Aber [A 272]im römisehen Heere des Prinzipats spielte, seit dem 2. Jahrhundert, neben gewissen anderen, hier nicht interessierenden, bevorzugten Kulten, die Gemeindereligion des Mithras, die Konkurrentin des Christen[232]tums, mit ihren Jenseitsverheißungen eine sehr bedeutende Rolle. Vor allem (aber nicht nur) innerhalb der Zenturionenschicht,
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also der Subalternoffiziere mit Zivilversorgungsanspruch. Nur sind die eigentlich ethischen Anforderungen der Mithrasmysterien bescheiden und sehr allgemein gehaltene: sie ist wesentlich ritualistische Reinheitsreligion, exklusiv männlich – die Frauen sind ausgeschlossen – in scharfem Gegensatz zum Christentum, überhaupt eine der maskulinsten Erlösungslehren, dabei in eine Hierarchie von Weihen und religiösen Rangordnungen abgestuft und im Gegensatz zum Christentum nicht exklusiv gegen die Teilnahme an anderen Kulten und Mysterien – welche vielmehr nicht selten vorkommt –, daher seit Commodus, der zuerst die Weihen nahm (etwa so wie früher die Preußenkönige die Logenmitgliedschaft), [232] Ein Zenturio stand an der Spitze einer römischer Zenturie, einer Soldatenabteilung von 100 Mann.
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bis auf ihren letzten begeisterten Vertreter Julianus, von den Kaisern protegiert. Neben den Diesseitsverheißungen, welche auch hier wie immer mit den Verheißungen des Jenseits verknüpft waren, spielte bei der Anziehungskraft dieses Kults auf die Offiziere gewiß der wesentlich magisch-sakramentale Charakter der Gnadenspendung und das hierarchische Avancement in den Weihen eine Rolle. Mit Logen wird die Organisationsform der Freimaurer bezeichnet, einer humanistisch orientierten, exklusiven Gemeinschaft von Männern.
Die gleichen Momente haben den Kult sicherlich den außermilitärischen Beamten empfohlen, in deren Kreisen er gleichfalls beliebt war. Zwar finden sich auch sonst innerhalb des Beamtentums Ansätze zu Neigungen für spezifische Erlösungsreligiosität. Die pietistischen deutschen Beamten – der Ausdruck dafür, daß die bürgerlich-asketische Frömmigkeit in Deutschland als Vertreter spezifisch „bürgerlicher“ Lebensführung nur die Beamten, nicht ein bürgerliches Unternehmertum vorfand – und die allerdings mehr gelegentlich auftauchenden wirklich „frommen“ preußischen Generale des 18. und 19. Jahrhunderts sind Beispiele dafür. Aber in aller Regel ist nicht dies die Haltung einer herrschenden Bürokratie zur Religiosität. Sie ist stets Träger eines weitgehenden nüchternen Rationalismus einerseits, des Ideals der disziplinierten „Ordnung“ und Ruhe als absoluten Wertmaßstabes andererseits. Eine [233]tiefe Verachtung aller irrationalen Religiosität, verbunden mit der Einsicht in ihre Brauchbarkeit als Domestikationsmittel pflegt die Bürokratie zu kennzeichnen. So im Altertum schon die römischen Beamten. So heute die bürgerliche ebenso wie die militärische Bürokratie
1)
. Die spezifische Stellungnahme einer Bürokratie zu den religiösen Dingen ist klassisch im Konfuzianismus niedergeschlagen: Absolutes Fehlen jeglichen „Erlösungsbedürfnisses“ und überhaupt aller über das Diesseits hinausgreifenden Verankerungen der Ethik, die durch eine inhaltlich rein opportunistisch-utilitarische, aber ästhetisch vornehme Kunstlehre eines bürokratischen Standeskonventionalismus ersetzt ist, Ekrasierung[A 272][233] Ich erlebte es, daß Offizierkasinos beim ersten Auftreten des Herrn v. Egidy
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(Oberstleutnant a. D.) die bestimmte Erwartung hegten, S[eine] M[ajestät] Christoph Moritz von Egidy verfaßte als Oberstleutnant und etatsmäßiger Stabsoffizier im Königlich-Sächsischen 1. Husaren-Regiment Nr. 18 die Schrift: Ernste Gedanken. – Leipzig: Otto Wigand 1890. Als Verfechter eines dogmenfreien Christentums nahm er ablehnend Stellung zu den kirchlichen Lehren der Dreieinigkeit und der Göttlichkeit Christi mit seinem stellvertretenden Leiden. Die christlichen Wundererzählungen sah Egidy als Glaubenshindernis an. Seine Abhandlung führte im gleichen Jahr zum Ausschluß aus dem Militärdienst. Max Weber erwähnte Egidy, der in Militärkreisen sehr beliebt war, in einem Brief vom 7. Juli 1891 an seine Mutter Helene Weber: „Die Rede kam auf mancherlei, so auch auf Egidy und man konnte wieder sehen, welche eigentümlichen Sympathien die Denkweise dieses Mannes in Militärkreisen findet, nicht zu deren Schande, scheint mir“. (GStA Berlin, NI. Max Weber, Rep. 92, Nr. 3, BI. 151–153 (MWG II/4); abgedruckt in: Marianne Weber (Hg.), Max Weber. Jugendbriefe. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1936, S. 334).
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würde, da doch das Recht dieser Kritik eines Kameraden an der Orthodoxie ganz offenkundig sei, die Initiative dazu ergreifen, daß im Militärgottesdienst fortan nicht mehr die alten Kindermärchen, die doch kein ehrlicher Kerl zu glauben behaupten könne, aufgetischt würden. Als dies natürlich keineswegs geschah, lag dann die Einsicht nahe, daß für die Rekruten die Kirchenlehre, wie sie sei, das beste Futter bilde. Gemeint ist Wilhelm II., deutscher Kaiser und König von Preußen (1888–1918).
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jeder emotionellen und irrationalen individuellen, über den traditionellen Geisterglauben hinausgehenden Religiosität, Erhaltung des Ahnenkults und der Kindespietät als der universellen Grundlage der Subordination, „Distanz von den Geistern“, [233] Vernichtung.
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deren magische Beein[234]flussung der aufgeklärte Beamte verachtet, der superstitiöse ähnlich mitmacht wie bei uns etwa den Spiritismus, die Auf die Frage, was Weisheit ausmache, antwortete Konfuzius: „[ …] while respecting spiritual beings, to keep aloof from them, may be called wisdom“. (Zitiert nach Legge, James, The Chinese Classics, vol. 1: Confucian Analects, the Great Learning, and the Doctrine of the Mean, 2. Aufl. – Oxford: University Press 1892, S. 191; hinfort: Legge, Chinese Classics I). Legge erläuterte in einer Anmerkung: „keep at a distance from them“.
r
beide aber als Volksreligiosität mit geringschätziger Gleichgültigkeit wuchern lassen und beide, soweit sie[234] Fehlt in A; die sinngemäß ergänzt.
s
in anerkannten Staatsriten ihrenA: er
t
Ausdruck findet, als Teil der ständisch-konventionellen Pflichten äußerlich respektieren. Die ungebrochene Erhaltung der Magie, speziell des Ahnenkults als Garantie der Fügsamkeit[,] ermöglichte der Bürokratie hier die [A 273]völlige Niederhaltung einer selbständigen kirchlichen Entwicklung und aller Gemeindereligiosität. Die europäische Bürokratie sieht sich, bei durchschnittlich etwa gleicher innerer Verachtung aller ernst genommenen Religiosität, im Interesse der Massendomestikation zur offiziellen Respektierung der bestehenden kirchlichen Religiosität genötigt. –A: seinen
u
In A folgt in Leerzeile: ***
Wenn für die religiöse Stellung der normalerweise am stärksten positiv privilegierten Schichten, des Adels und der Bürokratie, sich bei allen sehr starken Unterschieden doch gewisse gleichartige Tendenzen angeben lassen, so zeigen die eigentlich „bürgerlichen“ Schichten die stärksten Kontraste. Und zwar auch ganz abgesehen von den überaus starken ständischen Gegensätzen, welche diese Schichten in sich selbst entfalten. Denn zunächst die „Kaufleute“ sind teils Angehörige der höchstprivilegierten Schicht, so der antike städtische Patriziat, teils Parias, wie die besitzlosen Wanderhändler, teils privilegierte, aber hinter dem Adel oder dem Beamtentum ständisch zurückstehende, oder nicht oder selbst negativ privilegierte, aber faktisch mächtige Schichten, wie der Reihe nach die römische „Ritterschaft“, die hellenischen Metöken,
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die mittelalterlichen Gewandschneider und verwandte Händlerschichten, ferner die Geldleute und großen Kaufleute in Babel, die chinesischen und indischen Händler, schließlich die „Bourgeoisie“ der beginnenden Neuzeit. [234] In Athen und anderen griechischen Staaten die ständig ansässigen Fremden, die von der Volksversammlung ausgeschlossen waren und keine Grundstücke oder Häuser erwerben durften.
Die Stellung des kaufmännischen Patriziats zur Religiosität zeigt, unabhängig von diesen Unterschieden der Lage, in allen [235]Epochen eigentümliche Kontraste. Die energisch diesseitige Einstellung ihres Lebens legt ihnen an sich den Anschluß an eine prophetische oder ethische Religiosität wenig nahe. Die Großkaufleute der Antike und des Mittelalters sind Träger des spezifischen, unstetigen, nicht betriebsmäßigen „Gelegenheitsgelderwerbes“, Kapitalgeber der kapitallosen reisenden Händler, in historischer Zeit teils ein stadtsässiger, durch diesen Gelegenheitserwerb reich gewordener Adel mit ursprünglich grundherrlicher Basis, teils umgekehrt ein zu Grundbesitz gelangter Händlerstand mit Tendenz zum Aufstieg in die Adelsgeschlechter. Dazu treten mit geldwirtschaftlicher Deckung des politischen Bedarfs die Vertreter des politisch an Staatslieferungen und Staatskredit orientierten und des Kolonialkapitalismus, wie er in allen geschichtlichen Epochen sich fand. Alle diese Schichten sind nirgends primäre Träger einer ethischen oder Erlösungsreligiosität gewesen. Je privilegierter die Lage der Händlerschaft war, desto weniger zeigt sie überhaupt Neigung zur Entwicklung einer Jenseitsreligion. Die Religion der adeligen plutokratischen phönikischen Händlerstädte ist rein diesseitig gewendet und soweit bekannt gänzlich unprophetisch. Dabei aber ist die Intensität der Religiosität und die Angst vor den mit düsteren Zügen ausgestatteten Göttern sehr bedeutend. Der althellenische kriegerische, dabei aber halb seeräuberische, halb händlerische Seefahreradel dagegen hat das religiöse Dokument dessen, was ihm behagte, in der Odyssee mit ihrer immerhin starken Respektlosigkeit gegenüber den Göttern hinterlassen.
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Der chinesische taoistische Reichtumsgott, [235] Einen ähnlichen Sachverhalt beschrieb Weber in WuG1, S. 794 (MWG I/22-4): Der antike Adel, besonders der frühhellenische Bürger- und Polisadel, habe die Götter im homerischen Epos gänzlich respektlos behandelt. An mehreren Stellen der Odyssee werden die Götter nicht als übernatürliche Wesen mit gebührender Ehrfurcht behandelt, sondern als ganz gewöhnliche Menschen (etwa XII, 353–365, wo die Gefährten des Odysseus trotz eines Verbotes die heiligen Rinder des Sonnengottes Helios schlachteten).
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der von der Kaufmannschaft ziemlich universell verehrt wird, zeigt keine ethischen Züge, sondern ist rein magischen Charakters. Auch der Kult des hellenischen, freilich vorwiegend agrarischen Reichtumsgottes Pluto bildet einen Teil der eleusinischen Mysterien, welche abgesehen von [236]ritueller Reinheit und Freiheit von Blutschuld keinerlei ethische Anforderungen stellen. Die Freigelassenenschicht mit ihrer sehr starken Kapitalkraft suchte Augustus in charakteristischer Politik zu spezifischen Trägern des Kaiserkults durch Schaffung der Augustalenwürde Gemeint ist die taoistische Gottheit Guan Di (Pinyin). Sie gilt besonders als Schutzpatron der Kaufleute. (Vgl. MWG I/19, S. 414 und 471).
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zu machen; eigene, ihr spezifische Richtungen religiösen Interesses weist diese Schicht sonst nicht auf. Der Teil der Kaufmannschaft in Indien, welcher hinduistischer Religiosität ist, namentlich auch jene Bankierskreise, die aus den alten staatskapitalistischen Geldgeber- oder Großhändlerkreisen hervorgegangen sind, sind meist Vallabhacharis, d. h. Anhänger der von Vallabha Swami reformierten, vischnuitischen Priesterschaft der [A 274]Gokulastha Gosains[,] und pflegen eine Form der erotomorphen Krischna- und Radhadevotion, deren Kultmahle zu Ehren des Heilandes zu einer Art von erlesenem Diner raffiniert sind. [236] Mit „Augustalen“ wurden Männer bezeichnet, die in römischen Gemeinden den Kult des lebenden und der verstorbenen Kaiser besorgten. Die Augustalen stammten überwiegend aus der Schicht der Freigelassenen. Das Amt ist erstmals 12 v. Chr. belegt, war auf ein Jahr befristet, konnte aber mehrmals bekleidet werden. In seiner Abhandlung „Die Stadt“ äußerte sich Weber zum gleichen Sachverhalt: „Als eine Schicht ökonomischer Interessenten waren die Freigelassenen die gegebene Kultgemeinde des Augustus als des Bringers des Friedens. Die von ihm gestiftete Augustalenwürde ersetzte etwa unseren Hoflieferantentitel“. (MWG I/22-5, S. 283).
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Die Großhändlerschaften der Guelfenstädte Die Nachkommen des Gokula Nath (1552–1641), des Enkels von Vallabha Swami und Leiters der religiösen Bewegung der Vallabhacharis, werden als Gokulastha Gosains bezeichnet. In seiner Hinduismusstudie bemerkte Weber: „Die Macht der Gurus über die Laien ist groß: ein Skandalprozeß von 1862 in Bombay brachte an den Tag, daß sie gegenüber den weiblichen Gemeindemitgliedern gelegentlich das jus primae noctis praktizierten, und daß die heilige Begattung dabei nach altem orgiastischen Brauch in Gegenwart von Gemeindegenossen sich vollzog. Die Fleisch- und Alkohol-Orgien wurden zu kulinarisch erlesenen Diners sublimiert und entsprechend die Sexualorgien“. (MWG I/20, S. 503 f.).
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des Mittelalters, wie etwa die Arte di Calimala, sind zwar gut päpstlich in der Politik, fanden sich aber oft durch ziemlich mechanische und direkt wie Spott wirkende Mittel mit dem Wucherverbote der Kirche ab. Die großen und vornehmen Handelsherren des protestantischen Holland waren, als Arminianer, religiös spezifisch realpolitisch und die Hauptgegner des calvinistischen ethischen Rigorismus. In den italienischen Städten wurde seit etwa 1215 die Bezeichnung „Guelfen“ für die antikaiserlichen Anhänger des Papstes gebraucht.
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Skepsis oder Gleich[237]mut sind und waren überall eine sehr weit verbreitete Stellungnahme der Großhändler und Großgeldgeberkreise zur Religiosität. Die Arminianer (auch „Remonstranten“ genannt) waren Anhänger des Leidener reformierten Theologieprofessors Jacobus Arminius (1560–1609). 1610 legten sie in fünf [237]Artikeln eine Erörterung ihres Verständnisses der Prädestination dar, in der sie sich gegen die strenge Prädestinationslehre Johannes Calvins wehrten. Die Dordrechter Synode (1618–19) verurteilte ihre Lehre und setzte ca. 200 remonstrantische Pfarrer ab. Im selben Jahr organisierten sich die Arminianer in der „Remonstrantsche Broederschap“, 1798 wurden die Arminianer offiziell anerkannt. In seiner „Protestantischen Ethik“ bemerkte Weber: „Der ,Arminianismus‘, dessen dogmatische Eigenart in der Ablehnung des Prädestinationsdogmas in seiner schroffen Formulierung bestand, ist als Sekte nur in Holland (und den Ver[einigten] Staaten) konstituiert […]“. (Weber, Protestantische Ethik II, S. 1, Fn. 1).
Diesen leicht verständlichen Erscheinungen steht nun aber gegenüber: daß in der Vergangenheit die Neubildungen von Kapital, genauer ausgedrückt: von kontinuierlich betriebsmäßig in rationaler Weise zur Gewinnerzeugung verwertetem Geldbesitz, und zwar zumal von industriellem, also spezifisch modern verwertetem Kapital, in höchst auffallender Art und Häufigkeit mit rationaler ethischer Gemeindereligiosität der betreffenden Schichten verknüpft waren. Schon in den Handel Indiens teilen sich (geographisch) die Anhänger der noch in ihrer Modernisierung, welche die ritualistischen Reinheitsgebote als hygienische Vorschriften interpretiert, ethisch, besonders durch ihr bedingungsloses Wahrheitsgebot, rigoristischen Religion Zarathustras (Parsis), deren Wirtschaftsmoral ursprünglich nur den Ackerbau als Gott wohlgefällig anerkannte und allen bürgerlichen Erwerb perhorreszierte einerseits und andererseits die Jainasekte, also die am spezifischsten asketische Religiosität, welche es in Indien überhaupt gibt, mit den schon oben erwähnten
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Vallabhachianern (immerhin, bei allem antirationalen Charakter der Kulte, einer als Gemeindereligiosität konstituierten Erlösungslehre). Ob es richtig ist, daß die islamische Kaufmannsreligiosität besonders häufig Derwischreligiosität ist, kann ich nicht kontrollieren, doch ist es nicht unwahrscheinlich. Die ethisch rationale jüdische Gemeindereligiosität ist schon im Altertum sehr stark Händler- und Geldgeberreligiosität. In geringerem, aber doch merklichem Maße ist auch die mittelalterliche christliche, ketzerisch-sektiererische oder an das Sektentum streifende Gemeindereligiosität zwar nicht Händler-, aber doch „bür[238]gerliche“ Religiosität, und zwar je ethisch rationaler sie war, desto mehr. Vor allem aber haben sich die sämtlichen Formen des west-und osteuropäischen asketischen Protestantismus und Sektentums: Zwinglianer, Calvinisten, Reformierte, Baptisten, Mennoniten, Quäker, reformierte und in geringerer Intensität auch lutherische Pietisten, Methodisten, ebenso die russischen schismatischen und ketzerischen, vor allem die rationalen pietistischen Sekten, unter ihnen speziell die Stundisten und die Skopzen, zwar in sehr verschiedener Art, durchweg aber auf das engste mit ökonomisch rationalen und – wo solche ökonomisch möglich waren – kapitalistischen Entwicklungen verknüpft. Und zwar wird die Neigung zur Anhängerschaft an eine ethisch rationale Gemeindereligiosität im allgemeinen um so stärker, je mehr man von jenen Schichten sich entfernt, welche Träger des vornehmlich politisch bedingten Kapitalismus waren, wie er seit Hammurabis Zeit überall, wo es Steuerpacht, Staatslieferantenprofit, Krieg, Seeraub, Großwucher, Kolonisation gab, existierte, und je mehr man sich denjenigen Schichten nähert, welche Träger moderner, rationaler Betriebsökonomik, d. h. also Schichten mit bürgerlichem ökonomischem Klassencharakter (im später zu erörternden Sinn) Siehe oben, S. 236.
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waren. Die bloße Existenz von „Kapitalismus“ irgendwelcher Art genügt offensichtlich ganz und gar nicht, um ihrerseits eine einheitliche Ethik, geschweige denn eine ethische Gemeindereligiosität aus sich zu erzeugen. Sie wirkt von sich aus offenbar nicht eindeutig. Die Art des Kausalzusammenhangs der religiösen rationalen Ethik mit der besonderen Art des kaufmännischen Rationalismus da, wo dieser Zusammenhang besteht, lassen wir vorläufig noch außer betracht und stellen zunächst nur fest: daß eine, außerhalb der Stätte des ökonomischen Rationalismus, also außerhalb des Okzidents, nur gelegent[A 275]lich, innerhalb seiner aber deutlich, und zwar je mehr wir uns den klassischen Trägern des ökonomischen Rationalismus nähern, desto deutlicher zu beobachtende Wahlverwandtschaft zwischen ökonomischem Rationalismus [238] Siehe WuG1, S. 631–635 (MWG I/22-1).
a
und gewissen, später näher zu charakterisierenden[238] In A folgt: einerseits
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Arten von ethisch-rigoristischer Religiosität zu beobachten ist. Siehe unten, S. 311, S. 320 ff. und S. 442.
[239]Verlassen wir nun die sozial oder ökonomisch privilegierten Schichten, so steigert sich anscheinend das Untypische der religiösen Haltung. Innerhalb der Schicht des Kleinbürgertums, speziell des Handwerks, bestehen die größten Gegensätze nebeneinander. Kastentabu und magische oder mystagogische Sakraments- oder Orgienreligiosität in Indien, Animismus in China, Derwischreligiosität im Islam, die pneumatisch-enthusiastische Gemeindereligiosität des antiken Christentums, namentlich im Osten des römischen Weltreichs, Deisidämonie neben Dionysosorgiastik im antiken Hellenentum, pharisäische Gesetzestreue im antiken großstädtischen Judentum, ein wesentlich idolatrisches Christentum neben allen Arten von Sektenreligiosität im Mittelalter und alle Arten von Protestantismus in der beginnenden Neuzeit – dies sind wohl die größten Kontraste, welche sich untereinander denken lassen. Eine spezifische Handwerkerreligiosität war allerdings von Anfang an das alte Christentum. Sein Heiland, ein landstädtischer Handwerker,
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seine Missionare wandernde Handwerksburschen, der größte von ihnen, ein wandernder Zelttuchmachergeselle, [239] In Markus 6, 3 wird Jesus ein „Zimmermann [aus Nazareth]“ genannt.
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schon so sehr dem Lande entfremdet, daß er in einer seiner Episteln ein Gleichnis aus dem Gebiete des Okulierens Der Apostel Paulus verdiente seinen Lebensunterhalt auf den Missionsreisen mit seinem Handwerk (1. Thessalonicher 2, 9; 1. Korinther 4, 12; 2. Korinther 11, 27), laut Apostelgeschichte 18, 3 als „Zeltmacher“.
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handgreiflich verkehrt anwendet, endlich die Gemeinden, wie wir schon sahen, Im Römerbrief 11, 17 f. erläuterte Paulus das Veredeln: „Ob aber nun etliche von den Zweigen ausgebrochen sind, und du, da du ein wilder Ölbaum warest, bist unter sie gepfropfet, und teilhaftig worden der Wurzel und des Saftes im Ölbaum, So rühme dich nicht wider die Zweige.“ A. Deißmann hat den Vorwurf, Paulus habe sich als Großstädter mit dem Bild des dem edlen Ölbaum eingepflanzten wilden Zweiges vergriffen, widersprochen. Paulus wolle hier etwas Unnatürliches demonstrieren (Deissmann, Licht vom Osten, S. 197). Weber hat, als er Deißmann in einem Brief vom 4. Mai 1908 für das Buch dankte, daran Zweifel geäußert. „Ob Sie S. 197 (Städter Paulus) recht haben (bez. des Ölbaums) ist mir nicht sicher“. Nottmeier, Christian (Hg.), Ein unbekannter Brief Max Webers an Adolf Deißmann, in: Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft 13, 2000, S. 99–131, Zitat: S. 129 f. [[Brief vom 28. Mai 1908, MWG II/11, S. 45–49, Zitat: S. 48 mit z. T. abweichender Transkription]]
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in der Antike ganz prononziert städtisch, vornehmlich aus Handwerkern, freien und unfreien, rekrutiert. Und auch im Mittelalter ist das Kleinbürgertum die frömmste, wenn auch nicht immer die orthodoxeste, Schicht. Aber auch im Christentum besteht nun die Er[240]scheinung, daß innerhalb des Kleinbürgertums sowohl die antike pneumatische, Dämonen austreibende Prophetie, die unbedingt orthodoxe (anstaltskirchliche) mittelalterliche Religiosität und das Bettelmönchtum, wie andererseits gewisse Arten der mittelalterlichen Sektenreligiosität und zum Beispiel der lange der Heterodoxie verdächtige Orden der Humiliaten, Siehe oben, S. 225 f.
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ebenso aber das Täufertum aller Schattierungen und andererseits wieder die Frömmigkeit der verschiedenen Reformationskirchen, auch der lutherischen, bei den Kleinbürgern, scheinbar gleichmäßig, einen außerordentlich festen Rückhalt fanden. Also eine höchst bunte Mannigfaltigkeit, welche wenigstens dies beweist, daß eine eindeutige ökonomische Bedingtheit der Religiosität des Handwerkertums nie bestand. Immerhin liegt höchst deutlich eine ausgesprochene Neigung sowohl zur Gemeindereligiosität, wie zur Erlösungsreligiosität und schließlich auch zur rationalen ethischen Religiosität vor, verglichen mit den bäuerlichen Schichten, und es ist nur nachdrücklich daran zu erinnern, daß auch dieser Gegensatz von eindeutiger Determiniertheit sehr weit entfernt ist, wie denn die Ausbreitungsgebiete zum Beispiel der täuferischen Gemeindereligiosität anfänglich in sehr starkem Maße besonders auf dem platten Lande (Friesland) gelegen haben und in der Stadt (Münster) zunächst gerade ihre sozialrevolutionäre Form eine Stätte fand. [240] Die Humiliaten (Selbstbezeichnung: humiliati per Deum, lat.: „die um Gottes Willen Gedemütigten“) waren Anhänger einer mittelalterlichen Armutsbewegung, die aus Bußbruderschaften lombardischer Laien hervorgegangen war. Ihre Ideale waren Armut, Fasten und Predigt. 1184 wurden sie von Papst Lucius III. auf der Synode von Verona zusammen mit den Waldensern und Katharern wegen Häresie exkommuniziert. Papst Innozenz III. bestätigte 1201 den Orden der Humiliaten.
Daß nun speziell im Okzident Gemeindereligiosität und mittleres und kleineres Stadtbürgertum miteinander eng verknüpft zu sein pflegen, hat seinen natürlichen Grund zunächst in dem relativen Zurücktreten der Blutsverbände, namentlich der Sippe, innerhalb der okzidentalen Stadt.
b
Den Ersatz dafür findet der Einzelne neben den Berufsverbänden, die im Okzident zwar, wie überall, kultische, aber nicht mehr tabuistische Bedeutung haben, in frei geschaffenen religiösen Vergemeinschaftungen. Diesen letzteren Zusammenhang determiniert aber nicht etwa die ökonomische Ei[241]genart des bloßen Stadtlebens als solchen von sich aus. Sondern, wie leicht einzusehen, sehr häufig umgekehrt. In China halten die exklusive Bedeutung des Ahnenkults und die Sippenexogamie den einzelnen Stadtinsassen dauernd in fester Verbindung mit Sippe und Heimatsdorf. In Indien [A 276]erschwert das religiöse Kastentabu die Entstehung oder beschränkt die Bedeutung der soteriologischen Gemeindereligiosität, in den stadtartigen Siedelungen ganz ebenso wie auf dem Lande. Und in beiden Fällen hemmten jene Momente sogar, sahen wir,[240] In A bindet die Anmerkung der Erstherausgeber an: 1) Vgl. dazu das Schlußkapitel: „Die Stadt“. (Anm. d. Herausgeb.)
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die Entwicklung der Stadt zu einer „Gemeinde“ weit stärker als die des Dorfes. Aber die Kleinbürgerschicht neigt allerdings begreiflicherweise relativ stark, und zwar aus Gründen ihrer ökonomischen Lebensführung, zur rationalen ethischen Religiosität, wo die Bedingungen für deren Entstehung gegeben sind. Es ist klar, daß das Leben des Kleinbürgers, zumal des städtischen Handwerkers und Kleinhändlers, der Naturgebundenheit, verglichen mit den Bauern, weit ferner steht, so daß die Abhängigkeit von magischer Beeinflussung der irrationalen Naturgeister für ihn nicht die gleiche Rolle spielen kann, wie für jene, daß umgekehrt seine ökonomischen Existenzbedingungen ganz wesentlich rationaleren, d. h. hier: der Berechenbarkeit und der zweckrationalen Beeinflussung zugänglicheren Charakter haben. Ferner legt seine ökonomische Existenz namentlich dem Handwerker, unter bestimmten spezifischen Bedingungen auch dem Händler, den Gedanken nahe, daß Redlichkeit in seinem eigenen Interesse liege, treue Arbeit und Pflichterfüllung ihren „Lohn“ finde und daß sie auch ihres gerechten Lohnes „wert“ sei, also eine ethisch rationale Weltbetrachtung im Sinn der Vergeltungsethik, die allen nicht privilegierten Schichten, wie noch zu erörtern, [241] Über diesen Sachverhalt hat sich Weber ausführlich in seiner Abhandlung „Die Stadt“ geäußert (MWG I/22-5, S. 85–89). Vgl. auch den Editorischen Bericht, oben, S. 96, Anm. 53.
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ohnehin naheliegt. Ungleich näher jedenfalls als den Bauern, die sich dem „ethischen“ Vergeltungsglauben überall erst nach Ausrottung der Magie durch andere Gewalten zuwenden, während der Handwerker diese Ausrottung sehr oft aktiv mit vollzogen hat. Und vollends ungleich näher als dem Krieger oder ganz großen, am Kriege und politischen Machtentfaltungen ökonomisch interessier[242]ten Geldmagnaten, welche gerade den ethisch rationalen Elementen einer Religiosität am wenigsten zugänglich sind. Der Handwerker speziell ist zwar in den Anfängen der Berufsdifferenzierung ganz besonders tief in magische Schranken verstrickt. Denn alle spezifizierte, nicht alltägliche, nicht allgemein verbreitete, „Kunst“ gilt als magisches Charisma, persönliches oder, und in aller Regel, erbliches, dessen Erwerb und Erhaltung durch magische Mittel garantiert wird, seinen Träger tabuistisch, zuweilen totemistisch, aus der Gemeinschaft der Alltagsmenschen (Bauern) absondert, oft vom Bodenbesitz ausschließt. Und das Siehe unten, S. 252 ff.
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namentlich die in der Hand alter Rohstoffvölker, welche zuerst als „Störer“,[242]A: der
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dann als einzelne ansässige Fremdbürtige, ihre Kunst anbieten, verbliebenen Gewerbe zur Bindung an Pariakasten verurteilt und auch die Manipulationen des Handwerkers, seine Technik, magisch stereotypiert. Wo immer aber dieser Zustand einmal durchbrochen ist – und das vollzieht sich am leichtesten auf dem Boden städtischer Neusiedelungen –, da kann dann der Umstand seine Wirkung entfalten: daß der Handwerker und ebenso der Kleinhändler, der erstere über seine Arbeit, der letztere über seinen Erwerb[,] wesentlich mehr rational zu denken hat als irgendein Bauer. Der Handwerker speziell hat ferner während der Arbeit wenigstens bei gewissen, in unserem Klima besonders stark stubengebundenen Gewerben – so in den Textilhandwerken, die daher überall besonders stark mit sektenhafter Religiosität durchsetzt sind – Zeit und Möglichkeit zum Grübeln. Selbst für den modernen maschinellen Webstuhl [242] „Stör“ bezeichnet einen Handwerker, der nicht in der eigenen Werkstatt arbeitete, sondern zum Kunden ins Haus ging und damit die üblichen Zunftordnungen „störte“.
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trifft dies in begrenztem Umfange unter Umständen noch zu, vollends aber für den Webstuhl der Vergangenheit. Überall, wo die Gebundenheit an rein magische oder rein ritualistische Vorstellungen durch Propheten oder Reformatoren gebrochen wird, neigen daher die Handwerker und Kleinbürger zu einer Art von [243]freilich oft sehr primitiver, ethischer und religiös rationalistischer Lebensbetrachtung. Sie sind ferner schon kraft ihrer beruflichen Spezialisierung Träger einer spezifisch geprägten einheitlichen „Lebensführung“. Die Determiniertheit der Religiosität durch diese allgemeinen Bedingungen der Handwerker- und Kleinbürgerexistenz ist in keiner Weise eine eindeutige. Die chinesischen, überaus „rechenhaften“ Kleinhändler sind nicht Träger einer rationalen Religiosität, die chinesischen Handwerker, soviel bekannt, ebenfalls nicht. Sie hängen, neben der magischen, allenfalls der buddhistischen Karman[A 277]lehre an. Dies Fehlen einer ethisch rationalen Religiosität ist aber hier das Primäre und scheint seinerseits die immer wieder auffallende Begrenztheit des Rationalismus ihrer Technik beeinflußt zu haben. Die bloße Existenz von Handwerkern und Kleinbürgern hat aber nirgends genügt, die Entstehung einer ethischen Religiosität eines noch so allgemein zu umschreibenden Typus aus sich zu gebären. Wir sahen umgekehrt, Weber hielt sich im September 1908 und Januar 1909 bei Verwandten auf, die eine Weberei in Oerlinghausen bei Bielefeld besassen. Firmenleiter waren zu dieser Zeit Bruno Müller, der Ehemann von Webers Cousine Wina Müller, und zwei ihrer Söhne, Georg und Richard Müller. Beobachtungen in dieser Weberei von Oerlinghausen flossen in Webers Untersuchung „Zur Psychophysik der industriellen Arbeit“ ein. (MWG I/11, S. 150–380).
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wie das Kastentabu in Verbindung mit dem Seelenwanderungsglauben die indische Handwerkerethik beeinflußt und stereotypiert hat. Nur wo eine Gemeindereligiosität und speziell eine rational ethische Gemeindereligiosität entstand, da konnte sie dann begreiflicherweise gerade in städtischen Kleinbürgerkreisen ganz besonders leicht Anhänger gewinnen und dann die Lebensführung dieser Kreise ihrerseits unter Umständen nachhaltig beeinflussen, wie dies tatsächlich geschehen ist. [243] Siehe oben, S. 173 f.
Endlich die ökonomisch am meisten negativ privilegierten Schichten: Sklaven und freie Tagelöhner, sind bisher nirgends in der Geschichte Träger einer spezifischen Religiosität gewesen. Die Sklaven in den alten Christengemeinden waren Bestandteile des städtischen Kleinbürgertums. Denn die hellenistischen Sklaven und z. B. die im Römerbrief erwähnten Leute des Narzissus (vermutlich des berühmten kaiserlichen Freigelassenen)
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gehören entweder – wie wahrscheinlich die letzteren – dem relativ gut und selbständig gestellten Hausbeamtentum und der Dienerschaft eines sehr reichen Mannes an, oder und meist, sind sie umgekehrt selbständige [244]Handwerker, welche ihrem Herrn Zins zahlen und sich das Geld für ihren Freikauf aus ihren Ersparnissen zu erarbeiten hoffen, wie dies in der ganzen Antike und in Rußland bis in das 19. Jahrhundert üblich war, oder endlich wohl auch gutgestellte Staatssklaven. Auch die Mithrasreligion zählte, wie die Inschriften lehren, Römer 16, 11. Aus den antiken Quellen sind mindestens zwei kaiserliche Freigelassene namens Narcissus bekannt: ein Freigelassener des Claudius (Sueton, De vita Caesarum, Divus Claudius 28; Corpus Inscriptionum Latinarum XV 7500) und ein Freigelassener des Nero (Cassius Dio, Historia Romana 64, 3).
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unter dieser Schicht zahlreiche Anhänger. Daß der delphische Apollon (ebenso wie sicherlich andere Götter) offenbar als, ihrer sakralen Geschütztheit wegen, gesuchte Sklavensparkasse fungierte und dann die Sklaven aus diesen Ersparnissen von ihrem Herrn „in die Freiheit“ kaufte, soll nach Deissmanns ansprechender Hypothese [244] Über die Inschriften berichtete Franz Cumont: „Die älteste Weiheinschrift an Mithras, welche wir besitzen, ist eine zweisprachige Inschrift von einem Freigelassenen der Flavier […]“. (Cumont, Franz, Die Mysterien des Mithra. Ein Beitrag zur Religionsgeschichte der römischen Kaiserzeit, autorisierte Ausgabe von Georg Gehrich. – Leipzig: B. G. Teubner 1903, S. 28). Die Weiheinschrift, die ein kaiserlicher Freigelassener mit dem Namen Titus Flavius Hyginus Ephebianus gesetzt hat (Corpus Inscriptionum Latinarum VI 732), stammt aus dem letzten Viertel des ersten Jahrhunderts n. Chr. Es gibt noch weitere Inschriften von kaiserlichen Freigelassenen (vgl. Inscriptiones Latinae Selectae, Nr. 4270).
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von Paulus als Bild für den Loskauf der Christen mit dem Blut des Heilandes in die Freiheit von Gesetzes- und Sündenknechtschaft verwertet sein. Ist dies richtig – es ist immerhin die alttestamentliche Wendung gảal oder padā Laut Adolf Deissmann hat Paulus sich bei seinem Bild der Befreiung durch Christus aus der Sklaverei der Sünde (1. Korinther 6, 20; 7, 23) an der Praxis antiker sakraler Sklavenbefreiung orientiert. „Der seitherige Herr kommt mit dem Sklaven in den Tempel, verkauft ihn dort dem Gott und erhält aus der Tempelkasse den Kaufpreis (den tatsächlich der Sklave vorher aus seinen Ersparnissen erlegt hat). Damit ist der Sklave Eigentum Gottes, aber nicht sein Tempelsklave, sondern nur sein Schützling“. (Deissmann, Licht vom Osten, S. 243). Über diesen Vorgang wurde eine Urkunde erstellt. Als Beispiel führte Deissmann eine delphische Inschrift an: „Es kaufte Apollon Pythios von Sosibios aus Amphissa zur Freiheit einen weiblichen Sklaven, deren Name Nikaia und die von Geburt Römerin ist, um einen Preis von dreiundeinhalb Silberminen. Bürge nach dem Gesetz: Eumnastos aus Amphissa. Den Preis hat er empfangen. Den Kauf aber hat Nikaia dem Apollon anvertraut, zur Freiheit“ (ebd. S. 243). Max Weber dankte Adolf Deißmann in einem Brief vom 4. Mai 1908 [[= 28. Mai 1908]] dafür, daß er ihm das Buch Licht vom Osten geschenkt habe. Am Ende einer Würdigung von Deißmanns Methode schreibt Weber: „Wie interessant und richtig mir das über den Sklavenloskauf Gesagte (S. 232 ff.) scheint, wissen Sie ja“ (vgl. oben, S. 239, Anm. 58, S. 130 f.).
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wohl auch als mögliche Quelle in Be[245]tracht zu ziehen –, dann zeigt es, wie sehr die christliche Propaganda gerade auch auf dieses ökonomisch rational lebende, weil strebsame unfreie Kleinbürgertum mitzählte. Das „sprechende Inventar“ Der Terminus gā’al (hebr.: „wiederherstellen“, „auslösen“) ist ein Begriff des Verwandtschaftsrechts und bezeichnete den nächsten Verwandten, der zur Solidarität verpflichtet war. Wenn ein Jude sein Land oder seine Freiheit verloren hatte, hatte dieser nächste Verwandte das Recht, aber auch die Pflicht, beide Rechte wiederherzustellen (3. Mose 25, 25–34 und 47–55). Der Ausdruck pādā (hebr.: „loskaufen“) bezeichnete den Preis, der für die Ablösung eines Rechtsanspruches zu zahlen war (2. Mose 13, 13 und 15; 4. Mose 18, 15).
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der antiken Plantagen dagegen, diese unterste Schicht des Sklaventums, war kein Boden für eine Gemeindereligiosität oder irgendwelche religiöse Propaganda überhaupt. Die Handwerksgesellen aller Zeiten ferner, als normalerweise nur durch eine Karenzzeit vom selbständigen Kleinbürgertum getrennt, haben die spezifische Kleinbürgerreligiosität meist geteilt. Allerdings besonders oft mit noch ausgesprochenerer Neigung zur unoffiziellen sektenhaften Religiosität, für deren sämtliche Formen die mit der Not des Tages, den Schwankungen des Brotpreises und der Verdienstgelegenheit kämpfende, auf „Bruderhilfe“ angewiesene gewerbliche Unterschicht der Städte überall ein höchst dankbares Feld dargeboten hat. Die zahlreichen geheimen oder halb tolerierten Gemeinschaften der „armen Leute“ mit ihrer bald revolutionären, bald pazifistisch-kommunistischen, bald ethisch-rationalen Gemeindereligiosität umfassen regelmäßig gerade auch die Kleinhandwerkerschicht und das Handwerksgesellentum. Vor allem aus dem technischen Grunde, weil die wandernden Handwerksgesellen die gegebenen Missionare jedes Gemeindeglaubens der Massen sind. Die ungeheuer schnelle Expansion des Christentums über die gewaltige Entfernung vom Orient bis Rom hin in wenigen Jahrzehnten illustriert diesen Vorgang hinlänglich. [245] Weber gebrauchte diese Bezeichnung bereits in seiner Abhandlung „Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht“ (MWG I/2, S. 314) sowie in einem 1896 gehaltenen Vortrag, der unter dem Titel „Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur“, in: Die Wahrheit. Halbmonatschrift zur Vertiefung in die Fragen und Aufgaben des Menschenlebens, hg. von Christoph Schrempf, 6. Band, 1. Maiheft, 1896, S. 57–77 (MWG I/6), erschienen ist. Dort heißt es auf S. 65: „Die Behausung für das ,sprechende Inventar‘ (instrumentum vocale), den Sklavenstall also, finden wir bei dem des Viehs (instrumentum ,semivocale‘)“. Der Begriff „instrumentum“ stammt von Cato dem Älteren (vgl. De re rustica 1,17,1) und bezeichnete das Zubehör eines Hauses oder Landgutes.
Das moderne Proletariat aber ist, soweit es religiös eine Sonderstellung einnimmt, ebenso wie breite Schichten der eigentlich modernen Bourgeoisie durch Indifferenz oder Ablehnung des Religiösen ausgezeichnet. Die Abhängigkeit von der eigenen Leistung wird hier durch das Bewußtsein der Abhängigkeit von rein gesell[246]schaftlichen Konstellationen, ökonomischen Konjunkturen und gesetzlich garan[A 278]tierten Machtverhältnissen zurückgedrängt oder ergänzt. Dagegen ist jeder Gedanke an Abhängigkeit von dem Gang der kosmisch-meteorologischen oder anderen, als magisch oder als providenziell bewirkt zu deutenden, Naturvorgängen ausgeschaltet, wie es s. Z. schon Sombart
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in schöner Form ausgeführt hat. Der proletarische Rationalismus ebenso wie der Rationalismus einer im Vollbesitz der ökonomischen Macht befindlichen, hochkapitalistischen Bourgeoisie, dessen Komplementärerscheinung er ist, kann daher aus sich heraus nicht leicht religiösen Charakter tragen, jedenfalls eine Religiosität nicht leicht erzeugen. Die Religion wird hier vielmehr normalerweise durch andere ideelle Surrogate ersetzt. Die untersten, ökonomisch unsteten Schichten des Proletariats, denen rationale Konzeptionen am schwersten zugänglich sind, und ebenso die proletaroiden oder dauernd notleidenden und mit Proletarisierung bedrohten sinkenden Kleinbürgerschichten können allerdings religiöser Mission besonders leicht anheimfallen. Aber religiöser Mission ganz besonders in magischer Form, oder, wo die eigentliche Magie ausgerottet ist, von einem Charakter, welcher Surrogate für die magisch-orgiastische Begnadung bietet; dies tun z. B. die soteriologischen Orgien methodistischer Art, wie sie etwa die Heilsarmee veranstaltet.[246] Werner Sombart meinte, daß der Arbeiter (und besonders seine Kinder) aufgrund seiner Lebens- und Arbeitssituation (Wohnen in Ballungsräumen, Arbeit in der Fabrik) jedes Gefühl für die freie Natur mit all ihren sinnlichen Reizen verliere. „Das Instinktmäßig-Sichere des Daseins geht ihm verloren“. (Sombart, Das Proletariat, S. 9).
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Zweifellos können weit leichter emotionale als rationale Elemente einer religiösen Ethik auf diesem Boden wachsen, und jedenfalls entstammt ihnen ethische Religiosität kaum jemals als ihrem primären Nährboden. Es gibt eine spezifische „Klassen“-Religiosität der negativ privilegierten Schichten nur in begrenztem Sinn. So[247]weit in einer Religion der Inhalt „sozialpolitischer“ Forderungen als gottgewollt fundamentiert wird, haben wir uns bei Erörterung der Ethik und des „Naturrechts“ Die Heilsarmee ist aus der Zeltmission des Methodistenpredigers William Booth hervorgangen. Über ihre Zusammenkünfte schrieb Theodor Kolde: „Mit dem Gesange wechseln himmelsstürmende Gebete, in welche die zum Teil konvulsivisch erregten oder sich auf den Knieen windenden Heilssoldaten, wie die von der Macht des Gebetes fortgerissenen Unbekehrten, ihr Seufzen und Amen hineintönen lassen […]. Es sind kurze Selbstbekenntnisse, in denen die Bekehrten mit großer Offenheit in oft sehr drastischer Weise von ihrem früheren Sündenleben und ihrer jetzigen Seligkeit und Heiligkeit erzählen“. (Kolde, Theodor, Heilsarmee, in: RE3, Band 7, 1899, S. 578–593, Zitat: S. 589; hinfort: Kolde, Heilsarmee).
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kurz damit zu befassen. Soweit der Charakter der Religiosität als solcher in Betracht kommt, ist zunächst ohne weiteres verständlich, daß das „Erlösungs“-Bedürfnis, im weitesten Sinn des Worts, in den negativ privilegierten Klassen einen – wie wir später sehen werden [247] Siehe unten, S. 396 und WuG1, S. 495–502 (MWG I/22-3).
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–, freilich keineswegs den einzigen oder auch nur den hauptsächlichsten, Standort hat, während es innerhalb der „satten“ und positiv privilegierten Schichten wenigstens den Kriegern, Bürokraten und der Plutokratie fern liegt. Siehe unten, S. 252 ff.
Ihren ersten Ursprung kann eine Erlösungsreligiosität sehr wohl innerhalb sozial privilegierter Schichten nehmen. Das Charisma des Propheten ist an ständische Zugehörigkeit nicht gebunden, ja es ist durchaus normalerweise an ein gewisses Minimum auch intellektueller Kultur gebunden. Die spezifischen Intellektuellenprophetien beweisen beides hinlänglich. Aber sie wandelt dann ihren Charakter regelmäßig, sobald sie auf die nicht spezifisch und berufsmäßig den Intellektualismus als solchen pflegenden Laienkreise, noch mehr, wenn sie auf diejenigen negativ privilegierten Schichten übergreift, denen der Intellektualismus ökonomisch und sozial unzugänglich ist. Und zwar läßt sich wenigstens ein normaler Grundzug dieser Wandlung, eines Produkts der unvermeidlichen Anpassung an die Bedürfnisse der Massen, allgemein bezeichnen: das Hervortreten des persönlichen göttlichen oder menschlich-göttlichen Erlösers als des Trägers, der religiösen Beziehungen zu ihm als der Bedingung des Heils. Als eine Art der Adaptierung der Religiosität an die Massenbedürfnisse lernten wir schon die Umformung kultischer Religiosität zur reinen Zauberei kennen.
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Die Heilandsreligiosität ist eine zweite typische Form und natürlich mit der rein magischen Umformung durch die mannigfachsten Übergänge verbunden. Je weiter man auf der sozialen Stufenleiter nach unten gelangt, desto radikalere Formen pflegt das Heilandsbedürfnis, wenn es einmal auftritt, anzunehmen. Die [248]indischen Kartabhajas Siehe oben, S. 216 ff.
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,[248]A: Kharba Bajads
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eine vischnuitische Sekte, welche mit der, vielen Erlösungslehren theoretisch eigenen, Sprengung des Kastentabu am meisten Ernst gemacht und z. B. wenigstens eine begrenzte, auch private (nicht nur rein kultische) Tischgemeinschaft ihrer Angehörigen hergestellt hat, infolge davon aber auch wesentlich eine Sekte der kleinen Leute ist, treibt zugleich die anthropolatrische Verehrung ihres erblichen Guru am weitesten und bis zur Ausschließlichkeit dieses Kults. Und Ähnliches wiederholt sich bei anderen, vornehmlich aus den sozial [A 279]untersten Schichten rekrutierten oder durch sie beeinflußten Religiositäten. Die Übertragung von Erlösungslehren auf die Massen läßt fast jedesmal den persönlichen Heiland entstehen oder stärker hervortreten. Der Ersatz des Buddhaideals, d. h. der exemplarischen Intellektuellenerlösung in das Nirwana, durch das Bodhisattvaideal [248] Bei den Kartabhajas handelt es sich um eine Sekte in Bengalen, die im 19. Jahrhundert von Ram Sarana Pal gegründet wurde. Horace Hayman Wilson bemerkte dazu: „The chief peculiarity of this sect is the doctrine of the absolute divinity of the Guru, at least as being the present Krishna, or deity incarnate, and whom they therefore, […] venerate as their Ishta Devata, or elected god. […] The distinctions of caste are not acknowledged amongst the followers of this sect, at least when engaged in any of their religious celebrations, and they eat together in private, once or twice a year“. (Wilson, Horace Hayman, Essays and Lectures Chiefly on the Religion of the Hindus, Collected and Edited by Reinhold Rost, vol. 1: A Sketch of the Religious Sects of the Hindus. – London: Trübner & Co. 1861, Zitate: S. 171 und 172).
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zugunsten eines zur Erde niedersteigenden Heilands, der auf das eigene Eingehen in das Nirwana verzichtet, um die Mitmenschen zu erlösen, ebenso das Aufkommen der durch die Menschwerdung des Gottes vermittelten Erlösergnade in den hinduistischen Volksreligionen, vor allem im Vischnuismus, und der Sieg dieser Soteriologie und ihrer magischen Sakramentsgnade sowohl über die vornehme atheistische Erlösung der Buddhisten, wie über den alten, an die vedische Bildung gebundenen Ritualismus, sind Erscheinungen, die sich, nur in verschiedener Abwandlung, auch sonst finden. Überall äußert sich das religiöse Bedürfnis des mittleren und kleineren Bürgertums in emotionalerer, speziell in einer zur Innigkeit und Erbaulichkeit neigenden Legende statt der Heldenmythen bildenden Form. Sie entspricht der Befriedung und stärkeren Bedeutung des Haus- und Familienlebens gegenüber den Herrenschichten. Das Aufkommen der gottinnigen „Bhakti“-Frömmig[249]keit in allen indischen Kulten, in der Schaffung der Bodhisattvafigur so gut wie in den Krischnakulten, die Popularität der erbaulichen Mythen vom Dionysoskinde, vom Osiris, vom Christkind und ihre zahlreichen Verwandten, gehören alle dieser bürgerlichen Wendung der Religiosität ins Genrehafte an. Das Auftreten des Bürgertums als einer, die Art der Frömmigkeit mitbestimmenden Macht unter dem Einfluß des Bettelmönchtums bedeutet zugleich die Verdrängung der vornehmen „Theotokos“A: Bodhisattvaideal,
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der imperialistischen Kunst Nicolo Pisanos durch das Genrebild der heiligen Familie, wie es sein Sohn[249] Theotokos (von griech.: theos, „Gott“ und tiktein, „gebären“) ist der Titel der Maria als „Gottesgebärerin“, zuerst 325 n. Chr. bezeugt. Auf der Synode von Ephesos 431 wurde der Ehrentitel zum kirchlichen Dogma erhoben.
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schuf, ganz wie das Krischnakind in Indien der Liebling der volkstümlichen Kulte ist. Wie die Magie, so ist der soteriologische Mythos und sein menschgewordener Gott oder gottgewordener Heiland eine spezifisch volkstümliche und daher an den verschiedensten Stellen spontan entstandene religiöse Konzeption. Die unpersönliche, übergöttliche ethische Ordnung des Kosmos und die exemplarische Erlösung ist dagegen ein der spezifisch unvolkstümlichen, ethisch rationalen Laienbildung adäquater Intellektuellengedanke. Das gleiche gilt aber für den absolut überweltlichen Gott. Mit Ausnahme des Judentums und des Protestantismus haben alle Religionen und religiösen Ethiken ohne Ausnahme den Heiligen- oder Heroen- oder Funktionsgötterkult bei ihrer Adaptierung an die Massenbedürfnisse wieder aufnehmen müssen. Der Konfuzianismus läßt ihn in Gestalt des taoistischen Pantheon neben sich bestehen, der popularisierte Buddhismus duldet die Gottheiten der Länder seiner Verbreitung als dem Buddha untergeordnete Kultempfänger, Islam und Katholizismus haben Lokalgötter, Funktionsgötter und Berufsgötter als Heilige, denen die eigentliche Devotion des Alltags bei den Massen gilt, rezipieren müssen. Gemeint ist Giovanni Pisano, der wie sein Vater Bildhauer war. Vgl. die Einträge im Personenverzeichnis, unten, S. 464.
Der Religiosität der negativ Privilegierten ist ferner, im Gegensatz zu den vornehmen Kulten des kriegerischen Adels, die gleichberechtigte Heranziehung der Frauen eigen. Der höchst verschieden abgestufte Grad der Zulassung und mehr oder minder aktiven oder passiven Beteiligung oder des Ausschlusses der Frauen von [250]den religiösen Kulten ist wohl überall Funktion des Grades der (gegenwärtigen oder früheren) relativen Befriedung oder Militarisierung. Dabei besagt natürlich die Existenz von Priesterinnen, die Verehrung von Wahrsagerinnen oder Zauberinnen, kurz die äußerste Devotion gegen individuelle Frauen, denen übernatürliche Kräfte und Charismata zugetraut wurden, nicht das geringste für eine kultische Gleichstellung der Frauen als solcher. Und umgekehrt kann die prinzipielle Gleichstellung in der Beziehung zum Göttlichen, wie sie im Christentum und Judentum, in geringerer Konsequenz im Islam und offiziellen Buddhismus besteht, mit völliger Monopolisierung der Priesterfunktion und des Rechts zum aktiven Mitbestimmungsrecht in Gemeindeangelegenheiten durch die allein zur speziellen Berufsvorbildung zugelassenen oder qualifiziert gehaltenen Männer zusammen bestehen, wie dies tat[A 280]sächlich in jenen Religionen der Fall ist. Die große Empfänglichkeit der Frauen für alle nicht exklusiv militärisch oder politisch orientierte religiöse Prophetie tritt in den unbefangen freien Beziehungen fast aller Propheten, des Buddha ebenso wie des Christus und etwa des Pythagoras, deutlich hervor. Höchst selten aber behauptet sie sich über diejenige erste Epoche der Gemeinde hinaus, in welcher die pneumatischen Charismata als Merkmale spezifischer religiöser Erhebung geschätzt werden. Dann tritt, mit Veralltäglichung und Reglementierung der Gemeindeverhältnisse, stets ein Rückschlag gegen die nun als ordnungswidrig und krankhaft empfundenen pneumatischen Erscheinungen bei den Frauen ein. So schon bei Paulus.
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Vollends jede politisch-militärische Prophetie – wie der Islam – wendet sich an die Männer allein. Und oft tritt der Kult eines kriegerischen Geistes (so im indischen Archipel des Duk-Duk [250] In der Gemeinde von Korinth hatten Frauen in den Gemeindeversammlungen prophetische Reden gehalten (1. Korinther 11, 5). Paulus lehnte dies ab: „Wie in allen Gemeinen der Heiligen, lasset eure Weiber schweigen unter der Gemeine; denn es soll ihnen nicht zugelassen werden, daß sie reden, sondern sollen untertan sein, wie auch das Gesetz saget“. (1. Korinther 14, 34).
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und sonst oft ähnlicher periodischer Epiphanien eines [251]Helden-Numen) ganz direkt in den Dienst der Domestikation und regelrechten Ausplünderung der Frauenhaushalte durch die kasino- oder klubartig vergesellschafteten Insassen des Kriegerhauses. Überall, wo die asketische Kriegererziehung mit ihrer „Wiedergeburt“ des Helden herrscht oder geherrscht hat, gilt die Frau als der höheren, heldischen Seele entbehrend und ist dadurch religiös deklassiert. So in den meisten vornehmen oder spezifisch militaristischen Kultgemeinschaften. Von den offiziellen chinesischen, ebenso wie von den römischen und den brahmanischen Kulten ist die Frau gänzlich ausgeschlossen, und auch die buddhistische Intellektuellenreligiosität ist nicht feministisch; selbst in der Merowingerzeit konnten christliche Synoden die Gleichwertigkeit der Seele der Frau bezweifeln. „Duk-Duk“ ist die Bezeichnung sowohl für einen kriegerischen „Geist“ im Bismarck-Archipel, Melanesien, sowie für den Geheimbund, der sich um ihn gebildet hatte. Weber stützte sich auf die Angaben des Ethnologen und Soziologen Heinrich Schurtz (Schurtz, Altersklassen und Männerbünde, wie oben, S. 130, Anm. 16, S. 369–377). Auch an anderer Stelle nannte Weber die Aktivitäten des Duk-Duk: „Die zahlreichen, eigens zur Einschüchterung und Plünderung der Frauen erfundenen superstitiösen Mittel (z. B. das [251]periodische Erscheinen und der Plünderungszug des Duk-Duk) stellen die Reaktion der aushäusig gewordenen Männer gegen diese Gefährdung ihrer Autorität dar“. (WuG1, S. 205; MWG I/22-1).
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Dagegen haben die spezifischen Kulte des Hinduismus sowohl wie ein Teil der chinesischen buddhistisch-taoistischen Sekten und im Okzident vor allem das alte Christentum, wie später die pneumatischen und pazifistischen Sekten in Ost- und Westeuropa gleichmäßig ihre propagandistische Kraft aus der Heranziehung und Gleichstellung der Frauen gezogen. Auch in Hellas hatte der Dionysoskult bei seinem ersten Auftreten ein dort sonst ganz unerhörtes Maß von Emanzipation der an den Orgien beteiligten Frauen von aller Konvention mit sich gebracht, eine Freiheit, die freilich je länger je mehr künstlerisch und zeremoniell stilisiert und reglementiert und damit gebunden, insbesondere auf Prozessionen und einzelne andere Festakte in den verschiedenen Kulten beschränkt wurde und so schließlich in ihrer praktischen Bedeutung gänzlich schwand. Der gewaltige Vorsprung der christlichen Propaganda innerhalb der kleinbürgerlichen Schichten gegenüber ihrem wichtigsten Konkurrenten: der Mithrasreligion, war, daß dieser extrem maskuline Kult die Frauen ausschloß. In einer Zeit universeller Befriedung nötigte dies seine Bekenner dazu, für ihre Frauen einen Ersatz in anderen Mysteri[252]en, z. B. denen der Kybele, zu suchen und zerstörte so von vornherein die Einheitlichkeit und Universalität der Religionsgemeinschaft selbst innerhalb der einzelnen Familien, in starkem Kontrast gegen das Christentum. Im Prinzip nicht ganz so, aber im Effekt vielfach ähnlich stand es mit allen eigentlichen Intellektuellenkulten gnostischer, manichäischer und ähnlicher Art. Keineswegs alle Religionen der „Bruder- und Feindesliebe“ sind zu dieser Geltung durch Fraueneinfluß gelangt oder feministischen Charakters: die indische Ahimsareligiosität z. B. absolut nicht. Der Fraueneinfluß pflegt nur die emotionellen, hysterisch bedingten Seiten der Religiosität zu steigern. So in Indien. Aber es ist gewiß nicht gleichgültig, daß die Erlösungsreligiosität die unmilitärischen und antimilitärischen Tugenden zu verklären pflegt, wie dies negativ privilegierten Schichten und Frauen naheliegen muß. Bei Carl Joseph Hefele ist vermerkt, daß ein Bischof auf der zweiten Synode von Mâcon im Jahre 585 behauptet hatte, „die Weiber könnten nicht Menschen im vollen Sinne genannt werden“. Hefele bemerkte aber gleichzeitig, daß dieser Bischof „von der Synode zurechtgewiesen“ wurde. (Hefele, Carl Joseph, Conciliengeschichte, 3. Band. – Arnheim: Josué Witz 1859, S. 51).
Die speziellere Bedeutung der Erlösungsreligiosität für die politisch und ökonomisch negativ privilegierten Schichten im Gegensatz zu den positiv privilegierten läßt sich nun unter noch einige allgemeinere Gesichtspunkte bringen. – Wir werden bei Erörterung der „Stände“ und „Klassen“ noch davon zu reden haben,
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daß das Würdegefühl der höchstprivilegierten (und nicht priesterlichen) Schichten, speziell des Adels, die „Vornehmheit“ also, auf dem Bewußtsein der „Vollendung“ ihrer [A 281]Lebensführung als eines Ausdrucks ihres qualitativen, in sich beruhenden, nicht über sich hinausweisenden „Seins“ ruht und, der Natur der Sache nach, ruhen kann, jedes Würdegefühl negativ Privilegierter dagegen auf einer ihnen verbürgten „Verheißung“, die an eine ihnen zugewiesene „Funktion“, „Mission“, „Beruf“ geknüpft ist. Was sie zu „sein“ nicht prätendieren können, ergänzen sie entweder durch die Würde dessen, was sie einst sein werden, zu sein „berufen“ sind, in einem Zukunftsleben im Diesseits oder Jenseits oder (und meist zugleich) durch das, was sie, providentiell angesehen, „bedeuten“ und „leisten“. Der Hunger nach einer ihnen, so wie sie und so wie die Welt sind, nicht zugefallenen Würde schafft diese Konzeption, aus welcher die rationalistische Idee einer „Vorsehung“, einer Bedeutsamkeit vor einer göttlichen Instanz mit anderer Rangordnung der Würde entspringt. [252] Siehe WuG1, S. 636 f. (MWG I/22-1).
[253]Nach außen, gegen die anderer Schichten gewendet, ergibt diese innere Lage noch einige charakteristische Gegensätze dessen, was Religionen den verschiedenen sozialen Schichten „leisten“ mußten. Jedes Erlösungsbedürfnis ist Ausdruck einer „Not“, und soziale oder ökonomische Gedrücktheit ist daher zwar keineswegs die ausschließliche, aber naturgemäß eine sehr wirksame Quelle seiner Entstehung. Sozial und ökonomisch positiv privilegierte Schichten empfinden unter sonst gleichen Umständen das Erlösungsbedürfnis von sich aus kaum. Sie schieben vielmehr der Religion in erster Linie die Rolle zu, ihre eigene Lebensführung und Lebenslage zu „legitimieren“. Diese höchst universelle Erscheinung wurzelt in ganz allgemeinen inneren Konstellationen. Daß ein Mensch im Glück dem minder Glücklichen gegenüber sich nicht mit der Tatsache jenes Glücks begnügt, sondern überdies auch noch das „Recht“ seines Glücks haben will, das Bewußtsein also, es im Gegensatz zu dem minder Glücklichen „verdient“ zu haben – während dieser sein Unglück irgendwie „verdient“ haben muß –, dieses seelische Komfortbedürfnis nach der Legitimität des Glückes lehrt jede Alltagserfahrung kennen, mag es sich um politische Schicksale, um Unterschiede der ökonomischen Lage, der körperlichen Gesundheit, um Glück in der erotischen Konkurrenz oder um was immer handeln. Die „Legitimierung“ in diesem innerlichen Sinne ist das, was die positiv Privilegierten innerlich von der Religion verlangen, wenn überhaupt irgend etwas. Nicht jede positiv privilegierte Schicht hat dies Bedürfnis in gleichem Maße. Gerade dem kriegerischen Heldentum sind die Götter Wesen, denen der Neid nicht fremd ist. Solon und die altjüdische Weisheit sind über die Gefahr gerade der hohen Stellung einig. Trotz der Götter, nicht durch die Götter, oft gegen sie, behauptet der Held seine überalltägliche Stellung. Die homerische und ein Teil der alten indischen Epik steht darin in charakteristischem Gegensatz sowohl gegen die bürokratisch-chinesische, wie gegen die priesterlich-jüdische Chronistik, daß in dieser die „Legitimität“ des Glückes, als Lohn Gott wohlgefälliger Tugenden, so außerordentlich viel stärker ausgeprägt ist. Andererseits ist der Zusammenhang von Unglück mit dem Zorn und Neid von Dämonen oder Göttern ganz universell verbreitet. Wie fast jede Volksreligiosität, die altjüdische ebenso wie ganz besonders nachdrücklich z. B. noch die moderne chinesische, körperliche Gebrechen als Zeichen, je nach[254]dem magischer oder sittlicher, Versündigung ihres Trägers oder (im Judentum) seiner Vorfahren behandelt, und wie z. B. bei den gemeinsamen Opfern der politischen Verbände der mit solchen Gebrechen Behaftete oder sonst von Schicksalsschlägen Heimgesuchte, weil er mit dem Zorn des Gottes beladen ist, vor dessen Angesicht im Kreise der Glücklichen und also Gottgefälligen nicht mit erscheinen darf,
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so gilt fast jeder ethischen Religiosität der positiv privilegierten Schichten und der ihnen dienstbaren Priester die positiv oder negativ privilegierte soziale Lage des Einzelnen als religiös irgendwie verdient, und nur die Formen der Legitimierung der Glückslage wechseln. [254] Einige Hautkrankheiten („Aussatz“) führten zum Ausschluß des unreinen Menschen aus der Gemeinschaft und dem Kult, wie aus dem priesterlichen Gesetz des antiken Judentums (3. Mose 13 und 14) hervorgeht.
Entgegengesetzt entsprechend ist die Lage der negativ Privilegierten. Ihr spezifisches Bedürfnis ist Erlösung vom Leiden. Sie empfinden dies Erlösungsbedürfnis nicht immer in religiöser Form, – so z. B. nicht das moderne Proletariat. [A 282]Und ihr religiöses Erlösungsbedürfnis kann, wo es besteht, verschiedene Wege einschlagen. Vor allem kann es sich in sehr verschieden ausgeprägter Art mit dem Bedürfnis nach gerechter „Vergeltung“ paaren, Vergeltung von eigenen guten Werken und Vergeltung von fremder Ungerechtigkeit. Nächst der Magie und verbunden mit ihr ist daher eine meist ziemlich „rechenhafte“ Vergeltungserwartung und Vergeltungshoffnung die verbreitetste Form des Massenglaubens auf der ganzen Erde und sind auch Prophetien, welche ihrerseits wenigstens die mechanischen Formen dieses Glaubens ablehnten, bei ihrer Popularisierung und Veralltäglichung immer wieder dahin umgedeutet worden. Art und Grad der Vergeltungs- und Erlösungshoffnung aber wirken höchst verschieden je nach der Art der durch religiöse Verheißung erweckten Erwartungen, und zwar gerade dann, wenn diese aus dem irdischen Leben des Einzelnen heraus in eine jenseits seiner jetzigen Existenz liegende Zukunft projiziert werden. Ein besonders wichtiges Beispiel für die Bedeutung des Inhalts der religiösen Verheißungen stellt die (exilische und nachexilische) Religiosität des Judentums dar.
[255]Seit dem Exil tatsächlich, und auch formell seit der Zerstörung des Tempels
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waren die Juden ein „Pariavolk“, d. h. im hier gemeinten Sinn (der mit der speziellen Stellung der indischen „Pariakaste“ [255] Im Jahr 70 n. Chr. wurde in Jerusalem der Tempel des Herodes, der sog. „zweite Tempel“, durch die Römer unter der Führung von Titus zerstört.
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so wenig identisch ist wie z. B. der Begriff „Kadi-Justiz“ mit den wirklichen Prinzipien der Rechtsprechung des Kadi): Mit „indischer Pariakaste“ ist die niedrige Trommlerkaste in Südindien gemeint, die Paria oder Paṟiah (von Tamil: paṟai, „Trommel“).
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eine, durch (ursprünglich) magische, tabuistische und rituelle Schranken der Tisch- und Konnubialvergemeinschaftung Der Terminus „Kadi-Justiz“ kommt bei Richard Schmidt vor. Er verstand unter „Kadi-Justiz“, die er auch „Pascha-Justiz“ nannte, „eine den ‚gesunden Menschenverstand‘ des Richters möglichst entfesselnde Rechtspflege“. (Schmidt, Richard, Lehrbuch des deutschen Civilprozessrechts. – Leipzig: Duncker & Humblot 1898, S. 34). Weber verwendete den Terminus zur Bezeichnung einer Justiz, die ohne rationale Begründung Recht parteiisch unter Ansehen der Person sprach. Der Ausdruck „Kadi“ (arab.: „Richter“) bezeichnet einen mit Zivil- und Strafrecht vertrauten islamischen Rechtsgelehrten, der Urteile in Rechtsprozessen und Familienangelegenheiten fällte. Er sollte unbestechlich sein.
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nach außen einerseits, durch politische und sozial negative Privilegierung, verbunden mit weitgehender ökonomischer Sondergebarung andererseits, zu einer erblichen Sondergemeinschaft zusammengeschlossene Gruppe ohne autonomen politischen Verband. Die negativ privilegierten, beruflich spezialisierten, indischen Kasten mit ihrem durch Tabuierung garantierten Abschluß nach außen und ihren erblichen religiösen Pflichten der Lebensführung stehen ihnen relativ am nächsten, weil auch bei ihnen mit der Pariastellung als solcher Erlösungshoffnungen verknüpft sind. Sowohl die indischen Kasten wie die Juden zeigen die gleiche spezifische Wirkung einer Pariareligiosität: daß sie ihre Zugehörigen um so enger an sich und an die Pariastellung kettet, je gedrückter die Lage ist, in welcher sich das Pariavolk befindet, und je gewaltiger also die Erlösungshoffnungen, die sich an die gottgebotene Erfüllung der religiösen Pflichten knüpfen. Wie schon erwähnt, Gemeinschaftsbildungen aufgrund von Heirat, bei der die Vererblichkeit von Vermögen und Stand des Mannes sichergestellt ist.
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hingen gerade die niedersten Kasten besonders zähe an ihren Kastenpflichten als der Bedingung ihrer Wiedergeburt in besserer Lage. Das Band zwischen Jahve und seinem Volk wurde um so unzerreißbarer, je mör[256]derischer Verachtung und Verfolgung auf den Juden lasteten. Im offensichtlichen Gegensatz z. B. gegen die orientalischen Christen, welche unter den Ommajaden der privilegierten Religion des Islam in solchen Massen zuströmten, daß die politische Gewalt im ökonomischen Interesse der privilegierten Schicht den Übertritt erschwerte, Siehe oben, S. 173 f.
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sind deshalb alle die häufigen zwangsweisen Massenbekehrungen der Juden, welche ihnen doch die Privilegien der herrschenden Schicht verschafften, vergebens geblieben. Das einzige Mittel der Erlösung war eben, für die indische Kaste wie für die Juden, die Erfüllung der religiösen Spezialgebote für das Pariavolk, denen niemand sich entziehen kann[,] ohne bösen Zauber für sich befürchten zu müssen und seine oder seiner Nachfahren Zukunftschancen zu gefährden. Der Unterschied der jüdischen Religiosität aber gegenüber der hinduistischen Kastenreligiosität liegt nun in der Art der Erlösungshoffnung begründet. Der Hindu erwartet von religiöser Pflichterfüllung die Verbesserung seiner persönlichen Wiedergeburtschancen, also Aufstieg oder Neuinkarnation seiner Seele in eine höhere Kaste. Der Jude dagegen für seine Nachfahren die Teilnahme an einem messianischen Reich, welches seine gesamte Pariagemeinschaft aus ihrer Pariastellung zur Herrenstellung in der Welt erlösen wird. Denn mit der Verheißung, daß alle Völker der Erde vom Juden leihen werden und er von niemand, [256] Bei Julius Wellhausen findet sich folgende Argumentation: „Dem arabischen Kriegeradel standen die Nichtaraber als Untertanen, d.i. Unterworfene gegenüber. Sie bildeten die finanzielle Basis des Reiches. Sie mussten für den Unterhalt ihrer Herren sorgen durch den ihnen auferlegten Tribut, durch die Untertanensteuer, die weit drückender war als die s.g. Armensteuer der Muslime und als schimpflich galt“. (Wellhausen, Arabisches Reich, wie oben, S. 209, Anm. 86, S. 18). Die mawālī („Klienten“, bei Wellhausen als „Neumuslime“ bezeichnet, die „zum Islam übergetretenen Untertanen“; ebd., S. 152) forderten „Isopolitie mit dem herrschenden Adel, d. h. den Arabern […], von der Untertanensteuer befreit und in die Pensionsliste aufgenommen zu werden, welche bisher eine arabische Adelsmatrikel war. Um den Rückgang der Staatseinnahmen zu verhindern, welcher durch die Ausdehnung der Steuerfreiheit und der Pensionszahlungen auf die nichtarabischen Muslimen entstehen musste oder schon entstanden war, habe Haggag den zahlreichen zum Islam übertretenen Mavâli die Kopfsteuer wieder auferlegt, die sie als Muslime von rechts wegen nicht mehr hätten entrichten müssen […]“ (ebd., S. 152).
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hatte Jahve nicht die Erfüllung in Gestalt kleinen [257]Pfandleihwuchers vom Ghetto aus gemeint, sondern die Lage einer typischen antiken machtvollen Stadtbürgerschaft, deren [A 283]Schuldner und Schuldknechte die Einwohner unterworfener Dörfer und Kleinstädte sind. Der Hindu arbeitet ebenso für ein künftiges menschliches Wesen, welches mit ihm nur unter den Voraussetzungen der animistischen Seelenwanderungslehre etwas zu tun hat: die künftige Inkarnation seiner Seele, wie der Jude für seine leiblichen Nachfahren, in deren animistisch verstandener Beziehung zu ihm seine „irdische Unsterblichkeit“ besteht. Aber gegenüber der Vorstellung des Hindu, welche die soziale Kastengliederung der Welt und die Stellung seiner Kaste als solcher gänzlich unangetastet für immer bestehen läßt und das Zukunftslos seiner individuellen Seele gerade innerhalb dieser selben Rangordnung verbessern will, erwartete der Jude die eigene persönliche Erlösung gerade umgekehrt in Gestalt eines Umsturzes der geltenden sozialen Rangordnung zugunsten seines Pariavolks. Denn sein Volk ist das zum Prestige, nicht aber zur Pariastellung, berufene und von Gott erwählte. 5. Mose 15, 6: „Denn der HErr, dein Gott, wird dich segnen, wie er dir verheißen hat; so wirst du vielen Völkern leihen, und du wirst von niemand borgen; du wirst über viele Völker herrschen, und über dich wird niemand herrschen“. Der gleiche Wortlaut findet sich in 5. Mose 28, 12.
Und daher gewinnt auf dem Boden der jüdischen ethischen Erlösungsreligiosität ein Element große Bedeutung, welches, von Nietzsche zuerst beachtet, aller magischen und animistischen Kastenreligiosität völlig fehlt: das Ressentiment.
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Es ist in Nietzsches Sinn Begleiterscheinung der religiösen Ethik der negativ Privilegierten, die sich, in direkter Umkehrung des alten Glau[258]bens, dessen getrösten, daß die ungleiche Verteilung der irdischen Lose auf Sünde und Unrecht der positiv Privilegierten beruhe, also früher oder später gegen jene die Rache Gottes herbeiführen müsse. In Gestalt dieser Theodizee der negativ Privilegierten dient dann der Moralismus als Mittel der Legitimierung bewußten oder unbewußten Rachedurstes. Das knüpft zunächst an die „Vergeltungsreligiosität“ an. Besteht einmal die religiöse Vergeltungsvorstellung, so kann gerade das „Leiden“ als solches, da es ja gewaltige Vergeltungshoffnungen mit sich führt, die Färbung von etwas rein an sich religiös Wertvollem annehmen. Bestimmte asketische Kunstlehren einerseits, spezifische neurotische Prädispositionen andererseits können dieser Vorstellung in die Hände arbeiten. Allein den spezifischen Ressentimentscharakter erlangt die Leidensreligiosität nur unter sehr bestimmten Voraussetzungen: z. B. nicht bei den Hindus und Buddhisten. Denn dort ist das eigene Leiden auch individuell verdient. Anders beim Juden. Die Psalmenreligiosität ist erfüllt von Rachebedürfnis, [257] „Ressentiment“ ist ein Schlüsselbegriff von Friedrich Nietzsche in seiner Auseinandersetzung mit dem Judentum und Christentum. Das jüdische Volk habe sich gegen seine Gegner mit einer Ressentimentsmoral behauptet, mit einer Umwertung von Werten. Arm, niedrig, ohnmächtig, leidend sei nun „gut“, vornehm und mächtig „schlecht“. Nietzsche wörtlich: „Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der That, versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten. Während alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem ‚Ausserhalb‘, zu einem ‚Anders‘, zu einem ‚Nicht-selbst‘: und dies Nein ist ihre schöpferische That. Diese Umkehrung des werthe-setzenden Blicks – diese nothwendige Richtung nach Aussen statt zurück auf sich selber – gehört eben zum Ressentiment: die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen- und Aussenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äusserer Reize, um überhaupt zu agiren, – ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion“. (Nietzsche, Genealogie der Moral, S. 16 f.). In seiner „Einleitung“ zu „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ hat Weber das Ressentiment in bezug auf die Theodizee des Glücks und des Leidens thematisiert. (Vgl. MWG I/19, S. 88 ff.).
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und in den priesterlichen Überarbeitungen der alten israelitischen Überlieferungen findet sich der gleiche Einschlag: Die Mehrzahl aller Psalmen enthält – einerlei, ob die betreffenden Bestandteile vielleicht in eine ältere, davon freie Fassung erst nachträglich hineingekommen sind – die moralistische Befriedigung und Legitimierung offenen oder mühsam verhaltenen Rachebedürfnisses eines Pariavolkes ganz handgreiflich. Entweder in der Form: daß dem Gott die eigene Befolgung seiner Gebote und das eigene Unglück und demgegenüber das gottlose Treiben der stolzen und glücklichen Heiden, die infolgedessen seiner Verheißungen und Macht spotten, vorgehalten werden. [258] Als Beispiele lassen sich folgende Psalmen anführen: 58, 11: „Der Gerechte wird sich freuen, wenn er solche Rache siehet, und wird seine Füße baden in des Gottlosen Blut“ oder 137, 8 f.: „Du verstörete Tochter Babel, wohl dem, der dir vergilt, wie du uns getan hast! Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt, und zerschmettert sie an dem Stein!“
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Oder in der anderen Form: daß die eigene Sünde demutsvoll bekannt, Gott aber gebeten wird, er möge nun endlich von seinem Zorn abstehen und seine Gnade dem Volke, das schließlich doch allein das seinige sei, wieder zuwenden. Dargelegt etwa in Psalm 10, 1–18.
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In bei[259]den Fällen verbunden mit der Hoffnung: daß des endlich versöhnten Gottes Rache nun doppelt die gottlosen Feinde dereinst ebenso zum Schemel der Füße Israels Weber kombiniert hier mehrere Bibelstellen: Die Psalmen 32, 5; 51, 3–6 und 106, 6 mit den Psalmen 60, 3 und 85, 4–6.
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machen werde, wie dies die priesterliche Geschichtskonstruktion den kananäischen Feinden des Volkes angedeihen läßt, solange dieses nicht Gottes Zorn durch Ungehorsam erweckt und dadurch seine eigene Erniedrigung unter die Heiden verschuldet. Wenn manche dieser Psalmen vielleicht, wie moderne Kommentatoren wollen, dem individuellen Zorn pharisäisch Frommer über die Verfolgungen unter Alexandros Jannaios entstammen, [259] Psalm 110, 1: „Der HErr sprach zu meinem Herrn: ,Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde zum Schemel deiner Füße lege‘“. (Vgl. Lukas 20, 43; Hebräer 1, 13 und Apostelgeschichte 2, 34 f.).
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so ist ihre Auslese und Aufbewahrung das Charakteristische, und andere reagieren ganz offensichtlich auf die Pariastellung der Juden als solcher. In aller Religiosität der Welt gibt es keinen Universalgott von dem unerhörten Rachedurst Jahves, und den historischen Wert von Tatsachenangaben der priesterlichen Geschichtsüberarbeitung kann man fast genau daran erkennen: daß der betreffende Vorgang (wie etwa die Schlacht von Megiddo) Max Weber spielt hier vermutlich auf den Kommentar von Bernhard Duhm an: „Viel schärfer und wahrscheinlich gegen Alexander Jannäus und seine Anhänger gerichtet sind die [‚pharisäischen Kampfpsalmen‘] 9 10 14 56 57A 58 59 64 82 92 94 140“, entstanden in der Zeit der Kämpfe zwischen dem hasmonäischen König Alexander Jannaios (103–76 v. Chr.) und den Pharisäern. (Kurzer Hand-Commentar zum Alten Testament, hg. von Karl Marti, Abteilung XIV: Die Psalmen. – Freiburg i. Br., Leipzig und Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1899, S. XXI f.).
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nicht in diese Theodizee der Ver[A 284]geltung und Rache paßt. Die jüdische Religiosität ist so die Vergeltungsreligiosität ϰατ’ ἐξοχήν geworden. Die gottgebotene Tugend wird um der Vergeltungshoffnung willen geübt. Und diese ist in erster Linie eine kollektive: das Volk als Ganzes soll die Erhöhung erleben, nur dadurch kann auch der Einzelne seine Ehre wiedergewinnen. Daneben und damit sich vermischend geht natürlich die individuelle Theodizee des persönlichen Einzelschicksals – selbst[260]verständlich von jeher – einher In der Nähe von Megiddo, einer ursprünglich kanaanäischen, dann israelitischen Stadt in der Ebene von Jesreel, schlug der Richter Barak die von Sisera angeführten Kanaaniter (Richter 5, 19). 2. Könige 23, 29 f. berichtet von dem Kampf des Josia, des religiösen Reformers und Königs des Südreiches Juda (Regierungszeit 639–609 v. Chr.), gegen den ägyptischen Pharao Necho. Josia wurde 609 v. Chr. bei Megiddo geschlagen.
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, deren Problematik[260] Fehlt in A; einher sinngemäß ergänzt.
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vor allem in dem ganz anderen, unvolkstümlichen Schichten entstammenden Hiobbuch gipfelt, um dort in dem Verzicht auf eine Lösung des Problems und dem Sichfügen in die absolute Souveränität Gottes über seine Kreaturen den puritanischen Prädestinationsgedanken zu präludieren, der hätte entstehen müssen, sobald das Pathos der zeitlich ewigen Höllenstrafen hinzutrat. Aber er entstand eben nicht, und das Hiobbuch blieb in seinem vom Dichter gemeinten Ergebnis bekanntlich fast völlig unverstanden,In A folgt: sich
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so felsenfest stand der kollektive Vergeltungsgedanke in der jüdischen Religiosität. Die für den frommen Juden mit dem Moralismus des Gesetzes unvermeidlich verbundene, weil fast alle exilischen und nachexilischen heiligen Schriften durchziehende, Rachehoffnung, welche 2½ Jahrtausende lang in fast jedem Gottesdienst des an den beiden unzerreißbaren Ketten: der religiös geheiligten Absonderung von der übrigen Welt und der Diesseitsverheißungen seines Gottes, festliegenden Volkes bewußt oder unbewußt neue Nahrung erhalten mußte, trat, da der Messias auf sich warten ließ, natürlich im religiösen Bewußtsein der Intellektuellenschicht immer wieder zugunsten des Werts der Gottinnigkeit rein als solcher oder eines milden stimmungsvollen Vertrauens auf göttliche Güte rein als solche und der Bereitschaft zum Frieden mit aller Welt zurück. Dies geschah besonders, so oft die soziale Lage der zu völliger politischer Machtlosigkeit verurteilten Gemeinden eine irgend erträgliche war, – während sie in Epochen, wie etwa den Verfolgungen der Kreuzzugszeit entweder zu einem ebenso penetranten wie fruchtlosen Racheschrei zu Gott wieder aufflammt oder zu dem [261]Gebet: [260] Zu Webers Zeit war das alttestamentliche Hiobbuch stark in der Diskussion. Weber vertritt hier eine unterschiedliche Position zu Bernhard Duhm, der vermutete, daß das Buch Hiob ein heterogenes Werk sei, Teile davon seien zu unterschiedlichen Zeiten und von unterschiedlichen Autoren verfaßt. Duhm ging davon aus, daß „die alte Grundlage des Buches Hiob […] ein Volksbuch“ bilde, die Hiobreden dagegen von einem Dichter stammen müssen, der „zu den bescheideneren bürgerlichen Kreisen gehört, [… und] auch hart ums Brot gearbeitet“ habe. Der Verfasser der „Elihureden und Verwandtes“ sei dagegen ein „noch sehr junger, jedenfalls unreifer Schriftsteller“. (Kurzer Hand-Commentar zum Alten Testament, hg. von Karl Marti, Abteilung XVI: Das Buch Hiob. – Freiburg i. Br., Leipzig und Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1897, Zitate: S. VII–XIII).
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die eigene Seele möge vor den den Juden fluchenden Feinden „zu Staub werden“, aber vor bösen Worten und Taten sich wahren und sich allein auf die wortlose Erfüllung von Gottes Gebot und die Offenhaltung des Herzens für ihn beschränken. Eine so unerhörte Verzerrung es nun wäre, im Ressentiment das eigentlich maßgebende Element der historisch stark wandelbaren jüdischen Religiosität finden zu wollen, so darf allerdings sein Einfluß auch auf grundlegende Eigenarten der jüdischen Religiosität nicht unterschätzt werden. Denn es zeigt gegenüber dem ihm mit andern Erlösungsreligionen Gemeinsamen in der Tat einen der spezifischen Züge und spielt in keiner anderen Religiosität negativ privilegierter Schichten eine derartig auffällige Rolle. In irgendeiner Form allerdings ist die Theodizee der negativ Privilegierten Bestandteil jeder Erlösungsreligiosität, welche in diesen Schichten vornehmlich ihre Anhängerschaft hat, und die Entwicklung der Priesterethik ist ihr überall da entgegengekommen, wo sie Bestandteil einer vornehmlich innerhalb solcher Schichten heimischen Gemeindereligiosität wurde. Seine fast völlige Abwesenheit, und ebenso das Fehlen fast aller sozialrevolutionären, religiösen Ethik in der Religiosität des frommen Hindu und des buddhistischen Asiaten erklärt sich aus der Art der Wiedergeburtstheodizee; die Ordnung der Kaste als solche bleibt ewig und ist absolut gerecht. Denn Tugenden oder Sünden eines früheren Lebens begründen die Geburt in die Kaste, das Verhalten im jetzigen Leben die Chancen der Verbesserung. Es besteht daher vor allem keine Spur jenes augenfälligen Konflikts zwischen der durch Gottes Verheißungen geschaffenen sozialen Prätension und der verachteten Lage in der Realität, welcher in dem dergestalt in ständiger Spannung gegen seine Klassenlage [261] Im babylonischen Talmud berichtet Berachoth fol. 16–17 von „Kurzgebeten“, die einige Meister nach dem offiziellen Hauptgebet sprachen bzw. lehrten. Mar bar Rabina soll nach dem Hauptgebet die Worte gesprochen haben: „Bewahre meine Zunge vor Bösem und meine Lippen vor Trug; meinen Fluchern schweige meine Seele, und meine Seele sei wie Staub [d. i. demüthig] gegen alle. Thue auf, mein Herz, vor deiner Thora, dass meine Seele deinen Geboten nachjage […]“. (Zitiert nach Wünsche, August, Der Babylonische Talmud in seinen Haggadischen Bestandtheilen, 1. Halbband. – Leipzig: Otto Schulze 1886, S. 37). Dieses Gebet wurde später abschließender Teil des Achtzehngebets, des Schemone-Esre.
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und in ständiger Erwartung und [262]fruchtloser Hoffnung lebenden Juden die Weltunbefangenheit vernichtete, und die religiöse Kritik an den gottlosen Heiden, auf welche dann erbarmungsloser Hohn antwortete, umschlagen ließ in ein immer waches, oft erbittertes, weil ständig von geheimer Selbstkritik bedrohtes Achten auf die eigene Gesetzestugend. Dazu trat kasuistisches, lebenslängliches geschultes [A 285]Grübeln über die religiösen Pflichten der Volksgenossen – von deren Korrektheit ja Jahves schließliche Gnade abhing – und die in manchen Produkten der nachexilischen Zeit so charakteristisch hervortretende Mischung von Verzagtheit an jeglichem Sinn dieser eitlen Welt, Sichbeugen unter die Züchtigungen Gottes, Sorge, ihn durch Stolz zu verletzen und angstvoller, rituell-sittlicher Korrektheit, die den Juden jenes verzweifelte Ringen nicht mehr um die Achtung der andern, sondern um Selbstachtung und Würdegefühl aufzwang. Ein Würdegefühl, das – wenn schließlich doch die Erfüllung der Verheißungen Jahves der Maßstab des jeweiligen eigenen Werts vor Gott sein mußte, – sich selbst immer prekär werden und damit wieder vor dem Schiffbruch des ganzen Sinnes der eigenen Lebensführung stehen konnte. [261] In A folgt: Lebenden
Ein greifbarer Beweis für Gottes persönliche Gnade blieb in der Tat für den Ghetto-Juden in steigendem Maße der Erfolg im Erwerb. Allein es paßt gerade der Gedanke der „Bewährung“ im gottgewollten „Beruf“ für den Juden nicht in dem Sinn, in welchem die innerweltliche Askese ihn kennt. Denn der Segen Gottes ist in weit geringerem Maße als bei dem Puritaner in einer systematischen asketischen rationalen Lebensmethodik als der dort einzig möglichen Quelle der certitudo salutis verankert. Nicht nur ist z. B. die Sexualethik direkt antiasketisch und naturalistisch geblieben und war die altjüdische Wirtschaftsethik in ihren postulierten Beziehungen stark traditionalistisch, erfüllt von einer, jeder Askese fremden, unbefangenen Schätzung des Reichtums, sondern die gesamte Werkheiligkeit der Juden ist ritualistisch unterbaut und überdies häufig kombiniert mit dem spezifischen Stimmungsgehalt der Glaubensreligiosität. Nur gelten die traditionalistischen Bestimmungen der innerjüdischen Wirtschaftsethik selbstverständlich, wie bei aller alten Ethik, in vollem Umfang nur dem Glaubensbruder gegenüber, nicht nach außen. Alles in allem aber haben Jahves Verheißungen innerhalb des Judentums selbst in der Tat einen starken Einschlag von Ressentimentsmoralismus gezei[263]tigt. Sehr falsch wäre es aber, sich das Erlösungsbedürfnis, die Theodizee oder die Gemeindereligiosität überhaupt als nur aus dem Boden der negativ privilegierten Schichten oder gar nur aus Ressentiment erwachsen vorzustellen, also lediglich als Produkt eines „Sklavenaufstandes in der Moral“.
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Das trifft nicht einmal für das alte Christentum zu, obwohl es seine Verheißungen mit größtem Nachdruck grade an die geistig und materiell „Armen“ richtet. An dem Gegensatz der Prophetie Jesus und ihren nächsten Konsequenzen kann man vielmehr erkennen, was die Entwertung und Sprengung der rituellen, absichtsvoll auf Abschluß nach außen abgezweckten Gesetzlichkeit und dessen Folge: Lösung der Verbindung der Religiosität mit der Stellung der Gläubigen als eines kastenartig geschlossenen Pariavolkes[,] für Konsequenzen haben mußte. Gewiß enthält die urchristliche Prophetie sehr spezifische Züge von „Vergeltung“ im Sinne des künftigen Ausgleichs der Lose (am deutlichsten in der Lazaruslegende) [263] Weber zitiert Nietzsche, Genealogie der Moral, S. 16. Mit dem jüdischen Volk beginne der „Sklaven-Aufstand in der Moral“, eine Glorifizierung des Leidens. Freundlich und zuvorkommend zu sein, weil man zu schwach oder zu schüchtern ist, sich anders zu verhalten oder vielmehr Angst vor Repressalien hat, sei Sklavenmoral. Vgl. auch oben, S. 257, Anm. 91.
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und der Rache, die Gottes Sache ist. Und das Reich Gottes ist auch hier ein irdisches Reich, zunächst offenbar ein speziell oder doch in erster Linie ein den Juden, die ja von alters her an den wahren Gott glauben, bestimmtes Reich. Aber gerade das spezifisch penetrante Ressentiment des Pariavolks ist das, was durch die Konsequenzen der neuen religiösen Verheißungen ausgeschaltet wird. Und die Gefahr des Reichtums für die Erlösungschance wird wenigstens in den als eigene Predigt Jesu überlieferten Bestandteilen selbst in keiner Art asketisch motiviert und ist erst recht nicht – wie die Zeugnisse der Tradition über seinen Verkehr nicht nur mit Zöllnern Die Legende des reichen Mannes und des armen Lazarus steht in Lukas 16, 19–31. Geschildert wird das Leben eines in Luxus schwelgenden Mannes im Kontrast zum armen und aussätzigen Lazarus. Nach dem Tod beider kehren sich die Verhältnisse um: Der Reiche erleidet Höllenqualen zur Strafe für seinen Egoismus. Lazarus lebt als Ausgleich für sein irdisches Leben „in Abrahams Schoß“.
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(das [264]sind in Palästina meist Kleinwucherer)[,] sondern mit andern wohlhabenden Vornehmen beweisen – aus Ressentiment motivierbar. Dazu ist die Weltindifferenz bei der Wucht der eschatologischen Erwartungen viel zu groß. Freilich, wenn er „vollkommen“, Markus 2, 15 f. und Lukas 5, 29 f. berichten von der Tischgemeinschaft Jesu mit „Zöllnern und Sündern“. Den Umgang Jesu mit dem reichen Zöllner Zadäus aus Jericho schildert Lukas 19, 1–10. Zur neutestamentlichen Zeit wurden in Palästina, wie auch sonst im Römischen Reich, die öffentlichen Abgaben nicht direkt von staatlichen Beamten erhoben. Ihre Eintreibung wurde an Privatpersonen und Gesellschaften gegen Geld verpachtet, die sie dann durch Angestellte, die Zöllner, erhoben.
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das heißt: Jünger werden will, muß der reiche Jüngling bedingungslos aus der „Welt“ scheiden. Aber ausdrücklich wird gesagt, daß bei Gott alles, auch das Seligwerden des Reichen, der von seinen Gütern zu scheiden sich nicht entschließen kann, wie immer erschwert, dennoch möglich sei.[264] Matthäus 19, 21: „Jesus sprach zu ihm [dem reichen Jüngling]: Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm, und folge mir nach.“
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„Proletarische Instinkte“ Matthäus 19, 23–26; Markus 10, 23–27; Lukas 18, 24–27.
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sind dem Propheten akosmistischer Liebe, der den [A 286]geistig und materiell Armen die frohe Botschaft von der unmittelbaren Nähe des Gottesreiches und Freiheit von der Gewalt der Dämonen bringt, ebenso fremd wie etwa dem Buddha, dem das absolute Ausscheiden aus der Welt unbedingte Voraussetzung der Erlösung ist. Die Schranke der Bedeutung des „Ressentiments“ und die Bedenklichkeit der allzu universellen Anwendung des „Verdrängungs“-Schemas zeigt sich aber nirgends so deutlich wie in dem Fehler Nietzsches, der sein Schema auch auf das ganz unzutreffende Beispiel des Buddhismus anwendet. In der sozialistischen Literatur, etwa bei Karl Kautsky, ist die Verbindung zwischen Christentum und Proletariat explizit ausgesprochen. Robert von Pöhlmann, Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, Band 2, 2. Aufl. – München: C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck 1912, charakterisierte Jesus als „Messias des Proletariats“ (ebd., S. 595) und postulierte einen Einfluß von „sozialistische[n] Masseninstinkte[n] auf das kaiserzeitliche Christentum“ (ebd., S. 627). Wie Max Weber die Abhandlung von Pöhlmann einschätzte, berichtete Ernst Troeltsch bei anderer Gelegenheit: „Die verdienstliche Arbeit muß freilich, wie mich Max Weber belehrt, mit Vorsicht benützt werden. Sie arbeitet zu sehr mit modern sozialistischen Kategorien […]“. (Troeltsch, Soziallehren, S. 20, Fn. 122).
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Dieser aber ist das radikalste [265]Gegenteil jedes Ressentimentsmoralismus, vielmehr die Erlösungslehre einer stolz und vornehm die Illusionen des diesseitigen wie des jenseitigen Lebens gleichmäßig verachtenden, zunächst fast durchweg aus den privilegierten Kasten, speziell der Kriegerkaste, rekrutierten Intellektuellenschicht und kann allenfalls mit der hellenistischen, vor allem der neuplatonischen oder auch der manichäischen oder der gnostischen Erlösungslehre, so gründlich verschieden diese von ihnen sind, der sozialen Provenienz nach verglichen werden. Wer die Erlösung zum Nirwana nicht will, dem gönnt der buddhistische bikkshu die ganze Welt einschließlich der Wiedergeburt im Paradiese. Weber nahm an, daß der Buddhismus durch die stolze und kriegerische Haltung der positiv privilegierten Kasten geprägt sei (MWG I/20, S. 363 und WuG1, S. 637 (MWG I/22-1)). Dagegen vertrat Friedrich Nietzsche die These, daß sich der Buddhismus aus sanftmütigen und unkämpferischen Menschen aller Stände rekrutiert habe, „welche aus Trägheit gut und gütig (vor Allem inoffensiv) sind, die, ebenfalls aus Trägheit, abstinent, beinahe bedürfnisslos leben“. (Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, S. 290). Nietzsche verglich sie mit den ersten Christen, den „kleinen Leute[n] in der römischen Provinz“, die „ein bescheidnes tugendhaftes gedrücktes Leben“ führten (ebd., S. 290). An anderer Stelle thematisierte Nietzsche das Verhältnis Christentum-Buddhismus: Im Unterschied zum Christentum kenne der Buddhismus den Begriff „Gott“ nicht und lehre eine [265]Selbsterlösung. Er verspreche nicht nur eine Erlösung vom Leiden, sondern gewähre sie auch, kenne weder Ressentiment noch Sünde und bleibe von seinem Ursprung in den herrschenden Ständen geprägt. Nietzsche wörtlich: „Man sieht, was mit dem Tode am Kreuz zu Ende war: ein neuer, ein durchaus ursprünglicher Ansatz zu einer buddhistischen Friedensbewegung, zu einem thatsächlichen, nicht bloß verheissenen Glück auf Erden. Denn dies bleibt […] der Grundunterschied zwischen den beiden décadence-Religionen: der Buddhismus verspricht nicht, sondern hält, das Christenthum verspricht Alles, aber hält Nichts“. (Nietzsche, Friedrich, Der Antichrist, 2. Aufl. – Leipzig: C. G. Naumann 1896, S. 270).
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Gerade dies Beispiel zeigt, daß das Erlösungsbedürfnis und die ethische Religiosität noch eine andere Quelle hat, als die soziale Lage der negativ Privilegierten und den durch die praktische Lebenslage bedingten Rationalismus des Bürgertums: den Intellektualismus rein als solchen, speziell die metaphysischen Bedürfnisse des Geistes, welcher über ethische und religiöse Fragen zu grübeln nicht durch materielle Not gedrängt wird, sondern durch die eigene innere Nötigung, die Welt als einen sinnvollen Kosmos erfassen und zu ihr Stellung nehmen zu können. Heinrich Hackmann bemerkte dazu: „Die Umbiegung zum gewöhnlichen Götter- oder Gottes-Glauben hin, welche die altbuddhistische Lehre so erfährt, wird noch stärker dadurch, daß sich an Stelle des Nirvana die Vorstellung eines seligen Zustandes, eines Paradieses schiebt. Ein solches, ausgemalt mit allen erdenklichen Freuden, ist der Lohn der tugendhaft Wandelnden, und wer dies selige Leben erlangt, der ist den Unsicherheiten der Wiederverkörperung entnommen“. (Hackmann, Heinrich, Der Ursprung des Buddhismus und die Geschichte seiner Ausbreitung. Der Buddhismus, Erster Teil (Religionsgeschichtliche Volksbücher, Reihe III, Heft 4). – Halle: Gebauer-Schwetschke 1905, S. 41 f.). Edvard Lehmann führte aus: „Denn das Paradies, Sukhāvatī, ‚das Land der Glückseligkeit‘, also nicht das Nirvāṇa des Auslöschens, ist nun die Hoffnung der Gläubigen; […] das höchste Nirvāṇa, das Auslöschen überläßt man denen, die nach der höchsten Buddhawürde Begehren trachten“. (Lehmann, Der Buddhismus, wie oben, S. 184, Anm. 34, S. 230 f.).
[266]In außerordentlich weitgehendem Maße ist das Schicksal der Religionen durch die verschiedenen Wege, welche der Intellektualismus dabei einschlägt, und durch dessen verschiedenartige Beziehungen zu der Priesterschaft und den politischen Gewalten
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und sind diese Umstände wiederum durch die Provenienz derjenigen Schicht bedingt gewesen, welche in spezifischem Grade Träger des Intellektualismus war. Das war zunächst das Priestertum selbst, insbesondere, wo es durch den Charakter der heiligen Schriften und die Notwendigkeit, diese zu interpretieren und ihren Inhalt, ihre Deutung und ihren richtigen Gebrauch zu lehren, eine Literatenzunft geworden war. Das ist gar nicht in den Religionen der antiken Stadtvölker, speziell der Phöniker, Hellenen, Römer einerseits, in der chinesischen Ethik andererseits geschehen. Hier geriet das infolge dessen nur bescheiden entwickelte, eigentlich theologische (Hesiod) und alles metaphysische und ethische Denken ganz in die Hände von Nichtpriestern. In höchstem Maße dagegen war das Gegenteil der Fall in Indien, Ägypten und Babylonien, bei den Zarathustriern, im Islam und im alten und mittelalterlichen, für die Theologie auch im modernen Christentum. Die ägyptische, zarathustrische und zeitweise die altchristliche und während des vedischen Zeitalters, also vor Entstehung der laienasketischen und der Upanishad-Philosophie auch die brahmanische, in geringerem, durch Laienprophetie stark durchbrochenen Maße auch die jüdische, in ähnlich begrenztem, durch die sufitische Spekulation teilweise durchbrochenem,[266] Zu ergänzen wäre: bedingt gewesen,
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Grade auch die islamische Priesterschaft haben die Entwicklung der religiösen Metaphysik und Ethik in sehr starkem Maße zu monopolisieren gewußt. Neben den Priestern oder statt ihrer sind es in allen Zweigen des Buddhismus, im Islam und im alten und mittelalterlichen Christentum vor allen Dingen Mönche oder mönchsartig orientierte Kreise, welche nicht nur das theologische und ethische, sondern alles metaphysische und beträchtliche Bestandteile des wissenschaftlichen Denkens überhaupt und außerdem der literarischen Kunstproduktion okkupierten und literarisch pflegten. Die Zugehörigkeit der Sänger zu den kultisch wichtigen Personen hat die Hineinbeziehung der epischen, lyrischen, satyrischen Dichtung Indiens in die Veden, der erotischen Dichtung Israels in die heili[267]gen Schriften, die psychologische Verwandtschaft der mystischen und pneumatischen mit der dichterischen Emotion, die Rolle des Mystikers in der Lyrik im [A 287]Orient und Okzident bedingt. Aber hier soll es nicht auf die literarische Produktion und ihren Charakter, sondern auf die Prägung der Religiosität selbst durch die Eigenart der sie beeinflussenden Intellektuellenschichten ankommen. Da ist nun der Einfluß des Priestertums als solcher auch da, wo es Hauptträger der Literatur war, sehr verschieden stark gewesen, je nach den nichtpriesterlichen Schichten, die ihm gegenüberstanden, und seiner eigenen Machtstellung. Wohl am stärksten spezifisch priesterlich beeinflußt ist die spätere Entwicklung der zarathustrischen Religiosität. Ebenso die ägyptische und babylonische. Prophetisch, dabei aber doch intensiv priesterlich geprägt ist das Judentum des deuteronomistischen und auch des exilischen Zeitalters. Für das Spätjudentum ist statt des Priesters der Rabbiner eine ausschlaggebende Figur. Sehr stark priesterlich, daneben mönchisch geprägt ist die christliche Religiosität der spätesten Antike und des Hochmittelalters, dann wieder die Gegenreformation. Intensiv pastoral beeinflußt ist die Religiosität des Luthertums und auch des Frühcalvinismus. In ganz außerordentlich starkem Grade brahmanisch geprägt und beeinflußt ist der Hinduismus im Schwerpunkt wenigstens seiner institutionellen und sozialen Bestandteile, vor allem demA: durchbrochenen,
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Kastenwesen, welches überall entstand, wo Brahmanen zuwanderten[,] und dessen soziale Hierarchie letztlich überall durch die Rangordnung, welche die Schätzung der Brahmanen den einzelnen Kasten zuweist, bedingt ist. Durch und durch mönchisch beeinflußt ist der Buddhismus in allen seinen Spielarten mit Einschluß vor allem des Lamaismus, in geringerem Maße auch breite Schichten der orientalisch-christlichen Religiosität. Uns interessiert nun aber hier speziell das Verhältnis einerseits der nicht priesterlichen, also neben der Mönchs- der Laienintelligenz[,] zur priesterlichen und dann die Beziehungen von Intellektuellenschichten zu den Religiositäten und ihre Stellung innerhalb der religiösen Gemeinschaften. Da ist vor allem die grundlegend wichtige Tatsache festzustellen: daß die großen asiatischen religiösen Lehren alle Intellektuellenschöpfungen sind. Die Erlösungslehre des Buddhismus ebenso wie die des Jai[268]nismus und alle ihnen verwandte Lehren wurden getragen von vornehmen Intellektuellen mit (wenn auch nicht immer streng fachmäßiger) vedischer Bildung, wie sie zur vornehmen indischen Erziehung gehörte, von Angehörigen vor allem des Kschatriya-Adels, der sich im Gegensatz zum brahmanischen fühlte. In China waren sowohl die Träger des Konfuzianismus, vom Stifter selbst angefangen, wie der offiziell als Stifter des Taoismus geltende Laotse, entweder selbst klassisch-literarisch gebildete Beamte oder Philosophen mit entsprechender Bildung. Fast alle prinzipiellen Richtungen der hellenischen Philosophie finden in China wie in Indien ihr freilich oft stark modifiziertes Gegenbild. Der Konfuzianismus als geltende Ethik ist durchaus von der klassisch-literarisch gebildeten Amtsanwärterschicht getragen, während allerdings der Taoismus zu einer populären magischen Praxis geworden ist. Die großen Reformen des Hinduismus sind von brahmanisch gebildeten vornehmen Intellektuellen geschaffen worden, obwohl allerdings die Gemeindebildung nachher teilweise in die Hände von Mitgliedern niederer Kasten geriet, darin also anders verlief als die gleichfalls von fachmäßig geistlich gebildeten Männern ausgehende Kirchenreformation in Nordeuropa, die katholische Gegenreformation, welche zunächst in dialektisch geschulten Jesuiten, wie Salmeron und Lainez, ihre Stützen fand, und die, Mystik und Orthodoxie verschmelzende Umbildung der islamitischen Doktrin (Al Ghazali), deren Leitung in den Händen teils der offiziellen Hierarchie, teils einer aus theologisch Gebildeten, neu sich bildenden Amtsaristokratie blieb. Ebenso aber sind die vorderasiatischen Erlösungslehren des Manichäismus und der Gnosis beide ganz spezifische Intellektuellenreligionen, sowohl was ihre Schöpfer wie was ihre wesentlichen Träger und auch was den Charakter ihrer Erlösungslehre angeht. Und zwar sind es bei aller Verschiedenheit untereinander in allen diesen Fällen Intellektuellenschichten relativ sehr vornehmen Charakters, mit philosophischer Bildung, etwa den hellenischen Philosophenschulen oder dem durchgebildetsten Typus der klösterlichen oder auch der [A 288]weltlich-humanistischen Universitätsschulung des ausgehenden Mittelalters entsprechend, welche die Träger der betreffenden Ethik oder Erlösungslehre sind. Intellektuellenschichten nun bilden innerhalb einer gegebenen religiösen Lage entweder einen schulmäßigen Betrieb aus, ähnlich etwa der platonischen Akade[269]mie[267]A: das
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und den verwandten hellenischen Philosophenschulen[,] und nehmen, wie diese, offiziell gar keine Stellung zur bestehenden Religionspraxis, der sie sich äußerlich nicht direkt entziehen, die sie aber philosophisch umdeuten oder auch einfach ignorieren. Die offiziellen Kultvertreter ihrerseits, also in China die mit den Kultpflichten belastete Staatsbeamtenschaft, in Indien das Brahmanentum, behandelten deren Lehre dann entweder als orthodox oder (wie in China z. B. die materialistischen Lehren, in Indien die dualistische Samkhya-Philosophie) als heterodox. Diese vornehmlich wissenschaftlich gerichteten und nur indirekt mit der praktischen Religiosität zusammenhängenden Bewegungen gehen uns in unserem Zusammenhang nicht näher an. Sondern die anderen, ganz speziell auf Schaffung einer religiösen Ethik gerichteten oben erwähnten [269] Philosophenschule bei Athen, von Platon um 385 v. Chr. als privater Kultverein (thiasos) gegründet. Sie bestand bis ins 6. nachchristliche Jahrhundert.
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Bewegungen, zu denen in der okzidentalen Antike uns die Pythagoräer und Neuplatoniker die nächstliegenden Parallelen darstellen, – Intellektuellenbewegungen also, welche den sozial privilegierten Schichten entweder ausschließlich entstammen oder doch von Abkömmlingen jener geleitet oder vorwiegend beeinflußt werden. Siehe oben, S. 186 ff.
Eine Erlösungsreligiosität entwickeln sozial privilegierte Schichten eines Volkes normalerweise dann am nachhaltigsten, wenn sie entmilitarisiert und von der Möglichkeit oder vom Interesse an politischer Betätigung ausgeschlossen sind. Daher tritt sie typisch dann auf, wenn die, sei es adligen, sei es bürgerlichen herrschenden Schichten entweder durch eine bürokratisch-militaristische Einheitsstaatsgewalt entwickelt und entpolitisiert worden sind, oder sich selbst aus irgendwelchen Gründen davon zurückgezogen haben, wenn also die Entwicklung ihrer intellektuellen Bildung in ihren
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letzten gedanklichen und psychologischen inneren Konsequenzen für sie an Bedeutung über ihre praktische Betätigung in der äußeren diesseitigen Welt das Übergewicht gewonnen hat. Nicht daß sie erst dann entständen. Im Gegenteil erwachsen die betreffenden gedanklichen Konzeptionen unter Umständen zeitlich gerade in politisch und sozial bewegten Zeiten als Folge vor[270]aussetzungslosen Nachdenkens. Aber die Herrschaft pflegen diese, zunächst unterirdisch bleibenden Stimmungen regelmäßig erst mit dem Eintritt der Entpolitisierung des Intellektuellentums zu gewinnen. Der Konfuzianismus, die Ethik eines machtvollen Beamtentums[,] lehnt jede Erlösungslehre ab. Jainismus und Buddhismus – das radikale Gegenstück zur konfuzianischen Weitanpassung – waren greifbarer Ausdruck einer radikal antipolitisch, pazifistisch und weltablehnend gearteten Intellektuellengesinnung. Aber wir wissen nicht, ob ihre zeitweilig erhebliche Anhängerschaft in Indien durch Zeitereignisse vermehrt wurde, welche entpolitisierend wirkten. Die jeglichen politischen Pathos entbehrende Zwergstaaterei der indischen Kleinfürsten vor Alexanders Zeiten,[269]A: ihre
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welcher die imponierende Einheit des damals allmählich überall vordringenden Brahmanentums gegenüberstand, war an sich geeignet, die intellektuell geschulten Kreise des Adels ihre Interessen außerhalb der Politik suchen zu lassen. Die vorschriftsmäßige Weltentsagung des Brahmanen als Vanaprastha,[270] Der Indienfeldzug von Alexander III., dem Großen, fand in den Jahren 327–325 v. Chr. statt.
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sein Altenteil und dessen populäre Heilighaltung fand daher in der Entwicklung der nicht brahmanischen Asketen (Sramanas) Nachfolge – falls nicht umgekehrt die Empfehlung der Weltentsagung an den Brahmanen, der den Sohn seines Sohns sieht, die jüngere von beiden Erscheinungen und eine Übertragung ist. Jedenfalls übertrafen die Sramanas, als Inhaber asketischen Charismas, in der populären Schätzung bald das offizielle Priestertum. Der mönchische Apolitismus der Vornehmen war in Indien in dieser Form schon seit sehr frühen Zeiten endemisch, längst ehe die apolitischen philosophischen Erlösungslehren entstanden. Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen, sei es mystagogischen, sei es prophetischen Charakters und ebenso die vom Laienintellektualismus getragenen, orientalischen und hellenistischen, sei [A 289]es mehr religiösen, sei [271]es mehr philosophischen Erlösungslehren, sind (soweit sie überhaupt sozial privilegierte Schichten erfassen) fast ausnahmslos Folgeerscheinung der erzwungenen oder freiwilligen Abwendung der Bildungsschichten von politischem Einfluß und politischer Betätigung. Die Wendung zur Erlösungsreligiosität hat die babylonische Religion, gekreuzt mit Bestandteilen außerbabylonischer Provenienz, erst im Mandäismus, die vorderasiatische Intellektuellenreligiosität zuerst durch Beteiligung an den Mithras- und anderen soteriologischen Kulten, dann in der Gnosis und im Manichäismus vollzogen, auch hier, nachdem jedes politische Interesse der Bildungsschicht abgestorben war. Erlösungsreligiosität hat es wohl schon vor der pythagoreischen Sekte, innerhalb der hellenischen Intellektuellenschicht[,] immer gegeben. Aber nicht sie beherrschte deren politisch maßgebende Schichten. Der Erfolg der Propaganda der Erlösungskulte und der philosophischen Erlösungslehre in den vornehmen Laienkreisen des Späthellenen- und des Römertums geht parallel der endgültigen Abwendung dieser Schichten von politischer Betätigung. Und das etwas geschwätzige sog. „religiöse“ Interesse unserer deutschen Intellektuellenschichten in der Gegenwart hängt intim mit politischen Enttäuschungen und dadurch bedingter politischer Desinteressiertheit zusammen. Der Ausdruck vanaprastha bezeichnet wörtlich den, „der sich im Wald aufhält“, und steht für die dritte Lebensstufe des arischen Inders, der sich vom aktiven Leben in die Einsiedelei in den Wäldern zurückzieht. Die Vorschrift der Weltentsagung findet sich im Gesetzbuch des Manu (VI, 2): „When a householder sees his (skin) wrinkled, and (his hair) white, and the sons of his sons, then he may resort to the forest“. (Zitiert nach Bühler, Georg, The Laws of Manu (The Sacred Books of the East, vol. 25). – Oxford: Clarendon Press 1886, S. 198; hinfort: Bühler, The Laws of Manu). Weitere Vorschriften zur Lebensweise als vanaprastha finden sich in Manu VI, 1–32.
Der vornehmen, aus den privilegierten Klassen stammenden Erlösungssehnsucht ist generell die Disposition für die, mit spezifisch intellektualistischer Heilsqualifikation verknüpfte, später zu analysierende
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„Erleuchtungs“-Mystik eigen. Das ergibt eine starke Deklassierung des Naturhaften, Körperlichen, Sinnlichen, als – nach psychologischer Erfahrung – einer Versuchung zur Ablenkung von diesem spezifischen Heilsweg. Steigerung, anspruchsvolle Raffinierung und gleichzeitig Abdrängung der normalen Geschlechtlichkeit zugunsten von Ersatz-Abreaktionen dürften dabei ebenfalls, bedingt durch die Lebensführung des Nichts-als-Intellektuellen, zuweilen eine heute anscheinend von der Psychopathologie [271] Siehe unten, S. 323 f., S. 330 ff. und S. 439.
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noch nicht in eindeutigen Regeln erfaßbare Rolle spielen, [272]wie gewisse Erscheinungen, namentlich der gnostischen Mysterien In seiner „Protestantischen Ethik“ hatte Weber bereits zur Verwertbarkeit der Psychopathologie Stellung genommen. (Weber, Protestantische Ethik II, S. 44 f., Fn. 79a). Er maß den Arbeiten Willy Hellpachs, Grundlinien einer Psychologie der Hysterie. – Leipzig: Wilhelm Engelmann 1904, 12. Kap., und ders., Nervosität und Kultur (Kulturpro[272]bleme der Gegenwart, hg. von Leo Berg, Band 5). – Berlin: Räde 1902, einen hohen Stellenwert zu. In seinen „Antikritiken“ hielt Weber den „heutigen gesicherten Begriffsvorrat der ‚Psychologie‘ für unzulänglich […], um für ein konkretes religionshistorisches Problem: die Bedeutung bestimmter Hysterisierungsvorgänge im alten Pietismus, mit Sicherheit verwertet zu werden“. (Weber, Max, Kritische Bemerkungen zu den vorstehenden „Kritischen Beiträgen“ [von H. Karl Fischer], in: AfSSp, Band 25, 1907, S. 243–249, Zitat: S. 247; MWG I/9). Zur Beziehung Max Webers zu Hellpach vgl. auch MWG I/11, S. 46.
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– ein sublimer masturbatorischer Ersatz für die Orgien des Bauern – handgreiflich nahezulegen scheinen. Mit diesen rein psychologischen Bedingungen einer Irrationalisierung des Religiösen kreuzt sich das natürliche rationalistische Bedürfnis des Intellektualismus, die Welt als sinnvollen Kosmos zu begreifen, deren Produkt ebenso die (bald zu erwähnende) Der Erzbischof und Ketzerbekämpfer Epiphanius von Salamis (um 315 bis 403) behauptete von Kultfeiern der Barbelo-Gnostiker: Nach einem Gemeinschaftsmahl mit anschließendem Geschlechtsverkehr werde das männliche Sperma von Männern und Frauen gemeinsam in die Hände genommen, gen Himmel gehalten und als „Leib Christi“ gepriesen. Mit dem weiblichen Menstruationsblut sei ähnlich verfahren worden, da es als „Blut Christi“ galt. Sperma und Regelblut seien mit Nahrungsmitteln vermischt gegessen worden; beides verkörperte bei den Barbelo-Gnostikern die Seele, die eingesammelt und wieder verzehrt werde. (Panarion 26).
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indische Karmanlehre und ihre buddhistische Abwandlung, wie etwa in Israel das vermutlich aus vornehmen Intellektuellenkreisen stammende Hiobbuch, Siehe unten, S. 299 f.
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verwandte Problemstellungen in der ägyptischen Literatur, die gnostische Spekulation und der manichäische Dualismus sind. Vgl. oben, S. 260, Anm.1.
Die intellektualistische Provenienz einer Erlösungslehre und ebenso einer Ethik hat, wenn dann die betreffende Religiosität Massenreligion wird, ganz regelmäßig die Konsequenz, daß entweder eine Esoterik oder doch eine vornehme Standesethik für die Bedürfnisse der intellektuell Geschulten innerhalb der popularisierten, magisch heilandssoteriologisch umgeformten und den Bedürfnissen der Nichtintellektuellen angepaßten, offiziellen Religiosität entsteht. So die ganz erlösungsfremde konfuzianische Standesethik der Bürokratie, neben welcher die taoistische Magie und die buddhistische Sakraments- und Ritualgnade als Volksreligiositäten petrifiziert, verachtet von den klassisch Gebildeten, weiterbestehen. Ebenso die buddhistische Erlösungsethik des Mönchstandes neben der Zauberei und Idolatrie der Laien, dem Fort[273]bestand der tabuistischen Magie und der Neuentwicklung der hinduistischen Heilandsreligiosität. Oder aber es nimmt die Intellektuellenreligiosität die Form der Mystagogie mit einer Hierarchie von Weihen an – wie in der Gnosis und verwandten Kulten – von deren Erreichung der unerleuchtete „Pistiker“ ausgeschlossen bleibt.
Stets ist die Erlösung, die der Intellektuelle sucht, eine Erlösung von „innerer Not“ und daher einerseits lebensfremderen, andrerseits prinzipielleren und systematischer erfaßten Charakters, als die Erlösung von äußerer Not, welche den nicht privilegierten Schichten eignet. Der Intellektuelle sucht auf Wegen, deren Kasuistik [A 290]ins Unendliche geht, seiner Lebensführung einen durchgehenden „Sinn“ zu verleihen, also „Einheit“ mit sich selbst, mit den Menschen, mit dem Kosmos. Er ist es, der die Konzeption der „Welt“ als eines „Sinn“-Problems vollzieht. Je mehr der Intellektualismus den Glauben an die Magie zurückdrängt, und so die Vorgänge der Welt „entzaubert“ werden, ihren magischen Sinngehalt verlieren, nur noch „sind“ und „geschehen“, aber nichts mehr „bedeuten“, desto dringlicher erwächst die Forderung an die Welt und „Lebensführung“ je als Ganzes, daß sie bedeutungshaft und „sinnvoll“ geordnet seien.
Die Konflikte dieses Postulats mit den Realitäten der Welt und ihren Ordnungen und den Möglichkeiten der Lebensführung in ihr bedingen die spezifische Intellektuellenweltflucht, welche sowohl eine Flucht in die absolute Einsamkeit, oder – moderner – in die durch menschliche Ordnungen unberührte „Natur“ (Rousseau)
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und die weltflüchtige Romantik, wie eine Flucht unter das durch menschliche Konvention unberührte „Volk“ (das russische Narodnitschestwo [273] Vgl. den Eintrag im Personenverzeichnis, unten, S. 464.
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)[273]A: Umodnitschestwo
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sein, mehr kontemplativ oder mehr aktiv asketisch sich wenden, mehr individuelles Heil oder mehr kollektiv-ethisch-revolutionäre Weltänderung suchen kann. Alle diese dem apolitischen Intellektualismus gleich zugänglichen Tendenzen nun können auch als religiöse Erlösungslehren auftreten und haben dies gelegentlich getan. Der spezifisch weltflüchtige [274]Charakter der Intellektuellenreligiosität hat auch hier eine seiner Zum russischen Narodnitschestwo vgl. oben, S. 225, Anm. 24.
o
Wurzeln. [274]A: ihrer
Diese philosophische, von – durchschnittlich – sozial und ökonomisch versorgten Klassen, vornehmlich von apolitischen Adligen oder Rentnern, Beamten, kirchlichen, klösterlichen, Hochschul- oder anderen Pfründnern irgendwelcher Art getragene Art von Intellektualismus ist aber nicht die einzige und oft nicht die vornehmlich religiös relevante. Daneben steht: der proletaroide Intellektualismus, mit dem vornehmen Intellektualismus überall durch gleitende Übergänge verbunden, und nur in der Art der typischen Sinnesrichtung von ihm verschieden. Die am Rande des Existenzminimums stehenden, meist nur mit einer als subaltern geltenden Bildung ausgerüsteten kleinen Beamten und Kleinpfründner aller Zeiten, die nicht zu den privilegierten Schichten gehörigen Schriftkundigen in Zeiten, wo das Schreiben ein Spezialberuf war, die Elementarlehrer aller Art, die wandernden Sänger, Vorleser, Erzähler, Rezitatoren und ähnliche freie proletaroide Berufe gehören dazu. Vor allem aber: die autodidaktische Intelligenz der negativ privilegierten Schichten, wie sie in der Gegenwart in Europa im Osten am klassischsten die russische proletaroide Bauernintelligenz, außerdem im Westen die sozialistische und anarchistische Proletarierintelligenz repräsentiert, zu deren Beispiel aber – mit gänzlich anderm Inhalt – auch die berühmte Bibelfestigkeit der holländischen Bauern noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im 17. Jahrhundert diejenige der kleinbürgerlichen Puritaner Englands, ebenso aber diejenige der religiös interessierten Handwerksgesellen aller Zeiten und Völker, vor allem und wiederum in ganz klassischer Art die jüdischen Frommen (Pharisäer, Chassidäer, und die Masse der frommen,
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täglich im Gesetz lesenden Juden überhaupt) gehören. Soweit es sich hier um „Paria“-Intellektualismus handelt, – wie bei allen proletaroiden Kleinpfründnern, den russischen Bauern, den mehr oder minder „fahrenden“ Leuten, – beruht dessen Intensität darauf, daß die außerhalb oder am unteren Ende der sozialen Hierarchie stehenden Schichten gewissermaßen auf dem archimedischen PunktA: Frommen,
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gegenüber den gesell[275]schaftlichen Konventionen, sowohl was die äußere Ordnung wie was die üblichen Meinungen angeht, stehen. Sie sind daher einer durch jene Konvention nicht gebundenen originären Stellungnahme zum „Sinn“ des Kosmos und eines starken, durch materielle Rücksicht nicht gehemmten, ethischen und religiösen Pathos fähig. Soweit sie den Mittelklassen angehören, wie die religiös autodidaktischen Kleinbürgerschichten, pflegt ihr religiöses Bedürfen entweder eine ethisch-rigoristische oder okkultistische Wendung zu nehmen. Der Handwerksburschenintellektualismus steht in der Mitte zwischen beiden und hat seine Bedeutung in der Qualifikation des wandernden Handwerksburschen zur Mission. [274] Nach dem Ausspruch des griechischen Gelehrten Archimedes (geb. 287 v. Chr.): „Gib mir einen Punkt, auf dem ich stehen kann, und ich werde die Erde bewegen“.
[A 291]In Ostasien und Indien fehlt der Paria-, ebenso wie der Kleinbürgerintellektualismus, so viel bekannt, fast gänzlich, weil das Gemeingefühl des Stadtbürgertums, welches für den zweiten, und die Emanzipation von der Magie, welche für beide Voraussetzung ist, fehlt. Ihre Ghatas
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nehmen sich selbst die auf dem Boden niederer Kasten entstandenen Formen der Religiosität ganz überwiegend von den Brahmanen. Einen selbständigen, inoffiziellen Intellektualismus gegenüber der konfuzianischen Bildung gibt es in China nicht. Der Konfuzianismus also ist die Ethik des „vornehmen Menschen“, des „Gentleman“ (wie schon Dvořak mit Recht übersetzt). [275] Die Verwendung dieses Begriffes ist unklar. Der aus der zoroastrischen Religion stammende Terminus „Gathas“ ergibt in diesem Zusammenhang keinen Sinn.
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Er ist ganz ausgesprochenermaßen eine Standesethik, richtiger: ein System von Anstandsregeln, einer vornehmen literarisch gebildeten Schicht. Ähnlich steht es im alten Orient und in Ägypten, soviel bekannt; der dortige Schreiberintellektualismus gehört, soweit er zu ethisch-religiösen Reflexionen geführt hat, durchaus dem Typus des, unter Umständen apolitischen, stets aber vornehmen und antibanausischen Intellektualismus an. Ebenso Rudolf Dvořák übersetzte den Ausdruck für den konfuzianischen Edlen, das Ideal des sittlichen Menschen in der Person des Fürstensohnes (kiün-tsï), mit „Gentleman“. (Dvorak, Chinas Religionen, S. 121 f.).
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in Israel. Der Verfasser des Hiob setzt als Träger des religiösen Intellektualismus auch die vornehmen Geschlechter voraus. Die Spruchweisheit[,] und was ihr nahe steht, zeigt ihren von der Internationalisierung und gegenseitigen Berührung der höheren apolitischen Bildungsschichten, wie sie nach Alexander im Orient ein[276]trat, stark berührten Charakter schon in der Form: die Sprüche geben sich teilweise direkt als Produkte eines nichtjüdischen Königs, und überhaupt hat ja alle mit „Salomo“ abgestempelte Literatur irgend etwas von einem internationalen Kulturcharakter. Wenn der Siracide gerade die Weisheit der Väter gegenüber der Hellenisierung betonen möchte,[275]A: Anders
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so beweist eben dies das Bestehen jener Tendenz. Und, wie Bousset mit Recht hervorhebt, [276] Diese Anschauung findet sich bei Johannes Meinhold: „Jesus Sirach, […] will seine Hörer stark machen gegenüber dem Hellenismus, der dem väterlichen Glauben wie den alten Sitten außerordentlich gefährlich war [ …]“. (Meinhold, Weisheit Israels, S. 12).
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der „Schriftgelehrte“ jener Zeit ist dem Sirachbuch nach der weitgereiste Gentleman und Kulturmensch, es geht – wie auch Meinhold betont Bei Wilhelm Bousset heißt es: „Der Schriftgelehrte ist ihm [dem Siraciden] der ‚Weise‘, dessen Besitz ‚die Bildung‘ (παιδεία) ist. Er hat seine Bildung durch Reisen erworben, er hat mit den Großen verkehrt und ist an Fürstenhöfen gewesen“. (Bousset, Religion des Judentums, S. 187). Bousset fuhr fort: „Das Vorbild des Siraciden ist offenbar der reisende Philosoph der hellenistischen Kulturperiode, dessen Rat an Königshöfen und in der Stadtgemeinde, bei der Gründung und Einrichtung von Städten und ihrer Verwaltung, bei Gericht und in der guten Gesellschaft so hoch angesehen war. Zum Ideal der Bildung (παιδεία) gehört auch bei ihm vor allem die Gewandtheit im Umgang, die Beherrschung der Formen des gesellschaftlichen Lebens, die Geschicklichkeit im Verkehr mit den Großen u.s.w.“ (ebd., S. 188).
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– ein ausgesprochen antibanausischer Zug, ganz nach Hellenenart, durch das Buch: wie kann der Bauer, der Schmied, der Töpfer die „Weisheit“ haben, die nur Muße zum Nachdenken und zur Hingabe an das Studium zu erschließen vermag? Wenn Ezra als „erster Schriftgelehrter“ bezeichnet wird, Die entsprechende Stelle bei Johannes Meinhold lautet: „Man muß eben Zeit haben und Fleiß anwenden, wenn man die ‚Weisheit‘, die also hier ‚Gelehrsamkeit‘ ist, erlangen will. Der Ackersmann wie der Künstler und Handwerker arbeiten gemäß der für sie nötigen Weisheit in ihrem Beruf, anders aber der Mann, der der eigentlichen Weisheit nachjagt; ihn wählt man in den Rat, er dient Fürsten und Königen, kommt weit auf Erden herum und sprudelt zwiefältig von weisen Sprüchen […]“. (Meinhold, Weisheit Israels, S. 294).
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so ist doch einerseits die einflußreiche Stellung der um die Propheten sich scharenden, rein religiös interessierten Menschen, So bei Wilhelm Bousset, Religion des Judentums, S. 186 f.: „Der Stand der Schriftgelehrten […] ist älter als unsre Periode, er reicht einige Jahrhunderte höher hinauf. Nach der späteren Überlieferung ist Esra der erste Vertreter dieses Typus von Religionsführern“.
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Ideologen, ohne welche die Oktroyierung des Deuteronomium nicht hätte gelingen können, weit älter, andererseits aber die überragende, dem Mufti [277]des Islam praktisch fast gleichkommendc Stellung der Schriftgelehrten, das heißt aber zunächst: der hebräisch verstehenden Ausleger der göttlichen Gebote, doch wesentlich jünger als die Stellung dieses vom Perserkönig bevollmächtigten offiziellen Schöpfers der Theokratie.[276]A: Mönche,
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Der soziale Rang der Schriftgelehrten hat nun aber Veränderungen erfahren. In der Zeit des Makkabäerreiches ist Frömmigkeit – im Grunde eine recht nüchterne Lebensweisheit, etwa wie die Xenophilie [277] Der achämenidische Herrscher Artaxerxes (I. oder II.) hatte Esra, der den amtlichen persischen Titel „Schreiber des Gesetzes des Himmelsgottes“ führte, in einem Edikt den Auftrag erteilt, die Verhältnisse in Juda und Jerusalem nach der babylonischen Gefangenschaft entsprechend dem Gesetz (dat) seines Gottes zu ordnen. Wer das Gesetz nicht befolge, solle bestraft werden. (Esra 7, 12–26).
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– und „Bildung“ identisch, diese (musar, παιδεία) Vorliebe für Fremdartiges.
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ist der Weg zur Tugend, die in demselben Sinn als lehrbar gilt, wie bei den Hellenen. Allerdings fühlt sich der fromme Intellektuelle schon der damaligen Zeit ganz ebenso wie die meisten Psalmisten im scharfen Gegensatz gegen die Reichen und Hochmütigen, bei denen Gesetzestreue selten ist. Aber sie selbst sind eine mit diesen sozial gleichstehende Klasse. Dagegen produzierten die Schriftgelehrtenschulen der herodianischen Zeit mit zunehmender innerer Bedrücktheit und Spannung durch die offensichtliche Unabwendbarkeit der Fremdherrschaft eine proletaroide Schicht von Gesetzesinterpreten, welche als seelsorgerische Berater, Prediger und Lehrer in den Synagogen – auch im Sanhedrin Als „Musarliteratur“ (von hebr.: mûsār, „Zucht“) wird die hebräische und jiddische Erbauungsliteratur seit dem Mittelalter bezeichnet. In 5. Mose 8, 5 heißt es, daß Jahwe sein Volk Israel in Zucht genommen habe wie jemand seinen Sohn in die Zucht nimmt: „So erkennest du ja in deinem Herzen, daß der HErr, dein Gott, dich gezogen hat, wie ein Mann seinen Sohn zieht“. In der griechischen Übersetzung wird das entsprechende hebräische Wort yāsār, von dem das Nomen mûsār abgeleitet ist, mit griechischem paideia und stammverwandten Worten übersetzt. (Paideia war zunächst Bezeichnung für die Kindeserziehung, dann für die Vermittlung von körperlich-geistiger Bildung allgemein.) Das 2. Makkabäerbuch (6, 12) deutet die Verfolgung gläubiger Juden durch den griechischen Herrscher Antiochos I. Epiphanes als eine Strafe, die Gott zur Erziehung des Volkes veranlaßt habe.
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saßen Vertreter – die Volksfrömmigkeit der engen ge[278]setzestreuen Gemeindejuden (Chaberim) im Sinne der Peruschim (Pharisaioi) prägten; diese Art des Betriebs geht dann in das Gemeindebeamtentum des Rabbinats der talmudischen Zeit über. Im Gegensatz zu ihnen ist eine ungeheure Verbreitung des kleinbürgerlichen und des Pariaintellektualismus durch sie erfolgt, wie sie in keinem andern Volk ihresgleichen sich findet: die Verbreitung der Schreibkunst ebenso wie die systematische Erziehung im kasuistischen Denken durch eine Art „allgemeiner Volksschulen“ galt schon Philo Der Sanhedrin (von griech.: synhedrion, „Ratsversammlung“) war seit dem ersten vorchristlichen Jahrhundert der aristokratische Senat der Juden in Jerusalem. Seine Mitglieder waren der Priesteradel, Häupter der angesehenen jüdischen Geschlechter, sowie – seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. – Pharisäer. Er setzte sich aus 70 Mitgliedern zusammen und stellte in römischer Zeit die höchste einheimische Behörde für religiöse Angelegenheiten dar.
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für das Spezifikum der Juden. Der Einfluß dieser Schicht erst ist es, der beim jüdischen Stadt[A 292]bürgertum die Prophetentätigkeit durch den Kult der Gesetzestreue und des buchreligiösen Gesetzesstudiums ersetzt hat. [278] Der jüdische Philosoph Philo von Alexandrien schrieb, die Juden würden von ihrer frühesten Jugend an in den heiligen Gesetzen und den ungeschriebenen Bräuchen unterrichtet (Legatio ad Gaium 115). Die Stätten, an denen dies geschah, nannte er „Schulen“ (didaskaleia), ohne sie von den „Synagogen“ zu unterscheiden. (Vita Mosis II 215 f.; De specialibus legibus II 62).
Diese populäre jüdische, allem Mysterienwesen durchaus fremde Intellektuellenschicht steht sozial entschieden unter dem Philosophen- und Mystagogentum der vorderasiatisch-hellenistischen Gesellschaft.Aber
s
zweifellos gab es andererseits schon in vorchristlicher Zeit im hellenistischen Orient einen durch die verschiedenen sozialen Schichten hindurchreichenden Intellektualismus, welcher in den verschiedenen sakramentalen Erlösungskulten und Weihen durch Allegorese[278] s–s(S. 280 bis: rezipiert wurden.) Originalmanuskript, vgl. unten, S. 449 f.
t
und Spekulation ähnliche soteriologische Dogmatiken produzierte,A: Allegorie
u
wie die wohl gleichfalls meist den Mittelschichten angehörigen Orphiker es getan hatten.A: produziert,
v
Mindestens einem Diasporaschriftgelehrten wie Paulus waren diese Mysterien und soteriologischen Spekulationen – der Mithraskult war in Kilikien als Seeräuberglauben zu Pompejus’ Zeit verbreitet, wenn er auch speziell in Tarsos erst in nachchristlicher Zeit ausdrücklich inschriftlich bezeugt istA: haben.
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– sicher wohl bekannt und [279]verhaßt. Wahrscheinlich aber liefen soteriologische Hoffnungen der verschiedensten Prägung und Provenienz auch innerhalb des Judentums, zumal des Provinzialjudentums, seit langem nebeneinander; sonst hätte neben dem Plutarch (ca. 45–127 n. Chr.) berichtete von einer Anzahl von Kriegszügen, die Pompeius in den Jahren 78–67 v. Chr. gegen kilikische Seeräuber unternahm. Von diesen Seeräubern teilte er weiter mit, daß sie „fremdartige Opfer in Olympos darbrachten und geheime Weihen zelebrierten, von denen die Mithrasweihe noch heute existiert, die zum erstenmal von jenen bekannt gemacht worden war“. (Vita des Pompejus 24, 7). In der Zeit des Gordian (238–244 n. Chr.) wurden in der Stadt Tarsos, seit 66 v. Chr. Hauptstadt der römischen Provinz Kilikien, des südöstlichsten Küstenlandes Kleinasiens, Mün[279]zen mit dem Motiv des Stieropfers des Mithras geprägt. Mithrasinschriften aus Tarsos sind nicht bekannt.
Nx
Zukunftsmonarchen des herrschenden jüdischen Volks nicht schon in prophetischer Zeit der auf dem Lastesel einziehende König[279]A: den; Korrektur von A und MWG in MWG digital.
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der armen Leute stehen und die Idee des „Menschensohns“ (eine grammatikalisch ersichtlich semitische Bildung) In Sacharja 9, 9 heißt es: „Aber du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze; siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm, und reitet auf einem Esel und auf einem jungen Füllen der Eselin“. Das Reiten auf einem Esel ohne Sattel ist ein Symbol für einen friedlichen Nicht-Krieger, das Reiten auf einem Pferd das des Kriegers.
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konzipiert werden können. An jeglicher komplizierten, über den reinen am Naturvorgang orientierten Mythos oder die schlichte Weissagung eines guten Zukunftskönigs, der irgendwo schon verborgen sitzt, hinausgehenden, Abstraktionen entfaltenden und kosmische Perspektiven eröffnenden Soteriologie aber ist stets Laienintellektualismus, je nachdem der vornehme, oder der Pariaintellektualismus, irgendwie beteiligt. Der Ausdruck „Menschensohn“ (griech.: υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου), Τl.: hyios tou anthropou) geht auf das aramäische bar nāsāʿ zurück, das Bezeichnung für einen einzelnen Menschen ist. „Sohn“ steht in diesem Falle für ein Individuum des Kollektivum „Mensch“. Im Buch Daniel sah der Visionär „in des Himmels Wolken [einen] wie eines Menschen Sohn“ (7, 13). Hier wie in anderen apokalyptischen Schriften hat die Bezeichnung eine andere Bedeutung angenommen und steht für eine himmlische Erlösergestalt am Ende der Zeiten.
Jenes Schriftgelehrtentum nun und der dadurch gepflegte Kleinbürgerintellektualismus drang vom Judentum aus auch in das Frühchristentum ein. Paulus, ein Handwerker, wie dies anscheinend viele der spätjüdischen Schriftgelehrten, sehr im Gegensatz gegen die antibanausische Weisheitslehre der siracidischen Zeit, auch waren, ist ein sehr hervorragender Vertreter des Typus (nur daß in ihm freilich mehr und Spezifischeres als nur dies Element steckt); seine „Gnosis“ konnte, obwohl sie dem, was das spekulative hellenistisch-orientalische Intellektuellentum darunter verstand, sehr fremd ist, immerhin später dem Marcionitismus Anhaltspunkte geben.
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Das Element von Intellektualismus, welches [280]in dem Stolz darauf, daß nur die von Gott Berufenen den Sinn der Gleichnisse des Meisters verstanden, Bei Adolf Harnack heißt es über Marcion: „Er glaubte demgemäss, die scharfen Antithesen des Paulus […] d. h. die paulinische Kritik an der ATIichen Religion, zum Fundamente der religiösen Betrachtung machen und auf zwei Principien, den gerechten [280]und den zornigen Gott des A.T., der zugleich identisch sei mit dem Weltschöpfer, und den vor Christus völlig unbekannten Gott des Evangeliums, der nur die Liebe und das Erbarmen sei, vertheilen zu müssen“. (Harnack, Dogmengeschichte I, S. 294 f.).
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steckt, ist auch bei ihm in dem Stolz darauf, daß die wahre Erkenntnis „den Juden ein Ärgernis, den Hellenen eine Torheit ist“, Matthäus 13, 10 f.: „Und die Jünger traten zu ihm, und sprachen: Warum redest du zu ihnen durch Gleichnisse? Er antwortete und sprach: Euch ist’s gegeben, daß ihr das Geheimnis des Himmelreichs vernehmet; diesen aber ist’s nicht gegeben“. (Vgl. auch Matthäus 13, 34 f.; Markus 4, 10 f.; Lukas 8, 9 f.).
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sehr ausgeprägt. Sein Dualismus von „Fleisch“ und „Geist“, obwohl in eine andere Konzeption eingebettet, hat dennoch In 1. Korinther 1, 22 f. heißt es: „Sintemal die Juden Zeichen fordern, und die Griechen nach Weisheit fragen, Wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit“.
a
auch Verwandtschaft mit der Stellungnahme der typischen Intellektuellensoteriologie zur Sinnlichkeit; eine vermutlich etwas oberflächliche Bekanntschaft mit hellenischer Philosophie scheint vorhanden. Vor allem ist seine Bekehrung nicht nur eine Vision im Sinne des halluzinatorischen Sehens, sondern zugleich des inneren pragmatischen Zusammensehens des persönlichen Schicksals des Auferstandenen mit den ihm wohlbekannten allgemeinen Konzeptionen der orientalischen Heilandssoteriologie und ihrer Kultpragmatiken, in welche sich ihm nun die Verheißungen der jüdischen Prophetie einordnen. Seine Episteln sind in ihrer Argumentation höchste Typen der Dialektik des kleinbürgerlichen Intellektualismus: man staunt, welches Maß von direkt „logischer Phantasie“ in einem Schriftstück wie dem Römerbrief bei den Schichten, an die er sich wendet, vorausgesetzt wird, und allerdings ist ja wohl nichts sicherer, als daß nicht seine Rechtfertigungslehre, sondern seine Konzeptionen der Beziehung zwischen Pneuma und Gemeinde und die Art der relativen Anpassung an die Alltagsgegebenheiten der Umwelt damals wirklich rezipiert wurden.[280]A: demnach
s
Aber die rasende Wut des Diasporajudentums, dem seine dialektische Methode als ein schnöder Mißbrauch der Schriftgelehrtenschulung erscheinen mußte, gerade gegen ihn, zeigt nur, [A 293]wie genau jene Methodik dem Typus dieses Kleinbürgerintellektualismus entsprach. Er hat sich dann noch in der charismatischen Stellung der „Lehrer“ (διδάσκαλοι) in den alten [281]Christengemeinden (noch in der Didache)s(von S. 278: Aber zweifellos)–s Originalmanuskript; vgl. unten, S. 449 f.
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fortgesetzt, und Harnack findet im Hebräerbrief ein specimen seiner Auslegungsmethodik. [281] 1. Korinther 12, 28 („Und Gott hat gesetzet in der Gemeine aufs erste die Apostel, aufs andre die Propheten, aufs dritte die Lehrer, darnach die Wundertäter, darnach die Gaben, gesund zu machen, Helfer, Regierer, mancherlei Sprachen“) und Didache 13, 2 („Ebenso ist ein wahrer Lehrer, ganz wie der Arbeiter, seines Unterhaltes wert“). Die Didache („Zwölfapostellehre“) wurde 1873 in einer Handschrift aus dem 11. Jahrhundert gefunden und enthält eine altchristliche Gemeindeordnung aus dem Anfang des zweiten Jahrhunderts mit Anweisungen für den Kult und das Gemeindeleben. Sie wurde erstmals 1883 von ihrem Entdecker Philotheos Bryennios veröffentlicht. Laut dieser Schrift übernahmen gewählte Bischöfe und Diakone die Funktionen von Propheten und Lehrern, die als Charismatiker rar geworden waren. Didache 15, 1 f.: „Erwählet euch nun Bischöfe und Diakone, des Herrn würdig […]; denn auch sie dienen für euch den Dienst der Propheten und Lehrer. Schätzet sie also nicht gering; denn sie sind die Geehrten unter euch samt den Propheten und Lehrern“. (Beide Zitate nach: Renesse, Lehre der zwölf Apostel, wie oben, S. 180, Anm. 22, S. 29 und 33; vgl. auch das Kapitel über „Lehrer“, ebd., S. 65 f.).
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Dann ist er mit dem allmählich immer stärker hervortretenden Monopol der Bischöfe und Presbyter auf die geistliche Leitung der Gemeinden geschwunden, und ist das Intellektuellentum der Apologeten, dann der hellenistisch gebildeten, fast durchweg dem Klerus angehörigen Kirchenväter und Dogmatiker, der theologisch dilettierenden Kaiser an die Stelle getreten, bis schließlich, im Osten, das aus den untersten, nichthellenischen sozialen Schichten rekrutierte Mönchtum, nach dem Siege im Bilderstreit die Oberhand gewann. Niemals ist jene Art von formalistischer Dialektik, welche allen diesen Kreisen gemeinsam war, verbunden mit dem halbintellektualistischen, halb primitiv-magischen Selbstvergottungsideal in der östlichen Kirche ganz wieder auszurotten gewesen. Aber das Entscheidende für das Schicksal des alten Christentums war doch, daß es nach Entstehung, typischem Träger und dem von diesem für entscheidend angesehenen Gehalt seiner religiösen Lebensführung, eine Erlösungslehre war, welche, mochte sie manche Teile ihres soteriologischen Mythos mit dem [282]allgemein orientalischen Schema gemein, vielleicht manches direkt umbildend, entlehnt und mochte Paulus schriftgelehrte Methodik übernommen haben, dennoch mit der größten Bewußtheit und Konsequenz sich vom ersten Anbeginn an gegen den Intellektualismus stellte. Sie stellte sich gegen die jüdische ritual-juristische Schriftgelehrsamkeit ebenso wie gegen die Soteriologie der gnostischen Intellektuellenaristokratie und vollends gegen die antike Philosophie. Daß die gnostische Degradation der „Pistiker“ abgelehnt wurde, daß die „Armen am Geist“ die pneumatisch Begnadeten, und nicht die „Wissenden“ die exemplarischen Christen sind, daß der Erlösungsweg nicht über das geschulte Wissen, weder vom Gesetz noch von den kosmischen und psychologischen Gründen des Lebens und Leidens, noch von den Bedingungen des Lebens in der Welt, noch von den geheimen Bedeutungen von Riten, noch von den Zukunftsschicksalen der Seele im Jenseits führt, – dies, und der Umstand, daß ein ziemlich wesentlicher Teil der inneren Kirchengeschichte der alten Christenheit einschließlich der Dogmenbildung, die Selbstbehauptung gegen den Intellektualismus in allen seinen Formen darstellt, ist dem Christentum charakteristisch eigen. Will man die Schichten, welche Träger und Propagatoren der sog. Weltreligionen Der Hebräerbrief ist eine Schrift aus dem Neuen Testament, Ende des ersten Jahrhunderts von einem unbekannten Verfasser an Judenchristen gerichtet. Adolf Harnack stellte den Hebräerbrief in folgende Entwicklung: „Mit Hülfe des A.T.’s datirten die Lehrer die christliche Religion bis zum Anfang des Menschengeschlechts hinauf und verbanden die Veranstaltungen zur Stiftung der christlichen Gemeinde mit der Weltschöpfung (so nicht erst die Apologeten, sondern schon Barnabas und Hermas, und vor diesen Paulus, der Verf[asser] des Hebräerbriefes u.A.). Dies war unzweifelhaft eines der eindrucksvollsten Stücke in der Missionspredigt für Gebildetere“. (Harnack, Dogmengeschichte I, S. 195, Fn. 2).
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waren, schlagwörtlich zusammenfassen, so sind dies für den Konfuzianismus der weltordnende [283]Bürokrat, für den Hinduismus der weltordnende Magier, für den Buddhismus der weltdurchwandernde Bettelmönch, für den Islam der weltunterwerfende Krieger, für das Judentum der wandernde Händler, für das Christentum aber der wandernde Handwerksbursche, sie alle nicht als Exponenten ihres Berufes oder materieller „Klasseninteressen“, sondern als ideologische Träger einer solchen Ethik oder Erlösungslehre, die sich besonders leicht mit ihrer sozialen Lage vermählte. [282] In seiner „Einleitung“ zu „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ äußerte sich Weber dazu, was er unter „Weltreligionen“ verstand und welche Religionen er dazuzählte: „Unter ‚Weltreligionen‘ werden hier, in ganz wertfreier Art, jene fünf religiösen oder religiös bedingten Systeme der Lebensreglementierung verstanden, welche besonders große Mengen von Bekennern um sich zu scharen gewußt haben: die konfuzianische, hinduistische, buddhistische, christliche, islamitische religiöse Ethik. Ihr tritt als sechste mitzubehandelnde Religion das Judentum hinzu, sowohl weil es für jedes Verständnis der beiden zuletzt genannten Weltreligionen entscheidende geschichtliche Voraussetzungen enthält, als wegen seiner teils wirklichen, teils angeblichen historischen Eigenbedeutung für die Entfaltung der modernen Wirtschaftsethik des Okzidentes […]“. (MWG I/19, S. 83 f.). Die Bestimmung einiger Religionen als „Weltreligionen“ stammt von Cornelis Petrus Tiele. Dieser verband mit dem Begriff „Weltreligionen“ eine spezifische Auffassung von Unterschieden zwischen Religionen: „[…] the term ,world religions‘ might still be retained for practical use, to distinguish the three religions [Buddhismus, Christentum, Islam] which have found their way to different races and peoples and all of which profess the intention to conquer the world, from such communities as are generally limited to a single race or nation, and, where they have extended farther, have done so only in the train of, and in connexion with, a superior civilization“. (Tiele, Cornelis Petrus, Religions, in: The Encyclopedia Britannica, vol. 20, 9th edition. – Edinburgh: Adam and Charles Black 1886, S. 358–371, Zitat: S. 368).
Der Islam hätte außerhalb der offiziellen Rechts- und Theologenschulen und der zeitweiligen Blüte wissenschaftlicher Interessen, also im Charakter seiner eigentlichen ihm spezifischen Religiosität, einen intellektualistischen Einbruch nur gleichzeitig mit dem Eindringen des Sufismus erleben können. Allein nach dieser Seite lag dessen Orientierung nicht; gerade der rationale Zug fehlt der volkstümlichen Derwischfrömmigkeit ganz, und nur einzelne heterodoxe Sekten im Islam, wenn auch gelegentlich recht einflußreiche, trugen spezifisch intellektualistischen Charakter. Im übrigen entwickelte er, ebenso, wie das mittelalterliche Christentum, an seinen Hochschulen Ansätze einer Scholastik.
Wie es mit den Beziehungen des Intellektualismus zur Religiosität im mittelalterlichen Christentum bestellt war, kann
b
hier nicht erörtert werden. Die Religiosität wurde in ihren soziologisch-relevanten Wirkungen jedenfalls nicht durch intellektualistische Mächte orientiert, und die starke Wirkung des Mönchsrationalismus liegt auf dem Gebiet der Kulturinhalte und könnte nur durch einen Vergleich des [A 294]okzidentalen Mönchtums mit dem orientalischen und asiatischen klargestellt werden, der hier erst später sehr kurz skizziert werden kann.[283]A: konnte
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Denn vornehmlich in der Eigenart ihres Mönchtums liegt auch die Eigenart der Kulturwirkung der Kirche des Okzidents begründet. Einen religiösen Laienintellektualismus kleinbürgerlichen Charakters oder einen Pariaintellektualismus hat das okzidentale Mittelalter (in einem relevanten Maß) nicht gekannt. Er fand sich gelegentlich innerhalb der Sekten. Die Rolle der vornehmen Bildungsschichten innerhalb der kirchlichen Entwicklung ist nicht gering gewesen. Die intellek[284]tualistischen [283] Siehe WuG1, S. 786–788 (MWG I/22-4).
c
Bildungsschichten der karolingischen, ottonischen und salisch-staufischen Zeit wirkten im Sinne einer kaiserlich-theokratischen Kulturorganisation, so wie die ossipijanischen Mönche[284]A: imperialistischen
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im 16. Jahrhundert in Rußland es taten, vor allem aber war die gregorianische Reformbewegung und der Machtkampf des Papsttums getragen von der Ideologie einer vornehmen Intellektuellenschicht, welche mit dem entstehenden Bürgertum gemeinsam Front gegen die feudalen Gewalten machte. Mit zunehmender Verbreitung der Universitätsbildung und dem Streben des Papsttums nach Monopolisierung der Besetzung des gewaltigen Bestandes von Pfründen, welche diese Schicht ökonomisch trugen, zu fiskalischen oder bloßen Patronagezwecken, wendete sich die zunehmend verbreiterte [284] Gemeint sind die Josiflianen, Anhänger des Josif Voltskii, Abt des von ihm gegründeten Klosters bei Volokolamsk (um 1440–1515), auch als „Osiflianen“ oder „Josephiten“ bekannt. Sie verteidigten den Grundbesitz von Kirche und Klöstern und wehrten sich gegen großfürstliche Ansprüche auf kirchlichen Landbesitz. Auf einer Synode der Russischen Kirche von 1503 setzten sich die Josephiten gegenüber den Anhängern ihres Opponenten Nil Sorskii (1433–1509) durch. Die Josephiten waren streng orthodox und unterstützten das staatliche Mitwirken an den Verfolgungen der als häretisch geltenden sog. „Judaisierenden“.
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Schicht dieser Pfründeninteressenten zunächst wesentlich im ökonomischen nationalistischen Monopolinteresse, dann, nach dem Schisma,A: verbreitete
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auch ideologisch von der Papstgewalt ab und gehörte zu den „Trägern“ konziliarer Reformbewegung Zum sog. „Abendländischen Schisma“ (1378–1417) kam es durch die Doppelpapstwahl von 1378: In Rom wurde Urban VI. gewählt, in Avignon Klemens VII. Es gab nun zwei Päpste, zwei Kardinalskollegien und Kurien, zwei unterschiedliche Geltungsbereiche päpstlicher Jurisdiktion und zwei verschiedene Finanzsysteme. Seit dem 1. Konzil von Pisa (1409) und der Wahl Alexanders V. standen sich sogar drei Päpste gegenüber. Das Konzil von Konstanz (1414–18) setzte Martin V. als allein anerkannten Papst durch und beendete die Kirchenspaltung.
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und weiterhin des Humanismus. Die an sich nicht uninteressante Soziologie der Humanisten, vor allem des Umschlags der ritterlichen und geistlichen in eine höfisch-mäzenatisch bedingte Bildung mit ihren Konsequenzen, gehört nicht hierher. Vornehmlich ideologische Motive bedingten ihr zwiespältiges Verhalten bei der Glaubensspaltung. Soweit diese Gruppe sich nicht in [285]den Dienst der Bildung der Reformations- oder Gegenreformationskirchen stellte, wobei sie in Kirche, Schule und Entwicklung der Lehre eine „Konziliarismus“ bezeichnet die im 14. Jahrhundert ausgebildete und auf den sog. „Reformkonzilien“ des 15. Jahrhunderts praktizierte Lehre von der Überordnung des ökumenischen Konzils über den Papst.
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überaus wichtige organisatorische und systematisierende, nirgends aber die ausschlaggebende Rolle spielte, sondern soweit sie Träger spezifischer Religiosität (in Wahrheit: einer ganzen Reihe von religiösen Einzeltypen) wurde, sind diese ohne dauernde Nachwirkung gewesen. Ihrem Lebensniveau entsprechend waren die klassisch gebildeten Humanistenschichten im ganzen antibanausisch und antisektiererisch gesinnt, dem Gezänk und vor allem der Demagogie der Priester und Prädikanten abhold, daher im ganzen erasmianisch oder irenisch[285] Fehlt in A; eine sinngemäß ergänzt.
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gesinntA: erastianisch oder irenäisch
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und schon dadurch zur zunehmenden Einflußlosigkeit verurteilt. [285] Irenik (von griech.: eirene, „Frieden“) bezeichnet den Versuch, eine Einheit zwischen den christlichen Konfessionen zu finden. Das war auch das Anliegen des Erasmus von Rotterdam. Zu Erasmus vgl. den Eintrag im Personenverzeichnis, unten, S. 456.
Neben geistreicher Skepsis und rationalistischer Aufklärung findet sich bei ihnen, besonders auf anglikanischem Boden, eine zarte Stimmungsreligiosität oder, so im Kreise von Port Royal,
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ein ernster, oft asketischer Moralismus, oder, so gerade in der ersten Zeit in Deutschland und auch in Italien, individualistische Mystik. Aber der Kampf der mit ihren Macht- und ökonomischen Existenzinteressen Beteiligten wurde, wo nicht direkt gewaltsam, dann naturgemäß mit den Mitteln einer Demagogie geführt, der jene Kreise gar nicht gewachsen waren. Gewiß bedurften mindestens diejenigen Kirchen, welche die herrschenden Schichten, und vor allem die Universitäten in ihren Dienst stellen wollten, der klassisch gebildeten, d. h. theologischen Polemiker und eines ähnlich gebildeten Predigerstandes. Innerhalb des Luthertums zog sich, seinem Bunde mit der Fürstengewalt entsprechend, die Kombination von Bildung und religiöser Aktivität schnell wesentlich auf die Fachtheologie zurück. Die puritanischen Kreise verspottet [286]dagegen noch der Hudibras Das bei Versailles gelegene ehemalige Zisterzienserinnenkloster Port Royal war seit 1635 Mittelpunkt des französischen Jansenismus, einer innerkatholischen Erweckungs- und Reformbewegung. Bekannt wurde Port Royal durch Blaise Pascals (1623–1662) Schrift Pensées sur la religion et sur quelques autres sujets, 2. Aufl. – Paris 1670. Nach dem päpstlichen Verbot des Jansenismus wurde auch der Kreis von Port Royal 1709 aufgehoben.
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wegen ihrer ostensiblen philosophischen Gelehrsamkeit. Aber bei ihnen, und vor allen Dingen bei den täuferischen Sekten, war nicht der vornehme, sondern der plebejische und gelegentlich (bei den Täufern in den Anfängen der durch wandernde Handwerksburschen oder Apostel getragenen Bewegung) der Pariaintellektualismus das, was die unzerbrechliche Widerstandskraft gab. Eine spezifische Intellektuellenschicht mit besonderen Lebensbedingungen existierte hier nicht, es ist, nach dem Abschluß der kurzen Periode der missionierenden Wanderprediger, der Mittelstand, [A 295]der davon durchtränkt wird. Die unerhörte Verbreitung der Bibelkenntnis und des Interesses für äußerst abstruse und sublime dogmatische Kontroversen, bis tief selbst in bäuerliche Kreise hinein, wie sie im 17. Jahrhundert in den puritanischen Kreisen sich fand, schuf einen religiösen Massenintellektualismus, wie er später nie wieder seinesgleichen gefunden hat und in der Vergangenheit nur mit dem spätjüdischen und dem religiösen Massenintellektualismus der paulinischen Missionsgemeinden zu vergleichen ist. Er ist, im Gegensatz zu Holland, Teilen von Schottland und den amerikanischen Kolonien, wenigstens in England selbst auch bald wieder kollabiert, nachdem die Machtsphären und -chancen im Glaubenskampf erprobt und festgestellt schienen. Aber die ganze Eigenart des angelsächsischen vornehmen Intellektualismus, namentlich seine traditionelle Deferenz gegenüber einer deistisch-aufklärerisch, in unbestimmter Milde, aber nie kirchenfeindlich gefaßten Religiosität, hat von jener Zeit her ihre Prägung behalten, welche an dieser Stelle nicht zu erörtern ist. Sie bildet aber in ihrer Bedingtheit durch die traditionelle Stellungnahme des politisch mächtigen Bürgertums und seiner moralistischen Interessen, also durch religiösen Plebejerintellektualimus, den schärfsten Gegensatz zu der Entwicklung der wesentlich höfischen, vornehmen Bildung der romanischen Länder zu radikaler Kirchenfeindschaft oder absoluter Kirchenindiffe[287]renz. Und beide, im Endeffekt gleich antimetaphysischen Entwicklungen bilden einen Gegensatz zu der durch sehr konkrete Umstände und nur in sehr geringem (wesentlich negativem) Maß durch solche soziologischer Art bedingten deutschen unpolitischen und doch nicht apolitischen oder antipolitischen vornehmen Bildung, die metaphysisch, aber nur wenig an spezifisch religiösen, am wenigsten an „Erlösungs“-Bedürfnissen orientiert war. Der plebejische und Pariaintellektualismus Deutschlands dagegen nahm ebenso wie derjenige der romanischen [286] Beim „Hudibras“ handelt es sich um das unvollendete, dreiteilige Hauptwerk (1663–78) des englischen Satirikers Samuel Butler (3. Februar 1612–25. September 1680), von der Thematik dem Don Quijote ähnlich. In seiner „Protestantischen Ethik“ schrieb Weber: „Die Satire der Gegner, wie z. B. Butlers ,Hudibras‘, setzt ebenfalls gerade bei der Stubengelehrsamkeit und geschulten Dialektik der Puritaner ein“. (Weber, Protestantische Ethik II, S. 94).
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Völker, aber im Gegensatz zu demjenigen der angelsächsischen Gebiete, in welchen seit der Puritanerzeit die ernsteste Religiosität nicht anstaltsmäßig-autoritären, sondern sektiererischen Charakters war, zunehmend und seit dem Entstehen des sozialistischen ökonomisch eschatologischen Glaubens definitiv eine radikal-antireligiöse Wendung. [287]A: römischen
Nur diese antireligiösen Sekten verfügen über eine deklassierte Intellektuellenschicht, welche einen religionsartigen Glauben an die sozialistische Eschatologie wenigstens zeitweise zu tragen vermochte. Je mehr die ökonomischen Interessenten selbst ihre Interessenvertretung in die Hand nehmen, desto mehr tritt gerade dies „akademische“ Element zurück; die unvermeidliche Enttäuschung der fast superstitiösen Verklärung der „Wissenschaft“ als möglicher Produzentin oder doch als Prophetin der sozialen gewaltsamen oder friedlichen Revolution im Sinn der Erlösung von der Klassenherrschaft tut das Übrige, und die einzige in Westeuropa als wirklich einem religiösen Glauben äquivalent anzusprechende Spielart des Sozialismus: der Syndikalismus,
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gerät infolgedessen leicht in die Lage, in jenem Punkt [287] Mit „Syndikalismus“ wird die gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Lehre einer gewerkschaftlich getragenen, revolutionären Arbeiterbewegung verstanden, die das Ziel der Vergesellschaftung der Produktionsmittel hatte. Der Syndikalismus wollte die Befreiung der Arbeiterschaft vom Kapitalismus vornehmlich mit Hilfe der Strategie der „direkten Aktion“ gegen die Unternehmerschaft erreichen, sei es durch Generalstreik oder Demonstrationen, durch gewaltsame Aktionen gegen Sachen oder Personen, nicht aber mit Hilfe parlamentarischer oder gewerkschaftlicher Methoden herkömmlicher Art. Das Fernziel war eine grundlegende Reorganisation der Gesellschaft auf der Basis dezentralisierter gewerkschaftlicher Produktionseinheiten, nicht aber ein sozialistisches System bürokratischen Typs.
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zu einem romantischen Sport von Nichtinteressenten zu werden. Fehlt in A; Punkt sinngemäß ergänzt.
[288]Die letzte große, von einem nicht einheitlichen, aber doch in wichtigen Punkten gemeinsamen Glauben getragene, insofern also religionsartige Intellektuellenbewegung war die der russischen revolutionären Intelligenz. Vornehme, akademische und adlige Intelligenz stand hier neben plebejischem Intellektualismus, der getragen wurde von dem in seinem soziologischen Denken und universellen Kulturinteressen sehr hochgeschulten proletaroiden unteren Beamtentum, speziell der Selbstverwaltungskörper, (das sog. „dritte Element“),
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von Journalisten, Volksschullehrern, revolutionären Aposteln und einer aus den russischen sozialen Bedingungen entspringenden Bauernintelligenz. Dies hatte die in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit der Entstehung des sog. Narodnitschestwo (Volkstümlerei) beginnende, naturrechtliche, vorwiegend agrarkommunistisch orientierte Bewegung im Gefolge, welche in den 90er Jahren mit der marxistischen Dogmatik teils in scharfen Kampf geriet, teils sich in verschiedener Art verschmolz und mehrfach zuerst mit slawophil-romantischer, dann mit mystischer Religiosität oder doch Religions[A 296]schwärmerei in eine meist wenig klare Verbindung zu bringen gesucht wurde, bei manchen und zwar relativ breiten Intelligentenschichten aber, unter dem Einfluß Dostojewskys und Tolstois, eine asketische oder akosmistische persönliche Lebensführung bewirkte. In welcher Art diese Bewegung, sehr stark mit jüdischer, zu jedem Opfer bereiter proletaroider Intelligenz durchsetzt, nach der Katastrophe der russischen Revolution (von 1906) noch Leben gewinnen wird, steht dahin. [288] Auf dieses „dritte Element“ kam Weber ausführlich in seinen „Rußlandstudien“ zu sprechen (vgl. z. B. in: Weber, Max, Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, MWG I/10, S. 106 f., 179 f.). Es bezeichnet – so der Band-Herausgeber – die „Zemstvo-Angestellten, Ärzte, Statistiker etc., […] die weder zur Verwaltung noch zu den Ständevertretern im Zemstvo gehörten und als besonders radikal galten“. (MWG I/10, S. 770). „Zemstvo“ war die im kaiserlichen Rußland 1864 eingeführte ständische Selbstverwaltung mit Kreis- und Gouvernementsversammlungen aus Vertretern des Großgrundbesitzes, der Stadtbevölkerung und der Bauern, mit eigenen Verwaltungsorganen, Besteuerungs-, Anleihe- und Petitionsrecht. Der Vize-Gouverneur von Samara, Kondoidi, hatte die beamteten Zemstvo-Angestellten „ein neues, drittes Element im Leben des Zemstvo“ genannt. (Vgl. MWG I/10, S. 107, Hg.-Anm. 6).
In Westeuropa haben aufklärerisch-religiöse Schichten schon seit dem 17. Jahrhundert, sowohl im angelsächsischen wie neuerdings auch französischen Kulturgebiet, unitarische, deistische oder auch synkretistische, atheistische, freikirchliche Gemeinden ge[289]schaffen, bei denen zuweilen buddhistische (oder dafür geltende) Konzeptionen mitgespielt haben. Sie haben in Deutschland auf die Dauer fast in den gleichen Kreisen wie das Freimaurertum Boden gefunden, d. h. bei ökonomischen Nichtinteressenten, besonders bei Kulturpublizisten,
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daneben bei deklassierten Ideologen und einzelnen halb und ganz proletarischen Bildungsschichten. Ein Produkt der Berührung mit europäischer Kultur ist andererseits die hinduistische (Brahma-Samaj)[289]A: Kommunalvirilisten, Der Sinn des Wortes ist unklar.
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und persische Aufklärung in Indien. [289] Mit Brahma-Samaj (Skt.: „Gemeinde der Gottesgläubigen“) wird eine neohinduistische Reformbewegung des 19. Jahrhunderts bezeichnet, die von Rammohun Roy 1828 begründet wurde. Die Lehre des Brahma-Samaj ist monotheistisch ausgerichtet und wendet sich gegen bildliche Darstellungen Gottes, den Glauben an Avataras (wiederholte irdische Erscheinungen eines Gottes), Witwenverbrennung und soziale Mißstände.
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Die praktische Kulturbedeutung war in der Vergangenheit größer als sie wenigstens zur Zeit ist. Das Interesse der privilegierten Schichten an der Erhaltung der bestehenden Religion als Domestikationsmittel, ihr Distanzbedürfnis und ihr Abscheu gegen die ihr Prestige zerstörende Massenaufklärungsarbeit, ihr begründeter Unglaube daran, daß an überkommenen Glaubensbekenntnissen, von deren Wortlaut beständig jeder etwas fortdeutet, die „Orthodoxie“ 10 %, die „Liberalen“ 90 %, ein wirklich wörtlich von breiten Schichten zu akzeptierendes neues Bekenntnis substituiert werden könne, vor allem die verachtende Indifferenz gegenüber religiösen Problemen und der Kirche, deren schließlich höchst wenig lästige Formalitäten zu erfüllen kein schweres Opfer kostet, da jedermann weiß, daß es eben Formalitäten sind, die am besten von den offiziellen Hütern der Orthodoxie und Standeskonvention und weil der Staat sie für die Karriere fordert, erfüllt werden, – all dies läßt die Chancen für die Entstehung einer ernsthaften Gemeindereligiosität, die von den Intellektuellen getragen würde, ganz ungünstig erscheinen. Das Bedürfnis des literarischen, akademisch-vornehmen oder auch Kaffeehausintellektualismus aber, in dem Inventar seiner Sensationsquellen und Diskussions[290]objekte die „religiösen“ Gefühle nicht zu vermissen, das Bedürfnis von Schriftstellern[,] Bücher über diese interessanten Problematiken zu schreiben[,] und das noch weit wirksamere von findigen Verlegern, „Persische Aufklärung in Indien“ führt in die Zeit des islamischen Timuridenherrschers Akbar (1542–1605, seit 1556 Großmogul von Indien), als am Hofe persisch gesprochen wurde. Der Herrscher, der sich als Philosoph und Sufi verstand, unternahm den Versuch, eine innerliche Religion auf der Basis von Sufismus, Hinduismus und Zoroastrismus zu begründen.
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solche Bücher zu verkaufen, vermögen zwar den Schein eines weit verbreiteten „religiösen Interesses“ vorzutäuschen, ändern aber nichts daran, daß aus derartigen Bedürfnissen von Intellektuellen und ihrem Geplauder noch niemals eine neue Religion entstanden ist und daß die Mode diesen Gegenstand der Konversation und Publizistik, den sie aufgebracht hat, auch wieder beseitigen wird. [290] Weber könnte sich hier auf Eugen Diederichs und seinen 1896 in Florenz und Leipzig gegründeten Verlag beziehen, der bis zum 1. Weltkrieg neoromantische, mystische und kulturkritische Strömungen bündelte. Über Religion schrieb der Verleger 1908 unter dem Titel „Wege zu deutscher Kultur“, daß ein Weg über die „lebendige Religion“ führe. Dies sei „eigentlich ein Pleonasmus“, fügte er hinzu, „denn Religion trägt stets das Prinzip des Lebens in sich, sie wendet sich an das Leben als Ganzes. Es wäre heute gar nicht nötig, von Religion zu reden, wenn nicht die Überschätzung intellektuellen Wissens, die einseitige Bevorzugung des Erwerbslebens die Stimme des inneren Dämons getrübt hätte“. (Diederichs, Eugen, Selbstzeugnisse und Briefe von Zeitgenossen. – Düsseldorf, Köln: Eugen Diederichs 1967, S. 35). Dem Verleger schien die Krise der modernen Gesellschaft vor allem eine Religionskrise zu sein. Sie zu heilen, gab er die Reihe „Die religiösen Stimmen der Völker“ heraus. In ihr sollten „die Religionsdokumente aller positiven“ Religionen von den Urvölkern, Konfuzius, Buddhismus, Parsismus, Griechentum bis zum Islam und Talmud in handlichen Bänden von hervorragenden Sachkennern erläutert vorgeführt werden“. (Ebd., S. 35).
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Über „manche moderne Intellektuelle“, die „spielerisch mit Heiligenbildchen aus aller Herren Länder“ ihre „Hauskapellen“ ausstatten „oder ein Surrogat schaffen in allerhand Arten des Erlebens, denen sie die Würde mystischen Heiligkeitsbesitzes zuschreiben und mit dem sie – auf dem Büchermarkt hausieren gehen“, äußerte sich Weber auch in „Wissenschaft als Beruf“ (MWG I/17, S. 108 f.). Vgl. dazu auch ebd., S. 109, Anm. 61.
8.j[290]A: § 8. Das Problem der Theodizee.kIn A folgt eine Inhalts- und Seitenübersicht.
[290]A: § 8.
In A folgt eine Inhalts- und Seitenübersicht.
Streng „monotheistisch“ sind im Grunde überhaupt nur Judentum und Islam, selbst dieser mit Abschwächungen durch den später eingedrungenen Heiligenkult. Nur wirkt die christliche Trinität im Gegensatz zu der tritheistischen Fassung der hinduistischen, spätbuddhistischen und taoistischen Trinitäten wesentlich monotheistisch, während der katholische Messen- und Heiligenkult faktisch [291]dem Polytheismus sehr nahe steht. Ebensowenig ist jeder ethische Gott notwendig mit absoluter Unwandelbarkeit, Allmacht und Allwissenheit, kurz absoluter Überweltlichkeit[,] ausgestattet. Spekulation und ethisches Pathos leidenschaftlicher Propheten [A 297]verschafft ihnen diese Qualitäten, die von allen Göttern, in voller Rücksichtslosigkeit der Konsequenz, nur der Gott der jüdischen Propheten, welcher auch der Gott der Christen und Muhammeds wurde, erlangt hat. Nicht jede ethische Gotteskonzeption hat zu diesen Konsequenzen und überhaupt zum ethischen Monotheismus geführt, nicht jede Annäherung an den Monotheismus beruht auf einer Steigerung der ethischen Inhalte der Gotteskonzeption, und erst recht nicht jede religiöse Ethik hat einen überweltlichen, das gesamte Dasein aus dem Nichts schaffenden und allein lenkenden, persönlichen Gott ins Leben gerufen. Aber allerdings ruht jede spezifisch ethische Prophetie, zu deren Legitimation stets ein Gott gehört, der mit Attributen einer großen Erhabenheit über die Welt ausgestattet ist, normalerweise auf einer Rationalisierung auch der Gottesidee in jener Richtung. Art und Sinn dieser Erhabenheit kann freilich ein verschiedener sein, und dies hängt teils mit fest gegebenen metaphysischen Vorstellungen zusammen, teils ist es Ausdruck der konkreten ethischen Interessen des Propheten. Je mehr sie aber in der Richtung der Konzeption eines universellen überweltlichen Einheitsgottes verläuft, desto mehr entsteht das Problem: wie die ungeheure Machtsteigerung eines solchen Gottes mit der Tatsache der Unvollkommenheit der Welt vereinbart werden könne, die er geschaffen hat und regiert. Das so entstehende Problem der Theodizee ist in der altägyptischen Literatur wie bei Hiob und bei Äschylos,
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nur in jedesmal besonderer Wendung, le[292]bendig. Die ganze indische Religiosität ist von ihm in der durch die dort gegebenen Voraussetzungen bestimmten Art beeinflußt: auch eine sinnvolle unpersönliche und übergöttliche Ordnung der Welt stieß ja auf das Problem ihrer Unvollkommenheit. In irgendeiner Fassung gehört das Problem überall mit zu den Bestimmungsgründen der religiösen Entwicklung und des Erlösungsbedürfnisses. Nicht durch naturwissenschaftliche Argumente, sondern mit der Unvereinbarkeit einer göttlichen Vorsehung mit der Ungerechtigkeit und Unvollkommenheit der sozialen Ordnung motivierten noch in den letzten Jahren bei einer Umfrage Tausende von deutschen Arbeitern die Unannehmbarkeit der Gottesidee. [291] Der Papyrus Leiden I 344 recto (11, 11–13, 8 und 15, 13–17, 3) enthält den ältesten altägyptischen Text zur Theodizeefrage, die „Mahnworte des Ipu-wer“ oder auch „Admonitions“ (Gardiner, Alan H., The Admonitions of an Egyptian Sage from a Hieratic Papyrus in Leiden (Pap. Leiden 344 recto). – Leipzig: J. C. Hinrichs 1909). Die Datierung des Textes ist unsicher. Im Text wird die Zerstörung des Landes und das Verlassensein von den Göttern beklagt. Es herrschen chaotische Zustände, die Wiederherstellung von Gesetz und Ordnung wird eingefordert. Thema des alttestamentlichen Buches Hiob ist das Leiden des Gerechten und seine Haltung im Unglück. In Aischylos’ Werken Perser, Sieben gegen Theben, Hiketiden, Orestie und Prometheus sind die Menschen einem unausweichlichen Zwang zum Handeln unterworfen. Durch dieses Handeln lädt der Mensch Schuld auf sich, die Leiden nach sich zieht. Durch das aus Schuld entstammende Leiden kommt der Mensch zur Einsicht in das göttliche Weltgesetz.
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[292] Über diesen Sachverhalt äußerte sich Weber auch in seiner „Einleitung“ zu „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“: „Noch 1906 antwortete von einer gegebenen (recht beträchtlichen) Zahl Proletariern auf die Frage nach dem Grunde ihres Unglaubens nur die Minderzahl mit Folgerungen aus modernen naturwissenschaftlichen Theorien, die Mehrzahl aber mit dem Hinweis auf die ‚Ungerechtigkeit‘ der diesseitigen Weltordnung […]“. (MWG I/19, S. 95). Weber bezog sich – so der Hinweis des Band-Herausgebers (ebd., S. 95, Hg.-Anm. 16) – auf eine von Adolf Levenstein durchgeführte und 1912 publizierte Umfrage. (Levenstein, Adolf, Die Arbeiterfrage. Mit besonderer Berücksichtigung der sozialpsychologischen Seite des modernen Großbetriebs und der psycho-physischen Einwirkungen auf die Arbeiter. – München: Ernst Reinhardt 1912, S. 326–353).
Das Problem der Theodizee ist verschieden gelöst worden, und diese Lösungen stehen im intimsten Zusammenhang mit der Gestaltung der Gotteskonzeption und auch der Art der Prägung der Sünden- und Erlösungsideen. Wir greifen die möglichst rational „reinen“ Typen heraus.
Entweder der gerechte Ausgleich wird gewährt durch Verweisung auf einen diesseitigen künftigen Ausgleich: messianische Eschatologien. Der eschatologische Vorgang ist dann eine politische und soziale Umgestaltung des Diesseits. Ein gewaltiger Held, oder ein Gott, wird – bald, später, irgendwann – kommen und seine Anhänger in die verdiente Stellung in der Welt einsetzen. Die Leiden der jetzigen Generation sind Folge der Sünden der Vorfahren, für die der Gott die Nachfahren verantwortlich macht, ebenso wie ja der Bluträcher sich an die ganze Sippe hält und wie noch Papst Gregor VII. die Nachfahren bis in das siebente Glied mit exkommunizierte. Ebenso werden vielleicht nur die Nachfahren des Frommen infolge seiner Frömmigkeit das messianische Reich sehen. Der vielleicht nötige Verzicht auf eigenes Erleben der Erlö[293]sung schien nichts Befremdliches. Die Sorge für die Kinder war überall ein organisch gegebenes Streben, welches über die eigenen persönlichen Interessen auf ein „Jenseits“ wenigstens des eigenen Todes hinwies. Den jeweils Lebenden bleibt die exemplarisch strenge Erfüllung der positiven göttlichen Gebote, einerseits um sich selbst wenigstens das Optimum von Lebenschancen kraft göttlichen Wohlwollens zu erwerben, andererseits um den eigenen Nachfahren die Teilnahme am Reich der Erlösung zu erringen. „Sünde“ ist Bruch der Gefolgschaftstreue gegen den Gott, ein abtrünniger Verzicht auf Gottes Verheißungen. Der Wunsch, auch selbst am messianischen Reich teilnehmen zu können, treibt weiter. Gewaltige religiöse Erregung entsteht, wenn das Kommen des diesseitigen Gottesreiches unmittelbar bevorzustehen scheint. Immer wieder treten Propheten auf, die es verkünden. Aber wenn sein Kommen sich allzusehr hinaus[A 298]zieht, so ist eine Vertröstung auf eigentliche „Jenseits“-Hoffnungen fast unumgänglich.
Die Vorstellung von einem „Jenseits“ ist im Keim mit der Entwicklung der Magie zum Seelenglauben gegeben. Zu einem besonderen Totenreich aber verdichtet sich die Existenz der Totenseelen keineswegs immer. Eine sehr häufige Vorstellung ließ vielmehr die Totengeister in Tieren und Pflanzen sich verkörpern, verschieden je nach Lebens- und Todesart, Sippe und Stand, – die Quelle der Seelenwanderungsvorstellungen. Wo ein Totenreich, zunächst an einem geographisch entlegenen Ort, später unter- oder überirdisch, geglaubt wird, ist das Leben der Seelen dort keineswegs notwendig zeitlich ewig. Sie können gewaltsam vernichtet werden oder durch Unterlassen der Opfer untergehen oder einfach irgendwann sterben (anscheinend die altchinesische Vorstellung).
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[294]Eine gewisse Fürsorge für das eigene Schicksal nach dem Tode taucht, dem „Grenznutzgesetz“ [293]Nach chinesischer Vorstellung erhalten die Seelen der Ahnen ihre Kraft durch die Opfer und Gebete der Nachkommen. Vernachlässigen die Nachfahren den Totenkult oder geben sie ihn gänzlich auf, werden die Ahnenseelen geschwächt bis hin zum Verlöschen. Dazu vermerkt Max Weber an anderer Stelle: „Ed[uard] Meyers oft ausgesprochene Ansicht, daß die Totenopfer nicht um der Macht der Toten willen gebracht werden, sondern umgekehrt die Ohnmacht der Toten zur Voraussetzung haben, die ohne sie nicht bestehen können, ist einseitig. […] Und der ganze chinesische Ahnenkult, vor allem gerade die in ihrem Sinn ganz vergessenen Trauerbräuche dort, haben die Macht der Totenseele zur Voraussetzung. Das Machtverhältnis ist also gegenseitig: der Tote bedarf der Opfer, aber er hat, wie die Götter, auch die Macht, sie oder ihr Unterlassen zu vergelten“. (Weber, Judentum II, S. 416, Fn. 133).
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entsprechend, meist da auf, wo die notwendigsten diesseitigen Bedürfnisse gedeckt sind und ist daher zunächst auf die Kreise der Vornehmen und Besitzenden beschränkt. Nur sie, zuweilen nur Häuptlinge und Priester, nicht die Armen, selten die Frauen, können sich die jenseitige Existenz sichern und scheuen dann freilich oft die ungeheuersten Aufwendungen nicht, es zu tun. Vornehmlich ihr Beispiel propagiert die Beschäftigung mit den Jenseitserwartungen. Von einer „Vergeltung“ im Jenseits ist keine Rede. Wo der Gedanke auftaucht, sind es zunächst nur rituelle Fehler, welche Nachteile nach sich ziehen: so in umfassendstem Maße noch im indischen heiligen Recht. Wer das Kastentabu verletzt, ist der Höllenpein sicher. Erst der ethisch qualifizierte Gott verfügt auch über die Schicksale im Jenseits unter ethischen Gesichtspunkten. Die Scheidung von Paradies und Hölle tritt nicht erst damit auf, ist aber ein relativ spätes Entwicklungsprodukt. Mit wachsender Macht der Jenseitshoffnungen, je mehr also das Leben in der diesseitigen Welt als eine nur provisorische Existenzform gegenüber der jenseitigen angesehen, je mehr jene als von Gott aus dem Nichts geschaffen und ebenso wieder vergänglich und der Schöpfer selbst als den jenseitigen Zwecken und Werten unterstellt gedacht und je mehr also das diesseitige Handeln auf das jenseitige Schicksal hin ausgerichtet wurde, desto mehr drängte sich auch das Problem des prinzipiellen Verhältnisses Gottes zur Welt und ihren Unvollkommenheiten in den Vordergrund des Denkens. Die Jenseitshoffnungen enthalten zuweilen eine direkte Umkehrung der urwüchsigen Auffassung, welche die Frage des Jenseits zu einer Angelegenheit der Vornehmen und Reichen machte, nach der Formel, „die Letzten werden die Ersten sein“. [294] Das Gesetz des Grenznutzens wurde insbesondere von der österreichischen Schule der Nationalökonomie (z. B. von Eugen von Böhm-Bawerk und Friedrich von Wieser) vertreten. Es bestimmt den Wert eines Gutes nach dem Nutzen, den die letzte verfügbare Einheit eines Gutes für die Befriedigung von bestimmten Bedürfnissen oder Teilbedürfnissen hat.
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Konsequent durchgeführt ist dies selbst in den religiösen Vorstellungen von Pariavölkern selten eindeutig. Aber es hat z. B. [295]in der alten jüdischen Ethik eine große Rolle gespielt, und die Annahme, daß Leiden, vor allem auch freiwilliges Leiden, die Gottheit milde stimme und die Jenseitschancen bessere, findet sich unter sehr verschiedenen Motiven, zum Teil vielleicht auch aus den Mutproben der Heldenaskese und der magischen Mortifikationspraxis heraus, entwickelt, in viele Jenseitshoffnungen eingesprengt. Die Regel, zumal bei Religionen, die unter dem Einfluß herrschender Schichten stehen, ist umgekehrt die Vorstellung, daß auch im Jenseits die diesseitigen Standesunterschiede nicht gleichgültig bleiben werden, weil auch sie gottgewollt waren, bis zu den christlichen „hochseligen“ Monarchen hinab. Die spezifisch ethische Vorstellung aber ist „Vergeltung“ von konkretem Recht und Unrecht auf Grund eines Totengerichts, und der eschatologische Vorgang ist also normalerweise ein universeller Gerichtstag. Dadurch muß die Sünde den Charakter eines „crimen“ Markus 10, 31; „Viele aber werden die Letzten sein, die die Ersten sind, und die Ersten sein, die die Letzten sind“ und Lukas 13, 30: „Und siehe, es sind Letzte, die werden die Ersten sein, und sind Erste, die werden die Letzten sein“.
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annehmen, welches nun in eine rationale Kasuistik gebracht werden kann, und für welches im Diesseits oder Jenseits irgendwie Genugtuung gegeben werden muß, auf daß man schließlich gerechtfertigt vor dem Totenrichter stehe. Die Strafen und Belohnungen müßten der Bedeutung von Verdienst und Vergehen entsprechend abgestuft werden – wie es noch bei Dante [295] Im römischen Recht das nach öffentlicher Anklage mit öffentlicher Strafe geahndete Unrecht. Gegenstand richterlicher Entscheidung.
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in der Tat der Fall ist –, sie könn[296]ten also eigentlich nicht ewig sein. Bei der Blaßheit und Unsicherheit der Jenseits[A 299]chancen aber gegenüber der Realität des Diesseits ist der Verzicht auf ewige Strafen von Propheten und Priestern fast immer für unmöglich gehalten worden; sie allein entsprachen auch dem Rachebedürfnis gegen ungläubige, abtrünnige, gottlose und dabei auf Erden straflose Frevler. Himmel, Hölle und Totengericht haben fast universelle Bedeutung erlangt, selbst in Religionen, deren ganzem Wesen sie ursprünglich so fremd waren wie dem alten Buddhismus. Mochten nun aber „Zwischenreiche“ Im ersten Teil der „Göttlichen Komödie“, der Hölle, entwarf Dante Alighieri eine Topographie von mehreren Höllenkreisen, die die Stätten verschiedener Bußarten für ganz unterschiedliche Sünden sind. Dort heißt es etwa: „Den ersten Kreis füllt, wer Gewaltthat übte: […] Darum nun brandmarkt auch der engste Cirkel Cahors [Wucherer] und Sodomma […]. Drum ist im zweiten Kreis auch eingenistet Heucheln und Schmeicheln und wer Zauberei treibt, Verfälschung, Diebstahl, Simonie und Kuppeln, Bestechlichkeit und mehr dergleichen Unflath“. (Dante Alighieri, Göttliche Comödie, Erster Theil, Die Hölle, elfter Gesang, S. 69 f.). Max Weber äußerte sich in mehreren Briefen an Karl Vossler zu dessen Interpretationen von Dantes Werk „Göttliche Komödie“, die in den Jahren 1907–1910 in mehreren Bänden im Verlag Carl Winter, Heidelberg, erschienen waren. In einem Brief an Vossler vom 5. Mai 1908 (MWG II/5, S. 556–563) schrieb Weber, daß er Vosslers Dante zum dritten Mal lese (Vossler, Karl, Die Göttliche Komödie. Entwicklungsgeschichte und Erklärung, 1. Band, 1.Teil: Religiöse und philosophische Entwicklungsgeschichte, und 1. Band, 2. Teil: Ethisch-politische Entwicklungsgeschichte. – Heidelberg: Carl Winter 1907). Im Brief an Vossler vom 11. und 14. Dezember 1910 (MWG II/6, S. 727–740) bedankte sich Weber für die Zusendung von Vosslers 2. Band, 2. Teil: Erklärung des Gedichtes. – Heidelberg: Carl Winter 1910. Vossler brachte die eigentliche Übersetzung der „Göttlichen Komödie“ erst 1941 heraus.
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(Zarathustra) oder „Fegefeuer“[296] Vgl. dazu die Erläuterung von Wilhelm Bousset: „Die, bei denen gute und böse Werke die Wage halten, gelangen, wenigstens nach späterer persischer Vorstellung, an einen mittleren Ort (Hamestakan […])“. (Bousset, Religion des Judentums, S. 590, Anm. 1). Das Zwischenreich „Hamestakan“ gilt als der mittlere Ort zwischen Himmel und Hölle.
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die Konsequenz zeitlich unbegrenzter ewiger „Strafen“ für eine zeitlich begrenzte Existenz abschwächen, so blieb doch stets die Schwierigkeit bestehen, überhaupt eine „Bestrafung“ von Handlungen der Menschen mit einem ethischen und zugleich allmächtigen, also schließlich für diese Handlungen allein verantwortlichen Schöpfer der Welt zu vereinbaren. Denn diese Konsequenz: einen unerhört großen ethischen Abstand des jenseitigen Gottes gegenüber den unausgesetzt in neue Schuld verstrickten Menschen, mußten diese Vorstellungen ja um so mehr nach sich ziehen, je mehr man über das unlösbare Problem der Unvollkommenheit der Welt angesichts der göttlichen Allmacht grübelte. Es blieb dann letztlich nichts übrig, als jene Folgerung, in welche der Allmacht- und Schöpferglaube schon bei Hiob umzuschlagen im Begriff steht: diesen allmächtigen Gott jenseits aller ethischen Ansprüche seiner Kreaturen zu stellen, seine Ratschläge für derart jedem menschlichen Begreifen verborgen, seine absolute Allmacht über seine Geschöpfe als so schrankenlos und also die Anwendung des Maßstabs kreatürlicher Gerechtigkeit auf sein Tun für so unmöglich anzusehen, daß das Problem der Theodizee als solches überhaupt fortfiel. Der islamitische Allah ist von seinen leidenschaftlichsten Anhängern so ge[297]dacht worden, der christliche „Deus absconditus“ „Fegfeuer" (nicht Fegefeuer, lat.: purgatorium) ist nach katholischer Lehre ein Reinigungsort, an dem den abgeschiedenen Seelen durch Gebet und Opfer geholfen werden kann.
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gerade von den Virtuosen christlicher Frömmigkeit ebenfalls. Gottes souveräner, gänzlich unerforschlicher und – eine Konsequenz seiner Allwissenheit – von jeher feststehender, freier Ratschluß hat entschieden, wie für das Schicksal auf Erden, so auch für das Schicksal nach dem Tode. Die Determiniertheit des irdischen, ebenso wie die Prädestination zum jenseitigen Schicksal stehen von Ewigkeit her fest. So gut wie die Verdammten über ihre durch Prädestination feststehende Sündhaftigkeit könnten die Tiere sich darüber beklagen, daß sie nicht als Menschen geschaffen sind [297] Deus absconditus („verborgener Gott“) steht in Gegensatz zu deus revelatus („der offenbare Gott“). Martin Luther bezeichnete damit die Unerforschlichkeit von Gottes Ratschluß.
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(so ausdrücklich der Calvinismus). Ethisches Verhalten kann hier nie den Sinn haben, die eigenen Jenseits- oder Diesseitschancen zu verbessern, wohl aber den anderen, praktisch-psychologisch unter Umständen noch stärker wirkenden: Symptom für den eigenen, durch Gottes Ratschluß feststehenden Gnadenstand zu sein. Denn gerade die absolute Souveränität dieses Gottes zwingt das praktische religiöse Interesse, ihm wenigstens im Einzelfall dennoch in die Karten sehen zu wollen, und speziell das eigene Jenseitsschicksal zu wissen ist ein elementares Bedürfnis des Einzelnen. Mit der Neigung zur Auffassung Gottes als des schrankenlosen Herrn über seine Kreaturen geht daher die Neigung parallel, überall seine „Vorsehung“, sein ganz persönliches Eingreifen in den Lauf der Welt zu sehen und zu deuten. Der „Vorsehungsglaube“ ist die konsequente Rationalisierung der magischen Divination, an die er anknüpft, die aber eben deshalb gerade er prinzipiell am relativ vollständigsten entwertet. Es kann keinerlei Auffassung der religiösen Beziehung geben, die 1. so radikal aller Magie entgegengesetzt wäre, theoretisch wie praktisch, wie dieser, die großen theistischen Religionen Vorderasiens und des Okzidents beherrschende Glaube, keine auch, die 2. das Wesen des Göttlichen so stark in ein aktives [298]„Tun“, in die persönliche providentielle Regierung der Welt verlegte und dann keine, für welche 3. die göttliche, frei geschenkte Gnade und die Gnadenbedürftigkeit der Kreaturen, der ungeheure Abstand alles Kreatürlichen gegen Gott und daher 4. die Verwerflichkeit der „Kreaturvergötterung“ als eines Majestätsfrevels an Gott so feststünde. Gerade weil dieser Glaube keine rationale Lösung des praktischen Theodizeeproblems enthält, birgt er die größten Spannungen zwischen Welt und Gott, Sollen und Sein. Weber bemerkte in seiner „Protestantischen Ethik“: „Wenn etwa die Verworfenen über das ihrige [Schicksal] als unverdient klagen wollten, so wäre das ähnlich, als wenn die Tiere sich beschweren würden, nicht als Menschen geboren zu sein“. (Weber, Protestantische Ethik II, S. 10). Ernst Troeltsch führte im Zusammenhang mit Prädestinationsgnade und Gottesbegriff des Calvinismus aus: „Niemand darf sich rühmen und niemand beklagen. Wie niemand einen Anspruch hat, ein Mensch zu sein statt eines Tieres […]“. (Troeltsch, Soziallehren, S. 615).
[A 300]Systematisch durchdachte Erledigungen des Problems der Weltunvollkommenheit geben außer der Prädestination nur noch zwei Arten religiöser Vorstellungen. Zunächst der Dualismus, wie ihn die spätere Entwicklung der zarathustrischen Religion und zahlreiche, meist von ihr beeinflußte vorderasiatische Glaubensformen mehr oder minder konsequent enthielten, namentlich die Endformen der babylonischen (jüdisch und christlich beeinflußten) Religion im Mandäertum und in der Gnosis,
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bis zu den großen Konzeptionen des Manichäismus, der um die Wende des 3. Jahrhunderts [298] Wilhelm Bousset führte grundlegende Elemente antiker Gnosis (die Planetengötter, die Sophia, den Dualismus, den Erlöser u. a.) auf die babylonische Religion zurück. (Bousset, Wilhelm, Hauptprobleme der Gnosis (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und des Neuen Testaments, 10. Heft). – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1907; hinfort: Bousset, Hauptprobleme der Gnosis).
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auch in der mittelländischen Antike dicht vor dem Kampf um die Weltherrschaft zu stehen schien. Gott ist nicht allmächtig und die Welt nicht seine Schöpfung aus dem Nichts. Ungerechtigkeit, Unrecht, Sünde, alles also, was das Problem der Theodizee entstehen läßt, sind Folgen der Trübung der lichten Reinheit der großen und guten Götter durch Berührung mit der ihnen gegenüber selbständigen Macht der Finsternis und, was damit identifiziert wird, der unreinen Materie, welche einer satanischen Macht Gewalt über die Welt gibt und die durch einen Urfrevel von Menschen oder Engeln oder – so bei manchen Gnostikern – durch die Minderwertigkeit eines subalternen Weltschöpfers (Jehovas oder des „Demiurgos“) entstanden ist. Der schließliche Sieg der lichten [299]Götter in dem nun entstehenden Kampf steht meist – eine Durchbrechung des strengen Dualismus – fest. Der leidensvolle, aber unvermeidliche Weltprozeß ist eine fortgesetzte Herausläuterung des Lichtes aus der Unreinheit. Die Vorstellung des Endkampfs entwickelt naturgemäß ein sehr starkes eschatologisches Pathos. Die allgemeine Folge solcher Vorstellungen muß ein aristokratisches Prestigegefühl der Reinen und Erlesenen sein. Die Auffassung des Bösen, welche bei Voraussetzung eines schlechthin allmächtigen Gottes stets die Tendenz zu einer rein ethischen Wendung zeigt, kann hier einen stark spirituellen Charakter annehmen, weil der Mensch ja nicht als Kreatur einer absoluten Allmacht gegenübersteht, sondern Anteil am Lichtreich hat, und weil die Identifikation des Lichtes mit dem im Menschen Klarsten: dem Geistigen, der Finsternis dagegen mit dem alle gröberen Versuchungen an sich tragenden Materiellen, Körperlichen fast unvermeidlich ist. Die Auffassung knüpft dann leicht an den „Unreinheits“-Gedanken der tabuistischen Ethik an. Das Böse erscheint als Verunreinigung, die Sünde, ganz nach Art der magischen Frevel, als ein verächtlicher, in Schmutz und gerechte Schande führender Absturz aus dem Reich der Reinheit und Klarheit in das Reich der Finsternis und Verworrenheit. Uneingestandene Einschränkungen der göttlichen Allmacht in Gestalt von Elementen dualistischer Denkweise finden sich in fast allen ethisch orientierten Religionen. Gegen Ende des dritten nachchristlichen Jahrhunderts hatten die Manichäer in Nordafrika soviele Anhänger gefunden, daß Kaiser Diokletian dem Prokonsul in Afrika 297 den Auftrag erteilte, die Manichäer mit aller Härte zu verfolgen. Das Edikt ist in der Collatio legum Mosaicarum et Romanorum erhalten. Im selben Jahrzehnt war der Sassanidenherrscher Narses (293–302) dazu übergegangen, in seinem Reich die Manichäer offiziell zu dulden; sein Vorgänger hatte sie noch verfolgen lassen.
Die formal vollkommenste Lösung des Problems der Theodizee ist die spezifische Leistung der indischen „Karman“-Lehre, des sog. Seelenwanderungsglaubens. Die Welt ist ein lückenloser Kosmos ethischer Vergeltung. Schuld und Verdienst werden innerhalb der Welt unfehlbar vergolten durch Schicksale in einem künftigen Leben, deren die Seele unendlich viele, in anderen tierischen oder menschlichen oder auch göttlichen Existenzen, neu zur Welt kommend, zu führen haben wird. Ethische Verdienste in diesem Leben können die Wiedergeburt im Himmel bewirken, aber stets nur auf Zeit, bis das Verdienstkonto aufgebraucht ist. Ebenso ist die Endlichkeit alles irdischen Lebens die Folge der Endlichkeit der guten oder bösen Taten in dem früheren Leben der gleichen Seele und sind die vom Vergeltungsstandpunkt aus ungerecht scheinenden Leiden des gegenwärtigen Lebens Bußen für Sünden in einem vergangenen Leben. Der Einzelne schafft sich sein eigenes Schicksal im strengsten Sinne ausschließlich selbst. Der Seelenwanderungs[300]glaube knüpft an sehr geläufige animistische Vorstellungen von dem Übergang der Totengeister in Naturobjekte an. Er rationalisiert sie und damit den Kosmos unter rein ethischen Prinzipien. Die naturalistische „Kausalität“ unserer Denkgewohnheiten wird also ersetzt durch einen universellen Vergeltungsmechanismus, bei dem keine ethisch relevante Tat jemals verloren geht. Die dogmatische Konsequenz liegt in der völligen [A 301]Entbehrlichkeit und Undenkbarkeit eines in diesen Mechanismus eingreifenden allmächtigen Gottes: denn der unvergängliche Weltprozeß erledigt die ethischen Aufgaben eines solchen durch seine eigene Automatik. Sie ist daher die konsequente Folgerung aus der Übergöttlichkeit der ewigen „Ordnung“ der Welt
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gegenüber der zur Prädestination drängenden Überweltlichkeit des persönlich regierenden Gottes. Bei voller Durchführung des Gedankens in seine letzten Konsequenzen, im alten Buddhismus, ist auch die „Seele“ gänzlich eliminiert: es existieren nur die einzelnen, mit der Illusion des „Ich“ verbundenen, für den Karmanmechanismus relevanten guten oder bösen Handlungen. Alle Handlungen aber sind ihrerseits Produkte des immer gleich ohnmächtigen Kampfs alles geformten und dadurch allein schon zur Vergänglichkeit verurteilten Lebens um seine eigene, der Vernichtung geweihte Existenz, des „Lebensdurstes“, dem die Jenseitssehnsucht ebenso wie alle Hingabe an die Lust im Diesseits entspringt, und der, als unausrottbare Grundlage der Individuation, immer erneut Leben und Wiedergeburt schafft, solange er besteht. Eine „Sünde“ gibt es streng genommen nicht, nur Verstöße gegen das wohlverstandene eigene Interesse daran, aus diesem endlosen „Rade“ zu entrinnen oder wenigstens sich nicht einer Wiedergeburt zu noch peinvollerem Leben auszusetzen. Der Sinn ethischen Verhaltens kann nur entweder, bei bescheidenen Ansprüchen, in der Verbesserung der Wiedergeburtschancen oder, wenn der sinnlose Kampf um das bloße Dasein beendet werden soll, in der Aufhebung der Wiedergeburt als solcher bestehen. Die Zerspaltung der Welt in zwei Prinzipien besteht hier nicht, wie in der ethisch-dualistischen Vorsehungsreligiosität, in dem Dualismus der heiligen und allmächtigen Majestät Gottes gegen die ethische Unzulänglichkeit alles Kreatürlichen, und nicht wie im spiritualistischen Dualismus, in der Zerspaltung alles Geschehens in Licht und Finsternis, klaren und [301]reinen Geist und finstere und befleckende Materie, sondern in dem ontologischen Dualismus vergänglichen Geschehens und Handelns der Welt und beharrenden ruhenden Seins der ewigen Ordnung und des mit ihr identischen, unbewegten, in traumlosem Schlaf ruhenden Göttlichen. Diese Konsequenz der Seelenwanderungslehre hat in vollem Sinne nur der Buddhismus gezogen, sie ist die radikalste Lösung der Theodizee, aber eben deshalb ebensowenig wie der Prädestinationsglaube eine Befriedigung ethischer Ansprüche an einen Gott. [300]A: Welt,
9.m[301]A: § 9. Erlösung und Wiedergeburt.
[301]A: § 9.
Nur wenige Erlösungsreligionen haben von den vorstehend skizzierten reinsten Typen der Lösung des Problems der Beziehung Gottes zu Welt und Menschen einen einzelnen rein ausgebildet und, wo es geschah, ist diese meist nur für kurze Zeit festgehalten worden. Die meisten haben infolge gegenseitiger Rezeption und vor allem unter dem Druck der Notwendigkeit, den mannigfachen ethischen und intellektuellen Bedürfnissen ihrer Anhänger gerecht zu werden, verschiedene Denkformen miteinander kombiniert, so daß ihre Unterschiede solche im Grade der Annäherung an den einen oder anderen dieser Typen sind.
Die verschiedenen ethischen Färbungen des Gottes- und Sündengedankens stehen nun in innigstem Zusammenhang mit dem Streben nach „Erlösung“, dessen Inhalt höchst verschieden gefärbt sein kann, je nachdem „wovon“ und „wozu“ man erlöst sein will. Nicht jede rationale religiöse Ethik ist überhaupt Erlösungsethik. Der Konfuzianismus ist eine „religiöse“ Ethik, weiß aber gar nichts von einem Erlösungsbedürfnis. Der Buddhismus umgekehrt ist ganz ausschließlich Erlösungslehre, aber er kennt keinen Gott. Zahlreiche andere Religionen kennen „Erlösung“ nur als eine in engen Konventikeln gepflegte Sonderangelegenheit, oft als einen Geheimkult. Auch bei religiösen Handlungen, welche als ganz spezifisch „heilig“ gelten und ihren Teilnehmern ein nur auf diesem Wege erreichbares Heil versprechen, stehen sehr oft die massivsten utilitarischen Erwartungen an Stelle [A 302]von irgend etwas, was wir gewohnt sind[,] „Erlösung“ zu nennen. Die pantomimisch-musikalische Feier der großen Erdgottheiten, welche zugleich den Ernte[302]ausfall und das Totenreich beherrschen, stellte den rituell reinen eleusinischen Mysten vor allem Reichtum in Aussicht, daneben eine Verbesserung des Jenseitsloses, aber ohne alle Vergeltungsideen, rein als Folge der Meßandacht. Reichtum, das, nächst langem Leben, höchste Gut in der Gütertafel des Schu King,
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hängt für die chinesischen Untertanen an der richtigen Ausführung des offiziellen Kultes und der eigenen Erfüllung der religiösen Pflichten, während irgendwelche Jenseitshoffnungen und Vergeltungen ganz fehlen. Reichtum vor allem erwartet, neben massiven Jenseitsverheißungen, Zarathustra für sich und seine Getreuen von der Gnade seines Gottes. [302] Das chinesische Schu-King (Tl. (chin.): shu-ching, wörtlich: „klassisches Buch der Urkunden“) ist eine angeblich von Konfuzius vorgenommene Zusammenstellung von historischen und mythologischen Texten, die teilweise aus dem 10. bis 5. vorchristlichen Jahrhundert stammen. Darin heißt es: „Ninth, of the five happinesses. – The first is long life; the second is riches […]“. (Zitiert nach Legge, James, The Chinese Classics, vol. 3, Part 1: The Shoo King or The Book of Historical Documents (2 parts). – Oxford: University Press o.J., S. 343).
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Geehrtes und langes Leben und Reichtum stellt der Buddhismus als Lohn der Laiensittlichkeit hin, Vgl. beispielsweise Yasna 44.18: „Danach frage ich Dich – gib mir rechte Kunde, o Ahura! –: Ob ich wohl, o Aša, den Lohn erhalten werde, zehn Stuten samt einem Hengst und ein Kamel […]?“ Ähnlich Yasna 46.19: „[…] Wer mir, dem Zaraθuštra, gemäß dem heiligen Recht erfüllt, was meinem Willen am besten entspricht, ihm soll als Lohn, ihm, der den des künftigen Lebens verdient, ein Paar trächtiger Kühe werden samt allem, worauf sein Sinn steht […]“. (Beide Zitate nach Bartholomae, Gatha's des Awesta, S. 64 und 81).
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in voller Übereinstimmung mit der Lehre aller indischen religiösen innerweltlichen Ethik. Mit Reichtum segnet Gott den frommen Juden. Dazu vermerkte Max Weber in seiner Hinduismusstudie: „Für die getreue Innehaltung dieser Gebote der Laiensittlichkeit […] werden dem frommen [buddhistischen] Laien innerweltliche Güter: Reichtum, ein guter Name, gute Gesellschaft, Tod ohne Angst und die Besserung seiner Wiedergeburtschancen in Aussicht gestellt“. (MWG I/20, S. 345).
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Reichtum ist aber – wenn rational und legal erworben – auch eins der Symptome der „Bewährung“ des Gnadenstandes bei den asketischen Richtungen des Protestantismus (Calvinisten, Baptisten, [303]Mennoniten, Quäker, reformierte Pietisten, Methodisten). Freilich befinden wir uns mit diesen letzten Fällen bereits innerhalb einer Auffassung, welche trotzdem den Reichtum (und irgendwelche anderen diesseitigen Güter) sehr entschieden als ein „religiöses Ziel“ ablehnen würden. Aber praktisch ist der Übergang bis zu diesem Standpunkt flüssig. Die Verheißungen einer Erlösung von Druck und Leid, wie sie die Religionen der Pariavölker, vor allem der Juden, ebenso aber auch Zarathustra und Muhammed, in Aussicht stellen, lassen sich nicht streng aus den Erlösungskonzeptionen dieser Religionen aussondern, weder die Verheißung der Weltherrschaft und des sozialen Prestiges der Gläubigen, welche der Gläubige im alten Islam als Lohn für den heiligen Krieg gegen alle Ungläubigen im Tornister trug, noch das Versprechen jenes spezifischen religiösen Prestiges, welches den Israeliten als Gottes Verheißung überliefert wurde. Insbesondere den Juden ist ihr Gott zunächst deshalb ein Erlöser, weil er sie aus dem ägyptischen Diensthaus befreit hat und aus dem Ghetto erlösen wird. Neben solchen ökonomischen und politischen Verheißungen tritt vor allem die Befreiung von der Angst vor den bösen Dämonen und bösem Zauber überhaupt, der ja für die Mehrzahl aller Übel des Lebens verantwortlich ist. Daß der Christus die Macht der Dämonen durch die Kraft seines Pneuma gebrochen habe und seine Anhänger aus ihrer Gewalt erlöse, war in der Frühzeit des Christentums eine der sehr im Vordergrunde stehenden und wirksamsten seiner Verheißungen. Etwa Psalm 112, 1–3: „Wohl dem, der den HErrn fürchtet, der große Lust hat zu seinen Geboten! Des Same wird gewaltig sein auf Erden; das Geschlecht der Frommen wird gesegnet sein. Reichtum und die Fülle wird in ihrem Hause sein, und ihre Gerechtigkeit bleibet ewiglich“. Werner Sombart ging davon aus, daß in der jüdischen Religion „der Reichtum (und der Gütererwerb) als ein wertvolles Gut gepriesen“ sei. (Sombart, Juden und Wirtschaftsleben, S. 253). Er belegte anhand zahlreicher Bibelstellen die „welt- und güterfrohen Anschauungen, wie sie aus dieser und aus allen andern für den frommen Juden wichtigen Schriften der Bibel sprechen […]“ (ebd., S. 258).
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Und auch das schon gekommene oder unmittelbar vor der Tür stehende Gottesreich Jesus’ von Nazareth war ein Reich der von menschlicher Lieblosigkeit, Angst und Not befreiten Seligkeit auf dieser Erde, und erst später traten Himmel und Hades hervor. Denn alle diesseitigen Eschatologien haben naturgemäß durchweg die Tendenz[,] zur Jenseitshoffnung zu werden, sobald die Parusie [303] In 1. Johannes 3, 8 heißt es: „Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, daß er die Werke des Teufels zerstöre“. Adolf Harnack, Mission I (wie oben, S. 213, Anm. 92), äußerte sich dazu ausführlich im dritten Kapitel: Der Kampf gegen die Dämonen (ebd., S. 108–126).
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sich verzögert und nun der Nachdruck darauf fällt, daß die jetzt Lebenden, die sie nicht mehr im Diesseits schauen, sie nach dem Tode, von den Toten auferstehend, erleben wollen. Der Ausdruck „Parusie“ (griech.: „Gegenwart“, „Anwesenheit“) wurde ursprünglich verwendet für die kultische Präsentierung eines Götterbildes, im hellenistischen Sakralkönigtum für das Erscheinen des Herrschers. Im Christentum wird unter „Parusie“ die endzeitliche Ankunft Christi verstanden.
[304]Der spezifische Inhalt der „jenseitigen“ Erlösung kann mehr die Freiheit von dem physischen oder seelischen oder sozialen Leiden des Erdendaseins bedeuten, oder mehr Befreiung von der sinnlosen Unrast und Vergänglichkeit des Lebens als solchem, oder mehr von der unvermeidlichen persönlichen Unvollkommenheit, werde diese nun mehr als chronische Beflecktheit oder als akute Neigung zur Sünde oder mehr spirituell als Gebanntheit in die dunkle Verworrenheit der irdischen Unwissenheit aufgefaßt.
Für uns kommt die Erlösungssehnsucht, wie immer sie geartet sei, wesentlich in Betracht, sofern sie für das praktische Verhalten im Leben Konsequenzen hat. Eine solche positive und diesseitige Wendung gewinnt sie am stärksten durch Schaffung einer, durch einen zentralen Sinn oder ein positives Ziel zusammen[A 303]gehaltenen, spezifisch religiös determinierten „Lebensführung“, dadurch also, daß, aus religiösen Motiven, eine Systematisierung des praktischen Handelns in Gestalt seiner Orientierung an einheitlichen Werten entsteht. Ziel und Sinn dieser Lebensführung können rein jenseitig oder auch, mindestens teilweise, diesseitig gerichtet sein. In höchst verschiedenem Grade und in typisch verschiedener Qualität ist dies bei den einzelnen Religionen und innerhalb jeder einzelnen von ihnen wieder bei ihren einzelnen Anhängern der Fall. Auch die religiöse Systematisierung der Lebensführung hat natürlich, soweit sie Einfluß auf das ökonomische Verhalten gewinnen will, feste Schranken vor sich, und religiöse Motive, insbesondere die Erlösungshoffnung, müssen keineswegs notwendig Einfluß auf die Art der Lebensführung gewinnen, insbesondere nicht auf die ökonomische, aber sie können es in sehr starkem Maße.
Die weitgehendsten Konsequenzen für die Lebensführung hat die Erlösungshoffnung dann, wenn die Erlösung selbst als ein schon im Diesseits seine Schatten vorauswerfender oder gar als ein gänzlich diesseitiger innerlicher Vorgang verläuft. Also wenn sie entweder selbst als „Heiligung“ gilt oder doch Heiligung herbeiführt oder zur Vorbedingung hat. Der Vorgang der Heiligung kann dann entweder als ein allmählicher Läuterungsprozeß oder als eine plötzlich eintretende Umwandlung der Gesinnung (Metanoia), eine „Wiedergeburt“
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auftreten. [304] William James verglich die „Wiedergeburt“ mit einer plötzlichen Heilung bei Kranken im Unterschied zu einer allmählichen: „The older medicine used to speak of two ways, [305]lysis and crisis, one gradual, the other abrupt, in which one might recover from a bodily disease. In the spiritual realm there are also two ways, one gradual, the other sudden, in which inner unification may occur“. (James, William, The Varieties of Religious Experience. A Study in Human Nature, being the Gifford Lectures on Natural Religion delivered at Edinburgh in 1901–1902. – London: Longmans, Green, and Co. 1902, S. 183).
[305]Der Gedanke der Wiedergeburt als solcher ist sehr alt und findet sich gerade im magischen Geisterglauben klassisch entwickelt. Der Besitz des magischen Charisma setzt fast stets Wiedergeburt voraus: die ganz spezifische Erziehung der Zauberer selbst und der Kriegshelden durch sie und die spezifische Art der Lebensführung der ersteren erstrebt Wiedergeburt und Sicherung des Besitzes einer magischen Kraft, vermittelt durch „Entrückung“ in Form der Ekstase und Erwerb einer neuen „Seele“, die meist auch Namensänderung zur Folge hat, – wie diese ja als Rudiment solcher Vorstellungen noch bei der Mönchsweihe vorkommt. Die „Wiedergeburt“ wird[,] zunächst nur für den berufsmäßigen Zauberer, aus einer magischen Voraussetzung zauberischen oder heldischen Charisma, in den konsequentesten Typen der „Erlösungsreligionen“, zu einer für das religiöse Heil unentbehrlichen Gesinnungsqualität, die der Einzelne sich aneignen und in seiner Lebensführung bewähren muß.
10.n[305]A: § 10. Die Erlösungswege und ihr Einfluß auf die Lebensführung.oIn A folgt eine Inhalts- und Seitenübersicht.
[305]A: § 10.
In A folgt eine Inhalts- und Seitenübersicht.
Der Einfluß einer Religion auf die Lebensführung und insbesondere die Voraussetzungen der Wiedergeburt sind nun je nach dem Erlösungsweg und – was damit aufs engste zusammenhängt – der psychischen Qualität des erstrebten Heilsbesitzes sehr verschieden.
I. Die Erlösung kann eigenstes, ohne alle Beihilfe überirdischer Mächte zu schaffendes Werk des Erlösten sein, wie z. B. im alten Buddhismus. Dann können die Werke, durch welche die Erlösung errungen wird,
1. rein rituelle Kulthandlungen und Zeremonien sein, sowohl innerhalb eines Gottesdienstes, wie im Verlauf des Alltags. Der reine Ritualismus ist an sich von der Zauberei in seiner Wirkung auf die [306]Lebensführung nicht verschieden und steht zuweilen in dieser Hinsicht sogar insofern hinter der magischen Religiosität zurück, als diese unter Umständen eine bestimmte und ziemlich einschneidende Methodik der Wiedergeburt entwickelt hat, was der Ritualismus [A 304]oft, aber nicht immer vollbringt. Eine Erlösungsreligion kann die rein formalen rituellen Einzelleistungen systematisieren zu einer spezifischen Gesinnung, der „Andacht“, in welcher die Riten als Symbole des Göttlichen vollzogen werden. Dann ist diese Gesinnung der in Wahrheit erlösende Heilsbesitz. Sobald man sie streicht, bleibt der nackte formale magische Ritualismus übrig, und dies ist dann auch naturgemäß im Verlauf der Veralltäglichung aller Andachtsreligiosität immer wieder geschehen.
Die Konsequenzen einer ritualistischen Andachtsreligiosität können sehr verschiedene sein. Die restlose rituelle Reglementierung des Lebens des frommen Hindu, die für europäische Vorstellungen ganz ungeheuerlichen Ansprüche, welche Tag für Tag an den Frommen gestellt werden, würden bei wirklich genauer Durchführung die Vereinigung eines exemplarisch frommen, innerweltlichen Lebens mit intensivem Erwerb nahezu ausschließen. Dieser äußerste Typus der Andachtsfrömmigkeit bildet darin den äußersten Gegenpol gegen den Puritanismus. Nur der Besitzende, von intensiver Arbeit Entbundene könnte diesen Ritualismus durchführen.
Tieferliegend aber als diese immerhin vermeidbare Konsequenz ist der Umstand: daß die rituelle Erlösung, speziell dann, wenn sie den Laien auf die Rolle des Zuschauers oder auf eine Beteiligung nur durch einfache oder wesentlich rezeptive Manipulationen beschränkt[,] und zwar gerade da, wo sie die rituelle Gesinnung möglichst zu stimmungsvoller Andacht sublimiert, den Nachdruck auf den „Stimmungsgehalt“ des frommen Augenblicks legt, der das Heil zu verbürgen scheint. Erstrebt wird dann der Besitz einer inneren Zuständlichkeit, welche ihrer Natur nach vorübergehend ist und welche kraft jener eigentümlichen „Verantwortungslosigkeit“, die etwa dem Anhören einer Messe oder eines mystischen Mimus anhaftet, auf die Art des Handelns, nachdem die Zeremonie vorüber ist, oft fast ebensowenig einwirkt, wie die noch so große Rührung eines Theaterpublikums beim Anhören eines schönen und erbaulichen Theaterstücks dessen Alltagsethik zu beeinflussen pflegt. Alle Mysterienerlösung hat diesen Charakter des Unsteten. [307]Sie gewärtigt ihre Wirkung ex opere operato von einer frommen Gelegenheitsandacht. Es fehlen die inneren Motive eines Bewähungsanspruchs, der eine „Wiedergeburt“ verbürgen könnte. Wo dagegen die rituell erzeugte Gelegenheitsandacht, zur perennierenden Frömmigkeit gesteigert, auch in den Alltag zu retten versucht wird, da gewinnt diese Frömmigkeit am ehesten einen mystischen Charakter: der Besitz einer Zuständlichkeit als Ziel bei der Andacht leitet ja dazu hinüber. Die Disposition zur Mystik aber ist ein individuelles Charisma. Es ist daher kein Zufall, daß gerade mystische Erlösungsprophetien, wie die indischen und anderen orientalischen, bei ihrer Veralltäglichung alsbald immer wieder in reinen Ritualismus umschlugen. Der letztlich erstrebte seelische Habitus ist beim Ritualismus – darauf kommt es für uns an – vom rationalen Handeln direkt abführend. Fast alle Mysterienkulte wirkten so. Ihr typischer Sinn ist die Spendung von „Sakramentsgnade“: Erlösung von Schuld durch die Heiligkeit der Manipulation als solcher, also durch einen Vorgang, welcher die Tendenz jeder Magie teilt, aus dem Alltagsleben herauszufallen und dieses nicht zu beeinflussen. Ganz anders freilich kann sich die Wirkung eines „Sakraments“ dann gestalten, wenn dessen Spendung an die Voraussetzung geknüpft ist, daß sie nur dem vor Gott ethisch Gereinigten zum Heil gereicht, anderen zum Verderben. Die furchtbare Angst vor dem Abendmahl wegen der Lehre: „Wer aber nicht glaubt und doch ißt, der ißt und trinkt ihm selber zum Gericht“,
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war bis an die Schwelle der Gegenwart in weiten Kreisen lebendig und konnte beim Fehlen einer „absolvierenden“ Instanz, wie im asketischen Protestantismus und bei häufigem Abendmahlsgenuß – der deshalb ein wichtiges Merkmal der Frömmigkeit war – das Alltagsverhalten in der Tat stark beeinflussen. Die Vorschrift der Beichte vor dem Sakrament innerhalb aller christlichen Konfessionen hing damit zusammen. Allein es kommt bei dieser Institution entscheidend darauf an, welches diejenige religiös vorgeschriebene Verfassung ist, in welcher das [A 305]Sakrament mit Nutzen empfangen werden kann. Fast alle antiken und die meisten außerchristlichen Mysterienkulte haben dafür lediglich rituelle Reinheit verlangt, daneben galten unter Umständen schwere Blutschuld oder einzel[308]ne spezifische Sünden als disqualifizierend. Diese Mysterien kannten also meist keine Beichte. Wo aber die Anforderung ritueller Reinheit zur seelischen Sündenreinheit rationalisiert worden ist, da kommt es nun weiter auf die Art der Kontrolle und, wo die Beichte besteht, auf deren möglicherweise sehr verschiedenen Charakter für die Art und das Maß der ihr möglichen Einwirkung auf das Alltagsleben an. In jedem Fall aber ist dann der Ritus als solcher, praktisch angesehen, nur noch das Vehikel, um das außerrituelle Handeln zu beeinflussen, und auf dieses Handeln kommt in Wahrheit alles an. So sehr, daß gerade bei vollster Entwertung des magischen Charakters des Sakraments und bei gänzlichem Fehlen aller Kontrolle durch Beichte – beides bei den Puritanern – das Sakrament dennoch, und zwar unter Umständen gerade deshalb, jene ethische Wirkung entfalten kann. [307] 1. Korinther 11, 29: „Denn welcher unwürdig isset und trinket, der isset und trinket sich selber zum Gericht, damit, daß er nicht unterscheidet den Leib des Herrn“.
Auf einem anderen und indirekten Wege kann eine ritualistische Religiosität da ethisch wirken, wo die Erfüllung der Ritualgebote das aktive rituelle Handeln (oder Unterlassen) des Laien fordert und nun die formalistische Seite des Ritus zu einem umfassenden „Gesetz“ derart systematisiert wird, daß es einer besonderen Schulung und Lehre bedarf, um es überhaupt genügend zu kennen, wie es im Judentum der Fall war. Daß der Jude schon im Altertum, wie Philo hervorhebt,
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im Gegensatz zu allen anderen Völkern, von früher Jugend an, nach Art unserer Volksschule, fortgesetzt intellektuell systematisch-kasuistisch trainiert wurde, daß auch in der Neuzeit z. B. in Osteuropa aus diesem Grunde nur die Juden systematische Volksschulbildung genossen, ist die Folge dieses Schriftgelehrsamkeitscharakters des jüdischen Gesetzes, welches die jüdischen Frommen schon im Altertum veranlaßte, den im Studium des Gesetzes Ungebildeten, den Amhaarez, mit den Gottlosen zu identifizieren. Eine derartige kasuistische Schulung des Intellekts kann sich natürlich auch im Alltag fühlbar machen, um so mehr, wenn es sich nicht mehr – wie vorwiegend im indischen Recht – um bloß rituelle kultische Pflichten, sondern um eine systematische Reglementierung auch der Alltagsethik handelt. Die Erlösungswerke sind dann eben bereits vorwiegend andere als kultische Leistungen, insbesondere [308] Vgl. dazu oben, S. 278, Anm. 33.
[309]2. soziale Leistungen. Sie können sehr verschiedenen Charakter haben. Die Kriegsgötter z. B. nehmen sehr oft in ihr Paradies nur die in der Schlacht Gefallenen auf[,] oder diese werden doch prämiiert. Für den König empfahl die brahmanische Ethik direkt, daß er den Tod in der Schlacht suchen möge, wenn er den Sohn seines Sohnes sehe.
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Auf der andern Seite können sie Werke der „Nächstenliebe“ sein. In jedem Fall aber kann die Systematisierung einsetzen, und es ist[,] wie wir sahen[,] [309] Gesetzbuch des Manu IX, 323: „But (a king who feels his end drawing nigh) shall bestow all his wealth, accumulated from fines, on Brâmanas, make over his kingdom to his son, and then seek death in battle“. (Zitiert nach Bühler, The Laws of Manu, wie oben, S. 270, Anm. 14, S. 399). Die Wendung „wenn er den Sohn seines Sohnes sehe“, die Weber zitiert, kommt in dieser Manu-Stelle nicht vor. Die Umschreibung „who feels his end drawing nigh“ ist jedoch eine Anspielung auf ein fortgeschrittenes Alter. Möglich wäre es, daß Weber an die Wendung in Manu VI, 2 denkt (vgl. oben, S. 270, Anm. 14) und zwei Zitatstellen miteinander vermischt.
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regelmäßig die Funktion der Prophetie, eben dies zu finden. Die Systematisierung einer Ethik der „guten Werke“ kann aber zweierlei verschiedenen Charakter annehmen. Die einzelnen Siehe oben, S. 193 f.
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Tugend- und Untugendhandlungen können entweder als einzelne gewertet und dem Erlösungsbedürftigen positiv und negativ zugerechnet werden. Der Einzelne als Träger seines Handelns erscheint dann als ein in seinem ethischen Standard labiles, je nach der inneren oder äußeren Situation den Versuchungen gegenüber bald stärkeres, bald schwächeres Wesen, dessen religiöses Schicksal von den tatsächlichen Leistungen in ihrem Verhältnis zueinander abhängt. Dies ist am eindeutigsten der Standpunkt der zarathustrischen Religion gerade in den ältesten Gathas des Stifters selbst, welche den Totenrichter Schuld und Verdienst der einzelnen Handlungen in genauer Buchführung gegeneinander abwägen und je nach dem Ergebnis dieser Kontokorrentrechnung dem Einzelnen sein religiöses Schicksal zumessen lassen.[309]A: Einzelnen
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Es ist in [310]noch gesteigertem Maße die Konsequenz der indischen Karmanlehre: daß innerhalb des ethischen Mechanismus der Welt keine einzelne gute oder böse Handlung jemals verloren geht, jede vielmehr unabwendbar und rein mechanisch ihre Konsequenzen, sei es in diesem Leben, sei [A 306]es bei einer künftigen Wiedergeburt[,] nach sich ziehen müsse. Das Kontokorrentprinzip ist im wesentlichen auch die populäre Grundanschauung des Judentums von dem Verhältnis des Einzelnen zu Gott geblieben. Und endlich stehen auch, wenigstens in ihrer Praxis, der römische Katholizismus und die orientalischen Kirchen diesem Standpunkt nahe. Denn die „intentio“, auf welche es nach der Sündenlehre des Katholizismus für die ethische Bewertung des Handelns ankommt, ist nicht eine einheitliche Persönlichkeitsqualität, deren Ausdruck die Handlung ist, sondern sie ist, im Sinne etwa von bona fides, mala fides, culpa, dolus des römischen Rechts, Wilhelm Bousset schrieb über das zoroastrische Totengericht: „Die Werke der Menschen werden gegeneinander auf der Wage abgewogen. Der Überschlag der guten Werke entscheidet. […] Zu dieser ausserordentlich mechanischen Gerichtsidee finden sich bemerkenswerte Parallelen in der jüdischen Eschatologie und Theologie“. (Bousset, Religion des Judentums, S. 590, Anm. 1). Yasna 33.1: „Wie es den Gesetzen für das erste Leben gemäß ist, so wird der Richter [Mazda] in gerechtestem Tun gegen den Druggenossen verfahren und gegen den Ašaanhänger und gegen den, bei dem sich (zu gleichen Teilen) mischen, was falsch und was bei ihm recht ist“. (Zitiert nach Bartholomae, Gatha’s des Awesta, S. 35).
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die „Meinung“ bei der konkreten einzelnen Handlung. Wo diese Auffassung konsequent bleibt, verzichtet sie auf das Verlangen der „Wiedergeburt“ im strengen gesinnungsethischen Sinn. Die Lebensführung bleibt ein ethisch unmethodisches Nacheinander einzelner Handlungen. [310] Der Terminus intentio bedeutete in der Scholastik die bewußte Absicht bei einer Handlung; bona fides besagt, daß man bei einer bestimmten Handlung davon überzeugt ist, sich im Recht zu befinden; mala fides bezeichnet das Bewußtsein der Unrechtmäßigkeit; culpa meint jene Art des Verschuldens, die heute mit „Fahrlässigkeit“ wiedergegeben wird. Im römischen Strafrecht ist dolus (malus) die dem Handelnden selber bewußte widerrechtliche Tat.
Oder die ethische Systematisierung behandelt die Einzelleistung nur als Symptom und Ausdruck einer entsprechenden ethischen Gesamtpersönlichkeit, die sich darin ausspricht. Bekannt ist, daß der rigoristische Teil der Spartiaten einen Genossen, der den Tod in der Schlacht gefunden, aber auch gesucht hatte, um eine frühere Feigheit zu sühnen, – als eine Art von „Reinigungsmensur“ also – für nicht rehabilitiert ansah, weil er „aus Gründen“ tapfer gewesen sei,
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und nicht „aus der Gesamtheit seines Wesens heraus“, wür[311]den wir uns etwa ausdrücken. Religiös gewendet heißt das: an Stelle der formalen Werkheiligkeit durch äußere Einzelleistungen tritt auch hier der Wert des persönlichen Gesamthabitus, in diesem Fall: der habituellen Heldengesinnung. Ähnlich steht es mit allen sozialen Leistungen, sie mögen aussehen wie sie wollen. Sind sie solche der „Nächstenliebe“, so fordert die Systematisierung den Besitz des Charisma der „Güte“. In jedem Fall aber kommt es dann letztlich auf die Art der einzelnen Handlung nur soweit an, als sie wirklich „symptomatischen“ Charakter hat, sonst aber, wenn sie ein Produkt des „Zufalls“ ist, nicht. Die Gesinnungsethik kann also gerade nach ihrer systematisiertesten Form bei hoch gesteigerten Ansprüchen an das Gesamtniveau gegen einzelne Verstöße duldsamer sein. Aber sie ist es durchaus nicht immer, vielmehr ist sie meist die spezifische Form des ethischen Rigorismus. Der religiös positiv qualifizierte Gesamthabitus kann dabei entweder reines göttliches Gnadengeschenk sein, dessen Existenz sich eben in jener generellen Gerichtetheit auf das religiös Geforderte: einer einheitlich methodisch orientierten Lebensführung äußern. Oder er Zu dem Spartiaten Aristodemos, der aus der Schlacht bei den Thermopylen geflohen war (Herodot, Historien VII, 229 ff.) bemerkte Jakob Burckhardt: „Aristodemos, der ,gezittert hatte‘ [in der Schlacht geflohen war], der einzige, der die Thermopylenschlacht überlebte, legte dann bei Platää die höchsten Proben der Tapferkeit ab und fiel, konnte es dann aber den strengsten Kritikern, wenn man darüber sprach, doch nicht zu Danke machen, weil er eben ,aus Gründen‘ den Tod gesucht habe“. (Burckhardt, Jakob, Griechische Kulturgeschichte, hg. von Jakob Oeri, Band 1, 2. Aufl. – Berlin, Stuttgart: W. Spemann o. J. [1898] S. 116). Max Weber beschreibt, wie auch in [311]WuG1, S. 749 (MWG I/22-4), einen antiken Vorfall mit dem seit Beginn des 19. Jahrhunderts geltenden Verhaltenskodex der schlagenden studentischen Verbindungen in Deutschland. Wer sich bei einer Mensur (dem studentischen Zweikampf mit Säbel oder Degen) nicht vorschriftsmäßig verhielt („Kneifen“), mußte eine „Reinigungsmensur“ fechten.
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kann umgekehrt durch „Einübung“ des Guten im Prinzip erwerbbar sein. Auch diese Einübung kann aber naturgemäß nur durch rationale methodische Richtung der Gesamtlebensführung, nicht durch einzelne zusammenhangslose Handlungen erfolgen. Das Resultat ist also praktisch in beiden Fällen sehr ähnlich. Damit rückt dann aber die sozial-ethische Qualität des Handelns gänzlich in die zweite Linie. Auf die religiöse Arbeit an der eigenen Person kommt vielmehr alles an. Die religiös qualifizierten, sozial gewendeten guten Werke sind dann lediglich Mittel [311]A: sie Gemeint ist: der religiös qualifizierte Gesamthabitus
3. der Selbstvervollkommung: der „Heilsmethodik“. Heilsmethodik kennt nicht erst die ethische Religiosität. Im Gegenteil spielt sie in oft hochgradig systematisierter Form eine sehr bedeutende Rolle bei der Erweckung zu jener charismatischen Wiedergeburt, welche den Besitz der magischen Kräfte, in animistischer Wendung: die Verkörperung einer neuen Seele innerhalb der eige[312]nen Person, oder die Besessenheit von einem starken Dämon oder die Entrücktheit in das Geisterreich, in beiden Fällen aber die Möglichkeit übermenschlicher Wirkungen verbürgt. Nicht nur liegt dabei ein „jenseitiges“ Ziel ganz fern. Sondern man braucht die Fähigkeit zur Ekstase zu den verschiedensten Zwecken: auch der Kriegsheld muß ja, um übermenschliche Heldentaten zu vollbringen, durch Wiedergeburt eine neue Seele erwerben. All jene Reste
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von Jünglingsweihe, von Bekleidung mit den Mannesinsignien (China, Indien – die Angehörigen[312]A: In all jenen Resten
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der höheren Kasten heißen bekanntlich: die zweimal Geborenen),Fehlt in A; Angehörigen sinngemäß ergänzt.
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Rezeptionen in die religiöse Bruderschaft der Phratrie, Wehrhaftmachung haben ursprünglich den Sinn der „Wiedergeburt“, [A 307]je nachdem als „Held“ oder als „Magier“. Sie sind ursprünglich alle verknüpft mit Handlungen, welche Ekstase erzeugen oder symbolisieren, und die Vorübung darauf hat den Zweck, die Fähigkeit dafür zu erproben und zu wecken. [312] Vgl. oben, S. 204, Anm. 70.
Die Ekstase als Mittel der „Erlösung“ oder „Selbstvergottung“, als welches sie uns hier allein angeht, kann mehr den Charakter einer akuten Entrücktheit und Besessenheit oder mehr den chronischen eines, je nachdem, mehr kontemplativ oder mehr aktiv gesteigerten spezifisch religiösen Habitus, sei es im Sinne einer größeren Lebensintensität oder auch Lebensfremdheit[,] haben. Für die Erzeugung der lediglich akuten Ekstase war natürlich nicht die planvolle Heilsmethodik der Weg, sondern ihr dienten vorzüglich die Mittel zur Durchbrechung aller organischen Gehemmtheiten: die Erzeugung akuten toxischen (alkoholisch oder durch Tabak oder andere Gifte erzielten) oder musikalisch-orchestrischen oder erotischen Rausches (oder aller drei Arten zusammen): die Orgie. Oder man provozierte bei dazu Qualifizierten hysterische oder epileptoide Anfälle, welche die orgiastischen Zustände bei den andern hervorriefen. Diese akuten Ekstasen sind aber der Natur der Sache und auch der Absicht nach transitorisch. Sie hinterlassen für den Alltagshabitus wenig positive Spuren. Und sie entbehren des „sinnhaften“ Gehalts, den die prophetische Religiosität entfaltet. Die milderen Formen einer, je nachdem, mehr traumhaft (mysti[313]schen) als „Erleuchtung“ oder mehr aktiv (ethischen) als Bekehrung empfundenen Euphorie, scheinen dagegen den dauernden Besitz des charismatischen Zustands sicherer zu verbürgen, ergeben eine sinnhafte Beziehung zur „Welt“ und entsprechen qualitativ den Wertungen einer „ewigen“ Ordnung oder eines ethischen Gottes, wie ihn die Prophetie verkündet. Schon die Magie kennt, wie wir sahen,
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eine systematische Heilsmethodik zur „Erweckung“ der charismatischen Qualitäten neben der nur akuten Orgie. Denn der Berufszauberer und Berufskrieger bedarf nicht nur der akuten Ekstase, sondern des charismatischen Dauerhabitus. Die Propheten einer ethischen Erlösung bedürfen aber des orgiastischen Rausches nicht nur nicht, – er steht der systematischen ethischen Lebensführung, die sie verlangen, geradezu im Wege. Gegen ihn vornehmlich, gegen den menschenunwürdigen und tierquälerischen Rauschkult des Somaopfers, wendet sich daher der zornige ethische Rationalismus Zarathustras [313] Siehe oben, S. 305 und S. 311 f.
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ganz ebenso wie derjenige des Moses gegen die Tanzorgie Die aus arischer Zeit stammende iranische Gottheit des Opfertrankes Haoma (entspricht dem indischen Soma) erhielt einen Anteil vom Fleisch der geopferten Stiere (Yasna 11, 4–7). Vgl. oben, S. 202, Anm. 68.
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und wie die meisten Stifter oder Propheten ethisch rationaler Religionen gegen die „Hurerei“, d. h. gegen die orgiastische Tempelprostitution sich gewendet haben. Mit zunehmender Rationalisierung wird das Ziel der religiösen Heilsmethodik daher immer mehr die Herabstimmung des durch die Orgie erreichten akuten Rauschs in einen chronisch und vor allem bewußt besessenen Habitus. Die Entwicklung ist dabei auch durch die Art der Konzeption des „Göttlichen“ bedingt. Überall bleibt zunächst natürlich der höchste Zweck, dem die Heilsmethodik dienen kann, der gleiche, dem in akuter Form auch die Orgie dient: die Inkarnation übersinnlicher Wesen, nunmehr also: eines Gottes, im Menschen: die Selbstvergottung. Nur soll dies jetzt möglichst zu einem Dauerhabitus werden. Die Heilsmethodik ist also auf diesseitigen Besitz des Göttlichen selbst ausgerichtet. Wo nun aber ein allmächtiger überweltlicher Gott den Kreaturen gegenübersteht, da kann Ziel der Heilsmethodik nicht mehr die Selbstvergottung in diesem Sinn sein, sondern die Errin[314]gung der von jenem Gott geforderten religiösen Qualitäten: sie wird damit jenseitig und ethisch orientiert, will nicht Gott „besitzen“ – das kann man nicht – sondern entweder 1. Gottes „Werkzeug“ oder 2. von ihm zuständlich erfüllt sein. Der zweite Habitus steht ersichtlich der Selbstvergottungsidee näher als der erste. Dieser Unterschied hat, wie später zu erörtern sein wird, Vgl. oben, S. 222, Anm. 16.
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wichtige Folgen für die Art der Heilsmethodik selbst. Aber zunächst besteht in wichtigen Punkten Übereinstimmung. Das Nichtgöttliche ist es ja in beiden Fällen, das vom Alltagsmenschen abgestreift werden muß, damit er einem Gott gleich sein könne. Und das Nichtgöttliche ist vor allem der Alltagshabitus des menschlichen Körpers und [A 308]die Alltagswelt so, wie beide naturhaft gegeben sind. Hier knüpft die soteriologische Heilsmethodik direkt an die [314] Siehe unten, S. 320 ff.
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magische an, deren Methoden sie nur rationalisiert und ihren andersartigen Vorstellungen vom Wesen des Übermenschlichen und von dem Sinn des religiösen Heilsbesitzes anpaßt. Die Erfahrung lehrte, daß durch hysterisierende „Abtötung“ es bei Qualifizierten möglich war, den Körper unempfindlich oder kataleptisch starr zu machen, ihm allerhand Leistungen zuzumuten, welche eine normale Innervation niemals hervorbringen konnte, daß gerade dann besonders leicht alle Arten visionärer und pneumatischer Vorgänge, Zungenreden, hypnotische und andere suggestive Macht bei den[314]A: ihre
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einen, Leibhaftigkeitsgefühle, Dispositionen zur mystischen Erleuchtung und ethischen Bekehrung, zu tiefem Sündenschmerz und frohem Gottinnigkeitsgefühl, oft in jähem Wechsel miteinander, bei den andern sich einstellten, daß dagegen all dies bei rein „naturhafter“ Hingabe an die Funktionen und Bedürfnisse des Körpers oder an ablenkende Alltagsinteressen wieder dahinschwand. Die Konsequenzen daraus für das Verhalten zur naturhaften Körperlichkeit und zum sozialen und ökonomischen Alltag sind bei entwickelter Erlösungssehnsucht überall irgendwie gezogen worden. A: dem
Die spezifischen Mittel der soteriologischen Heilsmethodik sind in ihrer raffiniertesten Entwicklung fast alle indischer Provenienz. Sie sind dort in unbezweifelbarer Anlehnung an die Methodik ma[315]gischen Geisterzwangs entfaltet worden. In Indien selbst haben diese Mittel zunehmend die Tendenz gehabt, zur Selbstvergottungsmethodik zu werden[,] und haben dort auch diesen Charakter nie wieder ganz verloren. Er ist vorherrschend vom Soma-Rauschkult der altvedischen Zeit bis zu den sublimen Methoden der Intellektuellenekstase einerseits und andererseits zu der die volkstümlichste hinduistische Religiosität: den Krischnakult, noch bis heute in grober oder feiner Form beherrschenden erotischen (realen oder in der Phantasie im Kult innerlich vollzogenen) Orgie. Durch den Sufismus ist die sublimierte Intellektuellenekstase sowohl wie andererseits auch die Derwischorgie, wenn auch in gemilderter Form, in den Islam getragen worden. Inder sind, bis nach Bosnien hinein (nach einer authentischen Mitteilung Dr. Franks
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[315] In A bindet die Anmerkung der Erstherausgeber an: 1) Etwa 1912–13 geschrieben.
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aus den letzten Monaten) noch jetzt dort deren typische Träger. Die beiden größten religiös-rationalistischen Mächte der Geschichte: die römische Kirche im Okzident, der Konfuzianismus in China haben sie in diesen Gebieten konsequent unterdrückt oder doch zu den Formen der bernhardinischen halberotischen Mystik, der Marieninbrunst und des Quietismus der Gegenreformation oder dem Zinzendorfschen Gefühlspietismus sublimiert. Der spezifisch außeralltägliche, das Handeln im Alltag entweder gar nicht oder jedenfalls nicht im Sinne einer gesteigerten Rationalisierung und Systematisierung beeinflussende Charakter aller orgiastischen und speziell aller erotischen Kulte ist in der negativen Bedeutung der hinduistischen und ebenso (im allgemeinen) der Derwisch-Religiosität für die Schaffung einer Methodik der Alltagslebensführung greifbar. [315] Der Sachverhalt konnte nicht aufgeklärt werden. Vermutlich handelt es sich um eine mündliche Mitteilung an Max Weber, die er von dem Straßburger Orientalisten und Assyrologen Carl Frank (1881–1945) oder aber von dem in Heidelberg promovierten Philosophen Erich Frank (1883–1949) erhalten haben könnte. Erich Frank gehörte zum Bekanntenkreis von Max und Marianne Weber.
Die Entwicklung zur Systematisierung und Rationalisierung der Aneignung religiöser Heilsgüter richtete sich aber gerade auf die Beseitigung dieses Widerspruchs zwischen alltäglichem und außeralltäglichem religiösem Habitus. Aus der unermeßlichen Fülle jener inneren Zuständlichkeiten, welche die Heilsmethodik erzeu[316]gen konnte, schälten sich schließlich einige wenige deshalb als eigentlich zentral heraus, weil sie nicht nur eine außeralltägliche, seelisch-körperliche Einzelverfassung darstellten, sondern das sichere und kontinuierliche Haben des spezifischen religiösen Heilsguts in sich zu schließen schienen: die Gnadengewißheit („certitudo salutis“, „perseverantia gratiae“). Die Gnadengewißheit mochte nun mehr mystische oder mehr aktiv ethische Färbung haben – wovon sehr bald zu reden sein wird
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–, in jedem Fall bedeutete sie den bewußten Besitz einer dauernden einheitlichen Grundlage der Lebensführung. Im Interesse der Bewußtheit des religiösen Besitzes tritt an Stelle der Orgie einerseits, der irra[A 309]tionalen, lediglich irritierenden und emotionellen Abtötungsmittel andererseits, zunächst die planvolle Herabsetzung der körperlichen Funktionen: kontinuierliche Unterernährung, sexuelle Enthaltung, Regulierung der Atemfrequenz u. dgl. Ferner das Trainieren der seelischen Vorgänge und des Denkens in der Richtung systematischer Konzentration der Seele auf das religiös allein Wesentliche: die indische Yoga-Technik, die kontinuierliche Wiederholung heiliger Silben (des „Om“),[316] Siehe unten, S. 320 ff.
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das Meditieren über Kreise und andere Figuren, das Bewußtsein planmäßig „entleerende“ Exerzitien u. dgl. Im Interesse der Dauer und Gleichmäßigkeit des religiösen Besitzes aber führt die Rationalisierung der Heilsmethodik schließlich wieder auch darüber hinaus und, scheinbar gerade umgekehrt, zu einer planvollen Begrenzung der Übungen auf solche Mittel, welche die Kontinuierlichkeit des religiösen Habitus verbürgten und das bedeutete: zur Ausschaltung aller hygienisch irrationalen Mittel. Denn wie jede Art von Rausch, die orgiastische Heldenekstase ebenso wie die erotischen Orgien und der Tanzrausch unvermeidlich mit physischem Kollaps wechselte, so die hysterische Erfülltheit vom Pneuma mit dem psychischen Kollaps, religiös gewendet: mit Zuständen tiefster Gottverlassenheit. Und wie deshalb die Pflege disziplinierten kriegerischen Heldentums bei den Hellenen die Heldenekstase schließlich zur stetigen Ausgeglichenheit der „Sophrosyne“ Ein numinoser Urlaut, eine mantrische Silbe, die als Manifestation der spirituellen Macht gilt.
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ausbalancierte, welche nur die rein musikalisch-[317]rhythmisch erzeugten Formen der Ekstasis duldete und auch dabei – ganz ebenso, nur nicht so weitgehend wie der die Pentatonik allein zulassendc konfuzianische Rationalismus – sehr sorgsam das „Ethos“ der Musik Besonnenheit, Selbstbeherrschung, Sittlichkeit, Mäßigung.
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als „politisch“ richtig abwog,[317]A: Musik,
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so entwickelte sich die mönchische Heilsmethodik immer rationaler, in Indien ebenso bis zu derjenigen des alten Buddhismus, wie im Abendland bis zu der Methodik des historisch wirksamsten Mönchsordens: der Jesuiten. Immer mehr wird die Methodik dabei zu einer Kombination physischer und psychischer Hygienik mit ebenso methodischer Regulierung alles Denkens und Tuns, nach Art und Inhalt, im Sinn der vollkommensten wachen, willensmäßigen und triebfeindlichen Beherrschung der eigenen körperlichen und seelischen Vorgänge und einer systematischen Lebensreglementierung in Unterordnung unter den religiösen Zweck. Der Weg zu diesem Ziel und der nähere Inhalt des Zieles selbst sind an sich nicht eindeutig, und die Konsequenz der Durchführung der Methodik ist ebenfalls sehr schwankend. [317] Weber greift einen musikwissenschaftlichen Sachverhalt auf, den er in seiner vermutlich 1912/13 abgefaßten (vgl. Braun, Christoph, Max Webers „Musiksoziologie“. – Laaber: Laaber-Verlag 1992, S. 13, der von einem Abfassungsdatum zwischen Sommer 1912 und Frühjahr 1913 ausgeht) Schrift „Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik“ erläutert hat: „Die Pentatonik geht nun häufig mit einer durch das ,Ethos‘ der Musik bedingten Meldung des Halbtonschrittes Hand in Hand. […]. Die Chromatik ist der alten Kirche ganz ebenso wie z. B. den älteren Tragikern der Hellenen und der bürgerlich rationalen konfuzianischen Musiklehre antipathisch“. (Weber, Musik-Studie, wie oben, S. 130, Anm. 16, S. 12). „Pentatonik“ bezeichnet ein fünfstufiges Tonsystem sowie das Musizieren mit fünfstufigen Tonleitern.
Gleichviel aber nun, mit welchem Ziel und wie sie durchgeführt wird, so ist dabei die Grunderfahrung aller und jeder auf einer systematischen Heilsmethodik ruhenden Religiosität die Verschiedenheit der religiösen Qualifikation der Menschen. Wie nicht jeder das Charisma besaß, die Zustände, welche die Wiedergeburt zum magischen Zauberer herbeiführten, in sich hervorzurufen, so auch nicht jeder das Charisma, jenen spezifisch religiösen Habitus im Alltag kontinuierlich festzuhalten, welcher die dauernde Gnadengewißheit verbürgte. Die Wiedergeburt schien also nur einer Aristokratie der religiös Qualifizierten zugänglich. Ebenso wie die magisch qualifizierten Zauberer, so bildeten daher die ihre Erlösung methodisch erarbeitenden religiösen Virtuosen überall einen [318]besonderen religiösen „Stand“ innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen, dem oft auch das spezifische jeden Standes, eine besondere soziale Ehre, innerhalb ihres Kreises zukam. In Indien befassen sich in diesem Sinne alle heiligen Rechte mit den Asketen, die indischen Erlösungsreligionen sind Mönchsreligionen, im frühen Christentum werden sie in den Quellen als eine Sonderkategorie unter den Gemeindegenossen aufgeführt und bilden später die Mönchsorden, im Protestantismus die asketischen Sekten oder die pietistischen ecclesiae, unter den Juden bilden die Peruschim (Pharisaioi) eine Heilsaristokratie gegenüber den Amhaarez, im Islam die Derwische und innerhalb ihrer wieder deren Virtuosen, die eigentlichen Sufis, im Skopzentum die esoterische Gemeinde der Kastraten. Wir werden uns mit diesen wichtigen soziologischen Konsequenzen noch zu befassen haben.
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[318] Siehe unten, S. 369 f.
[A 310]In ihrer gesinnungsethischen Interpretation bedeutet die Heilsmethodik praktisch stets: Überwindung bestimmter Begehrungen oder Affekte der religiös nicht bearbeiteten rohen Menschennatur. Ob mehr die Affekte der Feigheit oder die der Brutalität und Selbstsucht oder die der sexuellen Sinnlichkeit oder welche sonst das vornehmlich zu Bekämpfende, weil am meisten vom charismatischen Habitus Ablenkende ist, bleibt Frage des speziellen Einzelfalls und gehört zu den wichtigsten inhaltlichen Charakteristiken jeder Einzelreligion. Stets aber ist eine in diesem Sinn methodische religiöse Heilslehre eine Virtuosenethik. Stets verlangt sie, wie das magische Charisma, die Bewährung des Virtuosentums. Ob der religiöse Virtuose ein welterobernder Ordensbruder, wie der Moslem in der Zeit Omars, oder ein Virtuose der weltablehnenden Askese, wie meist der christliche und, in geringerer Konsequenz, der jainistische, oder ein solcher der weltablehnenden Kontemplation, wie der buddhistische Mönch, ein Virtuose des passiven Märtyrertums wie der antike Christ oder ein Virtuose der innerweltlichen Berufstugend, wie der asketische Protestant, der formalen Gesetzlichkeit wie der pharisäische Jude oder der akosmistischen Güte wie der heilige Franz ist, in jedem Fall hat er – wie wir schon feststellten
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– die echte Heilsgewißheit nur dann, wenn sich seine Vir[319]tuosengesinnung unter Anfechtungen ihm selbst stets erneut bewährt. Diese Bewährung der Gnadengewißheit sieht nun aber verschieden aus[,] je nach dem Charakter, den das religiöse Heil selbst hat. Immer schließt sie die Behauptung des religiösen und ethischen Standard, also die Vermeidung wenigstens ganz grober Sünden ein, für den buddhistischen Arhat ebenso wie für den Urchristen. Ein religiös Qualifizierter, im Urchristentum also: ein Getaufter, kann, und folglich: darf nicht mehr in eine Todsünde fallen. Siehe oben, S. 305.
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„Todsünden“ sind diejenigen Sünden, welche die religiöse Qualifikation aufheben, deshalb unvergebbar oder doch nur durch einen charismatisch Qualifizierten, auf dem Wege ganz neuer Begnadung mit dem religiösen Charisma, dessen Verlust sie dokumentieren, absolvierbar sind. Als diese Virtuosenlehre innerhalb der altchristlichen Massengemeinden praktisch unhaltbar wurde, hielt die Virtuosenreligiosität des Montanismus konsequent die eine Forderung fest: daß zum mindesten die Feigheitssünde unvergebbar bleiben müsse, [319] Der 1. Johannesbrief unterscheidet eine Sünde, die zum Tode führt, von anderen Sünden, die das nicht tun (5, 16). Glaubensabfall, Mord, Ehebruch und Hurerei wurden in der Alten Kirche als solche Sünden aufgefaßt. Da getaufte Christen durch solche Sünden ihr Heil aufs Spiel setzten, zogen es viele von ihnen vor, möglichst lange im Stand der Katechumenen zu bleiben und die Taufe aufzuschieben.
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– ganz ebenso wie die islamische kriegerische Heldenreligion die Apostasie ausnahmslos mit dem Tode bestrafte, Tertullian, der sich seit ungefähr 203 n. Chr. zum Montanismus bekannte, ist ein glaubwürdiger Zeuge für die Stellung des Montanismus zum Martyrium. In seiner Schrift: De fuga in persecutione behandelte er die drängende Frage, ob Christen bei Verfolgungen die Flucht gestattet sei. Tertullian verneinte dies mit dem Hinweis auf den Apostel Paulus, der statt einer Flucht die Standhaftigkeit befohlen habe. Man solle nicht wünschen, im Bett zu sterben, sondern in Martyrien, damit der verherrlicht werde, der für die Menschen gelitten habe (ebd., 9).
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– und trennte sich von der Massenkirche der Alltagschristen, als innerhalb dieser die dezianische und diokletianische Verfolgung Von dem Vetter des Propheten, ʿAbd Allāh b. AI-ʿAbbās, Beiname Abu’l-ʿAbbās (auch Ibn ʿAbbās genannt), ist folgender Ausspruch des Propheten Mohammed überliefert: „Wer seine Religion wechselt, den tötet“ bzw. „den enthauptet“ (etwa Ibn Māǧa, Ḥudūd, B. 2). Nach einer anderen Tradition des Ibn ʿAbbās und der ʿĀʾiša soll der Prophet erlaubt haben, das Blut dessen zu vergießen, „der seine Religion verlässt und sich von der Gemeinde trennt“ (etwa AI-Buḫarī, Diyāt, B. 10).
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auch diese Forderung vom Standpunkt der Interessen des Priesters an der quantitativen Erhaltung des Gemeindebestandes [320]undurchführbar machte. Im übrigen aber ist der positive Charakter der Heilsbewährung und also auch des praktischen Verhaltens, wie schon mehrfach angedeutet, Gemeint sind die Christenverfolgungen unter den römischen Kaisern Dezius und Diokletian in den Jahren 249 bis 251 und 303 bis 311.
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grundsätzlich verschieden vor allem je nach dem Charakter jenes Heilsguts, dessen Haben die Seligkeit verbürgt. [320] Siehe etwa oben, S. 301 f. und S. 304 f.
Entweder ist dies eine spezifische Gabe aktiv ethischen Handelns mit dem Bewußtsein, daß Gott dies Handeln lenke: daß man Gottes Werkzeug sei. Wir wollen für unsere Zwecke diese Art der durch religiöse Heilsmethodik bedingten Stellungnahme eine religiös-„asketische“ nennen – ohne irgendwie zu bestreiten, daß man den Ausdruck sehr wohl auch in anderem, weiteren Sinn brauchen kann und braucht:
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der Gegensatz dazu wird später deutlich werden. Weber könnte sich hier auf Willy Hellpach beziehen, für den die Wirkung von Askese „in einer Steigerung der Einfühlbarkeit, im Verlust der Beherrschung eigener Miterregung durch fremde Gemütserregungen“ besteht. Askese sei „weiter nichts als methodische Erschöpfung, die an sich schon Übererregung in sich schließt, und diese Übererregung selber meist noch methodisch in die Höhe geschraubt durch positiv erregende Maßnahmen, wie Geißelungen und Selbstpeinigungen aller Art“. (Hellpach, Willy, Die geistigen Epidemien (Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien, hg. von Martin Buber, Band 11). – Frankfurt a.M.: Rütten & Loening 1906, beide Zitate S. 68; hinfort: Hellpach, Geistige Epidemien).
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Dann führt die religiöse Virtuosität stets dazu, neben der Unterwerfung der Naturtriebe unter die systematisierte Lebensführung auch die Beziehung zum sozialen Gemeinschaftsleben mit seinen unvermeidlich nicht heroischen, sondern utilitarisch konventionellen Tugenden einer ganz radikalen, religiös-ethischen Kritik zu unterwerfen. Die bloße „natürliche“ Tugend innerhalb der Welt gewährleistet nicht nur das Heil nicht, sie gefährdet es durch Hinwegtäuschen über das eine, was allein not tut. Die sozialen Beziehungen, die „Welt“ im Sinne des religiösen Sprachgebrauchs, ist daher Versuchung nicht nur als Stätte der vom Göttlichen gänzlich abziehenden, ethisch irrationalen Sinnenlust, sondern noch mehr als Stätte selbstgerechter Genügsamkeit mit der Erfüllung jener landläufigen Pflichten des religiösen [A 311]Durchschnittsmenschen auf Kosten der alleinigen Konzentration des Handelns auf die aktiven Erlösungsleistungen. Diese Konzentration kann ein förmliches Ausscheiden aus der „Welt“, aus den sozialen und seelischen Banden der Familie, des Besitzes, der politischen, ökonomischen, [321]künstlerischen, erotischen, überhaupt aller kreatürlichen Interessen notwendig, jede Betätigung in ihnen als ein von Gott entfremdendes Akzeptieren der Welt erscheinen lassen: weltablehnende Askese. Oder sie kann umgekehrt die Betätigung der eigenen spezifisch heiligen Gesinnung, der Qualität als erwählten Werkzeugs Gottes gerade innerhalb und gegenüber den Ordnungen der Welt verlangen: innerweltliche Askese. Die Welt wird im letzteren Fall eine dem religiösen Virtuosen auferlegte „Pflicht“. Entweder in dem Sinn, daß die Aufgabe besteht, sie den asketischen Idealen gemäß umzugestalten. Dann wird der Asket ein rationaler „naturrechtlicher“ Reformer oder Revolutionär, wie ihn das „Parlament der Heiligen“ Siehe unten, S. 323 ff. und S. 332 ff.
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unter Cromwell, der Quäkerstaat [321] Für das sog. „Barebone’s Parliament“ (4. Juli–12. Dezember 1653), auch „kurzes Parlament“ genannt, hatte Cromwell besonders gläubige und integre Persönlichkeiten nominieren lassen. Das „Barebone’s Parliament“ zeichnete sich durch seinen Reformeifer aus. (Vgl. MWG I/19, S. 442 mit der Hg.-Anm. 60).
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und in anderer Art der radikale pietistische Konventikel-Kommunismus Der Quäkerführer William Penn (1644–1718) errichtete im nordamerikanischen Pennsylvania ab 1681 ein Gemeinwesen, in dem uneingeschränkte religiöse Toleranz und politische Freiheit herrschen sollten, das keinerlei Unterschiede machte zwischen Hautfarbe und Herkunft seiner Bürger und auf eine bewaffnete Polizei- und Militärmacht verzichtete (das sog. „holy experiment“).
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gekannt hat. Stets aber wird dann, infolge der Verschiedenheit der religiösen Qualifikation, ein solcher Zusammenschluß des Asketentums eine aristokratische Sonderorganisation innerhalb oder eigentlich außerhalb der Welt der Durchschnittsmenschen, die sie umbrandet – darin von „Klassen“ prinzipiell nicht unterschieden. Sie kann die Welt vielleicht beherrschen, aber nicht in ihrer Durchschnittsqualität auf die Höhe des eigenen Virtuosentums heben. Alle religiös rationalen Vergesellschaftungen haben diese Selbstverständlichkeit, wenn sie sie ignorieren, in ihren Konsequenzen an sich erfah[322]ren müssen. Die Welt als Ganzes bleibt, asketisch gewertet, eine „massa perditionis“. Weber könnte hier an angelsächische Gruppen denken, die aus der Bergpredigt die politische Folgerung zogen, es dürfe im Reich Gottes kein Privateigentum geben. Die Gruppe der levellers und diggers kämpfte in den 1640er Jahren in England für eine radikal kommunistische Gesellschaft, in der allen alles gehören sollte. In den USA kam es vom Ende des 18. Jahrhunderts an zu kommunistischen Siedlungsexperimenten protestantischer Sekten. Weber könnte auch an deutsche Pietisten denken. Die von Philipp Jakob Spener seit Mitte der 1670er Jahre ausgelöste pietistische Bewegung predigte einen gemäßigten Chiliasmus, der die Errichtung eines tausendjährigen Reiches nicht von Menschenhand, sondern durch Christus erwartete. Diese Bewegung nährte im 18. und 19. Jahrhundert Hoffnungen auf einen gesellschaftlichen Umsturz und eine Aufhebung von Privateigentum.
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Also bleibt die andere Alternative eines Verzichts darauf, daß sie den religiösen Ansprüchen genüge. Wenn nun dennoch die Bewährung innerhalb ihrer Ordnungen erfolgen soll, so wird sie eben gerade, weil sie unvermeidlich von Natur aus[322] Der Begriff „massa perditionis“ (lat.: Masse von Verderben) entspricht der „massa damnata“ oder der „massa peccati“ und stammt aus der Gnadenlehre des Augustinus: Die Erbsünde mache die Menschen nach dem Sündenfall Adams zu einer einzigen „Sündenmasse“, die die Verdammung durch Gott verdiene.
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Gefäß der Sünde bleibt, gerade um der Sünde willen und zu deren möglichster Bekämpfung in ihren Ordnungen eine „Aufgabe“ für die Bewährung der asketischen Gesinnung. Sie verharrt in ihrer kreatürlichen Entwertetheit: eine genießende Hingabe an ihre Güter gefährdet die Konzentration auf das Heilsgut und dessen Besitz und wäre Symptom unheiliger Gesinnung und fehlender Wiedergeburt. Aber die Welt ist dennoch, als Schöpfung Gottes, dessen Macht sich in ihr trotz ihrer Kreatürlichkeit auswirkt, das einzige Material, an welcher das eigene religiöse Charisma durch rationales ethisches Handeln sich bewähren muß, um des eigenen Gnadenstandes gewiß zu werden und zu bleiben. Als Gegenstand dieser aktiven Bewährung werden die Ordnungen der Welt für den Asketen, der in sie gestellt ist, zum „Beruf“, den es rational zu „erfüllen“ gilt. Verpönt also ist der Genuß von Reichtum, – „Beruf“ aber die rational ethisch geordnete, in strenger Legalität geführte Wirtschaft, deren Erfolg, also: Erwerb, Gottes Segen für die Arbeit des Frommen und also die Gottgefälligkeit seiner ökonomischen Lebensführung sichtbar macht. Verpönt ist jeder Überschwang des Gefühls für Menschen als Ausdruck einer den alleinigen Wert der göttlichen Heilsgabe verleugnenden Vergötterung des Kreatürlichen, – „Beruf“ aber die rational nüchterne Mitarbeit an den durch Gottes Schöpfung gesetzten sachlichen Zwecken der rationalen Zweckverbände der Welt. Verpönt ist die kreaturvergötternde Erotik, – gottgewollter Beruf „eine nüchterne Kindererzeugung“ (wie die Puritaner es ausdrücken)[322]A: natürlich
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innerhalb [323]der Ehe. Verpönt ist Gewalt des Einzelnen gegen Menschen, aus Leidenschaft oder Rachsucht, überhaupt aus persönlichen Motiven – gottgewollt aber die rationale Niederhaltung und Züchtigung der Sünde und Widerspenstigkeit im zweckvoll geordneten Staate. Verpönt ist persönlicher weltlicher Machtgenuß als Kreaturvergötterung, – gottgewollt die Herrschaft der rationalen Ordnung des Gesetzes. Der „innerweltliche Asket“ ist ein Rationalist sowohl in dem Sinn rationaler Systematisierung seiner eigenen persönlichen Lebensführung, wie in dem Sinn der Ablehnung alles ethisch Irrationalen, sei es Künstlerischen, sei es persönlich Gefühlsmäßigen innerhalb der Welt und ihrer Ordnung. [A 312]Stets aber bleibt das spezifische Ziel vor allem: „wache“ methodische Beherrschung der eigenen Lebensführung. In erster Linie, aber je nach seinen einzelnen Abschattierungen in verschiedener „Konsequenz“, der asketische Protestantismus, welcher die Bewährung innerhalb der Ordnungen der Welt als einzigen Erweis der religiösen Qualifikationen kannte, gehörte diesem Typus der „innerweltlichen Askese“ an. Weber zitiert hier in Übersetzung einen Ausdruck Richard Baxters, den er in seiner „Protestantischen Ethik“ auf Englisch anführte: „‚A sober procreation of children‘ ist ihr [der Ehe] Zweck nach Baxter“. (Weber, Protestantische Ethik II, S. 79, Fn. 12). Bei Gerhart von Schulze-Gävernitz, Britischer Imperialismus und englischer Freihandel. – Leip[323]zig: Duncker & Humblot 1906, S. 47, heißt es: „Der Puritanismus war es, welcher die sexuelle Enthaltsamkeit einzelner Zölibatäre durch eine allen zuzumutende innerweltliche Askese übertrumpfte. Der Begattungsakt, gleichviel ob innerhalb oder außerhalb der Ehe, erscheint als sündhafter Genuß, wenn er lediglich zur Befriedigung des Geschlechtstriebes erfolgt. Die Ehe gilt als weltlicher Vertrag zum Zwecke der Kinderzeugung und Kinderaufzucht. Mit diesem Zwecke aber gewinnt sie zugleich eine ideale Bedeutung: sie dient der Ausbreitung des Reiches Gottes auf Erden durch die Ausbreitung der Menschheit“.
Oder: das spezifische Heilsgut ist nicht eine aktive Qualität des Handelns, also nicht das Bewußtsein der Vollstreckung eines göttlichen Willens, sondern eine Zuständlichkeit spezifischer Art. In vorzüglichster Form: „mystische Erleuchtung“. Auch sie ist nur von einer Minderheit spezifisch Qualifizierter und nur durch eine systematische Tätigkeit besonderer Art: „Kontemplation“, zu erringen. Die Kontemplation bedarf, um zu ihrem Ziel zu gelangen, stets der Ausschaltung der Alltagsinteressen. Nur wenn das Kreatürliche im Menschen völlig schweigt, kann Gott in der Seele reden, nach der Erfahrung der Quäker, mit welcher nicht den Worten, wohl aber der Sache nach, alle kontemplative Mystik, von Laotse und Buddha bis zu Tauler, übereinstimmt. Die Konsequenz kann die absolute Weltflucht sein. Diese kontemplative Weltflucht, [324]wie sie dem alten Buddhismus und in gewissem Maße fast allen asiatischen und vorderasiatischen Formen der Erlösung eigentümlich ist, sieht der asketischen Weltanschauung ähnlich, ist aber dennoch streng von ihr zu scheiden. Die weltablehnende Askese im hier gebrauchten Sinn des Worts ist primär auf Aktivität eingestellt. Nur Handeln bestimmter Art hilft dem Asketen diejenigen Qualitäten erreichen, welche er erstrebt, und diese wiederum sind solche eines aus göttlicher Gnade heraus Handeln-Könnens. In dem Bewußtsein, daß ihm die Kraft zum Handeln aus dem Besitz des zentralen religiösen Heils zufließe und er Gott damit diene, gewinnt er stets erneut die Versicherung seines Gnadenstandes. Er fühlt sich als Gotteskämpfer, einerlei, wie der Feind und die Mittel seiner Bekämpfung aussehen, und die Weltflucht selbst ist psychologisch keine Flucht, sondern ein immer neuer Sieg über immer neue Versuchungen, mit denen er immer erneut aktiv zu kämpfen hat. Der weltablehnende Asket hat mindestens die negative innere Beziehung vorausgesetzten Kampfes zur „Welt“. Man spricht deshalb bei ihm zweckmäßigerweise von „Weltablehnung“, nicht von „Weltflucht“, die vielmehr den kontemplativen Mystiker kennzeichnet. Die Kontemplation dagegen ist primär das Suchen eines „Ruhens“ im Göttlichen und nur in ihm. Nichthandeln, in letzter Konsequenz Nichtdenken, Entleerung von allem, was irgendwie an die „Welt“ erinnert, jedenfalls absolutes Minimisieren alles äußeren und inneren Tuns sind der Weg, denjenigen inneren Zustand zu erreichen, der als Besitz des Göttlichen, als unio mystica mit ihm, genossen wird: einen spezifischen Gefühlshabitus also, der ein „Wissen“ zu vermitteln scheint. Mag dabei nun subjektiv mehr der besondere außerordentliche Inhalt dieses Wissens oder mehr die gefühlsmäßige Färbung seines Besitzes im Vordergrunde stehen, objektiv entscheidet die letztere. Denn das mystische Wissen ist, je mehr
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es den spezifischen Charakter eines solchen hat, desto inkommunikabler: daß es trotzdem als Wissen auftritt, gibt ihm gerade seinen spezifischen Charakter. Es ist keine neue Erkenntnis irgendwelcher Tatsachen oder Lehrsätze, sondern das Erfassen eines einheitlichen Sinnes der Welt und in dieser Wortbedeutung, wie immer wieder in mannigfachster Formulierung von den Mysti[325]kern ausgesagt wird, ein praktisches Wissen. Seinem zentralen Wesen nach ist es vielmehr ein „Haben“, von dem aus jene praktische Neuorientierung zur Welt, unter Umständen auch neue kommunikable „Erkenntnisse“ gewonnen werden. Diese Erkenntnisse aber sind Erkenntnisse von Werten und Unwerten innerhalb der Welt. Sie interessieren uns hier nicht, sondern jene negative Wirkung auf das Handeln, welche im Gegensatz zur Askese im hier gebrauchten Wortsinn aller Kontemplation eigen ist. Der Gegensatz ist selbstverständlich, wie, vorbehaltlich eingehender Erörterung,[324]A: jemehr
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schon hier sehr nachdrücklich betont sei, überhaupt und in ganz besonderem Maße zwischen weltablehnender Askese und weltflüchtiger Kontemplation flüssig. Denn zunächst muß die welt[A 313]flüchtige Kontemplation zum mindesten mit einem erheblichen Grade systematisch rationalisierter Lebensführung verbunden sein. Nur diese führt ja zur Konzentration auf das Heilsgut. Aber sie ist nur das Mittel, das Ziel der Kontemplation zu erreichen, und die Rationalisierung ist wesentlich negativer Art und besteht in der Abwehr der Störungen durch Natur und soziale Umwelt. Damit wird die Kontemplation keineswegs ein passives Sichüberlassen an Träume, auch nicht eine einfache Autohypnose, obwohl sie dieser in der Praxis nahekommen kann. Sondern der spezifische Weg zu ihr ist eine sehr energische Konzentration auf gewisse „Wahrheiten“, wobei nur für den Charakter des Vorgangs entscheidend ist: daß nicht der Inhalt dieser, für den Nichtmystiker oft sehr einfach aussehenden, Wahrheiten, sondern die Art ihrer Betontheit und die zentrale Stellung, in welche sie dadurch innerhalb des Gesamtaspekts der Welt rücken und diesen einheitlich bestimmen, entscheidet. Durch noch so eindeutiges Begreifen und selbst durch ausdrückliches Fürwahrhalten der scheinbar höchst trivialen Sätze des buddhistischen Zentraldogmas[325] Siehe unten, S. 333.
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wird jemand noch kein Erleuchteter. Die Denkkonzentration und eventuelle sonstige heilsmethodische Mittel sind aber nur der Weg zum Ziel. Dieses Ziel selbst besteht vielmehr ausschließlich in der einzigarti[326]gen Gefühlsqualität, praktisch gewendet: in der gefühlten Einheit von Wissen und praktischer Gesinnung, welche dem Mystiker die entscheidende Versicherung seines religiösen Gnadenstandes bietet. Auch dem Asketen ist die gefühlte und bewußte Erfassung des Göttlichen von zentraler Bedeutung. Nur ist dies Fühlen ein sozusagen „motorisch“ bedingtes. Es ist dann vorhanden, wenn er in dem Bewußtsein lebt, daß ihm das einheitlich auf Gott bezogene, rational ethische Handeln als Gottes Werkzeug gelingt. Dies ethische – positiv oder negativ – kämpfende Handeln aber ist für den kontemplativen Mystiker, der niemals „Werkzeug“, sondern nur „Gefäß“ des Göttlichen sein will und kann, eine stete Veräußerlichung des Göttlichen an eine periphere Funktion: Nichthandeln, Carl Friedrich Koeppen charakterisierte das „Grunddogma“ des Buddhismus mit den Worten: „Nur die totale Verneinung des Willens zum Leben, in dessen Bejahung die Natur die Quelle ihres Daseyns hat, kann zur wirklichen Erlösung der Welt führen“. (Koeppen, Religion des Buddha, wie oben, S. 180, Anm. 23, S. 213).
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jedenfalls aber Vermeidung jedes rationalen Zweckhandelns („Handeln mit einem Ziel“) als der gefährlichsten Form der Verweltlichung empfiehlt der alte Buddhismus als Vorbedingung der Erhaltung des Gnadenstandes. Dem Asketen erscheint die Kontemplation des Mystikers als träger und religiös steriler, asketisch verwerflicher Selbstgenuß, als kreaturvergötternde Schwelgerei in selbstgeschaffenen Gefühlen. Der Asket wird, vom Standpunkt des kontemplativen Mystikers aus gesehen, durch sein, sei es außerweltliches, Sichquälen und Kämpfen, vollends aber durch asketisch-rationales innerweltliches Handeln stetig in alle Belastetheit des geformten Lebens mit unlösbaren Spannungen zwischen Gewaltsamkeit und Güte, Sachlichkeit und Liebe verwickelt, dadurch stetig von der Einheit in und mit Gott entfernt und in heillose Widersprüche und Kompromisse hineingezwungen. Der kontemplative Mystiker denkt, vom Standpunkt des Asketen aus gesehen, nicht an Gott und die Mehrung von dessen Reich und Ruhm und an die aktive Erfüllung seines Willens, sondern ausschließlich an sich selbst; er existiert überdies, sofern er überhaupt lebt, schon durch die bloße Tatsache seiner unvermeidlichen Le[327]bensfürsorge in konstanter Inkonsequenz. Am meisten aber dann, wenn der kontemplative Mystiker innerhalb der Welt und ihrer Ordnungen lebt. In gewissem Sinn ist ja schon der weltflüchtige Mystiker von der Welt „abhängiger“ als der Asket. Dieser kann sich als Anachoret selbst erhalten und zugleich in der Arbeit, die er darauf verwendet, seines Gnadenstandes gewiß werden. Der kontemplative Mystiker dürfte, wenn er ganz konsequent bleiben wollte, nur von dem leben, was ihm freiwillig von Natur oder Menschen dargeboten wird: Beeren im Walde und, da diese nirgends dauernd zulänglich sind, von Almosen, – wie dies bei den indischen Sramanen[326] Auf das buddhistische Ideal des Nichthandelns kam Weber auch in seiner Hinduismusstudie zu sprechen: „Die alte Meditation (dhyana), das Suchen nach ‚Entleerung‘ des Bewußtseins, die Ablehnung aller äußeren Kultmittel blieb ihr [einer Mahayanaschule] in starkem Maße eigentümlich. Sie galt – wohl schon wegen der Verwandtschaft mit der Wu-wei-Lehre – lange als die vornehmste und war geraume Zeit die größte der chinesischen Buddhasekten“. (MWG I/20, S. 426). Der taoistische Begriff wu-wei bedeutet „Nichthandeln“ und meint die völlige Entleerung des Ich von allen weltlichen Belangen. Ziel ist der Einklang mit dem Tao, dem Urgrund allen Seins.
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in ihren konsequentesten Spielarten tatsächlich der Fall war (daher das besonders strenge Verbot aller indischen Bhikkṣhu-Regeln [auch der Buddhisten][327] Nach dem „Sutra der 42 Sätze“ wird ein Sramane definiert als „derjenige, welcher, nachdem er seine Verwandten verlassen, vom Hause gezogen, in der Lehre geweilt, die Natur des Geistes erschaut, und das Gesetz des Nichtzusammengesetzten begriffen hat“. (Zitiert nach Koeppen, Religion des Buddha, wie oben, S. 180, Anm. 23, S. 330).
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: irgend etwas nicht freiwillig Gegebenes zu nehmen).[327] [ ] in A; sie indizieren hier keine Hinzufügung des Editors.
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Jedenfalls lebt er von irgendwelchen Gaben der Welt und könnte also nicht leben, wenn die Welt nicht konstant eben das täte, was er für sündig und gottentfremdend hält: Arbeit. Dem [A 314]buddhistischen Mönch insbesondere ist Ackerbau, weil er gewaltsame Verletzung von Tieren im Boden bedingt, die verwerflichste aller Beschäftigungen, – aber das Almosen, das er einsammelt, besteht in erster Linie aus Ackerbauprodukten. Der unvermeidliche Heilsaristokratismus des Mystikers, der die Welt dem für alle Unerleuchteten, der vollen Erleuchtung Unzugänglichen nun einmal unvermeidlichen Schicksal überläßt, – die zentrale, im Grunde einzige Laientugend der Buddhisten ist ursprünglich: Verehrung und Almosenversorgung der [328]allein zur Gemeinde gehörigen Mönche – tritt gerade darin drastisch hervor. Ganz generell „handelt“ aber irgend wer, auch der Mystiker selbst[,] unvermeidlich und minimisiert sein Handeln nur, weil es ihm niemals die Gewißheit des Gnadenstandes geben, wohl aber ihn von der Vereinigung mit dem Göttlichen abziehen kann, während dem Asketen eben durch sein Handeln sich sein Gnadenstand bewährt. Am deutlichsten wird der Kontrast zwischen beiden Verhaltungsweisen, wenn die Konsequenz voller Weltablehnung oder Weltflucht nicht gezogen wird. Der Asket muß, wenn er innerhalb der Welt handeln will, also bei der innerweltlichen Askese, mit einer Art von glücklicher Borniertheit für jede Frage nach einem „Sinn“ der Welt geschlagen sein und darum sich nicht kümmern. Es ist daher kein Zufall, daß die innerweltliche Askese sich gerade auf der Basis der absoluten Unerforschlichkeit der Im „Sutra der Befreiung“ (Pratimôkscha Sûtra), im „Buch der dreizehn Vorschriften“ und im „Ordinationsformular“ wird der buddhistische Mönch darauf verpflichtet, nur von dem zu leben, was ihm freiwillig als Almosen geschenkt wird. (Vgl. Koeppen, Religion des Buddha, wie oben, S. 180, Anm. 23, S. 357). Das Betteln um Lebensmittel ist ihm streng untersagt. Bei Hermann Oldenberg heißt es: „Ein ordinierter Mönch darf nicht nehmen, was ihm nicht gegeben ist, was man Diebstahl nennt – auch nicht einen Grashalm“. (Oldenberg, Buddha, wie oben, S. 180, Anm. 23, S. 358). Webers Schreibweise „bhikkshu“ geht möglicherweise auf eine Vermischung des Sanskritwortes „bhiksu“ mit dem Pali-Wort „bhikkhu“ zurück. (Vgl. die Erläuterungen des Herausgebers in MWG I/ 20, S. 513 und S. 581). Gemeint sind buddhistische Bettelmönche.
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Motive des jedem menschlichen Maßstab entrückten, calvinistischen Gottes am konsequentesten entwickeln konnte. Der innerweltliche Asket ist daher der gegebene „Berufsmensch“, der nach dem Sinn seiner sachlichen Berufsausübung innerhalb der Gesamtwelt[328]A: seiner
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– für welche ja nicht er, sondern sein Gott die Verantwortung trägt – weder fragt noch zu fragen nötig hat, weil ihm das Bewußtsein genügt, in seinem persönlichen rationalen Handeln in dieser Welt den für ihn in seinem letzten Sinn unerforschlichen Willen Gottes zu vollstrecken. Dem kontemplativen Mystiker umgekehrt kommt es gerade auf das Erschauen jenes „Sinnes“ der Welt an, den er in rationaler Form zu „begreifen“ eben um deswillen außerstande ist, weil er ihn als eine Einheit jenseits aller realen Wirklichkeit erfaßt. Nicht immer hat die mystische Kontemplation die Konsequenz von Weltflucht im Sinn einer Meidung jeder Berührung mit der sozialen Umwelt. Auch der Mystiker kann umgekehrt als Bewährung der Sicherheit seines Gnadenstandes dessen Behauptung gerade gegenüber den Ordnungen der Welt von sich fordern: auch für ihn wird dann die Stellung in diesen Ordnungen zum „Beruf“. Aber mit sehr anderer Wendung als bei der innerweltlichen Askese. Die Welt als solche wird weder von der Askese noch von der Kontemplation bejaht. Aber vom Asketen wird ihr kreatürlicher, ethisch irrationaler empirischer [329]Charakter, ihre ethischen Versuchungen der Weltlust, des Genießens und Ausruhens auf ihren Freuden und Gaben, abgelehnt. Dagegen wird das eigene rationale Handeln innerhalb ihrer Ordnungen als Aufgabe und Mittel der Gnadenbewährung bejaht. Dem innerweltlich lebenden kontemplativen Mystiker dagegen ist Handeln, und vollends Handeln innerhalb der Welt, rein an sich eine Versuchung, gegen die er seinen Gnadenstand zu behaupten hat. Er minimisiert also sein Handeln, indem er sich in die Ordnungen der Welt, so wie sie sind, „schickt“, in ihnen sozusagen inkognito lebt, wie die „Stillen im Lande“A: Gesamtwelt,
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es zu aller Zeit getan haben, weil Gott es nun einmal so gefügt hat, daß wir darin leben müssen. Eine spezifische, demutsvoll gefärbte „Gebrochenheit“ zeichnet das innerweltliche Handeln des kontemplativen Mystikers aus, von welchem hinweg er sich immer wieder in die Stille der Gottinnigkeit flüchten möchte und flüchtet. Der Asket ist, wo er in Einheit mit sich selbst handelt, sich dessen sicher, Gottes Werkzeug zu sein. Seine eigene pflichtgemäße kreatürliche „Demut“ ist daher stets von zweifelhafter Echtheit. Der Erfolg seines Handelns ist ja ein Erfolg Gottes selbst, zu dem er beigetragen hat, mindestens aber ein Zeichen seines Segens ganz speziell für ihn und sein Tun. Für den echten Mystiker kann dagegen der Erfolg seines innerweltlichen Handelns keinerlei Heilsbedeutung haben und ist die Erhaltung echter Demut in der Welt in der Tat die einzige Bürgschaft dafür, [A 315]daß seine Seele ihr nicht anheimgefallen ist. Je mehr er innerhalb der Welt steht, desto „gebrochener“ wird im allgemeinen seine Haltung zu ihr im Gegensatz zu dem stolzen Heilsaristokratismus der außerweltlichen irdischen Kontemplation. Für den Asketen bewährt sich die Gewißheit des Heils stets im rationalen, nach Sinn, Mittel und Zweck eindeutigen Handeln, nach Prinzipien und Regeln. Für den Mystiker, der im realen Besitz des zuständlich erfaßten Heilsgutes ist, kann die Konsequenz dieses Zustandes gerade umgekehrt der Anomismus [329] In Psalm 35, 20 heißt es: „Denn sie trachten, Schaden zu tun, und suchen falsche Anklagen wider die Stillen im Lande“.
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sein: das Gefühl, welches sich ja nicht an dem Tun und dessen Art, sondern in einem gefühlten Zustand und dessen Qualität manifestiert, an keine Regel des Handelns mehr gebunden zu sein, vielmehr in allem [330]und jedem, was man auch tue, des Heils gewiß zu bleiben. Mit dieser Konsequenz (dem πάντα μοι ἔξεστιν) Zustand von Gesetz- und Regellosigkeit.
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hatte unter anderem Paulus sich auseinanderzusetzen, und sie ist immer wieder gelegentlich Folge mystischer Heilssuche gewesen. [330] Hierbei handelt es sich um die Anfangsworte eines Pauluszitates aus 1. Korinther 6, 12 („Ich habe es alles Macht; es frommet aber nicht alles. Ich habe es alles Macht; es soll mich aber nichts gefangen nehmen“). Eine ähnliche Stelle findet sich ebd. 10, 23 („Ich habe es zwar alles Macht; aber es frommet nicht alles; ich habe es alles Macht, aber es bessert nicht alles“). Das bedeutet: Alles ist erlaubt, aber nicht alles ist sinnvoll oder nützlich.
Dem Asketen können sich ferner die Anforderungen seines Gottes an die Kreatur bis zur Forderung einer bedingungslosen Beherrschung der Welt durch die Norm der religiösen Tugend und bis zu deren revolutionärer Umgestaltung zu diesem Zweck steigern. Aus der weltabgewendeten Klosterzelle heraus tritt dann der Asket als Prophet der Welt gegenüber. Immer aber wird es eine ethisch rationale Ordnung und Disziplinierung der Welt sein, die er dabei, entsprechend seiner methodisch rationalen Selbstdisziplin, verlangt. Gerät dagegen der Mystiker auf eine ähnliche Bahn, d. h. schlägt seine Gottinnigkeit, die chronische stille Euphorie seines kontemplativen einsamen Besitzes des göttlichen Heilsguts[,] in ein akutes Gefühl heiliger Besessenheit durch den Gott oder heiligen Besitzes des Gottes um, der in und aus ihm spricht, der kommen und das ewige Heil bringen will, jetzt sofort, wenn nur die Menschen so wie der Mystiker selbst ihm die Stätte auf Erden und das heißt: in ihren Seelen bereiten würden, – dann wird er entweder als ein Magier Götter und Dämonen in seiner Gewalt fühlen und der praktischen Folge nach zum Mystagogen werden, wie es so oft geschehen ist. Oder wenn er diesen Weg nicht beschreiten kann – auf die möglichen Gründe dafür kommen wir noch zu sprechen
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– sondern von seinem Gotte nur durch Lehre zeugen kann, dann wird seine revolutionäre Predigt an die Welt chiliastisch irrational, [331]jeden Gedanken einer rationalen „Ordnung“ verschmähend. Die Absolutheit seines eigenen universellen akosmistischen Liebesgefühls wird ihm die völlig zulängliche und allein gottgewollte, weil allein aus göttlicher Quelle stammende Grundlage der mystisch erneuerten Gemeinschaft der Menschen sein. Der Umschlag vom weltabgewendeten mystischen zum chiliastisch-revolutionären Habitus ist oft eingetreten, am eindrucksvollsten bei der revolutionären Spielart der Täufer im 16. Jahrhundert. In der „Zwischenbetrachtung“ (MWG I/19, S. 499) bemerkte Weber: „Anders da, wo, beim Mystiker, sich der psychologisch stets mögliche Umschlag vom Gottbesitz zur Gottbesessenheit vollzieht. […] Der Mystiker wird dann zum Heiland und Propheten. Aber die Gebote, die er verkündet, haben keinen rationalen Charakter“. Weber kommt auf den folgenden Seiten (unten, S. 332 ff.) darauf zu sprechen, warum im Okzident ausgesprochen mystische Religiosität immer erneut in aktive und dann natürlich meist asketische Tugend umschlägt: Es hängt mit dem Unterschied zwischen morgenländischer und abendländischer Erlösungsreligiosität zusammen. Die andere aktive Form des Umschlages kommt im Abschnitt 11, der Vorstufe der „Zwischenbetrachtung“, nicht vor.
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Für den entgegengesetzten Vorgang gibt z. B. die Bekehrung John Lilburnes zu den Quäkern den Typus ab. [331] Unter einem Teil der seit 1523–1525 von Zürich ausgehenden Bewegung der Gründung von Täufergemeinden verbreitete sich durch die Predigt von Melchior Hofmann ein aktiver Chiliasmus. In Münster führte er 1534/35 zu dem Versuch, das Reich Gottes mit Waffengewalt aufzurichten.
Soweit eine innerweltliche Erlösungsreligion durch kontemplative Züge determiniert ist, ist die normale Folge mindestens relativ weltindifferente, jedenfalls aber demütige Hinnahme der gegebenen sozialen Ordnung. Der Mystiker Taulerschen Gepräges sucht nach des Tages Arbeit des Abends die kontemplative Einigung mit Gott und geht am anderen Morgen, wie Tauler stimmungsvoll ausführt,
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in der richtigen inneren Verfassung an seine gewohnte Arbeit. An der Demut und dem sich Kleinmachen vor dem Menschen erkennt man bei Laotse den Mann, der die Einigung mit dem Tao gefunden hat. In seinen Predigten führte Johannes Tauler wiederholt aus, daß sich auch in der geringsten Tätigkeit der Geist Gottes ausdrücke. Jeder solle seine Arbeit und seinen Beruf zum Nutzen des Anderen erledigen. In der 47. Predigt (zehnter Sonntag nach Dreifaltigkeit) legte Tauler nahe, die Arbeit behutsam und im Stillen zu tun und Gott in die Arbeit hinein zu tragen. Es sei aber auch darauf zu achten, wann der Geist Gottes zum Ruhen in sich oder zum Wirken nach außen treibe.
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Der mystische Einschlag in der lutherischen Religiosität, deren höchstes diesseitiges Heilsgut letztlich die unio mystica ist, bedingte (neben noch anderen Motiven) die Indifferenz gegenüber der Art der äußeren Organisation der Wortverkündung und auch ihren antiasketischen und traditionalistischen Charakter. Der typische Mystiker ist weder ein Mann star[332]ken sozialen Handelns überhaupt, noch vollends der rationalen Umgestaltung der irdischen Ordnungen an der Hand einer auf den äußeren Erfolg gerichteten methodischen Lebensführung. Wo auf dem Boden genuiner Mystik Gemeinschaftshandeln entsteht, da ist es der Akosmismus des mystischen Liebesgefühls, der seinen Charakter prägt. In diesem [A 316]Sinn kann die Mystik, entgegen dem „logisch“ Deduzierbaren, psychologisch gemeinschaftsbildend wirken. Die feste Überzeugung, daß die christliche Bruderliebe, wenn hinlänglich rein und stark, zur Einheit in allen Dingen, auch im dogmatischen Glauben führen müsse, daß also Menschen, die sich hinlänglich, im johanneischen Sinne, mystisch lieben, auch gleichartig denken und gerade aus der Irrationalität dieses Fühlens heraus, solidarisch gottgewollt handeln, ist die Kernidee des orientalisch-mystischen Kirchenbegriffs, der deshalb die unfehlbare rationale Lehrautorität entbehren kann, und auch dem slavophilen Gemeinschaftsbegriff innerhalb und außerhalb der Kirche zugrunde liegt. In gewissem Maße war der Gedanke der alten Christenheit noch gemeinsam, er liegt Muhammeds Glauben an die Unnötigkeit formaler Lehrautoritäten und – neben andern Motiven – auch der Minimisierung der Organisation der altbuddhistischen Mönchsgemeinde zugrunde. – Wo dagegen eine innerweltliche Erlösungsreligion spezifisch asketische Züge trug, hat sie stets den praktischen Rationalismus im Sinn der Steigerung des rationalen Handelns als solchen, der methodischen Systematik der äußeren Lebensführung und der rationalen Versachlichung und Vergesellschaftung der irdischen Ordnungen, seien dies Mönchsgemeinschaften oder Theokratien, gefordert. Es ist nun der historisch entscheidende Unterschied In James Legges Übersetzung des Tao Te Ching wird der Mann, der die Einigung mit dem Tao gefunden hat, wie folgt beschrieben: „[…] humble and retiring, oblivious of himself and of other men, the noblest man under heaven“. Zitiert nach Friedrich Max Müller (Hg.), The Sacred Books of the East, vol. 39: The Sacred Books of China. The Texts of Tāoism, translated by James Legge, Part I, The Tāo Teh King. The Writings of Kwang-ʒze. Books I–XVII. – Oxford: Clarendon Press 1891, S. 100.
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der vorwiegend morgenländischen und asiatischen, gegenüber den vorwiegend okzidentalen Arten der Erlösungsreligiosität, daß die ersteren wesentlich in Kontemplation, die letzteren in Askese ausmünden. Daß der Unterschied ein flüssiger ist, daß ferner die mannigfachen stets wiederkehrenden Kombinationen von mystischen und asketischen Zügen, z. B. in der Mönchsreligiosität des Abendlands, die Vereinbarkeit dieser an sich heterogenen Elemente zeigen, dies alles ändert nichts an der großen Bedeutung des Unterschiedes selbst für unsere rein empi[333]rische Betrachtung. Denn der Effekt im Handeln ist es, der uns angeht. In Indien gipfelt selbst eine so asketische Heilsmethodik wie die der Jainamönche in einem rein kontemplativen mystischen letzten Ziel, in Ostasien ist der Buddhismus die spezifische Erlösungsreligiosität geworden. Im Okzident dagegen schlägt, wenn von den vereinzelten Vertretern eines spezifischen Quietismus, die erst der Neuzeit angehören, abgesehen wird, selbst ausgesprochen mystisch gefärbte Religiosität immer erneut in aktive und dann natürlich meist asketische Tugend um, oder vielmehr: es werden im Wege einer inneren Auslese der Motive die vorwiegend zu irgendeinem aktiven Handeln, gewöhnlich zur Askese weisenden bevorzugt und in die Praxis umgesetzt. Sowohl die bernhardinische wie die franziskanisch-spiritualistische, wie die täuferische und die jesuitische Kontemplation[,] wie die Gefühlsschwelgerei Zinzendorfs hinderten nicht, daß bei der Gemeinde und oft beim Mystiker selbst, Handeln und Bewährung der Gnade im Handeln immer wieder, wenn auch freilich in sehr verschiedenem Maße, asketisch rein oder kontemplativ gebrochen, die Oberhand behielten, und Meister Eckhardt stellt schließlich Martha über Maria, dem Heiland zum Trotz.[332]A: Unterschied,
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In einem gewissen Grade ist dies aber dem Christentum von Anfang an eigentümlich. Schon in der Frühzeit, als alle Arten von irrationalen charismatischen Gaben des Geistes als das entscheidende Merkmal der Heiligkeit galten, beantwortet dennoch die Apologetik die Frage: woran man denn die göttliche und nicht etwa satanische oder dämonische Provenienz jener pneumatischen Leistungen des Christus und der Christen erkennen könne, dahin: daß die offensichtliche Wirkung des Christen[334]tums auf die Sittlichkeit seiner Anhänger [333] Maria und Martha sind in neutestamentlicher Überlieferung Frauen aus Bethanien und Schwestern des Lazarus, den Jesus von den Toten erweckte (vgl. Johannes 11, 1–44). Nach Lukas 10, 38–42 nahm Martha Jesus in ihr Haus auf und bediente ihn, während Maria lieber seiner Rede zuhörte. Laut Lukas 10, 42 lobte Jesus das Verhalten der zuhörenden Maria mit den Worten: „eins aber ist not. Maria hat das gute Teil gewählt; das soll nicht von ihr genommen werden“. Meister Eckhardt „knüpft den Gegensatz des wirkenden und des beschaulichen Lebens an die Gestalten der Maria und der Martha“, und er „bietet den äussersten Scharfsinn auf, um zu zeigen, dass auch nach den Worten Christi der Standpunkt der Martha der höhere ist“. (Lasson, Adolf, Meister Eckhart, der Mystiker. Zur Geschichte der religiösen Speculation in Deutschland. – Berlin: Wilhelm Hertz 1868, S. 262).
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deren göttliche Herkunft bewähre.[334]A: Anhänger,
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So hätte kein Inder antworten können. [334] Als in den frühchristlichen Gemeinden rivalisierende Charismatiker auftraten, stellte sich erneut das Problem der „Unterscheidung der Geister“, das Paulus bereits in seinem ersten Brief an die Korinther aufgeworfen hatte (1. Korinther 12, 10). Die Didache (11, 8) und die Schrift: Hirt des Hermas, mandata 11, forderten die Gemeinden auf, zweifelhafte Charismatiker auf ihre sittlichen Eigenschaften hin zu untersuchen.
Von den Gründen dieses fundamentalen Unterschieds ist an dieser Stelle auf folgende hinzuweisen:
1. Die Konzeption des einen überweltlichen, schrankenlos allmächtigen Gottes
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und der Kreatürlichkeit der von ihm aus dem Nichts geschaffenen Welt, welche, von Vorderasien aus, dem Okzident oktroyiert wurde. Der Erlösungsmethodik war damit der Weg zur Selbstvergottung und zum genuin mystischen Gottesbesitz wenigstens im eigentlichen Sinne des Worts als blasphemische Kreaturvergötterung und [A 317]ebenso zu den letzten pantheistischen Konsequenzen verschlossen. SieA: Gottes,
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hat stets als heterodox gegolten. Alle Erlösung mußte immer erneut den Charakter einer ethischen „Rechtfertigung“ vor jenem Gott annehmen, die letztlich nur durch ein irgendwie aktives Handeln zu leisten und zu gewähren war. Die „Bewährung“ der wirklich göttlichen Qualität des mystischen Heilsbesitzes (vor dem eigenen Forum des Mystikers) führt eben nur durch diesen Weg, der in die Mystik selbst wieder Paradoxien, Spannungen und Ausschließung der letzten Abstandslosigkeit von Gott hineinträgt, welche der indischen Mystik erspart blieben. Die Welt des okzidentalen Mystikers ist ein „Werk“, ist „geschaffen“, nicht, auch nicht in ihren Ordnungen für alle Ewigkeit schlechthin gegeben, wie die des Asiaten. Weder konnte daher im Okzident die mystische Erlösung restlos im Bewußtsein der absoluten Einheit mit einer höchsten weisen „Ordnung“ als dem einzig wahren „Sein“ gefunden werden, noch war andererseits ein Werk von göttlicher Provenienz jemals in dem Sinn möglicher Gegenstand absolutester Flucht wie dort. A: verschlossen und
2. Diese Gegensätzlichkeit aber hing ferner mit dem Charakter der asiatischen Erlösungsreligionen als reiner Intellektuellenreligionen zusammen, welche die „Sinnhaftigkeit“ der empirischen Welt nie aufgaben. Für den Inder konnte daher tatsächlich durch [335]„Einsicht“ in die letzten Konsequenzen der Karmankausalität ein Weg zur Erleuchtung und Einheit von „Wissen“ und Handeln führen, der jeder Religiosität, welche vor der absoluten Paradoxie der „Schaffung“ einer feststehendermaßen unvollkommenen Welt durch einen vollkommenen Gott stand, also durch intellektuelle Bewältigung dieser nicht zu Gott hin, sondern von ihm fortgeführt wurde, ewig verschlossen blieb. Die rein philosophisch unterbaute Mystik des Abendlands steht daher, praktisch angesehen, der asiatischen weitaus am nächsten.
3. Von praktischen Momenten kommt in Betracht, daß[,] aus noch zu erörternden Gründen,
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der römische Okzident allein auf der gesamten Erde ein rationales Recht entwickelt hatte und behielt. Die Beziehung zu Gott wurde in spezifischem Maß eine Art von rechtlich definierbarem Untertanenverhältnis, die Frage der Erlösung entschied sich in einer Art von Rechtsverfahren, wie dies ja noch bei Anselm von Canterbury charakteristisch entwickelt ist. [335] Siehe WuG1, S. 461–466 (MWG I/22-3).
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Eine unpersönliche göttliche Macht oder ein Gott, der nicht schlechthin über, sondern innerhalb einer ewigen, sich selbst durch die Karmankausalität regulierenden Welt stand, oder das Tao, oder die himmlischen Ahnengeister des chinesischen Kaisers, und vollends die asiatischen Volksgötter konnten eine solche Wendung der Heilsmethodik nie produzieren. Die höchsten Formen der Frömmigkeit wendeten sich hier immer pantheistisch und in ihren praktischen Antrieben kontemplativ. In seiner Schrift Cur deus homo („Warum ist Gott Mensch geworden?“, 1098 vollendet) legte Anselm von Canterbury dar, daß aufgrund der Erbsünde Adams alle Menschen Gott Genugtuung schuldeten. Gott hätte das Recht, die verweigerte Unterordnung unter seinen Willen und die ihm vorenthaltene Ehrerbietung einzufordern, entweder in Form von Genugtuung oder ewiger Bestrafung (aut satisfactio aut poena). Seine Liebe zu den Menschen läßt die Bestrafung nicht zu. Die Genugtuung kann jedoch nur ein Dritter geben, Christus, dessen Tod die Wiedergutmachung für die Erbsünde des Menschen ist. Reinhold Seeberg bemerkte, daß Anselm die Methode der „juristischen Betrachtung“ anwende, Anselm kenne „nur ein Rechtsverhältnis zwischen Gott und Mensch“. (Seeberg, Reinhold, Lehrbuch der Dogmengeschichte, 2. Hälfte: Die Dogmengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit. – Erlangen und Leipzig: A. Deichert'sche Verlagsbuchhandlung Nachf. (Georg Böhme) 1898, S. 53). Ein Bezug zwischen Anselm und dem römischen bzw. dem germanischen Recht wurde bei Adolf Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3. Band, 4. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1910, S. 391 ff., diskutiert.
[336]4. Teils römischer, teils jüdischer Provenienz war der rationale Charakter der Erlösungsmethodik auch in anderer Hinsicht. Das Hellenentum schätzte, trotz aller Bedenken des Stadtpatriziates gegen den dionysischen Rauschkult,
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die Ekstase, die akut orgiastische als göttlichen Rausch, die milde Form der Euphorie, wie sie vor allem Rhythmus und Musik vermittelten, als ein Innewerden des spezifisch Göttlichsten im Menschen. Gerade die Herrenschicht der Hellenen lebte mit dieser milden Form der Ekstasis von Kindheit auf. Es fehlt in Hellas seit der Herrschaft der Hoplitendisziplin [336] Erwin Rohde hielt Thrakien für die Heimat des Dionysos-Kultes. „Griechischer Religionsweise ist […] alles fremd, was einem Aufregungscult nach Art der dionysischen Orgien der Thraker ähnlich sähe. […] Dennoch […] weckten die enthusiastischen Klänge dieses Gottesdienstes im Herzen vieler Griechen einen aus tiefem Innern antwortenden Widerhall […]“. (Rohde, Psyche II, S. 22). In Griechenland traf dieser Kult auf Widerstand. „Was thrakischen Weibern anstehn mochte, das zügellose Herumschweifen in nächtlichen Bergfeiern, dem konnte, als einem Bruche aller Sitten und Sittsamkeit, griechisches Bürgerthum nicht ohne Kampf nachgeben“ (ebd., S. 42).
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eine Schicht von solchem sozialen Prestige, wie der Amtsadel Roms es war. Die Verhältnisse waren in jeder Hinsicht kleiner und minder feudal. Das Würdegefühl des Römeradels, der ein rationaler Amtsadel war, auf zunehmend größtem Piedestal, schließlich mit Städten und Ländern in der Klientel der einzelnen Familien, lehnte dagegen schon in der Terminologie den der Ekstasis entsprechenden Begriff: die „superstitio“, als das des vornehmen Mannes spezifisch Unwürdige, Seit dem 7./6. vorchristlichen Jahrhundert trat in den griechischen Poleis das aus disziplinierten Schlachtreihen schwerbewaffneter Fußsoldaten bestehende Hoplitenheer an die Stelle der alten adeligen Ritterheere.
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Unschickliche[336]A: unwürdige,
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ebenso ab, wie den Tanz.A: unschickliche
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Kultischer Tanz findet sich nur bei den ältesten Priesterkollegien und im eigentlichen Sinne des Tanzreigens nur bei den fratres arvales, und zwar charakteristischerweise hinter verschlossenen Türen nach Entfernung der Gemeinde. Vgl. oben, S. 136, Anm. 29.
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Im übri[337]gen aber galt für den Römer das Tanzen als unschicklich, ebenso wie die Musik, in welcher daher Rom absolut unproduktiv blieb, und wie das [A 318]nackte Ringen im Gymnasion, welches der spartiatische Exerzierplatz geschaffen hatte. Die dionysischen Rauschkulte verbot der Senat. Bei den Arvalbrüdern (lat.: fratres arvales) handelte es sich um ein Kolleg von zwölf Priestern, an dessen Spitze ein Magister stand und das schon von Romulus eingesetzt worden sein soll. An den Iden des Mai zogen sie, der Dea Dia (Ceres) opfernd, um die Felder, um deren Fruchtbarkeit sicherzustellen. Der Abschluß der Feier fand im Tempel statt und erfolgte – wie Georg Wissowa berichtete – durch „die bei geschlossenen Türen von den Brüdern vorgenommene Absingung ihres alten, an die Lares und Mars gerichteten Kultgesanges, die sie mit einem altertümlichen Tanze im Dreischritt“ begleiteten. (Wissowa, Religion und Kultus der Römer, wie oben, S. 142, Anm. 39, S. 563).
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Die Ablehnung jeder Art der Ekstase ebenso wie jeder Befaßtheit mit individueller Heilsmethodik seitens des weltbeherrschenden militärischen Amtsadels Roms – entsprechend etwa der jeder Heilsmethodik ebenfalls streng feindlichen konfuzianischen Bürokratie – war nun eine der Quellen jenes durchaus praktisch politisch gewendeten, streng sachlichen Rationalismus, den die Entwicklung der okzidentalen Christengemeinden als feststehenden Charakterzug aller auf eigentlich römischem Boden möglichen Religiosität vorfand und den die römische Gemeinde speziell ganz bewußt und konsequent übernahm. Von der charismatischen Prophetie angefangen bis zu den größten Neuerungen der Kirchenmusik hat diese Gemeinde keinerlei irrationales Element aus eigener Initiative der Religiosität oder der Kultur eingefügt. Sie war unendlich viel ärmer an theologischen Denkern nicht nur, sondern dem Eindruck der Quellen nach, ebenso an jeder Art von Äußerungen des „Pneuma“, als der hellenistische Orient und etwa die Gemeinde von Korinth. Dennoch und eben deshalb aber hat ihr praktisch nüchterner Rationalismus, das wichtigste Erbteil des Römertums in der Kirche, bei der dogmatischen und ethischen Systematisierung des Glaubens bekanntlich fast überall den Ausschlag gegeben. Entsprechend war auch die weitere Entwicklung der Heilsmethodik im Okzident. Die asketischen Ansprüche der alten Benediktinerregel, [337] Im Jahr 186 v. Chr. ergriff der römische Senat strenge Strafmaßnahmen gegen die Anhänger der dionysischen Mysterien in Rom und den Provinzen („Bacchanalienskandal“). Dies wird von dem römischen Geschichtsschreiber Livius berichtet (Historia Romana 39. 8–18) und von Inschriften bestätigt (Corpus Inscriptionum Latinarum, vol. I, Inschrift 196; Inscriptiones Latinae Selectae, Nr. 18). Das Edikt Senatus Consultum de Bacchanalibus (CIL, vol. I, p. 2, Inschrift 581: „Epistula Consultum Ad Teuranos De Bacchanalibus“) enthält die Auflagen, die dem Dionysoskult nach der Verfolgung gemacht wurden.
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ebenso aber der klunia[338]zensischen Reform Die von Benedikt von Nursia (um 480–ca. 547) verfaßte Ordensregel schreibt in 73 Kapiteln den Mönchen ihre Lebensweise vor: Pflicht zum Verbleib im Kloster bzw. im Mönchsstand, Besitzlosigkeit, Schweigen, Demut, Keuschheit und Gehorsam. Der Abt enthält umfangreiche Entscheidungsgewalt, ist aber gehalten, bei wichtigen Entscheidungen den Rat der Mönche einzuholen. Das tägliche Ordensleben soll Gebet und Arbeit verbinden, Schriftlesungen sind obligatorisch.
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sind, an indischen und auch altorientalischen Maßstäben gemessen, äußerst bescheiden und auf Novizen aus vornehmen Kreisen zugeschnitten; als wesentliches Charakteristikum aber tritt andererseits gerade im Okzident als hygienisch-asketisches Mittel die Arbeit hervor und steigert sich dann an Bedeutung in der ganz methodisch die rationalste Schlichtheit pflegenden Zisterzienserregel. [338] Die 910 im französischen Cluny gegründete Benediktinerabtei erstrebte ein asketisches Mönchsleben, ausgedehnte Gottesdienste, absoluten Gehorsam gegenüber dem Abt, Zurückdrängung des Einflusses von Bischöfen und Laien auf die Klöster. Die Klöster sollten der Obergewalt des Papstes unterstellt werden und sich zu Klosterverbänden zusammenschließen. Die von Cluny ausgegangene Reformbewegung (Kluniazenser) übte großen Einfluß aus.
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Das Bettelmönchtum wird im Gegensatz zu den indischen Bettelmönchen alsbald nach seinem Entstehen in den hierarchischen Dienst gezwungen und dient rationalen Zwecken: systematischer Caritas – die Die Regel des 1098 von Robert von Molesme gegründeten benediktinischen Reformordens der Zisterzienser betonte die Innerlichkeit, die Einfachheit von Kult und Kunst, das Bibelstudium und die praktische Arbeit. Wegen ihrer landwirtschaftlichen Leistungen waren die Zisterzienser bedeutende Träger der deutschen Ostkolonisation.
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im Okzident zum sachlichen „Betrieb“ entwickelt wurde – oder der Predigt und der Ketzerjurisdiktion. Der Jesuitenorden endlich streifte die antihygienischen Elemente der alten Askese völlig ab und ist die vollendetste rationale Disziplinierung für Zwecke der Kirche.[338]A: der
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Diese Entwicklung aber hing offensichtlich ihrerseits damit zusammen, daß Bei Willy Hellpach findet sich folgende Einschätzung zu Ignatius von Loyola, dem Gründer des Jesuitenordens: „Er verbot die Askese, die er durch eine fast militärische Gesundheitspflege – er verbot die Planlosigkeit und Spielerei, die er durch die planvolle Ausgestaltung jeder Lebensstunde und durch systematische Einschulung der Phantasie auf die religiöse Vorstellungswelt ersetzte. […] Loyola hat erreicht, was zu erreichen war: die Freihaltung seines Ordens von hysterischer Verwilderung“. (Hellpach, Geistige Epidemien, wie oben, S. 320, Anm. 100, S. 87). Vgl. Webers Postkarte vom 25. Januar 1906 an Willy Hellpach (MWG II/5, S. 29 mit den Erläuterungen der Herausgeber).
5.
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die Kirche hier eine einheitliche rationale Organisation ist mit monarchischer Spitze und zentralisierter Kontrolle der Frömmigkeit, daß also neben dem persönlichen überweltlichen Gott auch ein innerweltlicher Herrscher von ungeheurer Machtfülle und der Fähigkeit aktiver Lebensreglementierung stand. Den ostasiatischen Religionen fehlt dies teils aus historischen Gründen, teils aus solchen der Religiosität. Der straff organisierte Lamais[339]mus hat, wie später zu erörtern,A: 6.
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nicht die Straffheit einer bürokratischen Organisation. Die asiatischen Hierarchen, etwa der taoistischen oder andere Erbpatriarchen chinesischer und indischer Sekten[,] werden immer teils Mystagogen, teils Objekte anthropolatrischer Verehrung, teils, wie der Dalai Lama und Taschilama, Chefs einer reinen Mönchsreligion magischen Charakters. Die außerweltliche Askese des Mönchstums ist nur im Okzident, wo sie undisziplinierte Truppe einer rationalen Amtsbürokratie wurde, zunehmend zu einer Methodik aktiv rationaler Lebensführung systematisiert worden. Der Okzident allein aber hat dann weiter auch die Übertragung der rationalen Askese in das Weltleben selbst im asketischen Protestantismus gesehen. Denn die innerweltlichen Derwischorden des Islam pflegen eine unter sich verschiedene, letztlich aber immer noch an der indisch-persischen entweder direkt orgiastischen oder pneumatischen oder kontemplativen, dem Wesen nach jedenfalls nicht in dem hier gebrauchten Sinne des Wortes asketischen, sondern mystischen Heilssuche der Sufis orientierte Heilsmethodik. Inder pflegen bei Derwischorgien führend beteiligt zu sein bis nach Bosnien hinein. [339] Siehe WuG1, S. 804 (MWG I/22-4).
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Die Derwischaskese ist nicht, wie die Ethik des asketischen Protestanten[,] eine religiöse „Berufsethik“, denn die religiösen Leistungen stehen mit den weltlichen Berufsansprüchen oft in gar keinem, höchstens aber in einem äußerlichen heilsmethodischen [A 319]Zusammenhang. Gewiß kann jene Heilsmethodik indirekt Wirkungen auf das Berufsleben entfalten. Der schlicht fromme Derwisch ist unter sonst gleichen Umständen als Handwerker zuverlässiger als der irreligiöse, ebenso etwa wie der fromme Parse wegen des strengen Wahrheitsgebots als Kaufmann prosperiert. Aber eine prinzipielle und systematische ungebrochene Einheit von innerweltlicher Berufsethik und religiöser Heilsgewißheit hat in der ganzen Welt nur die Berufsethik des asketischen Protestantismus gebracht. Die Welt ist eben nur hier in ihrer kreatürlichen Verworfenheit ausschließlich und allein religiös bedeutsam als Gegenstand der Pflichterfüllung durch rationales Handeln, nach dem Willen eines schlechthin überweltlichen Gottes. Der rationale[,] nüchterne, [340]nicht an die Welt hingegebene Zweckcharakter des Handelns und sein Erfolg ist das Merkmal dafür, daß Gottes Segen darauf ruht. Nicht Keuschheit, wie beim Mönch, aber Ausschaltung aller erotischen „Lust“, nicht Armut, aber Ausschaltung alles rentenziehenden Genießens und der feudalen lebensfrohen Ostentation des Reichtums, nicht die asketische Abtötung des Klosters, aber wache, rational beherrschte Lebensführung und Vermeidung aller Hingabe an die Schönheit der Welt oder die Kunst oder an die eigenen Stimmungen und Gefühle sind die Anforderungen, Disziplinierung und Methodik der Lebensführung das eindeutige Ziel, der „Berufsmensch“ der typische Repräsentant, die rationale Versachlichung und Vergesellschaftung der sozialen Beziehungen die spezifische Folge der okzidentalen innerweltlichen Askese im Gegensatz zu aller anderen Religiosität der Welt. – Vgl. oben, S. 315, Anm. 88.
II. Die Erlösung kann ferner vollbracht werden nicht durch eigene Werke – welche dann als zu diesem Zweck völlig unzulänglich gelten –, sondern durch Leistungen, die entweder ein begnadeter Heros oder geradezu ein inkarnierter Gott vollbracht hat und die seinen Anhängern als Gnade ex opere operato zugute kommen. Entweder als direkt magische Gnadenwirkungen oder indem aus dem Überschuß der durch Leistungen verdienten Gnaden des menschlichen oder göttlichen Heilandes Gnade gespendet wird.
Im Dienst dieser Art von Erlösung steht die Entwicklung der soteriologischen Mythen, vor allem der Mythen vom kämpfenden oder leidenden, vom menschwerdenden oder zur Erde niedersteigenden oder in das Totenreich hinabfahrenden Gott in seinen mannigfachen Formen. Statt eines Naturgotts, besonders eines Sonnengotts, der mit anderen Naturmächten, namentlich also mit Finsternis und Kälte ringt und dessen Sieg den Frühling bringt, ersteht auf dem Boden der Erlösungsmythen ein Retter, der aus der Gewalt der Dämonen (wie Christus), oder aus der Verknechtung unter die astrologische Determiniertheit des Schicksals (die sieben Archonten der Gnostiker),
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oder, im Auftrag des verborgenen gnädigen Gottes, aus der ihrer Anlage nach durch den minderwer[341]tigen Schöpfungsgott (Demiurg oder Jehova) verderbten Welt (Gnosis), oder aus der hartherzigen Verstocktheit und Werkgerechtigkeit der Welt (Jesus) und der Bedrücktheit von dem durch das Wissen um die Verbindlichkeit ihrer unerfüllbaren Gesetzesforderungen erst entstandenen [340] Die „sieben Archonten“ sind in einigen gnostischen Systemen die weltbestimmenden planetarischen Mächte. Die menschliche Seele muß durch sieben Planetensphären, denen je ein Herrscher (griech.: archōn) zugeordnet ist, zum höchsten unbekannten Gott oder zur Urmutter (griech.: mētēr) aufsteigen. (Vgl. Bousset, Hauptprobleme der [341]Gnosis, wie oben, S. 298, Anm. 67, S. 58–83). „Diese Spekulation über den höchsten, unbekannten Gott, der im Gegensatz namentlich auch zu den weltschöpferischen Mächten steht, kann nicht irgendwie auf jüdischen Einfluß zurückgeführt werden, steht vielmehr fast von vornherein in striktem Gegensatz zum jüdischen Glauben an den Schöpfergott und dessen partikulare Beschränktheit“ (ebd., S. 85).
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Sündenbewußtsein (Paulus, etwas anders auch Augustin, Luther) von der abgrundtiefen Verderbtheit der eigenen sündigen Natur (Augustin) den Menschen zur sicheren Geborgenheit in der Gnade und Liebe des gütigen Gottes führt. Der Heiland bekämpft dazu, je nach dem Charakter der Erlösung, Drachen und böse Dämonen, muß unter Umständen, da er ihnen nicht alsbald gewachsen ist (er ist oft ein sündenreines Kind), erst im Verborgenen heranwachsen oder von den Feinden geschlachtet werden und in das Totenreich hinab, um von dort erst wieder siegreich aufzuerstehen. Daraus kann sich die Vorstellung entwickeln, daß sein Tod ein Ablösungstribut für das durch die Sünde erworbene Anrecht des Teufels auf die Seele des Menschen sei (altchristlich).[341]A: entstandene
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Oder umgekehrt sein Tod ist das Mittel, den Zorn Gottes zu versöhnen, bei dem er Fürsprecher ist, wie Christus, Muhammed und andere Propheten und Heilande. Oder er bringt den Menschen, wie die alten Heilande der magischen Religionen, die verbotene Kenntnis des Feuers oder der technischen Künste oder [A 320]der Schrift, so seinerseits die Kenntnis der Mittel, die Dämonen in der Welt oder auf dem Wege zum Himmel zu [342]überwinden (Gnosis). Oder endlich[,] seine entscheidende Leistung liegt nicht in seinem konkreten Kämpfen und Leiden, sondern in der letzten metaphysischen Wurzel des ganzen Vorgangs: in der Menschwerdung eines Gottes rein als solcher (Abschluß der hellenischen Erlösungsspekulation bei Athanasius) Diese Vorstellung stützt sich auf Markus 10, 45: „Denn auch des Menschen Sohn ist nicht kommen, daß er ihm dienen lasse, sondern daß er diene, und gebe sein Leben zur Bezahlung für viele“. In 1. Korinther 15, 3 heißt es: „Denn ich [Paulus] habe euch zuvörderst gegeben, was ich auch empfangen habe, daß Christus gestorben sei für unsre Sünden nach der Schrift“. Adolf Harnack führte aus: „Wo bei Paulus die Versöhnung durch Christus steht, steht bei Jesus die Macht Sünden zu vergeben und die Beurtheilung seines Todes als eines λύτρον [griech.: Lösegeld]“. (Harnack, Dogmengeschichte I, S. 107). Adolf Deissmann interpretierte Paulus’ Metapher einer Befreiung durch Christus aus der Sklaverei der Sünde mit Hilfe der Praxis antiker sakraler Sklavenbefreiung: „Man hat in der späteren kirchlichen Spekulation meist an die Loskaufung aus der Sklaverei des Satans gedacht“. (Deissmann, Licht vom Osten, S. 246, Anm. 3). Vgl. auch oben, S. 244, Anm. 68.
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als dem einzigen Mittel, die Kluft zwischen Gott und aller Kreatur zu schließen. Gottes Menschwerdung gab die Möglichkeit, den Menschen wesenhaften Anteil an Gott zu verschaffen, „die Menschen zu Göttern werden zu lassen“, heißt es schon bei Irenäus, [342] Der Kirchenvater Athanasius interpretierte die neutestamentliche Stelle Johannes 1, 14 („Und das Wort [griech.: logos] ward Fleisch, und wohnte unter uns […]“) als eine Identifizierung der Menschwerdung Gottes mit der Fleischwerdung. Der Logos wurde Mensch, indem er das Fleisch annahm und sich damit zu einem Menschen machte, wodurch er auch an seinem Leiden teilhat. Auf der alexandrinischen Synode im Frühjahr 362 setzte Athanasius den Glaubenssatz durch, daß Jesus als fleischgewordener Logos gleichzeitig Mensch und Gottessohn sei.
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und die nachathanasianische Philosophenformel: er habe durch Menschwerdung das Wesen (die platonische Idee) des Menschentums an sich genommen, zeigt die metaphysische Bedeutung des ,,όμοούσιος“. Irenäus entwarf in seiner Schrift: Adversus haereses folgendes Bild: Jesus Christus sei zugleich wahrer Mensch und wahrer Gott (vere homo vere Deus), nicht nur göttlicher Logos, sondern auch fleischgewordener Mensch. „Dazu nämlich ist das Wort Gottes Mensch geworden, damit der Mensch das Wort in sich aufnehme und, an Kindesstatt angenommen, zum Sohn Gottes werde“. (Adversus Haereses III, 19). Gestützt auf Psalm 82, 6 f. („[…] Ihr seid Götter und allzumal Kinder des Höchsten; aber ihr werdet sterben wie Menschen […]“) führte Irenäus weiter aus, daß das göttliche Angebot der Gotteskindschaft (lat.: adoptio, griech.: hyiothesia) denjenigen Menschen, die an die Fleischwerdung Gottes glauben, eine Einheit mit Gott garantiere. Christus mußte Mensch werden, damit die Menschen zu Göttern werden können.
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Oder der Gott begnügt sich nicht mit einem einmaligen Akt der Menschwerdung, sondern in Konsequenz der Ewigkeit der Welt, wie sie dem asiatischen Denken fast durchweg feststeht, inkarniert er sich in Zwischenräumen oder auch kontinuierlich aufs neue: so die Idee des Bodhisattva, konzipiert im mahayanischen Buddhismus (einzelne Anknüpfungen schon in gelegentlichen Äußerungen des Buddha selbst, in welchem der Glaube an die begrenzte Dauer seiner Lehre auf Erden hervorzutreten scheint). Der Bodhisattva wird dabei gelegentlich als das höhere Ideal gegenüber dem Buddha hingestellt, weil er auf das nur ex[343]emplarisch bedeutsame eigene Eingehen in das Nirwana verzichtet zugunsten seiner universellen Funktion im Dienst der Menschen: Das griechische Adjektiv όμοούσιος bedeutet „gleichen Wesens seiend [mit Gott]“. Auf dem Konzil von Nicäa wurde 325 als kirchliche Lehre festgelegt, daß Jesus Christus als der wahre Sohn Gottes das gleiche Wesen habe wie der Vater.
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auch hier also „opfert“ sich der Erlöser. Wie nun aber seinerzeit der Jesuskult den Erlösern der anderen konkurrierenden soteriologischen Kulte schon dadurch überlegen war, daß hier der Heiland ein leibhaftiger, von den Aposteln persönlich als von den Toten auferstanden gesehener Mensch war, [343] Das Mahaparinirvana-Sutra (16, 1 ff.), ein literarisches Werk des Mahayanabuddhismus, berichtet von einer Versuchung des Buddha. Mara (der Versucher, Verkörperung des Bösen) wollte Buddha, der die Erleuchtung bereits erlangt hatte, dazu überreden, sofort ins Nirvana einzugehen. Er wollte so verhindern, daß andere Menschen durch das Wirken Buddhas ebenfalls zur Erleuchtung kommen würden. Buddha lehnte ab. Er werde erst ins Nirvana eingehen, wenn seine Lehre sich ausreichend verbreitet hätte und die Gemeinde (sangha) fest etabliert wäre. (Vgl. Oldenberg, Buddha, wie oben, S. 180, Anm. 23, S. 118 f.).
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so ist die kontinuierlich leibhaftig lebende Gottesinkarnation im Dalai Lama das logische Schlußglied jeder Inkarnationssoteriologie. Aber auch[,] wo der göttliche Gnadenspender als Inkarnation lebt[,] und erst recht[,] wo er nicht mehr kontinuierlich auf Erden weilt, bedarf es angebbarer Mittel für die Masse der Gläubigen, seiner Gnadengaben nun auch persönlich teilhaftig zu werden. Und diese Mittel erst entscheiden über den Charakter der Religiosität, sind aber untereinander sehr mannigfaltig. Paulus überliefert in 1. Korinther 15, 5–7, daß Jesus nach seiner Auferstehung erst Petrus, danach „den Zwölfen“ erschienen sei, anschließend „fünfhundert Brüdern auf einmal“, dann dem Jakobus, „darnach allen Aposteln“ und am Ende auch ihm selber. Bevor sich die Vorstellung von den zwölf Aposteln bildete, galt im frühen Christentum jeder als Apostel, dem der Herr nach der Auferstehung erschienen war. Daher war auch Paulus ein „Apostel“.
Wesentlich magisch ist die Vorstellung, daß man durch physischen Genuß einer göttlichen Substanz, eines heiligen Totemtiers,
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in dem ein machtvoller Geist inkarniert war, oder einer durch Magie in den göttlichen Leib verwandelten Hostie sich selbst Götterstärke einverleiben oder daß man durch irgendwelche Mysterien seines Wesens direkt teilhaftig und dadurch gegen die bösen Mächte gefeit werden könne („Sakramentsgnade“). Die Aneignung der Gnadengüter kann dann eine Das Schlachten eines Totemtieres, das als Stammesgenosse galt, zu privaten Zwecken war verboten, das gemeinschaftliche Schlachten zu Opferzwecken erlaubt. (Vgl. Smith, Religion der Semiten, wie oben, S. 155, Anm. 74, S. 217–220).
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magische oder ri[344]tualistische Wendung nehmen und bedarf jedenfalls neben dem Heiland oder dem inkarnierten lebenden Gott noch der menschlichen Priester oder Mystagogen. Der Charakter der Gnadenspendung hängt dann weiter erheblich davon ab, ob von diesen Mittlern zwischen den Menschen und dem Heiland auch ihrerseits der persönliche Besitz und die Bewährung charismatischer Gnadengaben verlangt wird, so daß derjenige, der ihrer nicht teilhaftig ist, der Priester z. B., der in Todsünde lebt, die Gnade nicht vermitteln, das Sakrament nicht gültig spenden kann. Diese strenge Konsequenz (charismatische Gnadenspendung) zog z. B. die Prophetie der Montanisten, Donatisten und überhaupt die aller, auf dem Boden der prophetisch-charismatischen Herrschaftsorganisation der Kirche stehenden, Glaubensgemeinschaften der Antike: nicht jeder bloß durch „Amt“ anstaltsmäßig und äußerlich beglaubigte Bischof, sondern allein der durch Prophetie oder die anderen Zeugnisse des Geistes Beglaubigte kann wirksam Gnade spenden,[343] Fehlt in A; eine sinngemäß ergänzt.
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zum mindesten im Fall einer Todsünde des Gnadesuchenden. Sobald von dieser Forderung abgesehen wird, befinden wir uns bereits auf dem Boden einer anderen Auffassung. Die Erlösung erfolgt dann durch Gnaden, welche eine[,] ihrerseits durch göttliche oder prophetische Stiftung beglaubigte, Anstaltsgemeinschaft kontinuierlich spendet: Anstaltsgnade. Sie kann ihrerseits wieder direkt durch rein magische Sakra[A 321]mente oder kraft der ihr übertragenen Verfügung über den Thesaurus der überschüssigen, gnadenwirkenden Leistungen ihrer Beamten oder Anhänger wirken. Immer aber gelten bei konsequenter Durchführung die drei Sätze: 1. extra ecclesiam nulla salus. [344] Gegen die verbreitete Auffassung (vertreten von Montanisten, Donatisten und anderen rigoristischen Gruppen), daß eine Vergebung der Sünden nur durch Geistbegabte (darunter Märtyrer) möglich sei, nicht aber durch Amtsträger, die gesündigt hatten, vertraten die römischen Bischöfe Calixtus I. (Amtszeit 217–222) und Stephanus I. (Amtszeit 254–257) die Auffassung, daß ein geweihter Kleriker seine Amtswürdigkeit niemals verlieren könne (character indelebilis der Weihe) und daß die sittliche Qualifikation unmaßgeblich sei für die Ausübung des Amtes. Seit dem Kampf gegen den Donatismus unterschied man im Blick auf die Wirksamkeit der Sakramente die Heiligkeit des Amtes von der Würdigkeit des jeweiligen Amtsträgers.
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Nur durch Zugehörigkeit zur [345]Gnadenanstalt kann man Gnade empfangen. – 2. Das ordnungsmäßig verliehene Amt und nicht die persönliche charismatische Qualifikation des Priesters entscheidet über die Wirksamkeit der Gnadenspendung. – 3. Die persönliche religiöse Qualifikation des Erlösungsbedürftigen ist grundsätzlich gleichgültig gegenüber der gnadenspendenden Macht des Amts. Die Erlösung ist also universell und nicht nur den religiösen Virtuosen zugänglich. Der religiöse Virtuose kann sogar leicht und muß jedenfalls dann, wenn er auf eigenem besonderen Wege zu Gott zu gelangen hofft, statt letztlich auf die Anstaltsgnade zu vertrauen, in seinen Heilschancen und in der Echtheit seiner Religiosität sehr gefährdet erscheinen. Das, was Gott verlangt, so weit zu erfüllen, daß das Hinzutreten der gespendeten Anstaltsgnade zum Heil genügt, müssen prinzipiell alle Menschen zulänglich sein. Das Niveau der erforderlichen eigenen ethischen Leistung kann also dann nur nach der Durchschnittsqualifikation, und d. h. ziemlich tief[,] gegriffen werden. Wer mehr leistet, also der Virtuose, kann dadurch außer dem eigenen Heil noch Werke für den Thesaurus der Anstalt vollbringen, aus dem diese dem Bedürftigen spendet. – Dies ist der spezifische Standpunkt der katholischen Kirche, der ihren Charakter als Gnadenanstalt konstituiert und in jahrhundertelanger Entwicklung, abschließend seit Gregor dem Großen, festgelegt ist, in der Praxis schwankend zwischen mehr magischer und mehr ethisch-soteriologischer Auffassung. – Wie nun aber die charismatische Gnadenspendung und die Anstaltsgnadenspendung die Lebensführung beeinflussen, hängt von den Voraussetzungen ab, an welche die Gewährung der Gnadenmittel geknüpft wird. Die Verhältnisse liegen also ähnlich wie beim Ritualismus, mit welchem Sakramentsgnade und Anstaltsgnade denn auch intime Wahlverwandtschaft zeigen. Und noch in einem unter Umständen wichtigen Punkt fügt jede Art von eigentlicher Gnadenspendung durch eine Person, einerlei ob charismatisch oder amtlich legitimiert, der ethischen Religiosität eine in der gleichen Richtung wirkende, die ethischen Anforderungen abschwächende Besonderheit hinzu. Sie bedeutet stets eine innere Entlastung des Erlösungsbedürftigen, erleichtert ihm also das Ertragen von Schuld und erspart ihm unter sonst gleichen Verhältnissen wesentlich mehr die Entwicklung einer eigenen ethisch systematisierten Lebensmethodik. Denn der Sündigende weiß, daß er von allen Sünden immer wieder durch ein reli[346]giöses Gelegenheitshandeln Absolution erhalten kann. Und vor allem bleiben die Sünden einzelne Handlungen, denen andere einzelne Handlungen als Kompensation oder Buße gegenübergestellt werden. Nicht der gesamte, durch Askese oder Kontemplation oder beständig wache Selbstkontrolle und Bewährung stets neu festzustellende Habitus der Persönlichkeit, sondern das konkrete einzelne Tun wird gewertet. Es fehlt daher die Nötigung, die certitudo salutis selbst, aus eigener Kraft, zu erringen, und diese ganze, ethisch so wirksame Kategorie tritt überhaupt an Bedeutung zurück. Die unter Umständen sehr nachdrücklich wirksam gewesene ständige Kontrolle der Lebensführung durch einen Gnadenspender (Beichtvater, Seelendirektor) Im Rahmen des sog. „Ketzertaufstreites“ von 255/56 zwischen dem römischen Bischof Stephanus I. und dem Bischof von Karthago, Cyprian, vertrat Cyprian (200/210–258) die Auffassung, daß es „außerhalb der Kirche kein Heil“ gebe. Er bestritt die Wirksamkeit von Sakramenten, die nicht von Amtsträgern der Kirche gespendet worden seien.
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wird sehr oft weit überkompensiert durch den Umstand, daß eben immer erneut Gnade gespendet wird. Insbesondere das Institut der mit Sündenvergebung verbundenen Beichte zeigt in seiner praktischen Wirkung ein doppeltes Gesicht und fungiert verschieden, je nach der Handhabung. Die ganz allgemeine, wenig spezialisierte Art des Sündenbekenntnisses – oft in Form eines kollektiven Zugeständnisses, gesündigt zu haben –, welche speziell die russische Kirche praktiziert, ist kein Mittel nachhaltiger Einwirkung auf die Lebensführung, und auch die altlutherische Beichtpraxis war zweifellos wenig wirksam. Die Sünden- und Bußkataloge der indischen heiligen Schriften knüpfen den Ausgleich ritueller und ethischer Sünden in gleicher Weise [346] Weber verwendete gelegentlich auch das französische Wort Directeur de l'âme als Bezeichnung für „Guru“ (MWG I/20, S. 79 und 286).
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fast durchweg an rein rituelle (oder durch das Standesinteresse der Brahmanen eingegebene) Obödienz[A 322]leistungen, so daß von hier aus die Alltagslebensführung nur im Sinne des Traditionalismus beeinflußt werden konnte, und die Sakramentsgnade der hinduistischen Gurus schwächte die etwaige Nachhaltigkeit der Einwirkung eher noch weiter ab. Die katholische Kirche des Okzidents hat durch ihr in seiner Art in der ganzen Welt unerreichtes, unter Verbindung der römischen Rechtstechnik mit germanischen Wergeldsgedanken[346]A: in gleicher Weise ritueller und ethischer Sünden
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entwickeltes, Beicht- und Bußsystem die [347]Christianisierung der westeuropäischen Welt mit einzigartiger Wucht durchgesetzt. Aber die Schranke der Wirksamkeit im Sinn der Entwicklung einer rationalen Lebensmethodik hätte auch ohne die unvermeidlich drohende laxe Ablaßpraxis bestanden. Dennoch ist z. B. etwa in der fühlbaren Hintanhaltung des Zweikindersystems bei frommen Katholiken die Beichteinwirkung noch heute zuweilen „ziffernmäßig“ greifbar, so sehr sich in Frankreich die Schranken der kirchlichen Macht auch hierin zeigen. Nach altgermanischem Recht hatte die Sippe eines Getöteten oder Verletzten das Recht auf eine Geldbuße vom Täter bzw. von dessen Sippe. Die Höhe dieses Wergeldes (althochdeutsch: wer, „Mann“) richtete sich nach Stand, Alter und Geschlecht des Geschädigten.
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Aber daß das Judentum einerseits, der asketische Protestantismus andererseits keinerlei Beichte und Gnadenspendung durch irgendeine menschliche Person und keinerlei magische Sakramentsgnade kennen, hat historisch jenen ungeheuer scharfen Druck im Sinn der Entwicklung einer ethisch rationalen Lebensgestaltung geübt, der beiden Arten von Religiosität, so stark sie sonst voneinander abweichen, gemeinsam ist. Es fehlt eine solche Möglichkeit einer Entlastung, wie sie das Beichtinstitut und die Anstaltsgnade verschafft hatte. Nur etwa das Sündenbekenntnis in den Zwölferversammlungen der Methodisten [347] In Frankreich wurde ein System der Familienplanung praktiziert, bei dem durch den Einsatz von Verhütungsmitteln und Abtreibungen die Anzahl der Nachkommen auf nur zwei beschränkt wurde, das „Zweikindersystem“, von Weber auch als „onanismus matrimonialis“ bezeichnet (vgl. unten, S. 369). August Bebel bemerkte dazu: „[…] sowohl die Eheschließungen wie die Geburten werden von den ökonomischen Zuständen beherrscht. Am klassischsten zeigt sich dieses in Frankreich. Dort herrscht in der Landwirtschaft das Parzellensystem. Aber Grund und Boden, unter eine gewisse Grenze zerstückelt, ernährte keine Familie mehr. Daher das berühmt und berüchtigt gewordene Zweikindersystem, das sich in Frankreich zur sozialen Institution ausgebildet hat und sogar die Bevölkerung in vielen Provinzen, zum Schrecken der Staatslenker, fast stationär erhält, ja einen erheblichen Rückgang derselben verursacht“. (Bebel, August, Die Frau und der Sozialismus, 50. Aufl. – Stuttgart: J.H.W. Dietz Nachfolger 1910, S. 106 f.).
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war eine derart wirkende Beichte, nur in stark abweichendem Sinn und mit abweichender Wirkung. Allerdings aber konnte daraus die halb orgiastische Bußpraxis der Heilsarmee Das sog. „Klassen-System“ der Methodisten wurde am 15. Februar 1742 in Bristol begründet. Je zwölf Gemeindeglieder waren zu einer class („Klasse“) zusammengeschlossen. Der „Klassenführer“ hatte die Aufgabe, jedes Mitglied einmal wöchentlich seelsorgerisch zu betreuen, entweder privat oder bei den class meetings, den „Klassenversammlungen“, bei denen ein allgemeines Sündenbekenntnis der Teilnehmer üblich war. (Vgl. Loofs, Friedrich, Methodismus, in: RE3, Band 12, 1903, S. 747–801, Zitate: S. 770, 772). In der „Protestantischen Ethik“ charakterisierte Weber den Artikel von Loofs als „vorzüglich“. (Weber, Protestantische Ethik II, S. 57, Fn. 114).
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erwachsen. Theodor Kolde beschrieb die Praktiken der Heilsarmee: „Gegen Ende einer Versammlung […] werden des ‚Kommandierenden‘ Mahnungen an die Sünder, endlich [348]Buße zu thun, d. h. hier konkret, hervorzutreten und sich an der Bußbank niederzuwerfen, immer dringender […]. In der Regel finden sich auch solche Sünder, die unter dem Eindruck jener unmittelbaren Bußpredigt und des eigenen materiellen Elends im Vergleiche mit der so offen zur Schau getragenen jauchzenden Fröhlichkeit der Erlösten zur Bußbank hinwandern […]“. Einige Büßer wurden unfreiwillig zur Bußbank gedrängt, um dort „in den Brunnen (des Blutes)“ getaucht zu werden. „Mit solchen Scenen, unter Abgebung von ,Salven‘ aus Freude über jeden Erlösten, d. h. lautem Halleluja und Gloriarufen schließen in der Regel diese Versammlungen […]“. (Kolde, Heilsarmee, wie oben, S. 246, Anm. 72, S. 589 f.).
[348]Die Anstaltsgnade hat endlich und namentlich, der Natur der Sache nach, auch die Tendenz, als Kardinaltugend und entscheidende Heilsbedingung den Gehorsam, die Unterwerfung unter die Autorität, sei es der Anstalt als solcher oder des charismatischen Gnadespendenden, in Indien z. B, des zuweilen schrankenlose Autorität ausübenden Guru, zu entwickeln. Die Lebensführung ist in diesem Fall nicht eine Systematisierung von innen und aus einem Zentrum heraus, welches der Einzelne selbst errungen hätte, sondern sie speist sich aus einem außer ihr liegenden Zentrum. Das kann für den Inhalt der Lebensführung an sich keine auf ethische Systematisierung drängende Wirkung äußern, sondern nur das Gegenteil. Dagegen macht es allerdings, nur mit anderer Wirkung als die Gesinnungsethik, die Anpassung konkreter heiliger Gebote an veränderte äußere Bedingungen durch Steigerung ihrer Elastizität praktisch leichter. Beispielsweise ist in der katholischen Kirche im 19. Jahrhundert das Zinsverbot trotz seiner biblischen und durch päpstliche Dekretalen festgelegten ewigen Geltung dennoch faktisch außer Kraft gesetzt. Nicht offen in Gestalt seiner (unmöglichen) Aufhebung, sondern durch eine unscheinbare interne Anweisung des heiligen Offizium an die Beichtväter, fortan nach Verstößen gegen das Zinsverbot im Beichtstuhl nicht weiter zu forschen und die Absolution zu erteilen, vorausgesetzt: daß die Gewißheit bestehe, das Beichtkind würde, falls der Heilige Stuhl künftig einmal auf die alten Grundsätze zurückgreifen sollte, sich diesem Entscheid in Gehorsam fügen.
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In Frankreich agitierte [349]zeitweilig der Klerus für eine ähnliche Behandlung des Zweikindersystems. Der rein als solcher verdienstliche Anstaltsgehorsam also, nicht die konkrete inhaltliche ethische Pflicht, aber auch nicht die methodisch selbst gewonnene ethische Virtuosenqualifikation ist der letzte religiöse Wert. Formale Gehorsamsdemut ist das einzige, die Lebensführung einheitlich umspannende, in der Wirkung mit der Mystik durch die spezifische „Gebrochenheit“ des Frommen verwandte Prinzip bei konsequenter Durchführung der Anstaltsgnade. Der Satz Mallinckrodts: die Freiheit des Katholiken bestehe darin, dem Papst gehorchen zu dürfen, Das Zinsverbot geht auf 5. Mose 23, 20 zurück: „Du sollst von deinem Bruder nicht Wucher nehmen, weder mit Geld, noch mit Speise, noch mit allem, womit man wuchern kann“. Wie es im 19. Jahrhundert außer Kraft gesetzt wurde, beschrieb Franz Xaver Funk: „Als einer Dame in Lyon i. J. 1822 die Absolution verweigert wurde, weil sie von ihrem Vermögen den gesetzlichen Zins bezog, wandte sie sich nach Rom, und das hl. Officium [die Römische Kurialbehörde zum Schutz der Glaubens- und Sittenlehre] entschied gegen den Beichtvater, sofern der Pönitent nur bereit sei, sich dem kirchlichen [349]Urtheil zu unterwerfen. In den Jahren 1830 bis 1838 folgten in Rom weitere Anfragen und wenn der apostolische Stuhl es auch noch nicht angezeigt fand, die Frage zu einer förmlichen Entscheidung zu bringen, so wollte er doch eine sichere Norm für den Beichtstuhl geben und die Beichtväter wurden im Allgemeinen angewiesen, die Pönitenten wegen des Zinsnehmens nicht zu behelligen, sofern sie nur das noch ausstehende definitive Urtheil der Kirche anzuerkennen gewillt seien“. (Funk, Franz Xaver, Geschichte des kirchlichen Zinsverbotes (Tübinger Universitätsschriften aus dem Jahre 1876). – Tübingen: Heinrich Laupp 1876, S. 69 f.).
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ist in dieser Hinsicht von universeller Geltung. In WuG1, S. 816 (MWG I/22-4), verwendete Weber ein ähnliches Zitat: „‚Die Gewissensfreiheit des Katholiken besteht‘, wie Mallinckrodt im Reichstag ausdrückte, ‚darin: dem Papst gehorchen zu dürfen‘“. Das von Weber angeführte Zitat konnte in den Reichstagsreden des Zentrumsabgeordneten Hermann von Mallinckrodt nicht nachgewiesen werden. Im Preußischen Abgeordnetenhaus betonte von Mallinckrodt am 30. Januar 1873 jedoch im Namen der Katholiken, „[…] daß unsere individuelle Gewissensfreiheit ja gerade und allein dadurch ihre Befriedigung findet, daß die Autorität der Kirche anerkannt wird […]“. (Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 1. November 1872 einberufenen beiden Häuser des Landtages. Haus der Abgeordneten, 2. Band. – Berlin: W. Moeser 1873, S. 865).
Oder es wird die Erlösung an den Glauben geknüpft. Sofern dieser Begriff nicht identisch gesetzt wird mit der Unterwerfung unter praktische Normen, setzt er stets irgendein Fürwahrhalten irgendwelcher metaphysischer Tatsachen, also irgendeine Entwicklung von „Dogmen“ voraus, deren Annahme als wesent[A 323]liches Merkmal der Zugehörigkeit gilt. Wie wir sahen,
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ist aber das Maß der Dogmenentwicklung innerhalb der einzelnen Religionen ein sehr verschiedenes. Aber irgendein Maß von „Lehre“ ist Unterscheidungsmerkmal der Prophetie und Priesterreligiosität gegenüber der reinen Magie. Natürlich beansprucht schon jede Magie den Glauben an die magische Macht des Zauberers. Zunächst seinen eigenen Glauben an sich selbst und sein Kön[350]nen. Das gilt für jede, auch die frühchristliche Religiosität. Weil die Jünger an ihrer eigenen Macht zweifelten, konnten sie, so belehrt sie Jesus, einen Besessenen nicht heilen. Siehe oben, S. 208 ff.
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Wer dagegen vollkommen von seiner Fähigkeit überzeugt ist, ein Wunder zu tun, dessen Glaube kann Berge versetzen. [350] Matthäus 17, 19–20: „Da traten zu ihm seine Jünger besonders, und sprachen: Warum konnten wir ihn [einen Krankheitsdämon aus dem Körper eines Knaben] nicht austreiben? Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Um eures Unglaubens willen […]“.
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Auf der anderen Seite aber benötigt auch die Magie – noch heute – den Glauben derjenigen, welche das magische Wunder verlangen. In seiner Heimat und gelegentlich in anderen Städten vermag Jesus kein Wunder zu tun und „wundert sich ihres Unglaubens“. Matthäus 17, 20: „Denn ich sage euch wahrlich: So ihr Glauben habt als ein Senfkorn, so möget ihr sagen zu diesem Berge: Heb dich von hinnen dorthin! So wird er sich heben; und euch wird nichts unmöglich sein“.
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Weil Besessene und Krüppel an ihn und seine Macht glauben, heilt er sie, wie er wiederholt erklärt. Markus 6, 4–6: „Jesus aber sprach zu ihnen: Ein Prophet gilt nirgend weniger denn im Vaterland und daheim bei den Seinen. Und er konnte allda nicht eine einzige Tat tun, außer, wenig Siechen legte er die Hände auf, und heilte sie. Und er verwunderte sich ihres Unglaubens. […]“.
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Dies wird nun einerseits nach der ethischen Seite sublimiert. Weil die Ehebrecherin an seine Macht zur Sündenvergebung glaubt, kann er ihr die Sünden vergeben. Markus 5, 34; Markus 9, 23–24; Markus 10, 52; Lukas 18, 42.
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Andererseits aber – und darum handelt es sich hier zunächst – entwickelt sich der Glaube zum Fürwahrhalten intellektuell verstandener Lehrsätze, die ihrerseits Produkt intellektueller Überlegung sind. Der Konfuzianismus, der von Dogmen gar nichts weiß, ist eben deshalb auch keine Erlösungsethik. Der alte Islam und das alte Judentum stellten keine eigentlich dogmatischen Ansprüche, sondern verlangen nur, wie die urwüchsige Religion überall, den Glauben an die Macht (und also: Existenz) des eigenen, jetzt als „einzig“ angesehenen Gottes und die Mission seiner Propheten. Da sie aber Buchreligionen sind, so müssen immerhin die heiligen Bücher für inspiriert, im Islam sogar als gottgeschaffen, und also auch ihr Inhalt für wahr gehalten werden. Allein außer kosmogonischen, mythologischen und geschichtlichen Erzählungen enthalten Gesetz und Propheten und der Koran wesentlich praktische Gebote und verlangen an sich keine intellek[351]tuelle Einsicht bestimmter Art. Den Glauben als bloßes heiliges Wissen kennen nur die unprophetischen Religionen. Bei ihnen ist die Priesterschaft noch, wie die Zauberer, Hüterin des mythologischen und kosmogonischen Wissens und, als heilige Sänger, zugleich der Heldensage. Die vedische und die konfuzianische Ethik knüpfen die ethische Vollqualifikation an die schulmäßig überlieferte literarische Bildung, die im weitesten Umfang mit bloßem gedächtnismäßigem Wissen identisch ist. Das intellektuelle „Verstehen“ als Anforderung führt bereits zur philosophischen oder gnostischen Erlösungsform hinüber. Damit ist aber eine ungeheure Kluft zwischen den intellektuell voll Qualifizierten und den Massen geschaffen. Eine eigentlich offizielle „Dogmatik“ gibt es damit aber noch nicht; nur mehr oder minder als orthodox geltende Philosophenmeinungen, wie das orthodoxe Vedanta, das heterodoxe Sankhya im Hinduismus. Dagegen haben die christlichen Kirchen mit zunehmendem Eindringen des Intellektualismus und zunehmender Auseinandersetzung mit ihm ein sonst unerreichtes Maß offizieller bindender rationaler Dogmen, einen Theologenglauben, entwickelt. Die Forderung universellen Wissens, Verstehens und Glaubens dieser Dogmen ist praktisch undurchführbar. Es fällt uns heute sogar schwer, uns vorzustellen, daß selbst nur der komplizierte Inhalt etwa des Römerbriefs von einer (vorwiegenden) Kleinbürgergemeinde wirklich intellektuell voll angeeignet worden sei, wie es doch anscheinend der Fall gewesen sein muß. Immerhin wird hier noch mit soteriologischen Vorstellungen gearbeitet, welche innerhalb einer an das Grübeln über die Bedingungen der Erlösung gewöhnten städtischen, dabei mit jüdischer oder hellenischer Kasuistik irgendwie vertrauten Proselytenschicht gangbar waren, und es ist andererseits bekannt, daß auch im 16. und 17. Jahrhundert breite Kleinbürgerkreise die Dogmen der Dortrechter Johannes 8, 3–11.
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und der West[352]minstersynode [351] In der südholländischen Stadt Dordrecht hielten vom 13. November 1618 bis 29. Mai 1619 Vertreter aller größeren reformierten Kirchen mit Ausnahme der Hugenotten eine Generalsynode ab, um die Streitigkeiten zwischen den Remonstranten und den Calvinisten über die Prädestinationslehre zu beenden. Die Teilnehmer der Dordrechter Synode bekräftigten die Prädestinationslehre Calvins und schlossen die Arminianer (vgl. oben, S. 236, Anm. 52) aus. In fünf Artikeln vom 6. Mai 1619 legten sie folgende Beschlüsse bezüglich der Prädestination fest: Die Erwählung und Verwerfung erfolge nach Gottes ewigem Beschluß; Christi Tod habe nur die Erwählten erlöst; alle Menschen seien von Gott berufen, aber nur die Erwählten würden wiedergeboren; Gottes Gnade sei unverlierbar.
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und die vielen komplizierten Kompromißformeln der Reformationskirchen sich intellektuell angeeignet haben. Allein unter normalen Verhältnissen ist eine solche Anforderung in Gemeindereligionen undurchführbar ohne [A 324]die Konsequenz [352] Die Westminstersynode (1. Juli 1643–25. März 1652) wurde nach Aufhebung der Episkopalkirche auf Veranlassung des Langen Parlaments zur Reform von Verfassung, Kultus, Bekenntnis und Katechismus der Kirche Englands und zur Beratung des Parlaments in Glaubensfragen einberufen. Auf dieser Synode wurde die „Westminster Confession“ beschlossen, ein streng calvinistisches Bekenntnis.
u
entweder des Ausschlusses aller nicht zu den philosophisch Wissenden (Gnostikern) Gehörigen[352]A: Konsequenz,
v
(der „Hyliker“ und der mystisch unerleuchteten „Psychiker“) vom Heil oder doch der Beschränkung auf eine Seligkeit geringeren Grades für die unintellektuellen Frommen (Pistiker), wie sie in der Gnosis und ähnlich auch bei indischen Intellektuellenreligionen vorkommt. Im alten Christentum geht denn auch durch die ersten Jahrhunderte der Streit darüber: ob theologische „Gnosis“ oder schlichter Glaube: „Pistis“, die das höhere oder das einzige Heil verbürgende Qualität sei, ausdrücklich oder latent hindurch, im Islam sind die Mutaziliten die Vertreter der Theorie, daß das im gewöhnlichen Sinn „gläubige“, nicht dogmatisch geschulte Volk gar nicht zur eigentlichen Gemeinschaft der Gläubigen gehöre, und überall haben die Beziehungen zwischen theologischem Intellektuellentum, dem intellektuellen Virtuosen der religiösen Erkenntnis und der Frömmigkeit der Unintellektuellen, vor allem aber der Virtuosenreligiosität der Askese und Kontemplation, die beide „totes Wissen“ gleich wenig zur Erlösung qualifizierend finden mußten, die Eigenart einer Religiosität jeweils bestimmend geprägt. A: gehörigen
Schon in den Evangelien selbst wird die Gleichnisform der Verkündigung Jesus als absichtliche Esoterik hingestellt.
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Soll diese Konsequenz einer Intellektuellenaristokratie nicht gezogen wer[353]den, dann muß der Glaube etwas anderes sein als ein wirkliches Verstehen und Fürwahrhalten eines theologischen Dogmensystems. Und tatsächlich ist er dies in allen prophetischen Religionen entweder von Anfang an gewesen oder mit Ausbildung der Dogmatik namentlich dann geworden, wenn sie Gemeindereligion wurden. Nachdem Jesus in aller Öffentlichkeit das Gleichnis vom Sämann erzählt hatte, sagte er zu seinen Jüngern, als sie allein waren: „Euch ist’s gegeben, das Geheimnis des Reichs Gottes zu wissen; denen aber draußen widerfähret es alles durch Gleichnisse“ (Markus 4, 11). William Wrede hat daraus den Schluß gezogen, Markus scheide „zwischen einer esoterischen und einer exoterischen Belehrung Jesu“. (Wrede, William, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1901, S. 55).
w
Die Annahme der Dogmen ist, außer in den Augen der asketischen oder – und namentlich – mystischen Virtuosen, zwar nirgends irrelevant. Aber die ausdrückliche persönliche Anerkennung von Dogmen, im Christentum technisch „fides explicita“ genannt, pflegt lediglich für bestimmte, im Gegensatz zu anderen Dogmen als absolut wesentlich angesehene „Glaubensartikel“ gefordert zu werden. Verschieden weit für andere Dogmen. Die Ansprüche, welche in dieser Hinsicht der Protestantismus, auf Grund der „Rechtfertigung durch den Glauben“,[353]A: wurde.
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stellte, waren besonders hohe, und zwar namentlich (wenn auch nicht nur) die des asketischen [353] Für Luther geschah die Rechtfertigung des Sünders sola fide, „allein aus dem Glauben“, dies im Unterschied zur katholischen Auffassung von der Notwendigkeit von Werken, der sog. „Werkgerechtigkeit“. Luthers „Erste Disputation über Römer 3, 28“ vom 11. September 1535 stand unter dem Thema: „Arbitramur hominem iustificari fide absque operibus legis“. [So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht werde durch den Glauben ohne des Gesetzes Werke“]. (Zitiert nach D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, 39. Band, 1. Abteilung. – Weimar: Herman Böhlaus Nachfolger 1926, S. 44).
a
Protestantismus, für den die Bibel eine Kodifikation göttlichen Rechts war. Die Einrichtung universeller Volksschulen nach jüdischer Art, die intensive Schulung namentlich des Sektennachwuchses, ist sehr wesentlich dieser religiösen Anforderung zu danken, die „Bibelfestigkeit“ der Holländer etwa, ebenso der angelsächsischen Pietisten und Methodisten (im Gegensatz zu den sonstigen englischen Volksschulzuständen), erregte noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Staunen der Reisenden. Hier war eben die Überzeugung von der dogmatischen Eindeutigkeit der Bibel die Grundlage des weitgehenden Verlangens eigener Kenntnis des Glaubens. Der Masse der Dogmen gegenüber kann in einer dogmenreichen Kirche dagegen nur die fides implicita, die allgemeine Bereitschaft der Unterstellung aller eigenen Überzeugung unter die im Einzelfall maßgebende Glaubensautorität verlangt werden, wie dies die katholische Kirche in weitestem Um[354]fang tatA: der asketische
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und tut. Eine fides implicita aber ist tatsächlich eben kein persönliches Fürwahrhalten von Dogmen mehr, sondern eine Erklärung des Vertrauens und der Hingabe an einen Propheten oder an eine anstaltsmäßig geordnete Autorität. Damit verliert der religiöse Glaube aber seinen intellektualistischen Charakter. Sobald die Religiosität vorwiegend ethisch rational wird, besitzt er diesen ohnehin nur in nebensächlichem Maße. Denn das bloße Fürwahrhalten von Erkenntnissen genügt einer „Gesinnungsethik“ höchstens als unterste Stufe des Glaubens, wie dies u.a. Augustin betont. Auch der Glaube muß eine Gesinnungsqualität werden. Die persönliche Anhänglichkeit an einen Sondergott ist mehr als „Wissen“ und wird eben deshalb als „Glaube“ bezeichnet. So im Alten wie Neuen Testament. Der „Glaube“, welcher Abraham „zur Gerechtigkeit gerechnet“ [354] Bei Thomas von Aquin beispielsweise ist folgendes ausgeführt: „Hinsichtlich der anderen Glaubensdinge aber ist der Mensch nicht verpflichtet, sie ausdrücklich für wahr zu halten [explicite credere], sondern nur einschlußweise [implicite] oder in der Bereitschaft des Geistes, sofern er bereit ist, alles zu glauben, was die göttliche Schrift enthält. Aber nur dann ist er gehalten, derartiges ausdrücklich zu glauben [explicite credere], wenn es für ihn feststeht, daß es in der Glaubenslehre mitenthalten ist“. (Thomas von Aquin, Summa theologica, Traktat Glaube als Tugend, Quaestio 2, 5: „Utrum homo teneatur ad credendum aliquid explicite“).
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wird, ist kein intellektuelles Fürwahrhalten von Dogmen, sondern Vertrauen auf die Verheißungen Gottes. Genau das gleiche bedeutet der Glaube seinem zentralen Sinne nach bei Jesus und Paulus. [A 325]Das Wissen und die Dogmenkenntnis treten weit zurück. Bei einer anstaltsmäßig organisierten Kirche pflegt[,] mindestens in der Praxis, die Zumutung der fides explicita auf den dogmatisch geschulten Priester, Prediger, Theologen beschränkt zu werden. Jede systematisch theologisierte Religiosität läßt diese Aristokratie der dogmatisch Gebildeten und Wissenden in ihrer Mitte entstehen, welche nun, in verschiedenem Grade und mit verschiedenem Erfolge, den Anspruch erheben, deren eigentliche Träger zu sein. Die noch heute vielfach populäre Vorstellung der Laien, daß der Pfarrer mehr zu verstehen und zu glauben sich imstande zeigen müsse, als der gewöhnliche Menschenverstand fasse – eine namentlich bei den Bauern verbreitete Konzeption –, ist nur eine der Formen, in welchen die „ständische“ Qualifikation durch „Bildung“, die in der [355]staatlichen, militärischen, kirchlichen und auch jeder Privatbürokratie sich äußert, hervortritt. Das Urwüchsigere ist demgegenüber die erwähnte, 1. Mose 15, 6: „Abram glaubte dem HErrn, und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit“. (Vgl. auch Römer 4, 3 und 4, 22; Galater 3, 6; Jakobus 2, 23).
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auch neutestamentliche Vorstellung von dem Glauben als einem spezifischen Charisma eines außeralltäglichen Vertrauens auf Gottes ganz persönliche Providenz, welches die Seelenhirten oder Glaubenshelden haben sollen. Kraft dieses Charisma eines über die gewöhnliche Menschenkraft hinausgehenden Vertrauens auf Gottes Beistand kann der Vertrauensmann der Gemeinde, als Glaubensvirtuose, praktisch anders handeln und praktisch andere Dinge vollbringen[,] als der Laie vermag. Der Glaube gibt hier eine Art von Surrogat magischer Fähigkeiten. [355] Siehe oben, S. 352 f.
Diese spezifisch antirationale innere Haltung aber einer Religiosität des schrankenlosen Gottvertrauens, welche zuweilen bis zu akosmistischer Indifferenz gegen verstandesmäßig praktische Erwägungen, sehr oft zu jenem bedingungslosen Zutrauen auf Gottes Vorsehung führt, welches die Folgen des eigenen, als gottgewollt empfundenen Tuns grundsätzlich ihm allein anheimstellt, steht sowohl im Christentum wie im Islam und überall im schroffen Gegensatz zum „Wissen“, gerade zum theologischen Wissen. Sie kann stolze Glaubensvirtuosität sein oder umgekehrt, wo sie diese Gefahr kreaturvergötternden Dünkels meidet, eine Haltung unbedingter religiöser Hingabe und gottinniger Demut, welche vor allem anderen die Abtötung des intellektuellen Hochmuts verlangt. Sie spielt besonders im alten Christentum bei Jesus und Paulus, weiterhin im Kampf gegen die hellenische Philosophie, dann in der Theologenfeindschaft der mystisch-pneumatischen Sekten des 17. Jahrhunderts in Westeuropa, des 18. und 19. in Osteuropa eine beherrschende Rolle. Jede, wie immer geartete, genuin religiöse Glaubensfrömmigkeit schließt direkt oder indirekt an irgendeinem Punkte das „Opfer des Intellekts“
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ein, zugunsten jener [356]überintellektuellen spezifischen Gesinnungsqualität der absoluten Hingabe und des vertrauensvollen: credo, non quod, sed quia absurdum est. Mit „Opfer des Intellekts“ (lat.: sacrificium intellectus) wird die Verleugnung eigener vernünftiger Überzeugungen zugunsten des Gehorsams gegenüber der Kirche bezeichnet. Nach dem Vatikanischen Konzil von 1869/70, auf dem das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes verkündet wurde, wurde der Begriff häufig verwendet. Er geht möglicherweise auf 2. Korinther 10, 5 zurück: „Wir verstören damit die Anschläge und alle Höhe, die sich erhebet wider die Erkenntnis Gottes, und nehmen gefangen alle Vernunft unter den Gehorsam Christi“.
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Hier wie überall betont die Erlösungsreligiosität der Religionen mit überweltlichem Gott die Unzulänglichkeit der eigenen intellektuellen Kraft gegenüber der Erhabenheit Gottes und ist daher etwas spezifisch gänzlich anderes als der buddhistische Verzicht auf das Wissen vom Jenseits – weil es der allein erlösenden Kontemplation nicht frommt – oder der [356] Die in der zeitgenössischen Literatur häufig dem Augustinus zugeschriebene Formel „credo quia absurdum [„ich glaube, weil es widersinnig ist“] geht vermutlich auf Tertullian zurück, de carne Christi V, 3, wo es heißt: „Et mortuus est Dei Filius; prorsus credibile, quia ineptum est“ [„Der Sohn Gottes ist gestorben; das ist völlig glaubhaft, weil es widersinnig ist“]. Zur Interpretation dieser Passage vgl. auch Windelband, Wilhelm, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 4. Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1907, S. 187: „Das Evangelium ist nicht nur unbegreiflich, sondern es ist auch im notwendigen Widerspruch mit der weltlichen Einsicht: credibile est, quia ineptum est; certum est, quia impossibile est – credo quia absurdum“. Der letzte Teil des lateinischen Satzes ist im Handexemplar Max Webers (Arbeitsstelle der Max Weber-Gesamtausgabe, Bayerische Akademie der Wissenschaften, München) unterstrichen. Vgl. hierzu auch Weber, Wissenschaft als Beruf (MWG I/17, S. 108, mit Anm. 58).
b
allen Intellektuellenschichten aller Zeiten, den hellenistischen Grabschriften so gut wie den höchsten Renaissanceprodukten (etwa Shakespeare), wie der europäischen, chinesischen, indischen Philosophie, wie dem modernen Intellektualismus gemeinsame, skeptische[356]A: den
c
Verzicht auf die Kenntnis eines „Sinns“ der Welt, den sie vielmehr schroff bekämpfen muß. Der Glaube an das „Absurde“, der schon in den Reden Jesus hervortretende Triumph darüber, daß es die Kinder und Unmündigen, nicht die Wissenden, sind, denen dies Charisma des Glaubens von Gott gegeben ist,A: gemeinsamen, skeptischen
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deutet die ungeheure Spannung dieser Religiosität gegen den Intellektualismus an, den sie doch zugleich immer wieder für ihre eigenen Zwecke zu verwenden trachtet. Sie fördert ihn Markus 10, 14: „Laßt die Kindlein zu mir kommen, und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das Reich Gottes“. Matthäus 11, 25: „[…] Ich preise dich, Vater und Herr Himmels und der Erde, daß du solches den Weisen und Klugen verborgen hast, und hast es den Unmündigen offenbaret“.
d
kraft ihrer zunehmenden Durchtränkung mit hellenischen Denkformen schon im Altertum, dann erneut und weit stärker noch im Mittelalter durch dieFehlt in A; ihn sinngemäß ergänzt.
e
Schaffung der Universitäten eigens als Stätten der Pflege der Dialektik, die [357]sie, unter dem Eindruck der Leistungen der romanistischen Juristen für die konkurrierende Macht [A 326]des Kaisertums, ins Leben rief. Glaubensreligiosität setzt jedenfalls stets einen persönlichen Gott, Mittler, Propheten voraus, zu dessen Gunsten an irgendeinem Punkt auf Selbstgerechtigkeit und eigenes Wissen verzichtet wird. Sie ist daher den asiatischen Religiositäten in dieser Form spezifisch fremd. Fehlt in A; durch die sinngemäß ergänzt.
Der „Glaube“ kann, sahen wir,
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je nach seiner spezifischen Wendung verschiedene Formen annehmen. Nicht dem urwüchsigen, noch in der Jahvereligion und im alten Islam vorwaltenden, Vertrauen des Kriegers auf die gewaltige Macht des eigenen Gottes, wohl aber der „Erlösung“ suchenden Glaubensreligiosität befriedeter Schichten ist eine gewisse, freilich sehr verschieden starke Verwandtschaft mit der kontemplativen Mystik gemeinsam. Denn stets hat ein solches als „Erlösung“ erstrebtes [357] Siehe oben, S. 349 f.
f
Heilsgut wenigstens die Tendenz, zu einer vorwiegend „zuständlichen“ Beziehung zum Göttlichen, einer unio mystica, zu werden. Und gerade je systematischer dann der praktische Gesinnungscharakter des Glaubens herauspräpariert wird, desto leichter können, ganz wie bei aller Mystik, direkt anomistische Konsequenzen auftreten. Schon die Paulusbriefe[357]A: erstrebte
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zeigen, ebenso wie gewisse Widersprüche in den überlieferten Äußerungen von Jesus, die große Schwierigkeit[,] eine, auf „Glauben“ in diesem Sinn einer Vertrauensbeziehung ruhende, eigentliche „Erlösungs“-Religiosität mit bestimmten ethischen Anforderungen in eindeutige Beziehung zu setzen. Mit den naheliegenden Konsequenzen seiner eigenen Anschauung hat denn auch Paulus fortwährend in sehr komplizierten Deduktionen zu kämpfen. Die konsequente Durchführung der paulinischen Glaubenserlösung im Marcionitismus Von Paulus selbst verfaßt sind nach Ansicht kritischer Neutestamentler nur der 1. Thessalonicher-, Galater-, 1. Korinther-, Philipper-, Philemon-, 2. Korinther- und der Römerbrief.
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vollends zeigte die anomistischen Folgerungen. Normalerweise wirkt die Glaubenserlösung, je mehr der Nachdruck auf sie fällt, innerhalb einer Alltagsreligion nicht leicht in der Richtung ethisch aktiver Rationali[358]sierung der Lebensführung, wie dies beim Propheten persönlich naturgemäß sehr wohl der Fall sein kann. Unter Umständen wirkt sie direkt im antirationalen Sinn, im einzelnen sowohl wie im Prinzip. Wie im kleinen manchen gläubigen Lutheranern der Abschluß von Versicherungsverträgen als Bekundung ungläubigen Mißtrauens in Gottes Vorsehung erschien, so erscheint im großen jede rationale Heilsmethodik, jede Art von Werkgerechtigkeit, vor allem jede Überbietung der normalen Sittlichkeit durch asketische Leistungen der Glaubensreligiosität als frevelhaftes Pochen auf Menschenkraft. Wo sie konsequent entwickelt ist, lehnt sie – wie der alte Islam – jedenfalls die überweltliche Askese, insbesondere das Mönchtum, Vgl. dazu Harnack, Dogmengeschichte I, S. 292–309.
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ab. Sie kann dadurch, wie es der lutherische Protestantismus getan hat, der religiösen Wertung der innerweltlichen Berufsarbeit direkt zugute kommen und deren Antriebe namentlich dann stärken, wenn sie auch die priesterliche Buß- und Sakramentsgnade zugunsten der alleinigen Wichtigkeit der persönlichen Glaubensbeziehung zu Gott entwertet. Dies hat das Luthertum prinzipiell von Anfang an, noch verstärkt in seiner späteren Entwicklung nach völliger Beseitigung der Beichte [358] Ignaz Goldziher war der Ansicht, daß der Islam zu Mohammeds Lebzeiten „vom Gedanken der Weltverneinung beherrscht“ war (Goldziher, Vorlesungen über den Islam, wie oben, S. 172, Anm. 5, S. 139), daß jedoch nach dem Tod des Mohammed „an Stelle der Weltverneinung […] die Idee der Welteroberung“ trat (ebd., S. 140). Der dem Mohammed zugeschriebene Lehrsatz: „Es gibt kein Mönchtum (rahbānijja [rahbānīyā] im Islam; das Mönchtum dieser Gemeinde ist der Religionskrieg“ unterstreiche – so die Ansicht von Goldziher (ebd., S. 145) – das Schwinden „der asketischen Tendenzen des Urislams“. Die gegen das Mönchtum gerichteten Prophetenaussprüche seien eine „direkte Polemik gegen das Asketenleben im Christentum“ (ebd., S. 145), besonders gegen die Ehelosigkeit christlicher Mönche. Goldziher bemerkte weiterhin, daß die Ehelosigkeit als traditionswidrig empfunden wurde: „die mönchische Lebensweise, rahbānijja, fällt unter den Gesichtspunkt der bidʿa [der „Neuerung“, das, was der Sunna widerspricht].“ (Ebd., S. 187, Anm. 11).
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und speziell in den Formen des von Spener und Francke her asketisch, durch quäkerische und andere ihnen selbst wenig bewußte Kanäle, beeinflußten Pietismus getan. Aus der lutherischen Bibelübersetzung zuerst stammt überhaupt das deutsche Wort „Beruf“, Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurde in der lutherischen Kirche die Privatbeichte durch eine allgemeine Beichte der Gemeinde vor dem Abendmahl ersetzt.
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und die [359]Wertung der innerweltlichen Berufstugend als einziger Form gottwohlgefälligen Lebens ist dem Luthertum von Anfang an durchaus wesentlich. Da aber die „Werke“ weder als Realgrund der Seelenrettung, wie im Katholizismus, noch als Erkenntnisgrund der Wiedergeburt, wie im asketischen Protestantismus, in Betracht kamen, und da überhaupt der Gefühlshabitus des Sichgeborgenwissens in Gottes Güte und Gnade die vorwaltende Form der Heilsgewißheit blieb, so blieb auch die Stellung zur Welt ein geduldiges „Sich-Schicken“ in deren Ordnungen, im ausgeprägten Gegensatz gegen alle jene Formen des Protestantismus, die zur Heilsgewißheit eine Bewährung (bei den Pietisten fides efficax, Zu Luthers Berufskonzeption und dem neutestamentlichen Begriff κλῆσις äußerte sich Weber in seiner „protestantischen Ethik“ (Weber, Protestantische Ethik I, S. 23–54).
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bei den islamischen Charidschiden „ʿamal“) [359] Der Terminus fides efficax (lat.) bezeichnet einen „praktisch wirksamen Glauben“.
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in guten Werken oder einer spezifisch methodischen Lebensführung forderten, und vollends zu der Virtuosenreligion der asketischen Sekten. Es fehlen dem Luthertum jegliche Antriebe zu sozial oder politisch revolutionärer oder auch nur rational-reformerischer [A 327]Haltung. Es gilt in der Welt und gegen sie das Heilsgut des Glaubens zu bewahren, nicht[,] sie rational ethisch umzugestalten. Wo nur das Wort rein und lauter verkündet wird, findet sich alles für den Christen Wesentliche von selbst, und es ist die Gestaltung der äußeren Ordnung der Welt, selbst der Kirche, ein Adiaphoron. Der Terminus ʿamal (arab.: „Handlung“, „Tat“) war für einige islamische Theologen Teil des Glaubens (ʿīmān), für andere nicht. Ignaz Goldziher übersetzte ihn mit „Übung“ oder „Werke“. (Goldziher, Vorlesungen über den Islam, wie oben, S. 172, Anm. 5, S. 88).
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Dieser fügsame, relativ weltindifferente, im Gegensatz zur Askese „weltoffene“ Gefühlscharakter des Glaubens ist allerdings erst Entwicklungsprodukt. Die spezifische Glaubensreligiosität kann nicht leicht antitraditionalistisch rationale Züge der Lebensführung erzeugen, und es fehlt ihr aus sich heraus jeder Antrieb zu einer rationalen Beherrschung und Umgestaltung der Welt. Adiaphoron (griech. Adj., „nicht verschieden“, „gleich gültig“) bezeichnet das, was vom ethischen Standpunkt aus gleich gültig ist und „das man tun oder lassen kann“. Der Begriff stammt aus der älteren Stoa und wurde für Handlungen und Güter verwendet, die es nicht wert waren, erstrebt zu werden.
Der „Glaube“ in der Form, wie ihn die Kriegerreligionen des alten Islam und auch der älteren Jahvereligion kennen, trägt das Gepräge der einfachen Gefolgschaftstreue gegen den Gott oder Pro[360]pheten, ganz wie sie allen Beziehungen zu anthropomorphen Göttern urwüchsig eigen ist. Für die Gefolgschaftstreue lohnt der Gott, Untreue straft er. Andere Qualitäten gewinnt diese persönliche Beziehung zu Gott erst, wo befriedete Gemeinden und speziell Anhänger aus bürgerlichen Schichten Träger einer Erlösungsreligiosität sind. Dann erst kann der Glaube als Erlösungsmittel seinen gefühlsmäßigen Charakter gewinnen und dabei die Züge der Gottes- oder Heilandsliebe annehmen, wie sie schon in der exilischen und nachexilischen Religiosität des Judentums und verstärkt im frühen Christentum, vor allem bei Jesus und Johannes, auftreten. Gott erscheint als gnädiger Dienstherr oder als Hausvater. Zwar ist es ein gröblicher Unfug, wenn man in der Vaterqualität des Gottes, den Jesus verkündet, einen Einschlag unsemitischer Religiosität hat finden wollen, weil die Götter der (meist semitischen) Wüstenvölker die Menschen „schaffen“, die hellenischen sie „zeugen“.
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Denn der christliche Gott hat niemals daran gedacht, Menschen zu zeugen (γεννηϑέντα μὴ ποιηϑέντα, gezeugt und nicht geschaffen, [360] Laut Lukas 1, 35 sprach der Engel Gabriel zu Maria: „Der heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum auch das Heilige, das von dir geboren wird, wird Gottes Sohn genannt werden“. Hermann Usener meinte, diese Auffassung der Gottessohnschaft Jesu sei im Anschluß an die Geburtslegenden von Pythagoras, Platon oder Apollonios von Tyana entstanden. Von diesen wird erzählt, sie seien aus einer Verbindung eines Gottes mit ihrer Mutter hervorgegangen. (Usener, Hermann, Das Weihnachtsfest, Kap. I bis III, 2. Aufl. (Religionsgeschichtliche Untersuchungen, 1. Teil). – Bonn: Friedrich Cohen 1911, S. 71 ff.). Weber brachte dies mit der religionswissenschaftlichen Unterscheidung semitischer von indo-europäischen Religionen in Verbindung. William Robertson Smith führte aus, bei den Griechen sei die Vaterschaft der Gottheit ein natürlich begründetes Verhältnis gewesen, bei den Semiten hingegen sei sie im Laufe der Geschichte von jeder physischen Grundlage gelöst worden. „Der Mensch war nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen, aber nicht von ihm gezeugt“. (Smith, Religion der Semiten, wie oben, S. 155, Anm. 74, S. 28). Bei Homer ist Zeus „Vater der Menschen und Götter“ (z. B. Odyssee 1. 28). Im Unterschied zur Vorstellung von Gott als Erzeuger herrscht im Alten Testament die Ansicht vor, die Beziehung zu Gott als Vater sei ein Rechtsverhältnis. Daß die eine Vorstellung hellenisch und die andere semitisch sein soll, ging auf die Annahme Friedrich Max Müllers zurück, man müsse die Religionen entsprechend der großen Sprachfamilien in arische und in semitische Religionen unterteilen.
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ist gerade das auszeichnende Prädikat des [361]trinitarisch vergotteten Christus im Gegensatz zum Menschen), und er ist, obwohl er die Menschen mit übermenschlicher Liebe umfängt, ganz und gar kein zärtlicher moderner Papa, sondern vorwiegend ein wohlwollender, aber auch zorniger und strenger königlicher Patriarch wie schon der jüdische Gott. Aber allerdings kann nun das Stimmungsmäßige der Glaubensreligiosität durch das Gotteskindschaftsbewußtsein (statt der asketischen Gotteswerkzeugvorstellung) weiter gesteigert, die Einheit der Lebensführung dadurch noch mehr im gefühlsmäßigen Stimmungsgehalt und Gottvertrauen, statt im ethischen Bewährungsbewußtsein gesucht und so ihr praktisch rationaler Charakter noch weiter abgeschwächt werden. Schon der mit der „Sprache Kanaans“ seit der Renaissance des Pietismus eingerissene, winselnde Tonfall typischer lutherischer Kanzelreden in Deutschland deutet jene Gefühlsforderung an, die kraftvolle Männer so oft aus der Kirche gescheucht hat. Bestandteil des Nicaenums, des auf dem Konzil von Nicäa am 19. Juni 325 beschlossenen dreiteiligen Glaubensbekenntnisses zur Abgrenzung gegen den Arianismus. Jesus sei „[…] als Einziggeborener aus dem Vater gezeugt, das heißt aus dem Wesen des Vaters, Gott aus Gott, Licht aus Licht, wahrer Gott aus wahrem Gott, gezeugt, nicht geschaffen, wesensgleich dem Vater […]“.
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[361] In einem Brief vom 14. Juni 1903 an Marianne Weber bemerkte Max Weber zu den Gottesdiensten in Amsterdam: „Zwar fehlte auch hier die ‚Sprache Canaans‘, die unser Einem bei uns zu Lande das Kirchengehen verleidet […]“. (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446; MWG II/4).
Vollends antirational wirkt auf die Lebensführung die Glaubensreligiosität normalerweise da, wo die Beziehung zu Gott oder Heiland den Charakter der leidenschaftlichen Devotion, der Glaube also einen latent oder offen erotischen Einschlag zeigt. So in den verschiedenen Spielarten der sufistischen Gottesliebe und der bernhardinischen Hohe-Lied-Mystik, im Marien- und Herz-Jesu-Kult
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und anderen hierher gehörigen Devotionsformen und auch in einzelnen gefühlsschwelgerischen Entfaltungen des spezifisch lutherischen Pietismus (Zinzendorf). Vor allem aber in der spezifisch hinduistischen, die stolze und vornehme Intellektuellenreligiosität des Buddhismus seit dem 5./6. Jahrhundert radikal verdrängenden Bhakti-(Liebes-)Frömmigkeit, der dort populären Form der Massenerlösungsreligion, insbesondere der soteriologischen Formen des Vischnuismus. Die Devotion zu dem aus dem [362]Mahabharata Der Marien- und Herz-Jesu-Kult wurde seit dem 12. Jahrhundert vor allem in Deutschland gepflegt. Das Herz-Jesu-Fest wurde von Papst Pius IX. eingesetzt und am Freitag nach dem zweiten Sonntag nach Pfingsten gefeiert. Die Herz-Mariae-Verehrung wurde besonders von dem Jesuitenorden gefördert.
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durch Apotheose zum Heiland erhobenen Krischna, namentlich zum Krischnakinde, wird hier durch die vier Stufen der Kontemplation: Dienerschafts-, Freundschafts-, Kindes- (oder Eltern-)Liebe bis zur höchsten Stufe der ausdrücklich erotisch, nach Art der Gopisliebe [362] Das Mahabharata (Skt., „der große Kampf der Nachfahren des Bharata“) ist ein Epos Altindiens, das den Kampf zwischen den Fürstengeschlechtern der Kauravas und der Pandavas schildert. Einer der bedeutendsten Abschnitte ist die Bhagavadgita („Gesang des Erhabenen“), die von Krischna und dem Fürsten Arjuna handelt.
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(der Liebe von Krischnas Maitressen zu ihm), gefärbten Devotion gesteigert. Diese Religiosität, welche überdies schon infolge ihrer alltagsfeindlichen [A 328]Form der Heilsgewinnung stets irgendwelchen Grad sakramental-priesterlicher Gnadenvermittlung durch die Gurus und Gosains voraussetzt, ist, auf ihre praktische Wirkung hin angesehen, ein sublimierteres Seitenstück der in den untersten Schichten populären hinduistischen Saktireligiosität, einer Devotion für die Götterweiber, welche nicht selten erotischen Orgienkult einschloß, immer aber der Orgienreligiosität nahesteht. Sie steht namentlich den christlichen Formen der reinen Glaubensreligiosität: dem kontinuierlichen unerschütterlichen Zutrauen in Gottes Vorsehung, in jeder Hinsicht fern. Die erotisch gefärbte Heilandsbeziehung wird wesentlich technisch, durch Devotionsübung, erzeugt. Der christliche Vorsehungsglaube dagegen ist ein willensmäßig festzuhaltendes Charisma. Die Gopis („Hirtenmädchen“) gelten als Geliebte des jugendlichen Gottes Krischna. Sie wurden durch den Klang seiner Flöte veranlaßt, ihre Häuser zu verlassen und mit dem Gott im Wald zu tanzen.
Die Erlösung kann endlich ganz freies grundloses Gnadengeschenk eines in seinen Ratschlüssen unerforschlichen, kraft seiner Allwissenheit notwendig unwandelbaren, durch menschliches Verhalten überhaupt nicht zu beeinflussenden Gottes sein: Prädestinationsgnade. Sie setzt den überweltlichen Schöpfergott am unbedingtesten voraus und fehlt daher aller antiken und asiatischen Religiosität. Sie scheidet sich von der in kriegerischen Heldenreligionen sich findenden Vorstellung an ein übergöttliches Verhängnis durch ihren Charakter als Vorsehung, d. h. als eine zwar vom Menschen aus gesehen irrationale, dagegen von Gott aus gesehen rationale Ordnung, an ein Weltregiment. Dagegen schaltet sie die Güte Gottes aus. Er wird zu einem harten[,] majestätischen König. [363]Sie selbst teilt mit dem Verhängnisglauben die Konsequenz, Vornehmheit und Härten zu erzielen,
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obwohl oder vielmehr gerade weil diesem Gott gegenüber die völlige Entwertung aller eigenen Kraft des Einzelnen die Voraussetzung der Errettung allein aus freier Gnade ist. Leidenschaftslose, ernst sittliche Naturen wie Pelagius konnten an die Zulänglichkeit der eigenen Werke glauben. Die Prädestination ist unter den Propheten der Glaube von Menschen, die entweder, wie Calvin und Muhammed, ein rationaler religiöser Machttrieb übermächtig beseelt: die Sicherheit der eigenen, weniger aus persönlicher Fleckenlosigkeit als aus der Situation der Welt und aus Gottes Willen folgenden Mission, oder die, wie Augustinus und ebenfalls wieder Muhammed, ungeheure Leidenschaften zu bändigen hatten und in dem Gefühle lebten, daß dies, soweit überhaupt, nur durch eine außer ihnen und über ihnen waltende Macht gelungen sei. In der gewaltig erregten Zeit nach seinen schweren Sündenkämpfen kannte sie daher auch Luther, um sie später mit zunehmender Weltanpassung zurücktreten zu lassen. [363]A: erziehen,
Die Prädestination gewährt dem Begnadeten das Höchstmaß von Heilsgewißheit, wenn er einmal sicher ist, zu der Heilsaristokratie der wenigen zu gehören, die auserwählt sind. Ob aber der Einzelne dies unvergleichlich wichtige Charisma besitzt, dafür muß es – da die absolute Ungewißheit dauernd nicht ertragen wird – Symptome geben. Da nun Gott sich herbeigelassen hat, immerhin einige positive Gebote für das ihm wohlgefällige Handeln zu offenbaren, so können jene Symptome nur in der hier, wie für jedes religiös aktive Charisma, ausschlaggebenden Bewährung der Fähigkeit liegen, als Gottes Werkzeug an ihrer Erfüllung mitzuwirken, und zwar kontinuierlich und methodisch, da man die Gnade entweder immer hat oder nie. Nicht einzelne Verstöße – die dem Prädestinierten als Kreatur wie allen Sündern widerfahren –, sondern das Wissen, daß nicht diese Verstöße, sondern das gottgewollte Handeln aus der eigentlichen, durch die geheimnisvolle Gnadenbeziehung gestifteten inneren Beziehung zu Gott fließt,
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die zentrale und konstante Qualität der Persönlichkeit also, gibt Gewißheit des Heils und der Gnadenperseveranz. Anstatt der schein[364]baren „logischen“ Konsequenz des Fatalismus hat daher der Prädestinationsglaube gerade bei seinen konsequentesten Anhängern die denkbar stärksten Motive gottgewollten Handelns anerzogen. Naturgemäß je nach dem primären Inhalt der Prophetie verschieden geartet. Die rücksichtslose Selbstvergessenheit der unter dem religiösen Gebot des Glaubenskrieges zur Weiteroberung stehenden, islamitischen Glaubenskämpfer der ersten Generationen, ebenso wie der ethische Rigorismus, die Legalität und rationale Lebensmethodik der unter dem christlichen Sittengesetz [A 329]stehenden Puritaner folgten beide aus dem Einfluß jenes Glaubens. Disziplin im Glaubenskriege war die Quelle der Unüberwindlichkeit der islamischen ebenso wie der Cromwellschen Kavallerie, innerweltliche Askese und disziplinierte Heilssuche im gottgewollten Beruf die Quelle der Erwerbsvirtuosität bei den Puritanern. Die radikale und wirklich endgültige Entwertung aller magischen, sakramentalen und anstaltsmäßigen Gnadenspende gegenüber Gottes souveränem Willen ist die unvermeidliche Folge jeder konsequent durchgeführten Prädestinationsgnade und ist auch, wo immer sie in voller Reinheit bestand und erhalten blieb, eingetreten. Die weitaus stärkste Wirkung hatte sie in dieser Hinsicht im Puritanismus. Die islamische Prädestination kannte einerseits das doppelte DekretA: fließen,
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nicht: die Prädestination zur Hölle wagte man Allah nicht zuzuschreiben, sondern nur die Entziehung seiner Gnade und damit die „Zulassung“ des – bei der Unzulänglichkeit des Menschen – unvermeidlichen Irrens. [364] Das doppelte Dekret (lat.: decretum duplex / decretum absolutum, „doppelte“ / „absolute Bestimmung Gottes“) ist eine radikale Form der Prädestination, nach der Gott den Menschen sowohl zum Heil als auch zur Verdammnis unabänderlich vorherbestimmt. Seit dem Mönch Gottschalk (ca. 805–ca. 868) belegt. Gottschalk betonte Gottes unverdiente Gnade, mit der er vor Erschaffung der Welt die Erwählten („electi“) zum Heil bestimmt habe, andererseits Gottes Gerechtigkeit, mit der er die Verworfenen („reprobi“) in der von Gott vorausgewußten Sünde belasse. Bei Calvin heißt es: „Prädestination nennen wir Gottes ewigen Ratschluß (decretum), durch den er bei sich selbst beschlossen gehabt hat, was er wollte, daß mit jedem einzelnen Menschen geschehen sollte. Denn nicht alle werden mit gleicher Bestimmung (pari conditione) erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den andern die ewige Verdammnis zuvor verordnet (praeordinatur)“. (Calvin, Institutio Christianae religionis III, 21, 5).
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Und sie hatte, dem Charakter der Kriegerreligion entsprechend, insofern die Färbung der [365]hellenischen „moira“, als einerseits die spezifisch rationalen Elemente des „Weltregiments“ und andererseits die Determination des religiösen Jenseitsschicksals des Einzelnen dabei weit schwächer entwickelt waren. Die Vorstellung waltete vor, daß nicht das jenseitige, sondern gerade das diesseitige außeralltägliche Schicksal, die Frage z. B. (und namentlich): ob der Glaubenskämpfer in der Schlacht falle oder nicht, durch Prädestination bestimmt sei. Das jenseitige Schicksal des Einzelnen war dagegen schon durch seinen bloßen Glauben an Allah und den Propheten hinlänglich gesichert und bedurfte daher – nach der älteren Vorstellung wenigstens – keiner Bewährung in der Lebensführung: ein rationales System der Alltagsaskese war dieser Kriegerreligion ursprünglich fremd. Daher entfaltete die Prädestination im Islam ihre Macht zwar stets erneut in den Glaubenskämpfen, wie noch in denen des Mahdi, Koran, Sure 16, 38: „[…] aber so führt er in den Irrthum und auf den rechten Weg, wen er will, und ihr werdet einst Rechenschaft geben müssen über Das, was ihr gethan“.
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büßte sie dagegen mit jeder „Verbürgerlichung“ des Islam ein, weil sie keine inneralltägliche Lebensmethodik stiftete, wie im Puritanismus, wo die Prädestination gerade das Jenseitsschicksal betraf und also die „certitudo salutis“ gerade an der inneralltäglichen Tugendbewährung hing, daher allein mit der Verbürgerlichung der Religiosität Calvins ihre Bedeutung gegenüber dessen eigenen ursprünglichen Anschauungen stieg. Höchst charakteristischerweise ist – während der puritanische Prädestinationsglaube den Autoritäten überall als staatsgefährlich und autoritätsfeindlich, weil jeder weltlichen Legitimität und Autorität gegenüber skeptisch, galt – das als spezifisch „weltlich“ verschriene Ommajadengeschlecht Anhänger des Prädestinationsglaubens gewesen, weil es seine eigene illegitim erworbene Herrschaft durch den prädestinierenden Willen Allahs legitimiert zu sehen erwartete: man sieht, wie die Wendung zur Determination konkreter Weltvorgänge, statt des Bezugs [365] Mohammed Ahmad (1843–1885) leitete als Angehöriger des Ordens der Sammaniya und Mahdi im Sudan eine Aufstandsbewegung gegen die Macht der Engländer (1881). Der von ihm gegründete Mahdistaat existierte bis 1898. Mahdī (arab.: „der [von Gott] Geleitete“) ist im Islam eine in der Endzeit der Weit erwartete Führergestalt aus der Nachkommenschaft des Propheten Muhammed, der den Islam erneuern und ihn zur herrschenden Religion machen, die Unterdrückung beenden und Gerechtigkeit durchsetzen wird. Bei den Schiiten ist es der am Weltenende aus der Verborgenheit wiederkehrende Imam.
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auf das Jenseitsschicksal, sofort den [366]ethisch rationalen Charakter der Prädestination schwinden läßt. Und soweit sie asketisch wirkte – was bei den alten schlichten Glaubenskämpfern immerhin auch der Fall war –, wurde diese Wirkung im Islam, der an die Sittlichkeit überdies vornehmlich äußere und im übrigen rituelle Anforderungen stellte, im Alltag zurückgedrängt und nahm ihres weniger rationalen Charakters halber in der Volksreligiosität leicht fatalistische Züge (Kismet) an, verdrängte auch eben deshalb die Magie aus der Volksreligion nicht. Dem Charakter der konfuzianischen Ethik der chinesischen Patrimonialbürokratie endlich entspricht es, daß dort das Wissen um ein „Verhängnis“ einerseits als das gilt, was die vornehme Gesinnung garantiert, andererseits dies Verhängnis im magischen Massenglauben zuweilen fatalistische Züge, im Glauben der Gebildeten aber eine gewisse Mittelstellung zwischen Vorsehung und „moira“ annimmt. Wie die moira und der Trotz, sie zu bestehen, den kriegerischen Heldenstolz, so speist die Prädestination den („pharisäischen“) Stolz heroistischer bürgerlicher Askese. Nirgends aber ist der Stolz der prädestinierten Heilsaristokratie so eng mit dem Berufsmenschentum und mit der Idee: daß der Erfolg rationalen Handelns Gottes Segen erweise, verknüpft, nirgends daher die Wirkung der asketischen Motive auf die Wirtschaftsgesinnung so intensiv wie [A 330]im Geltungsbereich der puritanischen Prädestinationsgnade. Auch die Prädestinationsgnade ist der Glaube religiösen Virtuosentums, welches allein den Gedanken des „doppelten Dekrets“ von Ewigkeit her erträgt. Mit zunehmendem Einströmen in den Alltag und in die Massenreligiosität wird der düstere Ernst der Lehre immer weniger ertragen, und als caput mortuum[365] Fehlt in A; des Bezugs sinngemäß ergänzt.
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blieb schließlich im okzidentalen asketischen Protestantismus jener Beitrag zurück, den speziell auch diese Gnadenlehre in der rational kapitalistischen Gesinnung: dem Gedanken der methodischen Berufsbewährung im Erwerbsleben, als Einschlag zurückgelassen hat. Der Kuypersche Neocalvinismus [366] Im übertragenen Sinn: ein unnützer Rückstand nach Aussortieren des Brauchbaren.
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wagt die rei[367]ne Lehre nicht mehr voll zu vertreten. Aber wirklich ausgerottet ist der Glaube als solcher nicht. Er wechselt nur die Form. Denn unter allen Umständen war der Prädestinationsdeterminismus ein Mittel der denkbar intensivsten systematischen Zentralisierung der „Gesinnungsethik“. Die „Gesamtpersönlichkeit“, wie wir heute sagen würden, ist durch „göttliche Wahl“ mit dem Ewigkeitswertakzent versehen, nicht irgendeine einzelne Handlung. Das religionslose, auf diesseitig gewendetem Determinismus ruhende Pendant dieser religiösen Glaubenswertung ist jene spezifische Art von „Scham“ und – sozusagen – gottlosem Sündengefühl, welche dem modernen Menschen ebenfalls kraft einer, einerlei wie metaphysisch unterbauten, ethischen Systematisierung zur Gesinnungsethik eignen. Nicht daß er dies getan hat, sondern daß er, ohne sein Zutun, kraft seiner unabänderlichen Geartetheit so „ist“, daß er es tun konnte, ist die geheime Qual, die er trägt, und ebenso das, was der deterministisch gewendete „Pharisäismus“ der anderen in ihrer Ablehnung ihm zum Ausdruck bringt, – ebenso menschlichkeitsfremd, weil ebenso ohne die sinnvolle Möglichkeit einer „Vergebung“ und „Reue“ oder eines „Wiedergutmachens“, in ganz der gleichen Art wie der religiöse Prädestinationsglauben selbst es war, der immerhin irgendeine geheime göttliche ratio vorstellen konnte. Der niederländische Theologe Abraham Kuyper erneuerte 1867 den Kampf um Bekenntnis und Kirchenordnung. Er griff den Liberalismus an und setzte sich für ein unverkürztes reformatorisches Bekenntnis ein. Dazu gehörte auch das Bekenntnis zur Prädestinationslehre.
11.j[367]A: § 11. Religiöse Ethik und „Welt“.kIn A folgt eine Inhalts- und Seitenübersicht.
[367]A: § 11.
In A folgt eine Inhalts- und Seitenübersicht.
Die Erlösungsreligiosität bedeutet, je systematischer und „gesinnungsethisch“ verinnerlichter sie geartet ist, eine desto tiefere Spannung gegenüber den Realitäten der Welt. Solange sie einfach rituelle oder Gesetzesreligiosität ist, tritt diese Spannung in wenig prinzipieller Art hervor. Sie wirkt in dieser Form wesentlich ebenso wie die magische Ethik. Das heißt, allgemein gesprochen: sie gibt erst den von ihr rezipierten Konventionen die unverbrüchliche Weihe, weil auch hier an der Vermeidung des göttlichen Zornes, also an der Bestrafung des Übertretens der Normen die Ge[368]samtheit der Anhänger des Gottes als solche interessiert ist. Wo daher einmal ein Gebot die Bedeutung einer göttlichen Ordnung erlangt hat, steigt es damit aus dem Kreise veränderlicher Konventionen zum Rang der Heiligkeit auf. Es hat nun, wie die Ordnungen des Kosmos, von jeher gegolten und wird für immer gelten, es kann nur interpretiert, nicht geändert werden, es sei denn, daß der Gott selbst ein neues Gebot offenbart. Wie der Symbolismus in bezug auf bestimmte inhaltliche Kulturelemente und die magischen Tabuvorschriften in bezug auf konkrete Arten von Beziehungen zu Menschen und Sachgütern stereotypierend wirken, so die Religion in diesem Stadium auf das gesamte Gebiet der Rechtsordnung und der Konventionen. Die heiligen Bücher sowohl der Inder wie des Islam, der Parsen wie der Juden und ebenso die klassischen Bücher der Chinesen behandeln Zeremonial- und Ritualnormen und Rechtsvorschriften völlig auf gleicher Linie. Das Recht ist „heili[A 331]ges“ Recht. Die Herrschaft religiös stereotypierten Rechtes bildet eine der allerwichtigsten Schranken für die Rationalisierung der Rechtsordnung und also der Wirtschaft. Auf der anderen Seite kann die Durchbrechung von stereotypierten magischen oder rituellen Normen durch ethische Prophetie tiefgreifende – akute oder allmähliche – Revolutionen auch der Alltagsordnung des Lebens und insbesondere der Wirtschaft nach sich ziehen. In beiden Richtungen hat selbstverständlich die Macht des Religiösen ihre Schranken. Bei weitem nicht überall, wo sie mit Umgestaltung Hand in Hand geht, ist sie das treibende Element. Sie stampft insbesondere nirgends ökonomische Zustände aus dem Boden, für welche nicht mindestens die Möglichkeiten, oft sehr intensive Antriebe in den bestehenden Verhältnissen und Interessenkonstellationen gegeben waren. Und ihre konkurrierende Gewalt ist mächtigen ökonomischen Interessen gegenüber auch hier begrenzt. Eine allgemeine Formel für die relative inhaltliche Macht der verschiedenen Entwicklungskomponenten und der Art ihrer „Anpassung“ aneinander ist nicht zu geben. Die Bedürfnisse des ökonomischen Lebens machen sich entweder durch Umdeutung der heiligen Gebote geltend oder durch ihre kasuistisch motivierte Umgehung, zuweilen auch durch einfache praktische Beseitigung, im Wege der Praxis der geistlichen Buß- und Gnadenjurisdiktion, die z. B. innerhalb der katholischen Kirche eine so wichtige Bestimmung wie das Zinsverbot in bald zu erwähnender [369]Weise
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auch in foro conscientiae [369] Der Bezug ist unklar. Die Umgehung des Zinsverbotes ist bereits oben, S. 348, aber auch noch einmal in WuG1, S. 802 (MWG I/22-4), behandelt. Unten im Text, S. 382, kommt Weber auf die Umgehung des Zinsverbotes in den Montes pietatis zu sprechen.
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völlig ausgeschaltet hat, ohne es doch – was unmöglich gewesen wäre – ausdrücklich zu abrogieren. Vor dem Gewissen als Richter.
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Dem ebenso verpönten „Onanismus matrimonialis“ (Zweikindersystem) dürfte es ebenso ergehen. Die Konsequenz der an sich naturgemäß häufigen Vieldeutigkeit oder des Schweigens religiöser Normen gegenüber neuen Problemen und diesen Praktiken ist das unvermittelte Nebeneinanderstehen absolut unerschütterlicher Stereotypierungen einerseits mit außerordentlicher Willkür und völliger Unberechenbarkeit des davon wirklich Geltendem andererseits. Von der islamischen Scherī’a Gesetze aufheben.
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ist im Einzelfall kaum angebbar, was heut noch in der Praxis gilt, und das gleiche trifft für alle heiligen Rechte und Sittengebote zu, welche formal ritualistisch-kasuistischen Charakter haben, vor allem auch für das jüdische Gesetz. Demgegenüber schafft nun gerade die prinzipielle Systematisierung des religiös Gesollten zur „Gesinnungsethik“ eine wesentlich veränderte Situation. Sie sprengt die Stereotypierung der Einzelnormen zugunsten der „sinnhaften“ Gesamtbeziehung der Lebensführung auf das religiöse Heilsziel. Sie kennt kein „heiliges Recht“, sondern eine „heilige Gesinnung“, welche je nach der Situation verschiedene Maximen des Verhaltens sanktionieren kann, also elastisch und anpassungsfähig ist. Statt stereotypierend kann sie, je nach der Richtung der Lebensführung, die sie schafft, von innen heraus revolutionierend wirken. Aber sie erkauft diese Fähigkeit um den Preis einer wesentlich verschärften und „verinnerlichten“ Problematik. Die innere Spannung des religiösen Postulats gegen die Realitäten der Welt nimmt in Wahrheit nicht ab, sondern zu. An Stelle des äußerlichen Ausgleichspostulats der Theodizee treten mit steigender Systematisierung und Rationalisierung der Gemeinschaftsbeziehungen und ihrer Inhalte die Konflikte der Eigengesetzlichkeiten der einzelnen Lebenssphären ge[370]genüber dem religiösen Postulat und gestalten so die „Welt“, je intensiver das religiöse Bedürfen ist, desto mehr zu einem Problem; dieses müssen wir zunächst an den Hauptkonfliktspunkten uns verdeutlichen. Der Ausdruck „šarīʿa“ (arab.: „der Weg“) ist terminus technicus für das verbindliche Recht im Islam. Es setzt sich aus vier Quellen zusammen: dem Koran, dem Hadith (Berichte über Worte und Handlungen des Propheten), dem Analogieschluß und der Übereinstimmung von Rechtsgelehrten in ungeklärten Fragen.
Die religiöse Ethik greift in die Sphäre der sozialen Ordnung sehr verschieden tief ein. Nicht nur die Unterschiede der magischen und rituellen Gebundenheit und der Religiosität entscheiden hier, sondern vor allem ihre prinzipielle Stellung zur Welt überhaupt. Je systematisch-rationaler diese unter religiösen Gesichtspunkten zu einem Kosmos geformt wird, desto prinzipieller kann ihre ethische Spannung gegen die innerweltlichen Ordnungen werden, und zwar um so mehr, je mehr diese selbst ihrerseits nach ihrer Eigengesetzlichkeit systematisiert werden. Es entsteht die weltablehnende religiöse Ethik, und dieser fehlt, eben als solcher, der stereo[A 332]typierende Charakter der heiligen Rechte. Gerade die Spannung, welche sie in die Beziehungen zur Welt hineinträgt, ist ein starkes dynamisches Entwicklungsmoment.
Soweit die religiöse Ethik lediglich die allgemeinen Tugenden des Weltlebens übernimmt, bedürfen diese hier keiner Erörterung. Die Beziehungen innerhalb der Familie, daneben Wahrhaftigkeit, Zuverlässigkeit, Achtung fremden Lebens und Besitzes, einschließlich desjenigen an Weibern, versteht sich von selbst. Aber der Akzent der verschiedenen Tugenden ist charakteristisch verschieden. So die ungeheure Betonung der Familienpietät im Konfuzianismus, magisch motiviert infolge der Bedeutung der Ahnengeister, praktisch geflissentlich gepflegt von einer patriarchalen und patrimonialbürokratischen politischen Herrschaftsorganisation, welcher, nach einem Ausspruch des Konfuzius, „Insubordination schlimmer als gemeine Gesinnung“
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gilt und daher die Subordination den Familienautoritäten gegenüber, wie dies ebenfalls ausdrücklich gesagt wird, auch als Merkmal der gesellschaftlichen und politischen Qualitäten gelten mußte. Im polaren Gegensatz dazu die Sprengung aller Familienbande durch die radikalere Form der Gemeindereligiosität: wer nicht seinen Vater hassen [371]kann, kann nicht Jesu Jünger sein. [370] Von Konfuzius wird überliefert: „The Master said: ‚Extravagance leads to insubordination, and parsimony to meanness. It is better to be mean than to be insubordinate‘”. (Zitiert nach Legge, Chinese Classics I, wie oben, S. 233, Anm. 43, S. 207).
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Oder etwa die strengere Wahrheitspflicht [371] Lukas 14, 26: „So jemand zu mir kommt, und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein“.
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der indischen und zarathustrischen Ethik gegenüber der des jüdisch-christlichen Dekalogs (Beschränkung auf die gerichtliche Zeugenaussage)[371]A: Wahrheit
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und andererseits das völlige Zurücktreten der Wahrheitspflicht gegenüber den zeremoniellen Schicklichkeitsgeboten in der Standesethik der konfuzianischen chinesischen Bürokratie. Oder das, über die ursprünglich durch die antiorgiastische Stellung des Zarathustra Das achte Gebot des Dekalogs: „Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“. (2. Mose 20, 16).
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bedingte, Tierquälereiverbot seiner Religion weit hinausgehende, in animistischen (Seelenwanderungs-)Vorstellungen begründete, absolute Verbot der Tötung irgendeines lebenden Wesens (ahimsa) bei aller spezifisch indischen Religiosität im Gegensatz zu fast allen anderen. Vgl. oben, S. 202, Anm. 68.
Im übrigen ist der Inhalt jeder, über magische Einzelvorschriften und die Familienpietät hinausgehenden, religiösen Ethik zunächst bedingt durch die beiden einfachen Motive, welche das nicht familiengebundene Alltagshandeln bestimmen: gerechte Talion
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gegen Verletzer und brüderliche Nothilfe für den befreundeten Nachbarn. Beides ist Vergeltung: der Verletzende „verdient“ die Strafe, deren Vollziehung den Zorn besänftigt, ebenso wie der Nachbar die Nothilfe. Daß man den Feinden Böses mit Bösem vergelte, versteht sich für die chinesische, vedische und zarathustrische Ethik ebenso wie bis in die nachexilische Zeit für die der Juden. Alle gesellschaftliche Ordnung scheint ja auf gerechter Vergeltung zu beruhen, und daher lehnt die weltanpassende Ethik des Konfuzius die in China teils mystisch, teils sozialutilitarisch motivierte Idee der Feindesliebe direkt als gegen die Staatsräson gehend ab. Akzeptiert wird sie von der jüdischen nachexilischen Ethik im Grunde, wie Meinhold ausführt, Talion beschreibt einen Strafrechtsgrundsatz, bei dem Gleiches mit Gleichem vergolten wird.
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auch nur im Sinn einer [372]um so größeren, vornehmen Beschämung des Feindes durch eigene Guttaten und vor allem mit dem wichtigen Vorbehalt, den auch das Christentum macht: daß die Rache Gottes ist und er sie um so sicherer besorgen wird, je mehr der Mensch sich ihrer enthält. Den Verbänden der Sippe, der Blutsbrüder und des Stammes fügt die Gemeindereligiosität als Stätte der Nothilfepflicht den Gemeindegenossen hinzu. Oder vielmehr, sie setzt ihn an die Stelle des Sippengenossen: wer nicht Vater und Mutter verlassen kann, kann nicht Jesu Jünger sein, Meinhold, Jesus und das Alte Testament, S. 93–98, und Meinhold, Weisheit Israels, S. 131–138.
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und in diesem Sinn und Zusammenhang fällt auch das Wort, daß er gekommen sei, nicht um den Frieden zu bringen, sondern das Schwert. [372] Max Weber verbindet zwei Evangelienworte: Lukas 14, 26 („So jemand zu mir kommt, und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein“) mit Markus 10, 29 f. („Jesus antwortete und sprach: Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, so er verläßt Haus oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Weib oder Kinder oder Äcker um meinetwillen und um des Evangeliums willen, Der nicht hundertfältig empfahe, jetzt in dieser Zeit Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker mit Verfolgungen, und in der zukünftigen Welt das ewige Leben“).
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Daraus erwächst dann das Gebot der „Brüderlichkeit“, welches der Gemeindereligiosität – nicht etwa aller, aber doch gerade ihr – spezifisch ist, weil sie die Emanzipation vom politischen Verbande am tiefsten vollzieht. Auch in der frühen Christenheit, z. B. bei Klemens von Alexandrien, Matthäus 10, 34: „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich kommen sei, Frieden zu senden auf die Erde. Ich bin nicht kommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert“.
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gilt die Brüderlichkeit in vollem Umfang nur innerhalb des Kreises der Glaubensgenossen, nicht ohne weiteres nach außen. Die brüderliche Nothilfe stammt, sahen wir, In seiner Schrift „Welcher Reiche wird gerettet werden?“ legt Klemens von Alexandrien dar, daß der Reiche sein Vermögen um seiner Brüder willen besitzt (16, 3). Ernst Troeltsch bemerkte zu dieser Schrift: „Es ist eine Allegorisierung der Geschichte vom reichen Jüngling, der nicht die Güter, sondern die an den Gütern hängende Gesinnung veräußern, übrigens aber den Reichtum durch Liebestätigkeit energisch nützen soll. Es ist die dem Reichtum günstigste und dabei ökonomisch verständigste Schrift […]“. (Troeltsch, Soziallehren, S. 113, Fn. 57).
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aus dem Nachbarverband. Der „Nächste“ hilft dem Nachbar, denn auch er kann seiner einmal bedürfen. Erst eine starke [A 333]Mischung der politischen und ethnischen Gemeinschaften, und die Loslösung der Götter als universeller Mächte vom politischen Verband führt zur Möglichkeit des Liebesuniversalismus. Gegen die fremde Religiosität wird sie gera[373]de bei Hervortreten der Konkurrenz der Gemeindereligiositäten und dem Anspruch auf Einzigkeit des eigenen Gottes sehr erschwert. Die Jainamönche wundern sich in der buddhistischen Überlieferung, daß der Buddha seinen Jüngern geboten hat, auch ihnen Speise zu geben. Siehe WuG1, S. 198 (MWG I/22-1).
Wie nun die Gepflogenheiten nachbarschaftlicher Bittarbeit
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und Nothilfe bei ökonomischer Differenzierung auch auf die Beziehungen zwischen den verschiedenen sozialen Schichten übertragen werden, so schon sehr früh auch in der religiösen Ethik. Die Sänger und Zauberer als die ältesten vom Boden gelösten „Berufe“ leben von der Freigebigkeit der Reichen. Diese preisen sie zu allen Zeiten, den Geizigen aber trifft ihr Fluch. In naturalwirtschaftlichen Verhältnissen nobilitiert aber überhaupt, sahen [373] Von „Bittarbeit“ sprach der Nationalökonom Karl Bücher: „Eine solche Pflicht entspringt bei einer sehr großen Zahl von Völkern aus dem Verhältnis der Dorfnachbarschaft. Bei Feldarbeiten, beim Hausbau und gewissen häuslichen Verrichtungen, die keinen Aufschub erleiden, namentlich solchen, die mit der Ernte zusammenhängen, werden freiwillige Hülfskräfte zur Unterstützung von den Nachbarn erbeten; an die Arbeit schließt sich in der Regel eine festliche Bewirtung im Hause des ,Arbeitgebers‘ an. Beruht diese Bittarbeit bei den gewöhnlichen Dorfgenossen auf Gegenseitigkeit, so wird sie dem Häuptlinge gegenüber leicht zum Dienste oder zur Fronde, wie sie ähnlich von ihm auch für öffentliche Leistungen in Anspruch genommen wird“. (Bücher, Karl, Arbeit und Rhythmus, 4. Aufl. – Leipzig, Berlin: B. G. Teubner 1909, S. 256).
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wir,[373]A: sehen
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nicht der Besitz als solcher, sondern die freigebig gastfreie Lebensführung. Daher ist das Almosen universeller und primärer Bestandteil auch aller ethischen Religiosität. Die ethische Religiosität wendet dies Motiv verschieden. Das Wohltun an den Armen wird noch von Jesus gelegentlich ganz nach den Vergeltungsprinzipien so motiviert: daß gerade die Unmöglichkeit diesseitiger Vergeltung seitens des Armen die jenseitige durch Gott um so sicherer mache. Siehe WuG1, S. 209 (MWG I/22-1).
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Dazu tritt der Grundsatz der Solidarität der Glaubensbrüder, der unter Umständen bis zu einer an „Liebeskommunismus“ Lukas 14, 13 f.: „Sondern, wenn du ein Mahl machest, so lade die Armen, die Krüppel, die Lahmen, die Blinden, So bist du selig; denn sie haben’s dir nicht zu vergelten; es wird dir aber vergolten werden in der Auferstehung der Gerechten“.
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grenzenden Brüderlichkeit geht. Das Almosen gehört im Is[374]lam zu den fünf absoluten Geboten der Glaubenszugehörigkeit, Bei Ernst Troeltsch findet sich folgende Definition von Liebeskommunismus: „Innerhalb der [urchristlichen] Gemeinde selbst aber, klein und denselben allgemeinen Lebensverhältnissen angehörig wie sie war, blieb dann keine andere Möglichkeit, als die der Organisation eines Kommunismus, den man im Unterschied von allem andern Kom[374]munismus den religiösen Liebeskommunismus nennen muß. Das ist ein Kommunismus, der die Gemeinsamkeit der Güter als Beweis der Liebe und des religiösen Opfersinnes betrachtet, der lediglich ein Kommunismus der Komsumtion ist und den fortdauernden privaten Erwerb als die Voraussetzung der Möglichkeit von Schenkung und Opfer zur Bedingung hat. Ihm fehlt vor allem jede Gleichheitsidee […]“. (Troeltsch, Soziallehren, S. 49).
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es ist im alten Hinduismus ebenso wie bei Konfuzius und im alten Judentum das „gute Werk“ schlechthin, im alten Buddhismus ursprünglich die einzige Leistung des frommen Laien, auf die es wirklich ankommt, und hat im antiken Christentum nahezu die Dignität eines Sakraments erlangt (noch in Augustins Zeit gilt Glaube ohne Almosen als unecht). Diese fünf Pflichten der Moslems, „Säulen“ genannt, bestehen aus dem Glaubensbekenntnis (šahāda), den täglichen Gebeten (ṣalāt), dem Fasten (ṣaum), der Abgabe (zakāt) und der Wallfahrt nach Mekka (haǧǧ). Die Abgabe war in der mekkanischen Periode des Propheten ein Werk der Frömmigkeit. Nach der hiǧra erhielt das Almosengeben in Medina einen umfassenderen Sinn und wurde zu einem muslimischen Fürsorgesystem, bei dem jene, die Einkünfte hatten, diese mit denen teilten, die nicht genug hatten.
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Der unbemittelte islamische Glaubenskämpfcr, der buddhistische Mönch, die unbemittelten Glaubensbrüder des alten Christentums (zumal der jerusalemitischen Gemeinde) sind ja alle, ebenso wie die Propheten, Apostel und oft auch die Priester der Erlösungsreligionen selbst vom Almosen abhängig, und die Chance des Almosens und der Nothilfe ist im alten Christentum und später bei den Sekten, bis in die Quäkergemeinden hinein, als eine Art von religiösem Unterstützungswohnsitz, eines der ökonomischen Hauptmomente der Propaganda und des Zusammenhalts der religiösen Gemeinde. Daher verliert es sofort mehr oder minder an Bedeutung und mechanisiert sich ritualistisch, wenn eine Gemeindereligiosität diesen ihren Charakter einbüßt. Dennoch bleibt es grundsätzlich bestehen. Im Christentum erscheint trotz dieser Entwicklung das Almosen für einen Reichen als so unbedingt erforderlich zur Seligkeit, daß die [375]Armen geradezu als ein besonderer und unentbehrlicher „Stand“ innerhalb der Kirche gelten. In ähnlicher Weise kehren die Kranken, die Witwen und Waisen als religiös wertvolle Objekte ethischen Tuns wieder. Denn die Nothilfe erstreckt sich natürlich weit über das Almosen hinaus: unentgeltlicher Notkredit und Notversorgung seiner Kinder erwartet man vom Freund und Nachbar, daher auch vom Glaubensbruder – noch die an die Stelle der Sekten tretenden säkularisierten Vereine in Amerika stellen vielfach diese Ansprüche. Und speziell erwartet er Gerhard Uhlhorn schrieb über die Stellung Augustins zur Almosengabe: „Ganz ähnlich schließt Augustin eine Predigt über Almosen mit den Worten: ,Gebt darum den Armen, ich bitte euch, ich ermahne euch, ich schreibe euch vor, ich befehle es. […]‘“. (Uhlhorn, Gerhard, Die christliche Liebesthätigkeit in der alten Kirche, 2. Aufl. – Stuttgart: D. Gundert 1887, S. 163). Auf S. 168 heißt es: „So kommt denn auch nach Augustin der Liebe ein Verdienst zu, wenngleich Augustin dieses Verdienst als einen Ausfluß der Gnade betrachtet; und hier wurzelt der auch bei Augustin so oft wiederkehrende Satz, ,daß die Almosen große Kraft haben, die Sünden auszulöschen und zu tilgen‘“.
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dies von der Generosität der Mächtigen und der eigenen Gewalthaber. Innerhalb bestimmter Grenzen ist ja Schonung und Güte auch gegen die eigenen Gewaltunterworfenen ein eigenes wohlverstandenes Interesse des Gewalthabers, da von deren Gutwilligkeit und Zuneigung, in Ermangelung rationaler Kontrollmittel, seine Sicherheit und Einkünfte weitgehend abhängen. Die Chance, Schutz und Nothilfe von einem Mächtigen zu erlangen, ist andererseits für jeden Besitzlosen, speziell die heiligen Sänger, ein Anreiz, ihn aufzusuchen und seine Güte zu preisen. Überall, wo patriarchale Gewaltverhältnisse die soziale Gliederung bestimmen, haben daher – besonders im Orient – die prophetischen Religionen eine Art von „Schutz der Schwachen“, Frauen, Kinder, Sklaven, auch [A 334]schon in Anknüpfung an jene rein praktische Situation schaffen können. So namentlich die mosaische und islamische Prophetie. Dies erstreckt sich nun auch auf die Klassenbeziehungen. Im Kreise der minder mächtigen Nachbarn gilt rücksichtslose Ausnutzung derjenigen Klassenlage, welche der vorkapitalistischen Zeit typisch ist: rücksichtslose Schuldverknechtung und Vermehrung des eigenen Landbesitzes (was beides annähernd identisch ist), Ausnutzung der größeren Kaufkraft durch Aufkauf von Konsumgütern zur spekulativen Ausnutzung der Zwangslage der anderen, als[375]Lies: der Arme
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ein mit schwerer sozialer Mißbilligung, daher auch mit religiösem Tadel beantworteter Verstoß gegen die Solidarität. Andererseits verachtet der alte Kriegsadel den durch Gelderwerb Emporgekommenen als Parvenu. Überall wird deshalb diese Art des „Geizes“ religiös perhorresziert, in den indischen Rechtsbüchern ganz ebenso wie im alten Christentum und im Islam; im Judentum mit dem charak[376]teristischen Institut des Schulderlaß- und FreilassungsjahresFehlt in A; als sinngemäß ergänzt.
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zugunsten der Glaubensgenossen, aus welchem dann theologische Konsequenzmacherei und Mißverstand einer rein stadtsässigen Frömmigkeit das „Sabbatjahr“ konstruierte. Die gesinnungsethische Systematisierung konzipiert aus all diesen Einzelansprüchen die spezifisch religiöse Liebesgesinnung: die „caritas“. [376] Das biblische Bundesbuch aus der Zeit vor dem Exil schrieb Israel eine Brache des Landes im siebten Jahr vor (2. Mose 23, 10 f.). Diese Vorschrift wurde jedoch offensichtlich kaum mehr eingehalten. Nur so ist zu verstehen, daß die Unterlassung als Grund dafür angesehen wurde, daß Israel ins Exil gehen mußte und daß dem Land auf diese Weise die Sabbatjahre ersetzt werden sollten (3. Mose 26, 34; 2. Chronik 36, 21). Als Nehemia nach dem Exil (432 v. Chr.) die Verhältnisse in der Provinz Juda politisch neu ordnete, vereinbarte er mit den Priestern und Vornehmen Jerusalems schriftlich, daß die Juden in Zukunft im siebten Jahr auf den Ertrag des Boden sowie auf die Haftung für Schulden verzichten sollten (Nehemia 10, 31 bzw. 32). Im Sabbatjahr soll ein Gläubiger seinem „Nächsten oder seinem Bruder“ die Schulden erlassen (5. Mose 15, 1–3). Vgl. dazu auch oben, S. 223, Anm. 22.
In fast allen ethischen Lebensreglementierungen kehrt nun auf ökonomischem Gebiet als Ausfluß dieser zentralen Gesinnung die Verwerfung des Zinses wieder. Gänzlich fehlt sie in der religiösen Ethik außerhalb des Protestantismus nur da, wo, wie im Konfuzianismus, diese eine reine Weltanpassung geworden ist oder, wie in der altbabylonischen Ethik und in den antiken Mittelmeerethiken, das Stadtbürgertum, insbesondere der stadtsässige und am Handel interessierte Adel die Entwicklung einer durchgreifenden karitativen Ethik überhaupt verhindert. In den indischen religiösen Rechtsbüchern gilt wenigstens für die beiden höchsten Kasten das Zinsnehmen als verpönt.
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Bei den Juden unter Volksgenossen, im Islam und im alten Christentum zunächst unter Glaubensbrüdern, dann unbedingt. Im Christentum ist das Zinsverbot als solches vielleicht nicht ursprünglich. Gott wird nicht vergelten, wo man ohne Risiko leiht, – so wird bei Jesus die Vorschrift: auch den Unbemittelten zu leihen, motiviert. Aus dieser Stelle hat dann ein Lese- Dazu bemerkte Weber in seiner Hinduismusstudie: „Für beide [den Brahmanen und den Kschatriya] galt das, was der Vaiçya tut: das Führen der Landwirtschaft und der Handel (vor allem auch das Geldgeben auf Zins) nicht als primär standesgemäß“. Mit „religiösen Rechtsbüchern“ ist wohl hauptsächlich die Rechtsliteratur wie die Dharmas͗āstras, darunter besonders die Manusmṛti, gemeint (vgl. MWG I/20, S. 118 mit Anm. 6).
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und Übersetzungsfehler das Verbot des Zinses gemacht [377](μηδὲν statt μηδένα ἀπελπίζοντες, daraus die Vulgata: „nihil inde sperantes“).[376]A: Lehr-
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Der ursprüngliche Grund der Zinsperhorreszierung liegt durchweg in dem Bittleistungscharakter des primitiven Notdarlehens, welche den Zins „unter Brüdern“ als Verstoß gegen die Nothilfepflicht erscheinen lassen mußte. Für die steigende Einschärfung des Verbots im Christentum unter ganz anderen Bedingungen aber waren teilweise andere Motive maßgebend. Nicht etwa das Fehlen des Kapitalzinses infolge der allgemeinen Bedingungen der Naturalwirtschaft, deren „Wiederspiegelung“ angeblich das Verbot (nach geschichtsmaterialistischer Schablone) sein sollte. Denn wir sehen gerade im Gegenteil, daß die christliche Kirche und ihre Diener, einschließlich des Papstes, selbst im frühen Mittelalter, also gerade im Zeitalter der Naturalwirtschaft, ganz unbedenklich Zins genommen und erst recht ihn geduldet haben, und daß vielmehr fast genau parallel mit dem Beginn der Entwicklung wirklich kapitalistischer Verkehrsformen und speziell des Erwerbskapitals im Überseehandel die kirchliche Verfolgung des Darlehenszinses entstand und immer schärfer einsetzte. Es handelt sich also um einen prinzipiellen Kampf der ethischen mit [378]der ökonomischen Rationalisierung der Wirtschaft. Erst im 19. Jahrhundert mußte die Kirche, wie wir sahen, [377] Lukas 6, 34 f.: „Und wenn ihr leihet, von denen ihr hoffet zu nehmen, was Danks habt ihr davon? Denn die Sünder leihen den Sündern auch, auf das sie Gleiches wiedernehmen. Vielmehr liebet eure Feinde; tut wohl und leihet, daß ihr nichts dafür hoffet, so wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Allerhöchsten sein”. Die Übersetzung der lateinischen Vulgata von Lukas 6, 35 lautet: „Vielmehr liebet eure Feinde, tut Gutes und leihet, ohne etwas zurückzuerwarten, […]”. Laut Adalbert Merx ist allerdings die hierbei vorausgesetzte Lesart μηδὲν ἀπελπίζοντες („an nichts verzweifelnd“, die später auch als „nichts hoffend“ übersetzt wurde) ein Textverderbnis, μηδένα ἀπελπίζοντες („niemand der Hoffnung beraubend“) der ursprüngliche Text. (Merx, Adalbert, Die vier kanonischen Evangelien nach ihrem ältesten bekannten Texte. Übersetzung und Erläuterung der syrischen im Sinaikloster gefundenen Palimpsesthandschrift, 2. Theil: Erläuterungen, 2. Hälfte: Das Evangelium Markus und Lukas. – Berlin: Georg Reimer 1905, S. 223–228). Merx übersetzte: „Vielmehr aber liebet eure Feinde und thut ihnen wohl und leihet, und schneidet nicht ab die Hoffnung eines Menschen, damit euer Lohn viel werde im Himmel […]“. (Dass., 1. Theil: Uebersetzung. – Berlin: Georg Reimer 1897, S. 120). Weber bemerkte in der überarbeiteten Fassung der „Protestantischen Ethik“ 1920: „Die Worte ‚μηδὲν ἀπελπίζοντες‘ (Luk. 6, 35) und die Übersetzung der Vulgata ‚nihil inde sperantes‘ sind vermutlich (nach A. Merx) aus μηδένα ἀπελπίζοντες (= neminem desperantes) entstellt, geboten also das Darlehen an jeden, auch den armen, Bruder, ohne überhaupt von Zins zu reden“. (GARS I, S. 59, Fn. 1; MWG I/18). Weber griff diesen Sachverhalt noch einmal innerhalb von WuG1 auf: „Das christliche absolute Zinsverbot beruht in der Fassung der Vulgata („mutuum date nihil inde sperantes“) vielleicht auf einer Übersetzung einer falschen Leseart μηδὲν ἀπελπίζοντες statt μηδένα ἀπελπίζοντες nach A. Merx“ (WuG1, S. 802, MWG I/22-4).
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den nunmehr unabänderlichen Tatsachen gegenüber das Verbot in der früher erwähnten Art beseitigen. [378] Siehe oben, S. 348 und S. 368 f.
Der eigentlich religiöse Grund der Antipathie gegen den Zins lag tiefer und hing mit der Stellung der religiösen Ethik zu der Gesetzlichkeit des rationalen geschäftlichen Erwerbs als solchem zusammen. Jeder rein geschäftliche Erwerb wird in urwüchsigen Religionen, gerade solchen, welche den Besitz von Reichtum an sich sehr stark positiv werten, fast durchweg sehr ungünstig beurteilt. Und zwar eben[A 335]falls nicht nur unter vorherrschender Naturalwirtschaft und dem Einfluß des Kriegsadels. Sondern gerade unter relativ entwickeltem Geschäftsverkehr und in bewußtem Protest dagegen. Zunächst führt jede ökonomische Rationalisierung des Tauscherwerbs zur Erschütterung der Tradition, auf welcher die Autorität des heiligen Rechts überhaupt beruht. Schon deshalb ist der Trieb nach Geld als Typus rationalen Erwerbsstrebens religiös bedenklich. Wenn möglich, hat daher die Priesterschaft (so anscheinend in Ägypten)
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die Erhaltung der Naturalwirtschaft begünstigt, wo nicht etwa die eigenen ökonomischen Interessen der Tempel als sakral geschützter Depositen- und Darlehenskassen dem allzusehr entgegenstanden. Vor allem aber ist es der unpersönliche, ökonomisch rationale, eben deshalb aber ethisch irrationale, Charakter rein geschäftlicher Beziehungen als solcher, der auf ein niemals ganz klar ausgesprochenes, aber um so sicherer gefühltes Mißtrauen gerade bei ethischen Religionen stößt. Jede rein persönliche Beziehung von Mensch zu Mensch, wie immer sie sei, einschließlich der völligsten Versklavung, kann ethisch reglementiert, an sie können ethische Postulate gestellt werden, da ihre Gestaltung von dem individuellen Willen der Beteiligten abhängt, [379]also der Entfaltung karitativer Tugend Raum gibt. Nicht so aber geschäftlich rationale Beziehungen, und zwar je rational differenzierter sie sind, desto weniger. Die Beziehungen eines Pfandbriefbesitzers zu dem Hypothekenschuldner einer Hypothekenbank, eines Staatsschuldscheininhabers zum Staatssteuerzahler, eines Aktionärs zum Arbeiter der Fabrik, eines Tabakimporteurs zum fremden Plantagenarbeiter, eines industriellen Rohstoffverbrauchers zum Bergarbeiter sind nicht nur faktisch, sondern prinzipiell nicht karitativ reglementierbar. Die Versachlichung der Wirtschaft auf der Basis der Marktvergesellschaftung folgt durchweg ihren eigenen sachlichen Gesetzlichkeiten, deren Nichtbeachtung die Folge des ökonomischen Mißerfolgs, auf die Dauer des ökonomischen Untergangs nach sich zieht. Rationale ökonomische Vergesellschaftung ist immer Versachlichung in diesem Sinn, und einen Kosmos sachlich rationalen Gesellschaftshandelns kann man nicht durch karitative Anforderungen an konkrete Personen beherrschen. Der versachlichte Kosmos des Kapitalismus vollends bietet dafür gar keine Stätte. An ihm scheitern die Anforderungen der religiösen Karitas nicht nur, wie überall im einzelnen, an der Widerspenstigkeit und Unzulänglichkeit der konkreten Personen, sondern sie verlieren ihren Sinn überhaupt. Es tritt der religiösen Ethik eine Welt interpersonaler Beziehungen entgegen, die sich ihren urwüchsigen Normen grundsätzlich gar nicht fügen kann. In eigentümlicher Doppelseitigkeit hat daher die Priesterschaft immer wieder, auch im Interesse des Traditionalismus, den Patriarchalismus gegenüber den unpersönlichen Abhängigkeitsbeziehungen gestützt, obwohl andererseits die Prophetie die patriarchalen Verbände sprengt. Je prinzipieller aber eine Religiosität ihren Gegensatz gegen den ökonomischen Rationalismus als solchen empfindet, desto näher liegt dem religiösen Virtuosentum als Konsequenz die antiökonomische Weltablehnung. „Für die griechischen Tempel ist Depositenverwaltung öfters zu belegen, […] für ägyptische Heiligtümer ist ähnliches noch nicht bekannt geworden“. (Otto, Priester und Tempel I, wie oben, S. 198, Anm. 59, S. 319, Fn. 3). Otto erwähnte eine Urkunde aus ptolemäischer Zeit, nach der ein Privatmann verschiedene Haushaltsgegenstände in einem Tempel der Thebais deponiert hatte. Otto ging davon aus, daß die Deponierung erfolgt sei, „um dem Tempel ein Unterpfand für ein von ihm gewährtes Darlehen zu verschaffen“, aber nicht, um „durch die Niederlegung im Heiligtum diesem die Verwaltung der betreffenden Gegenstände“ anzuvertrauen (ebd., S. 319 f.).
In der Welt der Tatsachen hat dabei die religiöse Ethik infolge der unvermeidlichen Kompromisse, verschiedene Schicksale gehabt. Von jeher ist sie ganz direkt für rationale ökonomische Zwecke, insbesondere auch der Gläubiger, benutzt worden. Namentlich da, wo die Schuld rechtlich noch streng an der Person des Schuldners haftete. Dann wurde die Ahnenpietät der Erben ausgenutzt. Die Pfändung der Mumie des Toten in Ägypten oder die in manchen asiatischen Religiositäten verbreitete Vorstellung, [380]daß[,] wer ein Versprechen, also auch ein Schuldversprechen, namentlich ein eidliches, nicht halte, im Jenseits gequält werde
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und daher seinerseits die Ruhe der Nachfahren durch bösen Zauber stören könne, gehören dahin. Im Mittelalter ist, worauf Schulte hinwies,[380] Zugrunde liegt die Vorstellung, daß man sich durch einen Eid gleichzeitig den Göttern verschrieben habe. Ein etwaiger Bruch des Eides hatte auch immer eine göttliche Strafe zur Konsequenz, die sich im Jenseits fortsetzen konnte. (Vgl. Lehmann, Edvard, Erscheinungswelt der Religion: III. Heilige Menschen, in: RGG1, Band 2, 1910, Sp. 551– 577, hier: 571 f.).
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der Bischof besonders kreditwürdig, weil im Fall des Bruchs der Zusage, zumal der eidlichen, die Exkommunikation seine ganze Existenz vernichtete (darin ähnlich der spezifischen Kreditwürdigkeit unserer Leutnants und Couleurstudenten). In eigentümlicher Paradoxie gerät vor allen Dingen, wie schon mehrfach erwähnt, „Da ist nun zu beachten, daß sämtliche Schulden von deutschen Kirchenfürsten gemacht sind und weiter wohl sicher von den meisten beim Antritt des Amtes, wo die Kosten der päpstlichen Bestätigung und die eventuelle Regelung der Schulden des Vorgängers ein bedeutendes Geldbedürfnis erzeugen mußten. […] Im Vertrauen auf die kirchlichen Ermahnungen und Strafen, welche nötigenfalls die Kurie über den Schuldner verhängte, öffnete der […] Kaufmann seinen Geldbeutel. Dieses System ist wohl schon um 1200 ausgebildet gewesen. Schon unter Innocenz IV. wird die Exkommunikation zu Gunsten von Seneser Kaufleuten verwendet, und schon längst gab die Kurie den Gläubigern sofort Exekutoren, die das gerichtliche Verfahren einzuleiten hatten […]“. (Schulte, Geschichte des mittelalterlichen Handels, S. 264).
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die Askese immer wieder in den Widerstreit, daß ihr [A 336]rationaler Charakter zur Vermögensakkumulation führt. Namentlich die Unterbietung, welche die billige Arbeit asketischer Zölibatäre gegenüber dem, mit dem Existenzminimum einer Familie belasteten, bürgerlichen Erwerb bedeutet, führt zur Expansion des eigenen Erwerbs, im Spätmittelalter, wo die Reaktion des Bürgertums gegen die Klöster eben auf deren gewerblicher „Kulikonkurrenz“ beruht, wie bei der Unterbietung der weltlichen verheirateten Lehrer durch die Klostererziehung. Sehr oft erklären sich Stellungnahmen der Religiosität aus ökonomischen Erwerbsgründen. Die byzantinischen Mönche waren an den Bilderdienst ökonomisch gekettet wie die chinesischen es an die Produkte ihrer Buchdruckereien und Werkstätten sind, und die moderne Fabrikation von Schnaps in Klöstern – ein Hohn auf die religiöse Alko[381]holbekämpfung – ist nur ein extremes Beispiel in ähnlichem Sinne. Derartige Momente wirken jeder prinzipiellen antiökonomischen Weltablehnung entgegen. Jede Organisation, insbesondere jede Anstaltsreligiosität bedarf auch der ökonomischen Machtmittel, und kaum eine Lehre ist mit so fürchterlichen päpstlichen Flüchen bedacht worden, namentlich durch den größten Finanzorganisator der Kirche, Johann XXII., Auf die Paradoxie, daß Askese zur Vermögensakkumulation führen kann, wies Weber in der „Protestantischen Ethik“ (Weber, Protestantische Ethik II, S. 103 f.), in der Konfuzianismusstudie (MWG I/19, S. 473), in der „Zwischenbetrachtung“ (MWG I/19, S. 489) sowie in WuG1, S. 810 (MWG I/22-4) hin.
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wie die konsequente Vertretung der biblisch beglaubigten Wahrheit: daß Christus seinen echten Jüngern Besitzlosigkeit geboten habe, durch die Franziskanerobservanten. [381] Mit der Konstitution „ex debito“ von 1316 erweiterte Johannes XXII. für das Papsttum das Rechtsinstrument der Reservation, d. h. das Recht, von Rom aus Stellen zu besetzen. Für die Vergabe von Pfründen kassierte die Kurie einen Teil der Pfründeneinkünfte. Bischöfe und Prälaten, die ihre Ämter vom Papst erhielten, mußten Servitien entrichten, ein Drittel des ersten Jahreseinkommens. Die Inhaber der Pfründe wurden zur Zahlung der Annaten verpflichtet, der Abgabe sämtlicher Einkünfte des ersten halben Amtsjahres. Ferner beanspruchte der Papst den Nachlaß aller Prälaten und Pfarrherren, die Spolien. Über Papst Johannes XXII. heißt es bei Albert Hauck: „Übel berüchtigt ist Johanns Pontifikat infolge der Finanzkünste, die er entfaltete. […] Seine Zeitgenossen wußten von dem immensen Schatz zu erzählen, den er gesammelt habe“. (Hauck, Albert, Johannes XXII., in: RE3, Band 9, 1901, S. 267–270, Zitat: S. 270). Im Rahmen des sog. „Armutsstreits“ erklärte das franziskanische Generalkapitel 1322 die völlige Armut Jesu und seiner Jünger zur verbindlichen Lehre. 1323 verurteilte Papst Johannes XXII. diese Auffassung der Franziskaner als Häresie und betonte, daß bei Christus und den Aposteln Eigentum und Besitz vorausgesetzt und legitimiert wurde.
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Schon von Arnold von Brescia angefangen zieht sich die Zahl der Märtyrer dieser Lehre durch die Jahrhunderte. Das biblische Gebot der Besitzlosigkeit findet sich etwa in Lukas 12, 33: „Verkaufet, was ihr habt, und gebt Almosen. Machet euch Säckel, die nicht veralten, einen Schatz, der nimmer abnimmt, im Himmel, da kein Dieb zu kommt, und den keine Motten fressen“. „Franziskanerobservanten“ bezeichnete die Mitglieder der rigoristischen Richtung des Franziskanerordens, die ein Leben in ursprünglicher Armut und Besitzlosigkeit anstrebten und sich damit von den gemäßigten Konventualen absetzten. Der Gegensatz beider Gruppen innerhalb der Franziskaner führte schließlich zur Spaltung des Ordens, die 1517 von Papst Leo X. sanktioniert wurde.
Die praktische Wirkung der christlichen Wucherverbote und des für den geschäftlichen, speziell den kaufmännischen Erwerb, geltenden Satzes: „Deo placere non potest“,
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ist generell schwer ab[382]zuschätzen. Das Wucherverbot zeitigte juristische Umgehungsformen aller Art. So gut wie unverhüllten Zins mußte schließlich die Kirche selbst nach hartem Kampf in den karitativen Anstalten der Montes pietatis (endgültig seit Leo X.) für Pfandleihegeschäfte zugunsten der Armen zulassen. Hierbei handelt es sich um ein Zitat aus dem Corpus Iuris Canonici, Decreti prima pars, Distinctio 88, C. XI. De eodem. Der vollständige lateinische Text lautet: „Eiciens Dominus uendentes et ementes de templo, significauit, quia homo mercator uix aut numquam potest Deo placere”. (Zitiert nach Friedberg, Aemilius [Emil], Corpus Iuris Canonici. Editio Lipsiensis secunda post Aemili Ludovici Richteri, Pars Prior: Decretum Magistri Gratiani. – Leipzig: B. Tauchnitz 1879, S. 307). In deutscher Übersetzung lautet der letzte Satzteil: „Ein Kaufmann findet kaum jemals Gefallen vor Gott“.
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Für den nur gegen festen Zins zu deckenden Notkreditbedarf des Mittelstandes sorgte das Judenprivileg. [382] Theo Sommerlad bemerkte folgendes: „Erst in der zweiten Hälfte des 15. Jhd.s sind auf Betreiben des Franziskanerordens in Ober- und Mittelitalien dauernde kirchliche Kreditinstitute, die M[ontes] p[ietatis] entstanden, um der durch das kirchliche Zinsverbot verursachten Kreditnot zu steuern […]“. Sie wurden „bekämpft vor allem von den Juden, die für ihre Vormachtsstellung im Geldleihegeschäft fürchteten, und von den Dominikanern, die erst seit der Entscheidung des Laterankonzils (1512–17) und einer Bulle Leos X. von 1515 zugunsten der Verzinsung der Darlehen ihren leidenschaftlichen Widerspruch aufgaben“. (Sommerlad, Theo, Montes pietatis, in: RGG1, Band 4, 1913, Sp. 490 f., Zitate: Sp. 491).
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Im übrigen aber ist zu bedenken, daß im Mittelalter der feste Zins zunächst gerade bei den damals sehr stark risikobelasteten, namentlich den für überseeische Geschäfte geschlossenen, Erwerbskreditverträgen (wie sie z. B. auch für Mündelgelder in Italien In der Stadt Speyer wurden die Juden von dem Speyerer Bischof Rüdiger Hutzmann (1073–1090) im Jahr 1084 mit einem Privileg ausgestattet, das ihnen eigene Gerichtsbarkeit und Verwaltung, Geldwechselgeschäfte und Warenhandel unbeschränkt erlaubte. Im „Speyerer Privileg“ von 1544 gestattete Kaiser Karl V. den Juden, denen im Gegensatz zu den Christen der Geldverleih auf Zins an Fremde erlaubt war, Zinsnahme von Christen. „Wir haben hier zunächst das Privileg der Juden zu berühren. Den Juden wurde das Ausleihen auf Zins und folglich auch jedes entgeltliche Creditgeben in anderer Form nachgesehen und damit eine höchst einflussreiche Stellung in der Handelswelt gesichert“. (Endemann, Wilhelm, Die nationalökonomischen Grundsätze der canonistischen Lehre, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, hg. von Bruno Hildebrand, 1. Band, 1863, S. 26–47, 154–181, 310–367, 537–576 und 679–730, Zitat: S. 167).
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universell benutzt wurden) ohnehin die seltene Ausnahme war gegenüber einer verschieden begrenzten und zuweilen (im Pisaner Constitutum Usus) Hierzu hat sich Weber ausführlich in seiner Dissertation geäußert. „Unzweideutig drückt sich letztere Auffassung darin aus, daß die Statuten die Einlage in eine societas maris als besonders geeignete Art der Anlage von Mündelgeldern und ähnlichen zeitweilig werbend anzulegenden Kapitalien behandeln“ (Weber, Handelsgesellschaften, S. 25, vgl. auch ebd., S. 112).
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tarifierten Teilnahme an Risiko und [383]Gewinn des Geschäfts (commenda dare ad proficuum de mari). Das Pisaner „Constitutum Usus“ bildet zusammen mit dem „Constitutum Legis“ die beiden ältesten und umfassendsten Texte des städtischen Rechts im mittelalterlichen Italien. Mit der Redaktion wurde 1156 begonnen, es behandelte u. a. öffentlichen Besitz, Wegerechte, Fischereirechte, Lehensrechte und allgemeine Fragen des Handels- und Seerechts.
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Die großen Händlergilden jedoch schützten sich gegen die Einrede der usuraria pravitas teils durch Ausschluß aus der Gilde, Boykott und schwarze Listen (wie etwa gegen den Differenzeinwand unserer Börsengesetzgebungen), die Mitglieder aber für ihr persönliches Seelenheil durch von der Zunft beschaffte Generalablässe (so in der Arte [383] Mit „Commenda“ wird ein Gelegenheitsgeschäft im Überseehandel bezeichnet, bei dem ein Beteiligter Kapital einbringt, aber nicht mit auf Fahrt geht, der andere die Ware begleitet und im Ausland verkauft. Der Erlös des Geschäftes wird zwischen beiden Geschäftspartnern geteilt. Weber befaßte sich in seiner Dissertation mit diesem Thema. Als Commenda definierte er dort ein „Geschäft […], durch welches jemand die Verwertung von Waren eines andern, auf dessen Gefahr, gegen Gewinnanteil übernimmt“ (Weber, Handelsgesellschaften, S. 17). Bei der „societas maris“ tragen sowohl der Reisende als auch der mit nur einer Einlage beteiligte Gesellschafter gemeinsam die Risiken für den gesamten Warenbestand (ebd., S. 22–25). Die „societas maris“ erscheint Weber als ein „Übergang in eine Societät mit zweiseitiger Kapitaleinlage“ (ebd., S. 22).
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di Calimala)[383]A: Acta
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und massenhafte testamentarische Gewissensgelder oder Stiftungen. Der tiefe Zwiespalt zwischen den geschäftlichen Unvermeidlichkeiten und dem christlichen Lebensideal wurde indessen oft sehr tief gefühlt und hielt jedenfalls gerade die frömmsten und ethisch rationalsten Elemente dem Geschäftsleben fern, wirkte vor allem immer wieder in der Richtung einer ethischen Deklassierung und Hemmung des rationalen Geschäftsgeistes. Die Auskunft der mittelalterlichen Anstaltskirche: die Pflichten ständisch abzustufen je nach religiösem Charisma und ethischem Beruf und daneben die Ablaßpraxis ließen jedoch eine geschlossene ethische Lebensmethodik auf ökonomischem Gebiete überhaupt nicht entstehen. (Der Ablaßdispens und die äußerst laxen Prinzipien der jesuitischen probabilistischen Ethik nach der Gegenreformation änderten daran nichts, daß eben ethisch lax denkende, nicht aber ethisch rigoristische [384]Menschen dem Erwerb als solchem sich zuwenden konnten.) Die Schaffung einer kapitalistischen Ethik leistete – durchaus nicht der Absicht nach – erst die innerweltliche Askese des Protestantismus, welche gerade den frömmsten und ethisch rigorosesten Elementen den Weg in das Geschäftsleben öffnete In seiner „Protestantischen Ethik“ setzte sich Weber mit der Behandlung des Wucherverbotes in den Statuten der Arte di Calimala auseinander. Er bemerkte: „Also eine Art Beschaffung des Ablasses von seiten der Zunft für ihre Mitglieder von Amtswegen und im Submissionswege. Höchst charakteristisch für den außersittlichen Charakter des Kapitalgewinns sind auch die weiter folgenden Anweisungen, ebenso z. B. das unmittelbar vorhergehende Gebot […], alle Zinsen und Profite als ‚Geschenk‘ zu buchen. Den heutigen schwarzen Listen der Börse gegen solche, die den Differenzeinwand erheben, entsprach oft der Verruf gegen solche, die das geistliche Gericht mit der exceptio usurariae pravitatis [unerlaubte Zinsnahme, Wucher] angingen“. (Weber, Protestantische Ethik I, S. 33, Fn. 1).
r
und ihnen[384] Fehlt in A; öffnete sinngemäß ergänzt.
s
vor allem den Erfolg im Geschäftsleben als Frucht rationaler Lebensführung zuwendete. Das Zinsverbot selbst wurde vom Protestantismus, speziell vom asketischen Protestantismus, auf Fälle konkreter [A 337]Lieblosigkeit beschränkt. Der Zins wurde jetzt gerade da, wo ihn die Kirche selbst in den Montes pietatis faktisch geduldet hatte: bei Kredit an die Armen, als liebloser Wucher perhorresziert, – die Juden sowohl wie die christliche Geschäftswelt empfanden seit langem deren Konkurrenz als lästig, – dagegen wurde er als eine Form der Teilnahme des Kapitalgebers an demFehlt in A; ihnen sinngemäß ergänzt.
a
mit geliehenem Gelde gemachten Geschäftsprofit und überhaupt für den Kredit an die Mächtigen und Reichen (politischer Kredit an Fürsten) legitimiert. Theoretisch ist dies die Leistung des Salmasius. Vor allem vernichtete aber ganz allgemein der Calvinismus die überkommenen Formen der Karitas. Das planlose Almosen war das erste, was er beseitigte. Allerdings war schon seit der Einführung fester Normen für die Verteilung der Gelder des Bischofs in der späteren Kirche und dann durch die Einrichtung des mittelalterlichen Spitals der Weg zur Systematisierung der Karitas betreten, wie im Islam die ArmensteuerA: den
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eine rationale Zentralisation bedeutet hatte. Aber seine Bedeutung als gutes Werk hatte das planlose Almosen behauptet. Die zahllosen karitativen Stiftungen aller ethischen Religionen haben der Sache nach ebenfalls entweder zu einer direkten Züchtung des Bettels geführt und überdies, wie etwa in der fixierten Zahl der täglichen Armensuppen in byzantinischen Klosterstiftungen und in dem chinesischen offiziellen Suppentage, die Karitas zu einer rein rituellen Geste werden lassen. Der Calvinismus machte dem allen ein Ende. Vor allem der freundlichen Beurtei[385]lung der Bettler. Für ihn hat der unerforschliche Gott seine guten Gründe, wenn er die Glücksgüter ungleich verteilt[,] und bewährt sich der Mensch ausschließlich in der Berufsarbeit. Der Bettel wird direkt als eine Verletzung der Nächstenliebe gegen den Angebettelten bezeichnet, und vor allem gehen alle puritanischen Prediger von der Auffassung aus, daß Arbeitslosigkeit Arbeitsfähiger ein für allemal selbstverschuldet sei. [384] Die Sozialabgabe (zakāt) ist bestimmt für soziale, karitative und missionarische Einrichtungen der islamischen Gemeinden (Sure 9, 60) und zur Unterstützung der Staatsfinanzen. Ihre Höhe richtet sich nach Einkommen und Vermögen. Vgl. auch oben, S. 374, Anm. 7.
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Für Arbeitsunfähige aber, für Krüppel und Waisen, ist die Karitas rational zu organisieren zu Gottes Ehre, nach Art etwa der noch jetzt in einer eigentümlich auffallenden, an Narrentrachten erinnernden Kleidung, möglichst ostensibel durch die Straßen Amsterdams zum Gottesdienst geführten Waisenhausinsassen.[385] Bei Hermann Levy findet sich folgende Aussage über Arbeitsunfähige in England: „Nur in diesem Sinne […] sind sie des Allmächtigen Arme. Die übrigen, welche dreimal so zahlreich sind, haben es selbst verschuldet … durch ihre faule, unregelmäßige und hinterlistige Lebensweise“. (Levy, Grundlagen des ökonomischen Liberalismus, S. 80 f.). Als Zitatbeleg nennt er Thomas Manley, Usury at six peccent [per cent.] examined. – London: Printed by Thomas Ratcliffe and Thomas Daniel 1669, S. 24.
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Die Armenpflege wird unter dem Gesichtspunkt der Abschreckung von Arbeitsscheuen gestellt, wofür etwa die englische puritanische Armenpflege im Gegensatz zu den von H[ermann] Levy Weber hielt sich im Juni 1903 in den Niederlanden auf. In einem Brief vom 14. Juni an Marianne Weber beschrieb er, was er selbst bei Gottesdienstbesuchen in Amsterdam beobachtet hatte: „Auf den Estraden die Waisenkinder in mächtigen Schaaren und in unendlich bunten und in ihrer Art malerischen, nur etwas [verdrehten] Costümen: die Jungen (auch große von [11] Jahren) Röcke die rechts knallroth, links schwarz sind, ähnlich die Mädchen – es ist doch eine Art Narrentracht!“. (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446; MWG II/4).
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sehr gut geschilderten anglikanischen Sozialprinzipien den Typus abgibt. Jedenfalls wird Karitas selbst nur ein rationaler „Betrieb“, und ihre religiöse Bedeutung ist damit entweder ausgeschaltet oder direkt in ihr Gegenteil verkehrt. So die konsequente asketisch-rationale Religiosität. Levy, Grundlagen des ökonomischen Liberalismus, S. 69 ff.
Den entgegengesetzten Weg gegenüber der Rationalisierung der Wirtschaft muß eine mystische Religiosität gehen. Gerade das prinzipielle Scheitern der Brüderlichkeitspostulate an der lieblosen Realität der ökonomischen Welt, sobald in ihr rational gehandelt wird, steigert hier die Forderung der Nächstenliebe zu dem Postulat der schlechthin wahllosen „Güte“, die nach Grund und Erfolg der absoluten Selbsthingabe, nach Würdigkeit und Selbsthilfefähigkeit des Bittenden überhaupt nicht fragt und das Hemd [386]gibt, wo der Mantel erbeten ist, für die aber eben deshalb in ihren letzten Konsequenzen auch der einzelne Mensch, für den sie sich opfert, sozusagen fungibel und in seinem Wert nivelliert wird, der „Nächste“ der jeweils zufällig in den Weg kommende ist, relevant nur durch seine Not und seine Bitte: eine eigentümliche Form mystischer Weltflucht in Gestalt objektlos liebender Hingabe nicht um des Menschen, sondern um der Hingabe, der „heiligen Prostitution der Seele“ (Baudelaire),
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willen. [386] Wörtlich heißt es bei Charles Baudelaire, Petits poëmes en prose, S. 32: „Ce que les hommes nomment amour est bien petit, bien restreint et bien faible, comparé à cette ineffable orgie, à cette sainte prostitution de l’âme qui se donne tout entière, poésie et charité, à l’imprévu qui se montre, à l’inconnu qui passe.“ Fast gleichlautend hatte sich Weber bereits in einem Diskussionsbeitrag auf der ersten Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt am 21. Oktober 1910, im Anschluß an den Vortrag von Ernst Troeltsch „Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht“, geäußert. (Weber, Verhandlungen 1910, S. 200).
Gleich scharf und aus gleichen Gründen gerät der religiöse Liebesakosmismus, in irgendeiner Weise aber jede rationale ethische Religiosität in Spannung mit dem Kosmos des politischen Handelns, sobald eine Religion dem politischen Verband gegenüber überhaupt einmal Distanz gewonnen hat.
Der alte politische Lokalgott freilich, auch ein ethischer und universell mächtiger Gott, ist lediglich für den Schutz der politischen Interessen seines Verbandes da. Auch der Christengott wird ja noch heute als „Schlachtengott“ oder „Gott unserer [A 338]Väter“ wie ein Lokalgott einer antiken Polis angerufen, ganz ebenso wie etwa der christliche Pfarrer am Nordseestrand jahrhundertelang um „gesegneten Strand“ (zahlreiche Schiffbrüche) zu beten hatte. Die Priesterschaft ihrerseits hängt meist direkt oder indirekt von dem politischen Verbande ab, sehr stark schon in den heutigen auf Staatspension gesetzten Kirchen, erst recht aber[,] wo die Geistlichen Hof- oder Patrimonialbeamte der Herrscher oder Grundherren, wie in Indien der purohita oder wie der byzantinische Hofbischof Konstantins,
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oder wo sie selbst weltlich belehnte Feudalherren wie im Mittelalter oder adelige Priestergeschlechter mit [387]weltlicher Macht waren. Die heiligen Sänger, deren Produkte fast überall in die heiligen Schriften eingingen, in die chinesischen und indischen wie in die jüdischen, preisen den Heldentod, der den brahmanischen heiligen Rechtsbüchern für den Kshatriya in dem Alter, in welchem er „den Sohn seines Sohnes sieht“, Gemeint ist der spanische Bischof Hosius (Ossios) von Cordoba, theologischer Berater Kaiser Konstantins. Hosius wurde im Rahmen des sog. „Arianischen Streits“ (328–337) zwischen dem alexandrinischen Bischof Arius und Bischof Alexander, ausgelöst wegen unterschiedlicher Auffassungen über die Christologie, als Vermittler nach Alexandrien geschickt. Seine Verhandlungsversuche scheiterten jedoch.
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als ebenso ideale Kastenpflicht gilt, wie im gleichen Fall für den Brahmanen die Zurückziehung zur Meditation in den Wald.[387] Vgl. oben, S. 231, Anm. 38.
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Den Begriff des „Glaubenskampfs“ freilich konzipiert eine magische Religiosität nicht. Aber politischer Sieg und vor allem Rache an den Feinden sind für sie und auch für die alte Jahvereligion der eigentliche Gotteslohn. Vgl. oben, S. 270, Anm. 14.
Je mehr aber die Priesterschaft sich selbständig gegenüber der politischen Gewalt zu organisieren versucht und je rationaler ihre Ethik wird, desto mehr verschiebt sich diese ursprüngliche Position. Der Widerspruch zwischen der Predigt der Brüderlichkeit der Genossen und der Verherrlichung des Krieges den Außenstehenden gegenüber pflegt freilich für die Deklassierung der kriegerischen Tugenden nicht entscheidend zu sein, da hier ja der Ausweg der Unterscheidung von „gerechten“ und „ungerechten“ Kriegen blieb, – ein pharisäisches Produkt, von welchem die alte genuine Kriegerethik nichts wußte. Weit wichtiger war die Entstehung von Gemeindereligionen politisch entwaffneter und priesterlich domestizierter Völker, wie etwa der Juden, und das Entstehen breiter, mindestens relativ unkriegerischer, aber für den Unterhalt und die Machtstellung der Priesterschaft, wo sie sich selbständig organisierte, zunehmend bedeutsamer Schichten. Die Priesterschaft mußte die spezifischen Tugenden dieser Schichten um so exklusiver rezipieren, als diese: Einfachheit, geduldiges Sichschicken in die Not, demütige Hinnahme der gegebenen Autorität, freundliches Verzeihen und Nachgiebigkeit gegenüber dem Unrecht, gerade auch diejenigen Tugenden waren, welche der Unterwerfung unter die Fügung des ethischen Gottes und der Priester selbst zugute kamen, und als sie alle ferner in gewissem Maß Komplementärtugenden der religiösen Grundtugend der Mächtigen: der großmüti[388]gen Karitas, darstellten, und als solche von den patriarchalen Nothelfern selbst bei den von ihnen Unterstützten erwartet und gewünscht werden. Politische Umstände wirken mit, die Ethik des Beherrschten religiös um so mehr zu verklären, je mehr eine Religiosität „Gemeinde“-Religiosität wird. Die jüdische Prophetie, in realistischer Erkenntnis der außenpolitischen Lage, hat das Sichschicken in das gottgewollte Schicksal der Herrschaft der Großmächte gepredigt. Und die Domestikation der Massen, welche sowohl Fremdherrschaften (so zuerst systematisch die Perser) wie schließlich auch die eigenen heimischen Gewalthaber den von ihnen anerkannten Priestern zuweisen, gibt, verbunden mit der Eigenart ihrer persönlichen unkriegerischen Tätigkeit und der Erfahrung von der überall besonders intensiven Wirkung religiöser Motive auf Frauen, mit zunehmender Popularisierung der Religion zunehmende Gründe, jene wesentlich femininen Tugenden der Beherrschten als spezifisch religiös zu werten. Aber nicht dieser priesterlich organisierte „Sklavenaufstand“ in der Moral
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allein, sondern jedes Emporwachsen asketischer und vor allem mystischer persönlicher Heilssuche des Einzelnen, von der Tradition Gelösten führt, wie wir sahen,[388] Zu Nietzsches „Sklavenaufstand“ in der Moral vgl. oben, S. 263, Anm. 3.
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kraft Eigengesetzlichkeit in die gleiche Richtung. Typische äußere Situationen aber wirken verstärkend. Sowohl der sinnlos scheinende Wechsel der, gegenüber einer universalistischen Religiosität und (relativen) sozialen Einheitskultur (wie in Indien), partikulären und ephemeren, kleinen politischen Machtgebilde, wie gerade umgekehrt auch die universelle Be[A 339]friedung und Austilgung alles Ringens um Macht in den großen Weltreichen, und speziell die Bürokratisierung der politischen Herrschaft (wie im Römerreich), alle Momente also, welche den politischen und sozialen, am kriegerischen Machtkampf und sozialen Ständekampf verankerten Interessen den Boden entziehen, wirken sehr stark in der gleichen Richtung der antipolitischen Weltablehnung und der Entwicklung gewaltablehnender religiöser Brüderlichkeitsethik. Nicht aus „sozialpolitischen“ Interessen, womöglich aus „proletarischen“ Instinkten heraus, Siehe oben, S. 330 ff.
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sondern gerade aus dem völligen Wegfall dieser Interessen erwuchs die Macht der [389]apolitischen christlichen Liebesreligion ebenso wie die zunehmende Bedeutung aller Erlösungslehren und Gemeindereligiositäten seit dem ersten und zweiten Jahrhundert der Kaiserzeit überhaupt. Es sind dabei keineswegs nur, oft nicht einmal vorwiegend, die beherrschten Schichten und ihr moralistischer Sklavenaufstand, sondern vor allem die politisch desinteressierten, weil einflußlosen oder degoutierten Schichten der Gebildeten, welche Träger speziell antipolitischer Erlösungsreligiositäten werden. Vgl. oben, S. 264, Anm. 8.
Die ganz universelle Erfahrung: daß Gewalt stets Gewalt aus sich gebiert, daß überall soziale oder ökonomische Herrschaftsinteressen sich mit den idealsten Reform- und vollends Revolutionsbewegungen vermählen, daß die Gewaltsamkeit gegen das Unrecht im Endergebnis zum Sieg nicht des größeren Rechts, sondern der größeren Macht oder Klugheit führt, bleibt mindestens der Schicht der intellektuellen Nichtinteressenten nicht verborgen und gebiert immer neu die radikalste Forderung der Brüderlichkeitsethik: dem Bösen nicht mit Gewalt zu widerstehen,
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welche dem Buddhismus mit der Predigt Jesu gemeinsam ist. Sie eignet aber auch sonst speziell mystischen Religiositäten, weil die mystische Heilssuche mit ihrer das Inkognito in der Welt als einzige Heilsbewährung suchenden Minimisierung des Handelns diese Haltung der Demut und Selbstaufgabe fordert und sie überdies auch rein psychologisch aus dem akosmistischen objektlosen Liebesempfinden, welches ihr eignet, erzeugen muß. Jeder reine Intellektualismus aber trägt die Chance einer solchen mystischen Wendung in sich. Die innerweltliche Askese dagegen kann mit der Existenz der politischen Gewaltordnung paktieren, die sie als Mittel rationaler ethischer Umgestaltung der Welt und der Bändigung der Sünde schätzt. Allein das Handinhandgehen ist hier bei weitem nicht so leicht wie mit den ökonomischen Erwerbsinteressen. Denn in ungleich höherem Maße als der private ökonomische Erwerb nötigt die auf menschliche Durchschnittsqualitäten, Kompromisse, List und Verwendung anderer ethisch anstößiger Mittel und vor allem Menschen, daneben auf Relativierung aller Zwecke abgestellte, eigentlich politische Tätigkeit zur Preisgabe ethisch-rigo[390]ristischer Forderungen. So sehr fällt dies in die Augen, daß unter der ruhmvollen Makkabäerherrschaft, nachdem der erste Rausch des Freiheitskriegs verraucht war, gerade unter den frömmsten Juden eine Partei entstand, welche die Fremdherrschaft dem nationalen Königtum ähnlich vorzog,[389] Matthäus 5, 38 f.: „Ihr habt gehört, daß da gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern, so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar“.
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wie manche puritanischen Denominationen nur die Kirchen unter dem Kreuz, also unter ungläubiger Herrschaft, als solche von erprobter Echtheit der Religiosität ansahen. In beiden Fällen wirkte einerseits der Gedanke, daß die Echtheit nur im Martyrium bewährt werden könne, andererseits aber die prinzipielle Vorstellung: daß echt religiöse Tugenden, sowohl die kompromißlose rationale Ethik wie andererseits die akosmistische Brüderlichkeit, innerhalb des politischen Gewaltapparats unmöglich eine Stätte finden können. Die Verwandtschaft der innerweltlichen Askese mit der Minimisierung der Staatstätigkeit („Manchestertum“)[390] Vgl. dazu die Einschätzung von Wilhelm Bousset: „Den Makkabäern gelang es nicht, das Volk dauernd in die neuen Bahnen des nationalen Lebens hineinzureissen. Schon in den Anfängen der Freiheitskämpfe, nachdem soeben die Freiheit der Religionsübung gesichert war, löste sich die ,Synagoge der Chasidäer‘, der eigentliche Kern der Frommen im Volk, wieder von ihnen ab. [1. Makkabäer 7, 13 ff.]“. „Es ist nun sehr bezeichnend, dass dieselben Frommen sich mit der nun folgenden Fremdherrschaft des Herodes abzufinden wussten“. (Bousset, Religion des Judentums, S. 65).
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hat hier eine ihrer Quellen. In England formierte sich in Manchester im frühen 19. Jahrhundert in Opposition zu den Korngesetzen die sog. „Manchesterschule“, die für die Aufhebung der Kornzölle und für Freihandel eintrat. Sie vertrat einen konsequenten wirtschaftlichen Liberalismus und reduzierte staatliche Eingriffe auf den Schutz der Unternehmen vor der Selbstorganisation der Arbeiter.
Der Konflikt der asketischen Ethik sowohl wie der mystischen Brüderlichkeitsgesinnung mit dem allen politischen Bildungen zugrunde liegenden Gewaltapparat hat die verschiedensten Arten von Spannung und Ausgleich gezeitigt. Die Spannung zwischen Religion und Politik ist natürlich da am geringsten, wo, wie im Konfuzianismus, die Religion Geisterglauben oder schlechthin Magie, die Ethik aber lediglich kluge Weltanpassung des gebildeten Mannes ist. Ein Konflikt besteht andererseits [A 340]da gar nicht, wo eine Religiosität die gewaltsame Propaganda der wahren Prophetie zur Pflicht macht, wie der alte Islam, der auf Universalismus der Bekehrung bewußt verzichtete
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und die Unterjochung wie die Unterwerfung der Glaubensfremden unter die Herrschaft eines [391]dem Glaubenskampf als Grundpflicht gewidmeten herrschenden Ordens, nicht aber die Erlösung der Unterworfenen als Ziel kennt. Denn dies ist dann eben keine universalistische Erlösungsreligion. Der gottgewollte Zustand ist gerade die Gewaltherrschaft der Gläubigen über die geduldeten Ungläubigen, und also die Gewaltsamkeit als solche kein Problem. Eine gewisse Verwandtschaft damit zeigt die innerweltliche Askese dann, wenn sie, wie der radikale Calvinismus, die Herrschaft der zur „reinen“ Kirche Vgl. oben, S. 229, Anm. 32.
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gehörigen religiösen Virtuosen über die sündige Welt zu deren Bändigung als gottgewollt hinstellt, wie dies z. B. der neuenglischen Theokratie, wenn nicht ausgesprochenermaßen, so doch in der Praxis, natürlich mit allerhand Kompromissen, zugrunde lag. Ein Konflikt fehlt aber auch da, wo, wie in den indischen intellektualistischen Erlösungslehren[391] „Reine Kirche“ (lat.: ecclesia pura) bezeichnet bei den Calvinisten die zur Ehre Gottes von sittlich verworfenen Teilnehmern gereinigte Abendmahlsgemeinschaft, oder, im erweiterten Sinn, die sittlich rigoristische Laiengemeinschaft.
b
(Buddhismus, Jainismus)[,] jede Beziehung zur Welt und zum Handeln in ihr abgebrochen, eigene Gewaltsamkeit ebenso wie Widerstand gegen die Gewalt absolut verboten, aber auch gegenstandslos ist. Nur faktische Einzelkonflikte konkreter Staatsanforderungen mit konkreten religiösen Geboten entstehen da, wo eine Religiosität Pariareligion einer von der politischen Gleichberechtigung ausgeschlossenen Gruppe, ihre Verheißung aber die gottgewirkte Wiederherstellung des richtigen Kastenranges ist, wie das Judentum, welches Staat und Gewalt nie verworfen, im Gegenteil mindestens bis zur hadrianischen Tempelzerstörung[391]A: Erlösungslehren,
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im Messias einen eigenen politischen Gewaltherrscher erwartet hatte. Kaiser Hadrian ließ an der Stelle des alten Jahwe-Heiligtums in Jerusalem einen Tempel für den Jupiter Capitolinus errichten, was den Aufstand der Juden gegen Rom auslöste, den sog. „Bar-Kochba-Aufstand“ (132–135).
Der Konflikt führt zum Martyrium oder zu passiver antipolitischer Duldung der Gewaltherrschaft, wo eine Gemeindereligiosität jede Gewaltsamkeit als widergöttlich verwirft, und die Fernhaltung davon für ihre Mitglieder wirklich durchsetzen, dabei aber doch nicht die Konsequenz der absoluten Weltflucht ziehen, sondern irgendwie innerhalb der Welt bleiben will. Der religiöse An[392]archismus hat nach historischer Erfahrung bisher nur als kurzlebige Erscheinung bestanden, weil die Intensität der Gläubigkeit, die ihn bedingt, persönliches Charisma ist. Selbständige politische Bildungen auf einer nicht schlechthin anarchistischen, aber prinzipiell pazifistischen Grundlage haben existiert. Die wichtigste war das Quäkergemeinwesen in Pennsylvanien, dem es zwei Menschenalter lang tatsächlich gelang, im Gegensatz zu allen Nachbarkolonien, ohne Gewaltsamkeit gegen die Indianer auszukommen und zu prosperieren. Bis zuerst die bewaffneten Konflikte der Kolonialgroßmächte den Pazifismus zu einer Fiktion machten, und schließlich der amerikanische Unabhängigkeitskrieg, welcher im Namen grundlegender Prinzipien des Quäkertums, aber unter Fernhaltung der orthodoxen Quäker wegen des Nichtwiderstandsprinzips, geführt wurde, dies Prinzip auch innerlich tief diskreditierte. Und die ihm entsprechende, tolerante Zulassung Andersdenkender hatte in Pennsylvanien selbst die Quäker zunächst zu einer immer peinlicher empfundenen Wahlkreisgeometrie, schließlich aber zur Abdikation vom Mitregiment gezwungen.
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Der grundsätzlich passive Apolitismus, wie ihn typisch das genuine Mennonitentum und ähnlich die meisten täuferischen Gemeinden, überhaupt aber zahlreiche, besonders russische, Sekten in verschieden motivierter Art, in den verschiedensten Teilen der Erde festgehalten haben, hat bei der absoluten Fügsamkeit, welche aus der Verwerfung der Gewaltsamkeit folgt, zu akuten Konflikten vornehmlich nur da geführt, wo persönliche militärische Dienstleistungen verlangt wurden. Das Verhalten auch der nicht absolut apolitischen religiösen Denominationen zum Kriege im speziellen ist ein verschiedenes gewesen, je nachdem es sich um Schutz der Glaubensfreiheit gegen Eingrif[393]fe der politischen Gewalt oder um rein politische Kriege handelte. Für beide Arten der kriegerischen Gewaltsamkeiten sind zwei extreme Maximen vertreten: einerseits rein passive Duldung fremder Gewalt und Renitenz gegen die Zumutung eigener Beteiligung an Gewaltsamkeiten mit der eventuellen [A 341]Konsequenz des persönlichen Martyriums. Dies ist nicht nur die Stellung des absolut weltindifferenten mystischen Apolitismus und der prinzipiell pazifistischen Arten der innerweltlichen Askese, sondern für die religiöse Vergewaltigung eignet sich auch die reine persönliche Glaubensreligiosität ihn[392] Der Quäkerführer William Penn (1644–1718) baute ab 1681 im nordamerikanischen Pennsylvania ein Staatswesen auf, in dem absolute religiöse Toleranz und politische Freiheit herrschen sollten (vgl. auch oben, S. 321, Anm. 3). Über einen langen Zeitraum hinweg verhinderten die Quäker durch ihre Mehrheit im Kolonialparlament (1750 stellten sie ⅔ der Abgeordneten bei nur ⅕ Bevölkerungsanteil) den Aufbau einer Militärmacht. Seit Beginn der 1750er Jahre nahmen die militärischen Auseinandersetzungen zwischen Großbritannien und Frankreich in Nordamerika zu, 1756 brach in Europa der siebenjährige Krieg aus. Der Quäkerstaat in Pennsylvania konnte sich daraufhin den militärischen Forderungen des englischen Königs nicht mehr entziehen. Als Folge traten die meisten Quäkerbeamten zurück, und eine Minderheitenpartei entstand, die während des amerikanischen Bürgerkrieges wegen ihrer Nicht-Beteiligung schließlich verschwand.
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öfters als Konsequenz an, da sie eine gottgewollte rationale äußere Ordnung und eine gottgewollte rationale Beherrschung der Welt nicht kennt. Luther verwarf wie den Glaubenskrieg so auch die Glaubensrevolution schlechthin.[393] Gemeint ist: der Apolitismus
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Auf der anderen Seite steht der Standpunkt des gewaltsamen Widerstandes wenigstens gegen Vergewaltigung des Glaubens. Die Glaubensrevolution liegt dem innerweltlichen asketischen Rationalismus, der heilige, gottgewollte Ordnungen der Welt kennt, am nächsten. So innerhalb des Christentums namentlich im Calvinismus, der die gewaltsame Verteidigung des Glaubens gegen Tyrannen zur Pflicht macht (wenn auch, dem anstaltskirchlichen Charakter entsprechend, bei Calvin selbst nur auf Initiative berufener – ständischer – Instanzen).[393] In seiner Schrift „Vom Kriege wider die Türken“ von 1529 lehnte Luther den als „christliches Werk“ propagandierten Türkenkrieg ab: „Las den Türken gleuben und leben wie er will, gleich wie man das Bapsttum and ander falsche Christen leben leßt. Des Keisers schwerd hat nichts zuschaffen mit dem glauben, Es gehört ynn leibliche, weltliche Sachen […]“. (Zitiert nach: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, 30. Band, 2. Abteilung. – Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1909, S. 131). In „Eine treue Vermahnung zu allen Christen“ von 1522 bemerkte Luther: „Denn auffruhr hat keyn vernunfft und gehet gemeynicklich mehr ubir die unschuldigen denn ubir die schuldigen. […] Der halben ist die ubirkeyt und das schwerd eyngesetzt zu straffen die boszen und zu schützen die frumen, das auffruhr vorhuttet werde […]“. (Zitiert nach: Ebd., 8. Band. – Weimar: Hermann Böhlau 1889, S. 680).
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Die Propagandakampfreligionen und ihre Derivate, [394]wie die mahdistischen und andere islamische Sekten, auch die islamisch beeinflußte, eklektische, anfangs sogar pazifistische hinduistische Sekte der Sikhs, kennen selbstverständlich auch die Pflicht der Glaubensrevolution. Bezüglich des religiös indifferenten rein politischen Krieges stellen sich dagegen die Vertreter der beiden entgegengesetzten Standpunkte unter Umständen praktisch genau umgekehrt. Religiositäten, welche ethisch rationale Anforderungen an den politischen Kosmos stellen, müssen zu rein politischen Kriegen einen wesentlich negativeren Standpunkt einnehmen, als solche, welche die Ordnungen der Welt als gegeben und relativ indifferent hinnehmen. Die unbesiegte Cromwellsche Armee petitionierte beim Parlament um Abschaffung der Zwangsaushebung, weil der Christ nur an Kriegen teilnehmen dürfe, deren Recht sein eigenes Gewissen bejahe. Bei Ernst Troeltsch ist folgendes ausgeführt: „Wie Calvins Lehre von der Gehorsamspflicht der Untertanen durch das Kontroll- und Widerstandsrecht der unteren Magistrate durchbrochen wurde, so wurde auch seine Lehre von der unblutigen Intervention schließlich bei Gelegenheit zur Anerkennung der bewaffneten. […] Es ergab sich, daß, sobald die Staatsgewalt zum Tyrannen geworden war und die unteren Magistrate dadurch an deren Stelle traten, dann diese auch berechtigt wurden, auswärtige Bündnisse zu schließen. […] Beza hat dementsprechend neben dem Widerstandsrecht der Unter[394]tanen auch die Frage des Glaubenskrieges und der Intervention ausführlich untersucht und die bejahende Antwort biblisch und historisch sowie dogmatisch begründet. Seitdem sind beide Fragen in der monarchomachischen Literatur eng verbunden“. In der Fußnote bemerkte Troeltsch: „De jure magistratuum 280. Wenn die Stände und Magistratus inferiores nicht stark genug sind, den Tyrannen zu bändigen, dann tritt für diese oder deren sanior pars das Recht der Herbeiziehung auswärtiger Hilfe ein: […]“. (Troeltsch, Soziallehren, S. 725 f.).
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Das Soldheer muß von diesem Standpunkt aus als eine relativ sittliche Einrichtung gelten, weil es der Söldner mit Gott und seinem eigenen Gewissen abzumachen hat, ob er diesen Beruf ergreifen will. Staatliche Gewaltsamkeit aber ist nur soweit sittlich, als sie zu Gottes Ehre die Sünde bändigt und göttlichem Unrecht entgegentritt, also zu Glaubenszwecken. Für Luther dagegen, der Glaubenskrieg, Glaubensrevolution und aktiven Widerstand absolut verwirft, ist bei politischen Kriegen die weltliche Obrigkeit, deren Sphäre durch rationale Postulate der Religion gar nicht berührt wird, allein verantwortlich für das Recht eines Krieges, und der Untertan belastet sein Gewissen nicht, wenn er ihr hier wie in allem, was nicht seine Beziehung zu Gott zerstört, auch aktiv gehorcht. Der Artikel VII, 2 des im Jahr 1648 vom englischen Parlament verabschiedeten „Agreement of the People“ besagte, daß niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst gezwungen werden dürfe. „We do not empower them [the People’s Representatives] to impress or constrain any person to serve in war either by sea or land, every man’s conscience being to be satisfied in the justness of that cause wherein he hazards his life“. (Zitiert nach: Puritanism and Liberty. Being the Army Debates (1647–9) from the Clarke Manuscripts with Supplementary Documents. Selected and edited with an introduction by A.S.P. Woodhouse. – London: J. M. Dent and Sons Limited 1938, S. 362).
[395]Die Stellung des alten und mittelalterlichen Christentums aber zum Staat als Ganzem hat geschwankt oder richtiger gesagt: den Schwerpunkt gewechselt, zwischen mehreren Standpunkten: 1. Völlige Perhorreszierung des bestehenden Römerreichs, dessen Dauer bis ans Ende der Welt in der ausgehenden Antike jedermann, auch den Christen, für selbstverständlich galt, als der Herrschaft des Antichrist.
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– 2. Völlige Staatsindifferenz, also passive Duldung der (stets und immer unrechtmäßigen) Gewalt, daher auch aktive Erfüllung aller religiös nicht direkt das Heil gefährdenden Zwangsnotwendigkeiten, so insbesondere der Steuerzahlung; daß man „dem Kaiser geben solle, was des Kaisers ist“,[395] Eine Verabscheuung des Römischen Reiches findet sich in der Offenbarung des Johannes. Kaum verhüllt taucht hinter dem Decknamen „Babylon“ Rom auf: Es ist die große Hure (17, 1), die ihre Macht von Satan empfangen hat (13, 2). Aus dem Neuen Testament ist die Vorstellung eines Gegenspielers Christi bekannt, dessen Auftreten zu Beginn der Endzeit vor der Parusie, dem endzeitlichen Auftreten Christi, erwartet wurde. In der „Offenbarung [des Johannes]“ wird der Antichrist als präexistentes Wesen geschildert, als „das Tier“, das von Christus in einem letzten Kampf besiegt wird (19, 11–21). Der Vorstellung vom Antichrist liegen Mythen von einem Widergott zugrunde.
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bedeutet nicht etwa, wie moderne Harmonisierung will, positive Anerkennung, sondern gerade die absolute Gleichgültigkeit des Treibens dieser Welt. Matthäus 22, 21: „[…] Da sprach er zu ihnen: So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ (vgl. auch Lukas 20, 25).
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– 3. Fernhaltung vom konkreten politischen Gemeinwesen, weil und insoweit die Beteiligung an ihm notwendig in Sünde (Kaiserkult) bringt, aber positive Anerkennung der Obrigkeit, auch der ungläubigen, als immerhin gottgewollt, wenn auch selbst sündig, aber, wie alle Ordnungen der Welt[,] eine gottverordnete Sündenstrafe, die durch Adams Fall über uns gebracht ist und die der Christ gehorsam auf sich nehmen muß. – 4. Positive [396]Wertung der Obrigkeit, auch der ungläubigen, als im Sündenstande unentbehrliches Bändigungsmittel der schon kraft der gottgegebenen natürlichen Erkenntnis des religiös unerleuchteten Heiden verwerflichen Sünden und als allgemeine Bedingung aller gottge[A 342]wollten irdischen Existenz. – Die beiden erstgenannten von diesen Standpunkten gehören vornehmlich der Periode eschatologischer Erwartung an, sind aber auch später immer erneut gelegentlich hervorgetreten. Über den zuletzt genannten Standpunkt ist das antike Christentum auch nach seiner Anerkennung als Staatsreligion Weber hat bereits in den „Agrarverhältnissen im Altertum“ ähnliche Bemerkungen gemacht: „Ebenso wie es umgekehrt töricht ist, aus dem: ,gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist‘, – einem Ausdruck des extremsten Indifferentismus gegenüber dem Staatlichen, wie Tröltsch (Arch. f. Sozialwissensch. Bd. XXVI) [= Troeltsch, Soziallehren, S. 45 f.] mit Recht hervorgehoben hat, – ein Gebot positiv-ethischen Verhaltens zum Staat herauszulesen. […] Gerade der Glaube an die Dauer der Römerherrschaft bis an das Ende der Tage und also an die Sinnlosigkeit ‚sozialreformatorischer‘ Arbeit, die Abwendung von allen ‚Klassenkämpfen‘ waren der Boden, aus dem die christliche, rein ethische und charitative weltfremde ,Nächstenliebe‘ quoll“. (Weber, Agrarverhältnisse3, S. 140 f.). Ernst Troeltsch hat sich u. a. mit Martin von Nathusius, Die Mitarbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage, 3. Aufl. – Leipzig: J. C. Hinrichs 1904, kritisch auseinandergesetzt (Troeltsch, Soziallehren, S. 5 ff.).
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prinzipiell nicht wirklich hinausgekommen. Die große Wandelung in den Beziehungen zum Staat vollzieht sich vielmehr erst in der mittelalterlichen Kirche, wie es Tröltschs Untersuchungen[396] Der römische Kaiser Konstantin anerkannte seit 312 das Christentum. Mit seinem 313 erlassenen „Mailänder Toleranzedikt“ stellte er das Christentum anderen Religionen des Römischen Reiches gleich und machte es erstmals zu einer religio licita, einer staatlich anerkannten Religion. Im Religionsedikt des Theodosius I. (379–395) von 380 wurde das Christentum dann zur Staatsreligion erklärt.
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glänzend beleuchtet haben. Das Problem aber, in welchem sich das Christentum dabei befand, gehört zwar nicht ausschließlich ihm an, ist aber teils aus innerreligiösen, teils aus außerreligiösen Gründen nur in ihm zu derartig konsequenter Problematik gediehen. Es handelt sich um die Stellung des sogenannten „Naturrechts“ einerseits zur religiösen Offenbarung, andererseits zu den positiven politischen Gebilden und ihrem Gebaren. Wir werden darauf teils gelegentlich der Erörterung der religiösen Gemeinschaftsformen, teils bei Besprechung der Herrschaftsformen noch kurz einzugehen haben. Ernst Troeltsch, Soziallehren, S. 178 ff.
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Prinzipiell ist hier nur über die Art der Lösung für die individuelle Ethik zu sagen: Das allgemeine Schema, nach welchem eine Religion, wenn sie in einem politischen Verbande die vorherrschende, von ihm privilegierte, und namentlich dann, wenn sie eine Religiosität der Anstaltsgnade ist, die Spannungen zwischen religiöser Ethik und den anethischen oder antiethischen Anforderungen des Lebens in der staatlichen und ökonomischen Gewaltordnung der Welt zu lösen pflegt, ist die Relativierung und Differenzierung der Ethik in [397]Form der „organischen“ – im Gegensatz zur asketischen – Berufsethik. Teils nimmt sie, wie z. B. Thomas von Aquino im Gegensatz – wie Tröltsch mit Recht betont Die Bezüge sind unklar. In der sog. „Rechtssoziologie“ (§ 7: „Die formalen Qualitäten des revolutionär geschaffenen Rechts. Das Naturrecht“, WuG1, S. 495–502; MWG I/22-3) nimmt Weber das Thema „Naturrecht“ auf. Vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 97 f., Anm. 56.
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– zur stoischen antik-christlichen Lehre vom goldenen Zeitalter und seligen Urstand der allgemeinen anarchischen Gleichheit der Menschen, die schon dem animistischen Seelen- und Jenseitsglauben vielfach geläufige Vorstellung von der natürlichen, auch[,] von allen Folgen der Sünde abgesehen, rein natürlichen Verschiedenheit der Menschen, welche ständische Unterschiede des Diesseits- und Jenseitsschicksals bedingt, auf. Daneben aber deduziert sie die Gewaltverhältnisse des Lebens metaphysisch. Entweder kraft Erbsünde oder kraft individueller Karmankausalität oder kraft dualistisch motivierten Weltverderbs sind die Menschen verurteilt, Gewalt, Mühsal, Leiden, Lieblosigkeit zu ertragen, insbesondere auch die Unterschiede der ständischen und Klassenlage. Providenziell sind nun die Berufe oder Kasten derart eingerichtet, daß jedem von ihnen eine spezifische unentbehrliche, gottgewollte oder von der unpersönlichen Weltordnung vorgeschriebene Aufgabe zufällt und damit für jeden andere ethische Anforderungen gelten. Sie gleichen den einzelnen Teilen eines Organismus. Menschliche Gewaltverhältnisse, die sich [398]daraus ergeben, sind gottgewollte Autoritätsbeziehungen, und die Auflehnung dagegen oder die Erhebung anderer Lebensansprüche, als sie der ständischen Rangfolge entsprechen, gottwidriger und die heilige Tradition verletzender kreatürlicher Hochmut. Innerhalb dieser organischen Ordnung ist den Virtuosen der Religiosität, seien sie asketischen oder kontemplativen Charakters,[397] Ernst Troeltsch hielt am 21. Oktober 1910 einen Vortrag auf dem Ersten Deutschen Soziologentag (19.–22. Oktober) in Frankfurt mit dem Titel: Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht. Troeltsch führte in ihm aus, die Kirche habe die stoische Unterscheidung zwischen einem relativen und einem absoluten Naturrecht aufgenommen und so den Weg zu einer Anerkennung natürlicher Verschiedenheiten eröffnet. Troeltsch benutzte in diesem Zusammenhang den Begriff „organisch“. „In der mittelalterlichen Kirche und Kultur aber, in welcher Religiöses und Profanes, Kirchliches und Weltliches zu einer großen Lebenseinheit zusammenwuchsen und das Mönchtum zu einer Leibgarde der Kirche verkirchlicht wurde, da entfaltete begreiflicherweise das Naturrecht seine ganze Bedeutung. Vom heiligen Thomas wurde seine wissenschaftliche Gestalt geschaffen, die fortdauert bis zum heutigen Tage und in einer unendlichen katholischen Staatsrechtsliteratur sich immer neu wiederholt“. (Troeltsch, Naturrecht, S. 179 f.). „Die Christen identifizierten das christliche Ideal der Freiheit der Gotteskinder und der bedingungslosen Liebesgemeinschaft mit dem stoischen absoluten Naturgesetz; und wie die Stoiker es nur im goldenen Zeitalter der Urmenschheit verwirklicht sein ließen, so glaubten auch die Christen es nur im Paradiese von den Protoplasten voll verwirklicht“ (ebd., S. 177). Max Weber war damals unter den Zuhörern des Vortrages und trat in der anschließenden Diskussion in eine Debatte mit Tönnies, Gothein, Simmel, Buber und Kantorowicz über die Thesen Troeltschs ein. In einem Brief an Franz Eulenburg vom 27. Oktober 1910 (MWG II/6, S. 655 f.) bezeichnete Weber den Vortrag von Troeltsch als „ausgezeichnet, vor allem: gänzlich wertfrei – Debatte die beste des Tages“.
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ihre spezifische Aufgabe: die Schaffung des Thesaurus der überschüssigen guten Werke, aus dem die Anstaltsgnade spendet, zugewiesen, ebenso wie den Fürsten, Kriegern und Richtern, dem Handwerk und den Bauern ihre besonderen Funktionen. Durch Unterwerfung unter die offenbarte Wahrheit und rechte Liebesgesinnung erwirbt gerade innerhalb dieser Ordnungen der Einzelne diesseitiges Glück und jenseitigen Lohn. Für den Islam war diese „organische“ Konzeption und die ganze Problematik weit fernliegender, weil er[,] auf Universalismus verzichtend, die ideale ständische Schichtung der Welt als eine solche in herrschende Gläubige und Ungläubige, den Gläubigen den Unterhalt reichende, im übrigen aber in der Art der Regulierung ihrer religiös ganz indifferenten eigenen Lebensverhältnisse ganz und gar sich selbst überlassene Pariavölker[,] konzipierte. Hier[398] In A folgt: ebenso
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gibt es wohl den Konflikt mystischer Heilssuche und asketischer Virtuosenreligiosität mit der Anstaltsorthodoxie, ferner den überall, wo positive heilige Rechtsnormen bestehen, entstehenden Konflikt heiligen [A 343]und profanen Rechts und Fragen der Orthodoxie in der theokratischen Verfassung, aber nicht das grundsätzlich letzte religiös naturrechtliche Problem der Beziehung zwischen religiöser Ethik und weltlicher Ordnung überhaupt. Dagegen statuieren die indischen Rechtsbücher die organisch traditionalistische Berufsethik im Schema ähnlich, nur konsequenter als die mittelalterlich katholische Lehre und vollends als die höchst dürftige lutherische Doktrin vom status ecclesiasticus, politicus und oeconomicus.Das Wort Hier bezieht sich auf den vorletzten Satz: Durch Unterwerfung unter die offenbarte Wahrheit und rechte Liebesgesinnung erwirbt gerade innerhalb dieser Ordnungen der Einzelne diesseitiges Glück und jenseitigen Lohn.
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Und in der Tat ist [399]die ständische Ordnung in Indien, wie wir früher sahen,[398] Die „drei Stände“ Luthers, das Priesteramt, der Ehestand und die weltliche Obrigkeit, entsprechen den in den Sakramenten von Gott gestifteten Ordnungen in Kirche, Familie und Staat. In seiner Schrift Vom Abendmahl Christ, Bekenntnis heißt es: „Aber die heiligen orden und rechte stiffte von Gott eingesetzt sind diese drey: Das priester ampt, Der Ehestand, Die weltliche oberheit […] Darumb das solche drey stiffte odder [399]orden inn Gottes wort und gebot gefasset sind […].“ (Zitiert nach D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, 26. Band. – Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1909, S. 504 f.).
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gerade als Kastenethik mit einer spezifischen Erlösungslehre: der Chance des immer weiteren Aufstiegs in einem künftigen Erdenleben eben durch die Erfüllung der sei es auch noch so sozial verachteten Pflichten der eigenen Kaste, vereinigt. Sie hat dadurch am radikalsten im Sinne der Akzeptierung der irdischen Ordnung, und zwar gerade bei den niedrigsten Kasten, gewirkt, welche bei der Seelenwanderung am meisten zu gewinnen haben. Die christlich-mittelalterliche Perpetuierung der ständischen Unterschiede des kurzen Erdendaseins in eine zeitlich „ewige“ jenseitige Existenz hinein dagegen – wie sie etwa Beatrice im Paradiso erläutert Siehe oben, S. 173 f.
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– würde der indischen Theodizee absurd erschienen sein und nimmt dem strikten Traditionalismus der organischen Berufsethik ja in der Tat gerade alle unbegrenzten Zukunftshoffnungen des an die Seelenwanderung und also die Möglichkeit stets weiter gehobener irdischer Existenz glaubenden frommen Hindu. Ihre Wirkung ist daher, auch rein religiös angesehen, in weit unsichererem Maße eine Stütze der traditionellen Berufsgliederung gewesen als die eisenfeste Verankerung der Kaste an andersartigen Verheißungen der Seelenwanderungslehre. Überdies aber ruhte die mittelalterliche wie die lutherische traditionalistische Berufsethik auch rein faktisch auf einer zunehmend schwindenden allgemeinen Voraussetzung, welche beiden mit der konfuzianischen Ethik gemeinsam ist: dem rein personalistischen Charakter ebenso der ökonomischen wie der politischen Gewaltverhältnisse, bei welchem die Justiz und vor allem die Verwaltung ein Kosmos des Sichauswirkens persönlicher Unterwerfungsverhältnisse ist, beherrscht durch Willkür und Gnade, Zorn und Liebe, vor allem aber durch gegenseitige Pietät des Herrschenden und Unterworfenen nach Art der Fa[400]milie. Ein Charakter der Gewaltbeziehungen also, an welche man ethische Postulate in dem gleichen Sinn stellen kann wie an jede andere rein persönliche Beziehung. Aber nicht nur die „herrenlose Sklaverei“ (Wagner) Eine solche Äußerung stammt nicht von Beatrice, sondern von Piccarda, der Schwester von Corso und Forese Donati. Im letzten Teil von Dantes „Göttlicher Komödie“, dem Paradies, spricht sie im dritten Gesang: „Wenn wir uns sehnten, Höhere zu werden, So wären unsre Wünsche nicht im Einklang Mit Dessen Willen, der uns hier gesondert […]. Drum wie wir durch diess Reich von Grad zu Grad sind, Gefällt’s dem ganzen Reich und dessen König […]“. (Dante Alighieri, Göttliche Comödie, Dritter Teil, Das Paradies, dritter Gesang, S. 40 f.).
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des modernen Proletariats, sondern vor allem der Kosmos der rationalen Staatsanstalt, des von der Romantik perhorreszierten „Rackers von Staat“,[400] Als Zitat bei Adolph Wagner nicht nachgewiesen. Folgendes ist damit gemeint, wie Weber in WuG1, S. 800 (MWG I/22-4). ausführte: „Dagegen sehr schwer das Verhältnis des Direktors einer Aktiengesellschaft, der die Interessen der Aktionäre als der eigentlichen ‚Herren‘ zu wahren verpflichtet ist, zu den Arbeitern von deren Fabrik und gar nicht dasjenige des Direktors der die Aktiengesellschaft finanzierenden Bank zu jenen Arbeitern oder etwa dasjenige eines Pfandbriefbesitzers zu dem Besitzer eines von der betreffenden Bank beliehenen Guts. Die ‚Konkurrenzfähigkeit‘, der Markt: Arbeitsmarkt, Geldmarkt, Gütermarkt, ‚sachliche‘, weder ethische noch antiethische, sondern einfach anethische, jeder Ethik gegenüber disparate Erwägungen bestimmen das Verhalten in den entscheidenden Punkten und schieben zwischen die beteiligten Menschen unpersönliche Instanzen. Diese ,herrenlose Sklaverei‘, in welche der Kapitalismus den Arbeiter oder Pfandbriefschuldner verstrickt, ist nur als Institution ethisch diskutabel, nicht aber ist dies – prinzipiell – das persönliche Verhalten eines, sei es auf der Seite der Herrschenden oder Beherrschten, Beteiligten, welches ihm ja bei Strafe des in jeder Hinsicht nutzlosen ökonomischen Untergangs in allem wesentlichen durch objektive Situationen vorgeschrieben ist und – da liegt der entscheidende Punkt – den Charakter des ,Dienstes‘ gegenüber einem unpersönlichen sachlichen Zweck hat“.
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hat absolut nicht mehr diesen Charakter, wie wir s. Zt. zu erörtern haben werden. Ein vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. (1840–1861) häufig benutzter Ausdruck. „W. Hoffmann erzählt darüber in: ‚Deutschland einst und jetzt im Lichte des Reiches Gottes‘ (Berl[in] 1868, S. 299): Ein Bauer aus dem Regierungsbezirk Merseburg, dem der König eine unbillige Forderung, die er mündlich vorbrachte, nicht gewähren konnte und sich dabei auf den ‚Staat und dessen Ordnung‘ berief, hatte nämlich geantwortet: ,O! ich wusste wohl, dass nicht mein geliebter König mir entgegensteht, sondern der Racker von Staat‘. Dieses Bauers Worte gebrauchte der König im Scherze, oft auch in Ironie“. (Zitiert nach Büchmann, Georg, Geflügelte Worte. Der Citatenschatz des deutschen Volkes, 18. Aufl. – Berlin: Haude und Spener’sche Buchhandlung (F. Weidling) 1895, S. 468 f.).
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Daß man nach Ansehen der Person verschieden verfahren müsse, versteht sich der personalistischen ständischen Ordnung von selbst[,] und nur in welchem Sinn wird gelegentlich, auch bei Thomas von Aquino, zum Problem. Der Verweis konnte nicht aufgelöst werden.
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„Ohne Ansehen der Person“, [401]„sine ira et studio“, Thomas von Aquin, der die ständische und berufliche Gliederung der Menschen als Ausdruck göttlicher Vorsehung verstand, führte folgendes aus: „Deshalb mußten in der Kirche, ,die der Leib Christi ist‘, die Glieder unterschieden werden nach der Verschiedenheit der Ämter, der Stände und der Rangstufen. […] Es kommt aber vor, daß diese drei im selben Träger zusammenfallen“. (Thomas von Aquin, Summa Theologica, Traktat Stände und Standespflichten, Quaestio 183, 2: „Utrum in ecclesia debeat esse diversitas officiorum seu statuum“).
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ohne Haß und deshalb ohne Liebe, ohne Willkür und deshalb ohne Gnade, als sachliche Berufspflicht und nicht kraft konkreter persönlicher Beziehung erledigt der homo politicus ganz ebenso wie der homo oeconomicus[401] Der Ausdruck (lat.: „ohne Zorn und ohne Vorliebe“) stammt von Tacitus (Annales 1, 1) und bedeutet: „parteilos“, „nicht wertend“.
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heute seine Aufgabe gerade dann, wenn er sie in idealstem Maße im Sinn der rationalen Regeln der modernen Gewaltordnung vollzieht. Nicht aus persönlichem Zorn oder Rachebedürfnis, sondern persönlich ganz unbeteiligt und um sachlicher Normen und Zwecke willen bringt die moderne Justiz den Verbrecher vom Leben zum Tode, einfach kraft ihrer immanenten rationalen Eigengesetzlichkeit, etwa wie die unpersönliche Karmanvergeltung im Gegensatz zu Jahves wildem Rachedurst. Zunehmend versachlicht sich die innerpolitische Gewaltsamkeit zur „Rechtsstaatsordnung“, – religiös angesehen nur der wirksamsten Art von Mimicry der Brutalität. Die gesamte Politik aber orientiert sich an der sachlichen Staatsräson, der Pragmatik und dem absoluten – religiös angesehen fast unvermeidlich völlig sinnlos erscheinenden – Selbstzweck der Erhaltung der äußeren und inneren Gewaltverteilung. Erst damit gewinnt sie einen Aspekt und ein eigentümlich rationales, von Napoleon gelegentlich glänzend formuliertes fabulistisches Eigenpathos, „Homo oeconomicus“ (lat.: „Wirtschaftsmensch“) ist ein Begriff aus der Nationalökonomie des 18. Jahrhunderts für einen Menschen, der rein wirtschaftlich handelt und von Eigeninteresse und Gewinnerwartungen geleitet wird. In Webers Brief an Robert Michels vom 19. Februar 1909 (MWG II/6, S. 60–62) kam die Antrittsrede von Michels an der Universität von Turin zur Sprache: „Der Homo Oeconomicus und die Kooperation“, veröffentlicht in: AfSSp, Band 29, Heft 1, 1909, S. 50–83.
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das [A 344]jeglicher Brüderlichkeitsethik als in der Wurzel ebenso fremd erscheinen wird, wie die rationalen ökonomischen Ordnungen. – Die Anpassungen nun, welche die heutige kirchliche Ethik dieser Situation gegenüber vornimmt, sind hier nicht näher zu schildern. Im wesentlichen bedeuten sie ein Sichabfinden damit von Fall zu Fall und, namentlich soweit die katholische Kirche in Betracht kommt, vor allem eine Salvierung der eigenen, ebenfalls zunehmend zur „Kirchenräson“ versachlichten priesterlichen Machtinteressen mit den gleichen und ähnlichen modernen Mitteln, wie sie das Worauf sich Max Weber bezieht, konnte nicht ermittelt werden.
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weltliche Machtstreben benützt. Wirklich inner[402]lich adäquat ist der Versachliehung der Gewaltherrschaft – mit ihren rationalen ethischen Vorbehalten, in welchen die Problematik steckt – nur die Berufsethik der innerweltlichen Askese. Zu den tatsächlichen Folgen der Gewaltsamkeitsrationalisierung aber, die[,] in verschieden starkem Grade und auch in der Art unterschiedlich sich äußernd, überall da aufzutreten pflegten, wo jene Hinwegentwicklung der Gewaltsamkeit von der personalistischen Helden- und Gesellschaftsgesinnung zum nationalen „Staat“ sich entfaltete, gehört die gesteigerte Flucht in die Irrationalitäten des apolitischen Gefühls. Entweder in die Mystik und akosmistische Ethik der absoluten „Güte“ oder in die Irrationalitäten der außerreligiösen Gefühlssphäre, vor allem der Erotik. Mit den Mächten dieser letzteren Sphäre geraten nun aber die Erlösungsreligionen gleichfalls in spezifische Spannungen. Vor allem mit der gewaltigsten Macht unter ihnen, der geschlechtlichen Liebe, der neben den „wahren“ oder ökonomischen und den sozialen Macht- und Prestigeinteressen universellsten Grundkomponente des tatsächlichen Ablaufes menschlichen Gemeinschaftshandelns. [401]A: dies
Die Beziehungen der Religiosität zur Sexualität sind, teils bewußt, teils unbewußt, teils direkt, teils indirekt, ganz außerordentlich intime. Wir lassen die zahllosen Zusammenhänge magischer und animistischer Vorstellungen und Symboliken, bei denen solche bestehen, als für uns unwichtig beiseite und halten uns an ganz wenige soziologisch relevante Züge. Zunächst ist der sexuelle Rausch in typischer Art Bestandteil des primitiven religiösen Gemeinschaftshandelns des Laien: der Orgie. Er behält diese Funktion auch in relativ systematisierter Religiosität, gelegentlich ganz direkt und beabsichtigt. So bei der Śaktireligiosität in Indien noch fast nach Art der alten Phalluskulte und Riten der die Zeugung (der Menschen, des Viehs, des Samenkorns) beherrschenden sehr verschiedenen Funktionsgottheiten. Teils und häufiger aber ist die erotische Orgie wesentlich ungewollte Folgeerscheinung der durch andere orgiastische Mittel, namentlich Tanz, erzeugten Ekstase. So von modernen Sekten noch bei der Tanzorgiastik der Chlysten,
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– [403]was, wie wir sahen,[402] Max Weber kommt auf den Tanz der Chlysten in einem Brief an Karl Bücher vom 1. Februar 1909 zu sprechen: „Auch Ihnen ist ja bekannt, daß der Zweck des Tanzes (noch heute in vollkommenster Reinheit bei den Chlysten in Rußland, bei denen er der zentrale Cultakt ist) wesentlich auch religiösen Charakters ist: der Tanzende, bis zum Schwinden der Sinne Tanzende ‚vergottet‘ sich, ,produziert‘ in sich den ‚Gott‘, d. h. einen ekstati[403]schen Dämmerzustand, wie er – bei den Chlysten noch heute – als die Folge des rasenden Sichdrehens entsteht.“ (MWG II/6, S. 46). Von den Chlysten sprach Weber bereits in seinen Rußlandstudien von 1905/06 (MWG I/10, S. 329 und 335).
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die Veranlassung zur Bildung der Skopzensekte gab, die eben diese askesefeindliche Konsequenz auszuschalten trachtete. Gewisse, viel mißdeutete Institutionen, so namentlich die Tempelprostitution, knüpfen an orgiastische Kulte an. In ihrer praktischen Funktion hat die Tempelprostitution dann sehr häufig die Rolle eines Bordells für die reisenden, sakral geschützten Kaufleute angenommen, die ja auch heute der Natur der Sache nach überall typisches Bordellpublikum sind. Die Zurückführung der sexuellen außeralltäglichen Orgiastik auf eine endogene Sippen- oder Stammes-„Promiscuität“ als eigentlich primitive Institution des Alltags Oben, S. 318, erwähnte Weber „die esoterische Gemeinde der Kastraten“ im Skopzentum, ohne jedoch weitere Angaben zu machen. Diese machte er in einem späteren Text, in der „Zwischenbetrachtung“: „Die Gründung der Skopzen-(Kastraten-)Sekte in Rußland ging aus dem Streben hervor, dieser als sündlich gewerteten Folge des orgiastischen Tanzes (Radjenie) der Chlüsten zu entrinnen“. (MWG I/19, S. 502, Fn. 3).
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ist schlechthin töricht. Der Altertumsforscher und Rechtshistoriker Johann Jakob Bachofen (1815–1887) hatte in seinem Werk „Das Mutterrecht“ (wie oben, S. 138, Anm. 32) die Behauptung vertreten, am Anfang der Geschichte habe Promiskuität („Hetärismus“) geherrscht. Der amerikanische Ethnologe Lewis Henri Morgan sah in den klassifikatorischen Verwandtschaftssystemen antiker und nordamerikanischer Völker ein Indiz für die Existenz von Gruppenehen. (Morgan, Lewis Henri, Die Urgesellschaft. Untersuchungen über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation. – Stuttgart: J.H.W. Dietz 1891, S. 337–350; englisches Original: Ancient Society. – New York: Gordon Press 1877).
Die sexuelle Rauschorgie kann nun, wie wir sahen,
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zur, ausgesprochen oder unausgesprochen, erotischen Gottes- oder Heilandsliebe sublimiert werden. Es können aber auch aus ihr und daneben aus magischen Vorstellungen anderer Art oder aus der Tempelprostitution religiöse Verdienstlichkeiten der sexuellen Selbstpreisgabe herauswachsen, die uns hier nicht interessieren. Andererseits ist aber zweifellos, daß auch ein erheblicher Bruchteil gerade der antierotischen mystischen und asketischen Religiositäten eine stellvertretende Befriedigung sexual bedingter physiologischer Bedürfnisse darstellt. Indessen interessieren uns an der religiösen Sexualfeindschaft nicht die in wichtigen Punkten noch ziemlich strittigen neurologischen, sondern für unsere Zwecke die [404]„sinnhaften“ Zusammenhänge. Denn der „Sinn“, [A 345]welcher in die sexualfeindliche Haltung hineingedeutet wird, kann bei neurologisch gänzlich gleicher Lage sehr erhebliche praktische Verschiedenheiten des Verhaltens zur Konsequenz haben, die uns hier übrigens auch nur zum Teil angehen. Ihre begrenzteste Form: die lediglich kultische Keuschheit, also eine zeitweilige Abstinenz der fungierenden Priester oder auch der Kultteilnehmer als Vorbedingung der Sakramentsspendung, hängt wohl vornehmlich in mannigfacher Art Siehe oben, S. 361 f.
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mit Tabunormen zusammen, denen aus magischen und deisidämonischen, im einzelnen hier nicht interessierenden Motiven die Sexualsphäre unterworfen wird. Die charismatische Keuschheitsaskese der Priester und Religionsvirtuosen dagegen, also die dauernde Abstinenz, geht wohl vornehmlich von der Vorstellung aus, daß die Keuschheit als ein höchst außeralltägliches Verhalten teils Symptom von charismatischen, teils Quelle von ekstatischen Qualitäten sei, welche ihrerseits als Mittel magischen Gotteszwangs verwertet werden. Später, speziell im Christentum des Abendlandes, ist dann für das Priesterzölibat wesentlich einerseits die Notwendigkeit, die ethische Leistung der Amtsträger nicht hinter den asketischen Virtuosen (Mönche) zurückstehen zu lassen, andererseits aber das hierarchische Interesse von der Vermeidung des faktischen Erblichwerdens der Pfründe maßgebend gewesen. Auf der Stufe der ethischen Religiosität entwickeln sich nun an Stelle der verschiedenen Arten magischer Motive zwei andere typische sinnhafte Beziehungen der Sexualfeindschaft. Entweder gilt die sexuelle Abstinenz als zentrales und unentbehrliches Mittel mystischer Heilssuche durch kontemplative Abscheidung von der Welt, deren intensivste Versuchung eben dieser stärkste, an das Kreatürliche bindende Trieb darstelle: Standpunkt der mystischen Weltflucht. Oder die asketische Annahme: daß die rationale asketische Wachheit, Beherrschtheit und Lebensmethodik durch die spezifische Irrationalität dieses einzigen, wenigstens in seiner letzten Gestalt niemals rational formbaren Aktes am meisten gefährdet werde. Oft natürlich durch beides motiviert. Allein auch ausnahmslos alle eigentlichen Prophetien und auch die unprophetischen priesterlichen Systematisierungen befassen sich [405]aus solchen Motiven mit den Sexualbeziehungen und zwar durchweg im gleichen Sinn: zunächst Beseitigung der sexuellen Orgie (der „Hurerei“ der jüdischen Priester) – wie dies der erörterten[404]A: Art,
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allgemeinen Stellung speziell der Prophetien zur Orgiastik entspricht, – aber weiterhin auch Beseitigung der freien Sexualbeziehungen überhaupt zugunsten reglementierter und sakral legitimierter „Ehe“. Dies gilt selbst für einen Propheten, der persönlich und in der Art seiner Jenseitsverheißungen an die Glaubenskrieger der sexuellen Sinnlichkeit so rücksichtslos Raum gab wie Muhammed (welcher sich für seine Person bekanntlich durch eine eigene Sure von der sonst gültigen Maximalzahl von Weibern dispensieren ließ).[405] Siehe oben, S. 185 und S. 313.
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Die bis dahin legalen Formen eheloser Liebe und die Prostitution sind im orthodoxen Islam mit einem bis heute sonst kaum zu findenden durchschlagenden Erfolge proskribiert. Für die christliche und indische außerweltliche Askese versteht sich die ablehnende Stellung von selbst. Die mystischen indischen Prophetien der absoluten kontemplativen Weltflucht lehnen natürlich als Voraussetzung der vollen Erlösung jede Sexualbeziehung ab. Aber auch der konfuzianischen Ethik der absoluten Weltanpassung gilt die irreguläre Erotik als minderwertige Irrationalität, weil sie die innere Contenance des Gentleman stört und das Weib ein irrationales, schwer zu regierendes Wesen ist. Koran, Sure 33, 50: „Dir, o Prophet, erlauben wir, deine Frauen, die du durch eine Morgengabe erkauft und ebenso deine Sklavinnen, welche dir Gott geschenkt, und die Töchter deiner Oheime und Muhmen [Onkel und Tanten], von Vater und Mutter Seite, die mit dir aus Mekka geflüchtet sind, und jede gläubige Frau, die sich dem Propheten überlassen und die derselbe heirathen will. Diese Freiheit sollst du haben vor den übrigen Gläubigen“. Sure 4, 3 legt die Maximalzahl von Ehefrauen auf höchstens vier fest: „Fürchtet ihr, gegen Waisen nicht gerecht sein zu können, so nehmet nach Gutbefinden nur Eine, zwei, drei, höchstens vier Frauen“. (Zitiert nach Ullmann, L[ion], Der Koran. Aus dem Arabischen wortgetreu neu übersetzt, und mit erläuternden Anmerkungen versehen, 4. Aufl. – Bielefeld: Velhagen und Klasing 1857).
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Der mosaische Dekalog wie die hinduistischen heiligen Rechte und die relativisti[406]schen Laienethiken der indischen Mönchsprophetien verpönen den Ehebruch, und die Prophetie Jesus geht mit der Forderung der absoluten und unlöslichen Monogamie in der Einschränkung der zulässigen legitimen Sexualität über alle anderen hinaus; Ehebruch und Hurerei gelten im frühesten Christentum fast als die einzige absolute Todsünde, die „Univira“ In seiner Hinduismusstudie führte Weber aus: „Sehr ausgeprägt war bei den Brahmanen die maskuline Ablehnung der Frau, in ähnlichem Sinn wie bei den Konfuzianern, jedoch mit einem Einschlag asketischer Motive, der dort gänzlich fehlte. Das Weib war Trägerin der als würdelos und irrational abgelehnten alten Sexualorgiastik und seine Existenz eine ernstliche Störung in der heilbringenden Meditation“. (MWG I/20, S. 243 f.). „Jedenfalls fand dieser [Konfuzius] persönlich das Weib, als ein durch und durch irrationales Wesen, ebenso schwierig zu behandeln wie die Dienstboten“. (MWG I/19, S. 358).
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als ein Spezifikum der Christengemeinde innerhalb der durch Hellenen und Römer zwar zur Monogamie, aber mit freier Scheidung, erzogenen mittelländischen Antike. Die persönliche Stellung zur Frau und dieser in der Gemeinde ist bei den Propheten naturgemäß sehr verschieden, je nach dem Charakter ihrer Prophetie, insbesondere [A 346]je nachdem diese spezifisch femininer Emotionalität entspricht. Dadurch freilich, daß der Prophet (auch Buddha) geistreiche Frauen gern zu seinen Füßen sieht und als Propagandistinnen ausnützt (wie Pythagoras), ist allein noch nichts für die Stellung der Gattung getan. Das individuelle Weib ist dann „heilig“, die Gattung Gefäß der Sünde. Immerhin: fast alle orgiastische und Mystagogenpropaganda einschließlich der des Dionysos hat wenigstens temporär und relativ eine „Emanzipation“ der Frauen befördert, wo nicht andere Religionstendenzen und die Ablehnung hysterischer Frauenprophetie sie überdeckten, wie bei den Jüngern Buddhas, ebenso wie im Christentum schon bei Paulus, oder mönchische Weiberfurcht, wie am extremsten bei Sexualneurasthenikern z. B. Alfons von Liguori. Am stärksten ist die Bedeutung der Frauen in pneumatischen (hysterischen oder sakramentalen)[406] Der lateinische Ausdruck univira („die, die nur einen Mann hat“) bezeichnete eine Witwe, die nicht wieder geheiratet hat. 1. Korinther 7, 39 f.: „Ein Weib ist gebunden durch das Gesetz, solange ihr Mann lebet; so aber ihr Mann entschläft, ist sie frei, sich zu verheiraten, welchem sie will; allein, daß es in dem Herrn geschehe. Seliger ist sie aber, wo sie also bleibet, nach meiner Meinung. Ich [Paulus] halte aber, ich habe auch den Geist Gottes“.
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wie z. B. auch manchen chinesischen Sektenkulten. Wo ihre Bedeutung für die Propaganda ganz fehlt wie bei Zarathustra und in Israel, ist die Lage von vornherein anders. Die legal reglementierte Ehe selbst gilt der prophetischen und priesterlichen Ethik durchweg, übrigens durchaus in Übereinstimmung mit der hellenischen, römischen und überhaupt mit allen sich selbst darüber Rechenschaft gebenden [407]Ethiken der Erde[,] nicht als „erotischer“ Wert, sondern in Anknüpfung an die nüchterne Auffassung der sog. „Naturvölker“ lediglich als eine ökonomische Institution zur Erzeugung und Aufzucht von Kindern als Arbeitskräften und Trägern des Totenkults. Die altjüdische Motivierung der Freiheit des jungen Ehemanns von politischen Pflichten: daß er seiner jungen Liebe froh werden solle,[406]A: sakramentalen),
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steht sehr vereinsamt. Der alttestamentliche Fluch über die Sünde Onans (coitus interruptus),[407] 5. Mose 24, 5: „Wenn jemand kurz zuvor ein Weib genommen hat, der soll nicht in die Heerfahrt ziehen, und man soll ihm nichts auflegen. Er soll frei in seinem Hause sein ein Jahr lang, daß er fröhlich sei mit seinem Weibe, das er genommen hat“.
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den die katholische Perhorreszierung der sterilisierten Begattung als Todsünde übernahm, zeigt, daß auch im Judentum keine Konzessionen an die in bezug auf die Folgen rational von jenem Sinn losgelöste Erotik gemacht wurden. Daß die Beschränkung des legitimen Geschlechtslebens auf jenen rationalen Zweck der Standpunkt jeder innerweltlichen Askese ist, vor allem des Puritanismus, versteht sich von selbst. Auf seiten der Mystik andererseits haben die anomistischen und halborgiastischen Konsequenzen, zu welchen ihr akosmistisches Liebesgefühl sie unter Umständen führen kann, die Eindeutigkeit nur gelegentlich verschoben. Die wertende Stellungnahme der prophetischen und auch der priesterlich rationalen Ethik zum (legitimen und normalen) Geschlechtsverkehr rein als solchen endlich, also die letzte Beziehung zwischen Religiösem und Organischem, ist nicht eindeutig. Wenn im Konfuzianismus wie im alten Judentum teils animistische, teils ihnen nachgebildete, sehr universell (auch in der vedischen und hinduistischen Ethik) verbreitete Vorstellungen von der Bedeutung der Nachkommenschaft ein direktes Gebot der Kinderzeugung zur Folge hatten, so ist dagegen das gleiche positive Ehegebot schon im talmudischen Judentum, ebenso im Islam, wenigstens teilweise schon ebenso motiviert Onan sollte, laut 1. Mose 38, 8–10, der Witwe seines Bruders, Tamar, zu Kindern verhelfen, verhinderte jedoch die Empfängnis durch coitus interruptus, weil der erste Sohn Tamars rechtlich als der seines verstorbenen Bruders gegolten hätte. Er wurde deshalb von Jahwe getötet. Sein „Vergehen“ lag nicht in der Masturbation, sondern in der Verweigerung der Erfüllung der „Leviratsehe“ (begründet in 5. Mose 25, 5 ff.), die einen Mann verpflichtete, die Witwe seines kinderlos verstorbenen Bruders zu heiraten.
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wie der Ausschluß der ehelosen Ordinierten von den (niederen) Pfarr[408]pfründen in den orientalischen Kirchen, nämlich durch die Vorstellung von der absoluten Unüberwindlichkeit des Geschlechtstriebs für den Durchschnittsmenschen, dem daher ein legitim reglementierter Kanal geöffnet werden müsse. Diesem Standpunkt entspricht nicht nur die Relativierung der Laienethik der indischen kontemplativen Erlösungsreligionen mit ihrem Ehebruchsverbot für die Upāsakas,[407]A: motiviert,
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sondern auch der Standpunkt des Paulus,[408] Eines der fünf Gesetze, zu denen sich die Upasakas (die männlichen und weiblichen buddhistischen Laienanhänger) verpflichten mußten, war Meidung von Ehebruch. Carl Friedrich Koeppen bemerkte, daß „dem Laien nicht Keuschheit im weitesten Sinn, d. h. Enthaltung vom Weibe überhaupt, sondern nur Meidung von Ehebruch und Unzucht zugemuthet und geboten wird“. (Koeppen, Religion des Buddha, wie oben, S. 180, Anm. 23, S. 444).
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dem die, bei ihm auch aus einer hier nicht interessierenden mystischen Motivierung gefolgerte, Würde der absoluten Abstinenz als ein rein persönliches Charisma der religiösen Virtuosen gilt, ebenso diejenige der Laienethik des Katholizismus. Es ist aber auch der Standpunkt Luthers, der die innereheliche Sexualität letztlich doch nur als das geringere Übel zur Vermeidung der Hurerei ansah und die Notwendigkeit für Gott, dieser Art von legitimer Sünde „durch die Finger zu sehen“, In 1. Korinther 7, 7–9 sagt Paulus über sich selbst: „Ich wollte aber lieber, alle Menschen wären, wie ich bin; aber ein jeglicher hat seine eigene Gabe von Gott, einer so, der andere so. Ich sage zwar den Ledigen und Witwen: Es ist ihnen gut, wenn sie auch bleiben wie ich. So sie aber sich nicht mögen enthalten, so laß sie freien; es ist besser freien denn Brunft leiden“.
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als eine Folge der durch die Erbsünde geschaffenen absoluten Unüberwindlichkeit der Konkupiszenz, – eine Annahme, die zum Teil seinen, demjenigen [409]Muhammeds ähnlichen, zunächst nur relativ ablehnenden, Standpunkt gegenüber dem Mönchtum erklärt. Im Gottesreiche Jesus, [A 347]wohlgemerkt: einem irdischen Zukunftsreich, gibt es keine Sexualität, und alle offizielle christliche Theorie hat gerade die innere, gefühlsmäßige Seite aller Sexualität als „Konkupiszenz“ und Folge des Sündenfalls perhorresziert. Zugrunde liegt 3. Mose 20, 4: „Und wo das Volk im Lande durch die Finger sehen würde dem Menschen, der seines Samens dem Moloch gegeben hat, daß es ihn nicht tötet“. Luther hat seine Auffassung von der Ehe in seiner Schrift „Eyn Sermon von dem Elichen Standt“ von 1519 dargelegt (D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, 2. Band. – Weimar: Hermann Böhlau 1884, S. 166–171). Marianne Weber verwendete dieses Bibelzitat bei ihrem Vortrag „Die Bekämpfung der Unsittlichkeit mit besonderer Beziehung auf den Schutz der Jugend“ auf dem 18. Evangelisch-sozialen Kongreß in Straßburg 1907: „Die Reformation verneinte zwar die Überbietung der innerweltlichen Sittlichkeit durch das mönchische Cölibat als ,Menschenwerk‘. Allein Luthers Eheauffassung blieb im Grunde die gleiche. Sie war ihm, wie dem Mönchtum, im Prinzip ‚ein Spital der Siechen‘, von Unzucht nur dadurch unterschieden, daß Gott sie nun einmal ausdrücklich eingesetzt habe, daß sie seine ‚Ordnung und Stiftung‘ sei. Gott sieht deshalb, wie er sagt, in ihr der ,Sünde‘ ‚durch die Finger‘“. (Die Verhandlungen des achtzehnten Evangelisch-sozialen Kongresses, abgehalten in Straßburg (Elsaß) am 21. bis 23. Mai 1907. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1907, S. 114–125, Zitat: S. 117 f.).
Dem immer noch verbreiteten Glauben, daß dies eine Spezialität des Christentums sei, steht die Tatsache gegenüber, daß es keinerlei spezifische Erlösungsreligiosität gibt, deren Standpunkt prinzipiell ein anderer wäre. Dies aber erklärt sich aus einer Anzahl ganz allgemeiner Ursachen. Zunächst aus der Art der Entwicklung, welche durch Rationalisierung der Lebensbedingungen die Sexualsphäre innerhalb des Lebens selbst zunehmend einnimmt. Auf der Stufe des Bauern ist der Geschlechtsakt ein Alltagsvorgang, der bei vielen Naturvölkern weder die geringsten Schamgefühle zuschauenden Reisenden gegenüber noch irgendwelchen als überalltäglich empfundenen Gehalt in sich schließt. Die für unsere Problematik entscheidende Entwicklung ist nun, daß die Geschlechtssphäre zur Grundlage spezifischer Sensationen, zur „Erotik“ sublimiert, damit eigenwertgesättigt und außeralltäglich wird. Die beiden erheblichsten Momente, welche dahin wirken, sind einerseits die durch ökonomische Sippeninteressen und weiterhin durch ständische Konventionen zunehmend eingeschalteten Hemmungen für den Geschlechtsverkehr, der zwar auf gar keiner bekannten Stufe der Entwicklung von sakraler und ökonomischer Reglementierung frei ist, aber ursprünglich meist weniger mit den, an die ökonomischen sich allmählich angliedernden, konventionellen Schranken umgeben wird, die ihm später spezifisch sind. Der Einfluß speziell der modernen „ethischen“ Schranken als angeblicher Quelle der Prostitution ist freilich fast immer falsch eingeschätzt worden. Gewerbliche „Prostitution“, heterosexuelle und auch homosexuelle (Abrichtung von Tribaden)
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findet sich, da irgendeine sakrale oder militärische oder ökonomisch bedingte Schranke nirgends fehlt, auch auf den primitivsten Kulturstufen. Nur ihre absolute Proskribierung datiert erst [410]vom Ende des 15. Jahrhunderts.[409] Im Altertum Bezeichnung für lesbische Frauen.
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Aber die Ansprüche der Sippe für die Sicherung der Kinder des Mädchens und die Lebenshaltungsansprüche der jungen Eheleute selbst steigen mit raffinierter Kultur fortwährend. Damit tritt ein weiteres Entwicklungselement immer mehr hervor. Denn weit tiefer noch, wenn auch weit weniger bemerkt, wirkt auf die Beziehung zur Ethik das Heraustreten des zunehmend rationalisierten Gesamtdaseinsinhalts des Menschen aus dem organischen Kreislauf des einfachen bäuerlichen Daseins. [410] Im Artikel „Prostitution“ im Handwörterbuch der Staatswissenschaften ist folgendes ausgeführt: „Die Dinge ändern sich von Grund aus Anfang des 16. Jahrh[underts] mit der Entdeckung Amerikas, mit dem Einbruch der Syphilis (1492 durch Columbus eingeschleppt, 1495 erster Ausbruch bei der Belagerung Neapels durch Karl von Anjou) und der Reformation. Die Reformation fordert gleiche Rechte für beide Geschlechter. Die Syphilis macht dem Unwesen der Badehäuser ein Ende und verleiht der Prostitution einen gesundheitsgefährlichen Charakter. Mit der Entdeckung Amerikas blüht der Welthandel auf, Adel und Geistlichkeit werden in den Hintergrund gedrängt durch das zu immer größerer Macht sich entfaltende Bürgertum“. Wie im frühen Mittelalter wechselt „strengste Unterdrückung, härteste Bestrafung der Prostitution ab mit behördlicher Toleranz, Konzessionierung, Förderung oder mit völliger Ignorierung“. (Blaschko, [Alfred], Prostitution, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Band 6, 3., gänzlich umgearbeitete Aufl. – Jena: Gustav Fischer 1910, S. 1227–1249, Zitat: S. 1229).
Wie zu der stärksten irrationalen Macht des persönlichen Lebens gerät nun die ethische, speziell die Brüderlichkeitsreligiosität auch zur Sphäre der Kunst in tiefe innere Spannung. Die ursprüngliche Beziehung beider zueinander ist freilich die denkbar intimste. Idole und Ikonen aller Art, die Musik als Mittel der Ekstase oder des Exorzismus oder apotropäischer Kulthandlungen, als heilige Sänger, als Zauberer, die Tempel und Kirchen als größte künstlerische Bauten, die Paramente
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und Kirchengeräte aller Art als Hauptobjekte der kunstgewerblichen Arbeit machen die Religion zu einer unerschöpflichen Quelle künstlerischer Entfaltungsmöglichkeit. Je mehr aber die Kunst als eine eigengesetzliche Sphäre sich konstituiert, – ein Produkt der Laienbildung, – desto mehr pflegt sie gegenüber den religiös-ethischen ganz disparaten Rangordnungen der Werte, welche damit konstituiert werden, hervorzutreten. Alle unbefangene rezeptive Stellung zur Kunst geht zunächst von der Bedeutsamkeit des Inhalts aus, und dieser kann Gemeinschaft stiften. Das spezifisch Künstlerische überhaupt be[411]wußt zu entdecken ist intellektualistischer Zivilisation vorbehalten. Eben damit aber schwindet das Gemeinschaftsstiftende der Kunst ebenso wie ihre Verträglichkeit mit dem religiösen Erlösungswillen. Nicht nur wird dann jene innerweltliche Erlösung, welche die Kunst nur rein als Kunst zu geben beansprucht, als widergöttlich und jeder Erlösung von der ethischen Irrationalität der Welt feindlich von der ethischen Religiosität ebenso wie von der echten Mystik perhorresziert, und vollends der eigentlichen Askese ist jede Hingabe an künstlerische Werte rein als solche eine bedenkliche Verletzung der [A 348]rationalen Systematisierung der Lebensführung. Sondern noch mehr steigert sich die Spannung mit Zunahme der dem Intellektualismus eigenen, der ästhetischen nachgebildeten Haltung in ethischen Dingen. Die Ablehnung der Verantwortung für ein ethisches Urteil und die Scheu vor dem Schein beschränkter Traditionsgebundenheit, wie sie intellektualistische Zeitalter hervorbringen, veranlaßt dazu, ethisch gemeinte in ästhetisch ausgedeutete Urteile umzuformen (in typischer Form: „geschmacklos“ statt „verwerflich“). Aber die subjektivistische Inappellabilität jedes Geschmacksurteils über menschliche Beziehungen, wie es in der Tat der Kultus des Ästhetentums anzuerziehen pflegt, kann gegenüber der religiös-ethischen Norm, der sich der Einzelne, ethisch ablehnend, aber im Wissen von der eigenen Kreatürlichkeit menschlich miterlebend, für sich selbst ebenso unterstellt wie denjenigen, dessen Tun er im Einzelfall beurteilt und deren Konsequenzen und Berechtigung vor allem dem Prinzip nach diskussionsfähig erscheinen, von der Religiosität sehr wohl als eine tiefste Form von spezifischer Lieblosigkeit, verbunden mit Feigheit, angesehen werden. Jedenfalls bereitet der ästhetischen Stellungnahme als solcher die konsequente Brüderlichkeitsethik, welche ihrerseits stets direkt antiästhetisch orientiert ist, keine Stätte, und umgekehrt gilt das gleiche. Textile Kultgegenstände wie liturgische Gewänder und Insignien, ferner die Altarbekleidungen und Ausstattungsgegenstände des Kirchenraumes.
Die so bedingte religiöse Entwertung der Kunst geht naturgemäß im ganzen ziemlich genau parallel mit der Entwertung der magischen, orgiastischen, ekstatischen und ritualistischen Elemente der Religiosität zugunsten von asketischen und spiritualistisch-mystischen. Ferner mit dem rationalen und literarischen Charakter der Priester- und Laienbildung, wie ihn eine Buchreligion stets nach sich zu ziehen pflegt. Vor allem aber wirkt bei der eigentlichen Prophetie zweierlei in antiästhetischer Richtung. Einmal die [412]ihr stets selbstverständliche Ablehnung der Orgiastik und, meist, der Magie. Die ursprünglich magisch bedingt gewesene jüdische Scheu vor dem „Bildnis und Gleichnis“ deutet die Prophetie spiritualistisch aus ihrem absolut überweltlichen Gottesbegriff heraus um. Und irgendwann zeigt sich dann die Spannung der zentral ethisch religiösen Orientierung der prophetischen Religion gegen das „Menschenwerk“, die aus dessen, vom Propheten aus gesehen, Scheinerlösungsleistung folgt. Die Spannung ist um so unversöhnlicher, je überweltlicher und gleichzeitig je heiliger der prophetisch verkündete Gott vorgestellt wird.
Auf der anderen Seite findet sich die Religiosität immer wieder vor die Empfindung der unablehnbaren „Göttlichkeit“ künstlerischer Leistungen gestellt, und gerade die Massenreligion ist auf „künstlerische“ Mittel für die erforderliche Drastik ihrer Wirkungen immer wieder direkt hingewiesen und zu Konzessionen an die überall magisch idolatrischen Massenbedürfnisse geneigt. Ganz abgesehen davon, daß eine organisierte Massenreligiosität nicht selten mit der Kunst durch ökonomische Interessen eng verknüpft ist, wie z. B. bei dem Ikonenhandel der byzantinischen Mönche, welche Gegner der, auf das bilderstürmerische, weil aus den Grenzprovinzen des damals noch streng spiritualistischen Islam
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rekrutierte Heer gestützten, cäsaropapistischen Kaisergewalt waren, während diese ihrerseits umgekehrt gerade durch Abschneidung dieser Verdienstquelle diesem gefährlichsten Gegner ihrer Kirchenherrschaftspläne die Existenz abschneiden wollte. Und innerlich führt von jeder orgiastischen oder ritualistischen Stimmungsreligiosität, aber auch von der auf mystische Sprengung der Individuation ausgehenden Liebesreligiosität bei aller Heterogenität des letztlich gemeinten „Sinnes“ psychologisch der Weg äußerst leicht zur Kunst zurück; von der ersteren besonders zu Sang [413]und Musik, von der zweiten zur bildenden Kunst, von der letzten zur Lyrik und Musik. Alle Erfahrungen, von der indischen Literatur und Kunst und den weltoffenen sangesfrohen Sufis bis zu den Liedern des Franziskus und den unermeßlichen Einflüssen religiöser Symbolik und gerade mystisch bedingter Stimmungen[,] zeigen diesen Zusammenhang. Aber nicht nur die einzelnen Formen der empirischen Religiosität verhalten sich grundverschieden zur Kunst, sondern innerhalb jeder auch deren verschiedene [A 349]Strukturformen, Schichten und Träger: Propheten anders als Mystagogen und Priester, Mönche anders als fromme Laien, Massenreligionen anders als Virtuosensekten, und von diesen die asketischen sehr anders und zwar im Effekt naturgemäß prinzipiell kunstfeindlicher als die mystischen. Dies gehört nicht mehr in unseren Zusammenhang. Ein wirklicher innerer Ausgleich religiöser und künstlerischer Stellungnahme aber, dem letzten (subjektiv gemeinten) Sinne nach, wird allerdings zunehmend erschwert, wo immer das Stadium der Magie oder des reinen Ritualismus endgültig verlassen ist. [412] Weber spielt auf den sog. „Bilderstreit von Byzanz“ an. Der Koran verbot den Bilderdienst (Sure 5, 92: „O ihr Gläubige, wahrlich der Wein, das Spiel, Bilder und Looswerfen ist verabscheuungswürdig und ein Werk des Satans; vermeidet sie, auf daß es euch wohlgehe“) und somit auch den Handel mit Ikonen. Kalif Yazīd II. (720–724) erließ 723 ein Edikt, daß aus allen christlichen Kirchen seines Reiches die Bilder entfernt werden sollten. Julius Wellhausen führte als Motivation dafür eine Weissagung eines Juden aus Laodicea in Phönizien an, die dem Kalif eine vierzigjährige Regierungszeit in Aussicht stellte, wenn er die Bilder in den Kirchen seines Herrschaftsgebietes vernichten würde. (Vgl. Wellhausen, Arabisches Reich, wie oben, S. 209. Anm. 86, S. 202 f.).
Für uns ist nur wichtig die Bedeutung der Ablehnung aller eigentlich künstlerischen Mittel durch bestimmte, in diesem Sinn spezifisch rationale Religionen in starkem Maße im Synagogengottesdienst und dem alten Christentum, dann wieder im asketischen Protestantismus. Sie ist, je nachdem, Symptom oder Mittel der Steigerung des rationalisierenden Einflusses einer Religiosität auf die Lebensführung. Daß das zweite Gebot geradezu die entscheidende Ursache des jüdischen Rationalismus sei, wie manche Vertreter einflußreicher jüdischer Reformbewegungen annehmen,
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geht wohl zu weit. Daß aber die systematische Verdam[414]mung aller unbefangenen Hingabe an die eigentlichen Formungswerte der Kunst, deren Wirksamkeit ja durch Maß und Art der Kunstproduktivität der frommen jüdischen und puritanischen Kreise genügend belegt ist, in der Richtung intellektualistischer und rationaler Lebensmethodik wirken muß, ist andererseits nicht im mindesten zu bezweifeln. [413] 2. Mose 20, 4: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist“. Weber bemerkte in seiner „Protestantischen Ethik“: „Der ungeheure Einfluß z. B., den auf die charakterologische Entwicklung des Judentums, seinen rationalen, der Sinnenkultur fremden Charakter, speziell das zweite Gebot […] gehabt hat, kann hier nicht analysiert werden. Als charakteristisch darf aber vielleicht erwähnt werden, daß mir einer der Leiter der ,Educational Alliance‘ in den Vereinigten Staaten, einer Organisation, welche mit erstaunlichem Erfolg und großartigen Mitteln die ,Amerikanisierung‘ der jüdischen Immigranten betreibt, als erstes Ziel der ‚Kulturmenschwerdung‘, welches durch alle Arten künstlerischen und geselligen Unterrichts erstrebt wird, die ,Emanzipation vom zweiten Gebot‘ bezeichnete“. (Weber, Protestantische Ethik II, S. 91, Fn. 49).
12.k[414]A: § 12. Die Kulturreligionen und die „Welt“.lIn A folgt eine Inhalts- und Seitenübersicht.
[414]A: § 12.
In A folgt eine Inhalts- und Seitenübersicht.
Die dritte
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in gewissem Sinn „weltangepaßte“, jedenfalls aber „weltzugewendete“, nicht die „Welt“, sondern nur die geltende soziale Rangordnung in ihr ablehnende Religion ist das Judentum in seiner uns hier allein angehenden nachexilischen, vor allem talmudischen Form, über deren soziologische Gesamtstellung bereits früher einiges gesagt wurde.[414] Es gehen keine Ausführungen über die „erste“ und „zweite“ Religion voraus. Vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 111.
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Seine Verheißungen sind, dem gemeinten Sinn nach, Diesseitsverheißungen, und kontemplative oder asketische Weltflucht ist ihnen in ähnlicher Art nur als Ausnahmeerscheinung bekannt, wie der chinesischen Religiosität und dem Protestantismus. Vom Puritanismus unterscheidet es sich durch das (wie immer: relative) Fehlen systematischer Askese überhaupt. Die „asketischen“ Elemente der frühchristlichen Religiosität entstammen nicht etwa dem Judentum, sondern finden sich gerade in den heidenchristlichen Gemeinden der Paulusmission. Siehe oben, S. 223.
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Die Erfüllung des jüdischen „Gesetzes“ ist sowenig „Askese“ wie die Erfüllung irgendwelcher Ritual- und Tabunormen. Die Beziehung der jüdischen Religiosität zum Reichtum einerseits, zum Sexualleben andererseits ist nicht im mindesten asketisch, vielmehr höchst naturalistisch. Reichtum ist eine Gabe Gottes, die [415]Befriedigung des Sexualtriebs, natürlich in legaler Form, ist geradezu unabweislich, so sehr, daß der nach einem bestimmten Lebensalter Nichtverehelichte dem Talmud direkt als moralisch verdächtig gilt. Wilhelm Bousset bemerkte hierzu: „Hervorgehoben aber soll noch werden, dass […] eine eigentlich asketische Stimmung im Judentum niemals aufgekommen ist. Hier und da finden wir wohl einzelne Spuren einer solchen Tendenz, aber im ganzen blieb das Judentum von diesem Abwege fern und hat an dem gottgewollten Zweck der Ehe durchaus festgehalten. Pauli Hinneigung zur Askese (I. Kor. 7) wird nicht aus seiner rabbinischen Vergangenheit zu erklären sein“. (Bousset, Religion des Judentums, S. 493).
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Die Auffassung der Ehe als bloß ökonomischer, der Erzeugung und Aufzucht von Kindern bestimmten Einrichtung ist an sich nichts spezifisch Jüdisches, sondern universell. Daß der nicht legale Geschlechtsverkehr strikt (und innerhalb der frommen Kreise höchst wirksam) verpönt ist, teilt das Judentum mit dem Islam und allen prophetischen Religionen, außerdem mit dem Hinduismus, die Reinigungsschonzeiten mit der Mehrzahl der ritualistischen Religionen, so daß von einer spezifischen Bedeutung der Sexualaskese nicht gesprochen werden darf. Die von Sombart zitierten Reglementierungen[415] Das alttestamentliche Gebot „Seid fruchtbar und mehret Euch“ ließ den Unverheirateten als Gesetzesübertreter und wie jemand, „der Blut vergießt“ (bab. Talmud Yebamoth 63b), erscheinen, da er Jahwes Schöpfungsplan zuwider handelte. Schriftgelehrte, die ein Torastudium ohne Ablenkungen durch Familie anstrebten, mußten dies rechtfertigen. Ein Unverheirateter galt als unvollständiger Mensch. Gestützt auf Genesis 2, 18 wurde auch einem Witwer, der bereits Kinder hat, geraten, wieder zu heiraten. Zweifel an der Praxis von Keuschheit (bab. Yoma 29a: „Es ist schwieriger, unzüchtigen Gedanken als unzüchtigem Handeln Herr zu werden“) machte einen Ledigen „moralisch verdächtig“ und bewirkte seinen Ausschluß von bestimmtem synagogalen Funktionen. Marianne Weber bemerkte dazu: „Statt dessen wurde es nunmehr den Eltern zur Pflicht gemacht, ihre Kinder im jugendlichsten Alter, die Töchter mit 15, die Söhne möglichst schon mit 18, keinenfalls aber nach dem 18. Lebensjahr heiraten zu lassen. Länger ledig zu sein galt als Sünde, und als Zweck der Ehe bezeichnet der Talmud ausdrücklich neben Kinderzeugen und gegenseitigem Beistand – die Einschränkung der Begierde“. (Weber, Marianne, Ehefrau und Mutter in der Rechtsentwicklung. Eine Einführung. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1907, S. 119). Auf S. 130 fuhr sie fort: „Ehelosigkeit des Erwachsenen ist ihm [dem Talmud] überhaupt Symptom unsittlichen Lebens, deshalb Sünde […]“.
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reichen nicht an die katholische Kasuistik des 17. Jahrhunderts heran und finden in manchen anderen Tabukasuistiken Analogien. Unbefangener Lebens[A 350]genuß, selbst Luxus, ist an sich nirgends verboten, sofern die positiven Verbote und Tabuierungen des „Gesetzes“ dabei innegehalten werden. Das soziale, dem Geist des mosaischen Gesetzes widersprechende Unrecht, welches so oft bei der Erwerbung des Reichtums gegen den jüdischen Volksgenossen begangen wird, und ferner die Versuchung zur Laxheit in der Gesetzestreue, zu hoffärtiger Verachtung der Gebote und damit der Verheißungen Jahves [416]sind es, was den Reichtum bei den Propheten, in den Psalmen, in der Spruchweisheit und später als etwas sehr leicht Bedenkliches erscheinen läßt. Es ist nicht leicht, den Versuchungen des Reichtums zu entgehen, aber eben deshalb um so verdienstlicher: „Heil dem Reichen, der unsträflich erfunden wird.“ Reglementierungen, die den Umgang mit Frauen und den ehelichen Geschlechtsverkehr betreffen, finden sich bei Sombart, Juden und Wirtschaftsleben, S. 272–276.
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Da der Prädestinationsgedanke oder entsprechend wirkende Vorstellungen fehlen, so kann die rastlose[416] Sirach 31, 8: „Wohl dem Reichen, der unsträflich gefunden wird und nicht das Geld sucht!“
m
Arbeit und der Erfolg im Erwerbsleben andererseits auch nicht in dem Sinn als Zeichen der „Bewährung“ gewertet werden, wie dies am stärksten den calvinistischen Puritanern, in gewissem Maße aber (wie z. B. John Wesleys Bemerkung darüber zeigt)[416]A: restlose
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allem asketischen Protestantismus eigen war. Immerhin liegt der Gedanke, in erfolgreichem Erwerb ein Zeichen gnädiger göttlicher Fügung zu erblicken, selbstverständlich der jüdischen Religiosität nicht nur ebenso nahe, wie etwa der chinesischen, laienbuddhistischen und überhaupt jeder nicht weltablehnenden Religiosität der Welt, sondern noch wesentlich näher in einer Religion, welche sehr spezifische Verheißungen eines überweltlichen Gottes, in Verbindung mit sehr sichtbaren Zeichen seines Zornes über das doch von ihm selbst erwählte Volk vor sich [417]hatte. Es ist klar, daß die Bedeutung des, unter Innehaltung der Gebote Gottes, erreichten Erwerbs in der Tat als Symptom persönlicher Gottwohlgefälligkeit gewertet werden konnte und mußte. Dies ist denn in der Tat auch wieder und wieder geschehen. Aber die Situation für den erwerbenden (frommen) Juden war dennoch eine von der des Puritaners grundsätzlich gänzlich verschiedene, und diese Verschiedenheit ist nicht ohne praktische Wirkungen für die wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung des Judentums geblieben. Zunächst: worin ungefähr bestand diese Bedeutung? In der Überarbeitung der „Protestantischen Ethik“ 1920 (GARS I, S. 196 f.; MWG I/18) zitierte Weber die Äußerung Wesleys ausführlich. Weber gab dort an, er habe 1913 durch einen (nicht überlieferten) Brief von Professor Sir William James Ashley von dieser Wesley-Stelle im Werk von Robert Southey, The Life of Wesley; and the Rise and Progress of Methodism. – London: George Bell and Sons 1885, S. 562, Kenntnis bekommen. Weber zitierte sie in deutscher Übersetzung: „Ich fürchte: wo immer der Reichtum sich vermehrt hat, da hat der Gehalt an Religion in gleichem Maße abgenommen. Daher sehe ich nicht, wie es, nach der Natur der Dinge, möglich sein soll, daß irgendeine Wiedererweckung echter Religiosität lange Dauer haben kann. Denn Religion muß notwendig sowohl Arbeitsamkeit (industry) als Sparsamkeit (frugality) erzeugen, und diese können nichts anderes als Reichtum hervorbringen. Aber wenn Reichtum zunimmt, so nimmt Stolz, Leidenschaft und Weltliebe in all ihren Formen zu. Wie soll es also möglich sein, daß der Methodismus, das heißt eine Religion des Herzens, mag sie jetzt auch wie ein grünender Baum blühen, in diesem Zustand verharrt? Die Methodisten werden überall fleißig und sparsam; folglich vermehrt sich ihr Güterbesitz. Daher wachsen sie entsprechend an Stolz, Leidenschaft, an fleischlichen und weltlichen Gelüsten und Lebenshochmut. So bleibt zwar die Form der Religion, der Geist aber schwindet allmählich. Gibt es keinen Weg, diesen fortgesetzten Verfall der reinen Religion zu hindern? Wir dürfen die Leute nicht hindern, fleißig und sparsam zu sein. Wir müssen alle Christen ermahnen, zu gewinnen was sie können und zu sparen was sie können, das heißt im Ergebnis: reich zu werden“.
Es hätte in der Polemik gegen Sombarts geistvolles Buch
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die Tatsache nicht ernstlich bestritten werden sollen: daß das Juden[418]tum an der Entfaltung des kapitalistischen Wirtschaftssystems in der Neuzeit sehr stark mitbeteiligt gewesen ist. Nur bedarf diese These Sombarts m. E. einer etwas weiteren Präzisierung. Was sind die spezifischen ökonomischen Leistungen des Judentums im Mittelalter und Neuzeit? Darlehen, vom Pfandleihgeschäft bis zur Finanzierung von Großstaaten, bestimmte Arten des Warenhandels mit sehr starkem Hervortreten des Kleinkram- und Wanderhandels und des spezifisch ländlichen „Produktenhandels“, gewisse Teile des Engros- und vor allem der Wertpapierhandel, beide speziell in Form des Börsenhandels, Geldwechsel und die damit üblicherweise zusammenhängenden Geldüberweisungsgeschäfte, Staatslieferungen, Kriegs- und in sehr hervorragendem Maße Kolonialgründungsfinanzierung, Steuerpacht, (natürlich außer der Pacht verpönter Steuern, wie der an die Römer), Kredit- und Bankgeschäfte und Emissionsfinanzierungen aller Art. Von diesen Geschäften sind nun dem modernen okzidentalen Kapitalismus (im Gegensatz zu dem der Antike, des Mittelalters, der ostasiatischen Vergangenheit) eigentümlich gewisse (allerdings höchst wichtige) Formen der Geschäfte, rechtliche sowohl wie ökonomische. So, auf der rechtlichen Seite: die Wertpapier- und kapitalistischen Vergesellschaftungsformen. Diese aber sind nicht spezifisch jüdischer Provenienz. Sondern soweit die Juden in spezifischer Art sie im Okzident neu eingeführt haben, sind sie vielleicht gemeinorientalischer (babylonischer) und dadurch vermittelt: hellenistischer und byzantinischer und erst durch dies Medium hindurch jüdischer Herkunft, überdies meist Juden und Arabern gemeinsam. Zum anderen Teil aber sind sie okzidental-mittelalterliche Schöpfungen mit zum Teil sogar spezifisch germanischem Einschlag. Der Nachweis führte hier im einzelnen zu weit.[417] Werner Sombart vertrat in seiner Schrift: Die Juden und das Wirtschaftsleben von 1911 die These, daß das europäische Judentum eine zentrale Rolle bei der Entstehung des modernen Kapitalismus gespielt habe. Judentum und Puritanismus seien verwandt. In seinem Vorwort schrieb Sombart: „Max Webers Untersuchungen über die Zusammenhänge zwischen Puritanismus und Kapitalismus mußten mich notwendig dazu führen, dem Einflusse der Religion auf das Wirtschaftsleben mehr nachzuspüren, als ich es bisher getan hatte, und dabei kam ich zuerst an das Judenproblem heran. Denn wie eine genaue Prüfung der Weberschen Beweisführung ergab, waren alle diejenigen Bestandteile des puritanischen Dogmas, die mir von wirklicher Bedeutung für die Herausbildung des kapitalistischen Geistes zu sein scheinen, Entlehnungen aus dem Ideenkreise der jüdischen Religion“. (Sombart, Juden und Wirtschaftsleben, S. V). Max Weber wies diesen Zusammenhang später zurück. Der ökonomische Dualismus von Binnen- und Außenmoral und damit des wirtschaftlichen Handelns habe die Juden daran gehindert, eine rationale Wirtschaftsethik zu entwickeln, die alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens umspanne. Webers Auffassung des Judentums als „Pariavolk“ stand in Widerspruch zu der wirtschaftsgeschichtlichen Bedeutung des Judentums, die Sombart herausgearbeitet hatte, und zu dessen These, daß die Juden den „Geist“ des modernen Kapitalismus geschaffen hätten. In einem Brief vom 2. Dezember 1913 an Sombart (GStA Berlin, Rep. 92, NI. Werner Sombart, Nr. 4k, BI. 3–4; MWG II/8) schrieb Weber: „Ich habe vor kurzer Zeit hier in einer Diskussion gesagt: ich hielte an Ihrem ‚Judenbuch‘, soweit das Religiöse in Betracht kommt, ‚beinahe jedes Wort für falsch‘, aber ich habe auch ziemlich genau wiederholt, was ich Ihnen über das gleiche Buch s[einer] Z[eit] geschrieben habe. Ich habe dieses jetzige Buch [Der Bourgeois] gelesen und habe dabei dasselbe Vergnügen gehabt und denselben Genuß, wie bei jenem. Was Sie über Religion sagen und Ihrem Zusammenfügen mit der Wirtschaft – das liegt Ihnen nun mal schlecht! – ist schlechte Waare aus zweiter Hand, dem ‚wissenschaftlich‘ = ‚fachlichen‘ Werth nach“. Bereits kurze Zeit nach dem Erscheinen von Sombarts Die Juden und das Wirtschaftsleben gab es eine breite Diskussion über die Abhandlung (vgl. hierzu Julius Guttmann, Juden und Wirtschaftsleben, S. 151 f.). Guttmann bemerkte als Abschluß seiner Stellungnahme folgendes: „Die kühne Konstruktion Sombarts, welche Juden und Kapitalismus unlöslich aneinander schmieden wollte, hat der nüchteren Wirklichkeit gegenüber niemals Stand gehalten. Die Juden sind nicht die Schöpfer des Kapitalismus, der sich auch unabhängig von ihnen entwickelt hätte und in weitem Umfange ohne lediglichen jüdischen Einfluß entwickelt hat“ (ebd., S. 212).
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Ökonomisch aber ist z. B. die Börse als „Markt der Kaufleute“ nicht von Juden, sondern von christlichen Kaufleuten [A 351]geschaffen, ist die besondere Art, wie die mittelalterlichen Rechtsformen rationalen Betriebszwecken adaptiert, wie z. B. Kommanditen. Maonen,[418] Auf diesen Zusammenhang kam Weber in WuG1, S. 478 (MWG I/22-3), genauer zu sprechen.
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privilegierte Kompa[419]gnien aller Art, schließlich Aktiengesellschaften geschaffen wurden, von spezifisch jüdischem Einfluß nicht abhängig, so sehr später die Juden sich an der Gründung beteiligten. Endlich sind die spezifisch neuzeitlichen Prinzipien der öffentlichen und privaten Kreditbedarfsdeckung auf dem Boden der mittelalterlichen Städte zuerst keimhaft entwickelt, und dann ist ihre zum Teil gänzlich unjüdische mittelalterliche Rechtsform ökonomisch den Bedürfnissen der modernen Staaten und sonstigen Kreditnehmer angepaßt worden. Aber vor allem: es fehlt in der gewiß großen Liste der jüdischen ökonomischen Betätigung eine Sparte, wenn auch nicht völlig, so doch relativ in auffallendstem Maße, und zwar die dem modernen Kapitalismus gerade eigentümliche: die Organisation der gewerblichen Arbeit in Hausindustrie, Manufaktur, Fabrik. Wie kommt es doch, angesichts des massenhaften Ghettoproletariats in Zeiten, wo für jede Industriegründung fürstliche Patente und Privilegien (gegen entsprechende pekuniäre Leistungen) zu haben waren, und wo auch zunftfreie Betätigungsgebiete für industrielle Neuschöpfungen durchaus hinlänglich zur Verfügung standen, – wie kommt es, daß angesichts alles dessen kein frommer Jude darauf verfiel, mit frommen jüdischen Arbeitskreisen im Ghetto ganz ebenso eine Industrie zu schaffen, wie es so viele fromme puritanische Unternehmer mit frommen christlichen Arbeitern und Handwerkern taten? Und daß auch auf dem Boden breiter notleidender jüdischer Handwerkerschichten noch bis an die Schwelle der neuesten Zeit keine spezifisch moderne, und das heißt: industrielle, jene jüdische Arbeit hausindustriell ausnutzende Bourgeoisie von irgendwelcher erheblichen Bedeutung entstanden war? Staatslieferungen, Steuerpachten, Kriegsfinanzierungen, Kolonie- und speziell Plantagenfinanzierung, Zwischenhandel, Darlehenswucher hat es ja seit Jahrtausenden fast in der ganzen Welt immer wieder als Form kapitalistischer Besitzverwertung gegeben. Gerade an dieser, fast allen Zeiten und Ländern, insbesondere auch der ganzen Antike geläufigen Geschichte sind nun die Juden beteiligt, in denjenigen spezifisch modernen Rechts- und Betriebsformen, welche schon das Mittelalter, aber nicht die Juden, geschaffen hatte. [420]Dagegen bei dem spezifisch Neuen des modernen Kapitalismus: der rationalen Organisation der Arbeit, vor allem der gewerblichen, im industriellen „Betrieb“ fehlen sie (relativ betrachtet) so gut wie gänzlich. Und vor allem: jene Wirtschaftsgesinnung, welche allem urwüchsigen Händlertum, dem antiken, ostasiatischen, indischen, mittelalterlichen Händlertum, dem Krämertum im kleinen, dem Großgeldgebertum im großen, typisch war und ist: der Wille und das Verständnis, rücksichtslos jede Chance des Gewinns auszunutzen – „um Gewinnes willen durch die Hölle zu fahren, und wenn sie die Segel versengt“ Die Maone der Guistiniani (ein Unternehmerkonsortium von ursprünglich 29 Reedern aus Genua) eroberte auf eigene Kosten am 12. September 1346 die Insel Chios und schloß im Februar 1347 mit der Kommune von Genua einen Vertrag, der den Mitgliedern [419]des Konsortiums das Nutzungsrecht für die Ressourcen der Insel gegen Entrichtung eines Jahreszinses sicherte. 1362 trat an die Stelle dieser älteren Maone die jüngere Maone, die aus 12 Konzessionären bestand.
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–, diese ist auch den Juden recht stark eigen. Aber gerade sie ist weit entfernt davon, etwas dem modernen Kapitalismus gegenüber anderen kapitalistischen Epochen Eigentümliches zu sein. Im graden Gegenteil. Weder das spezifisch Neue des modernen Wirtschaftssystems noch das spezifisch Neue an der modernen Wirtschaftsgesinnung sind spezifisch jüdisch. Die letzten prinzipiellen Gründe dafür hängen wieder mit dem besonderen Pariavolkscharakter des Judentums und seiner Religiosität zusammen. Zunächst schon die rein äußeren Schwierigkeiten der Beteiligung an der Organisation der gewerblichen Arbeit: die rechtlich und faktisch prekäre Lage der Juden, die wohl der Handel, vor allem der Geldhandel, nicht aber ein rationaler gewerblicher Dauerbetrieb mit stehendem Kapital erträgt. Dann aber auch die innerliche ethische Situation. Das Judentum, als Pariavolk, bewahrte die doppelte Moral, welche im Wirtschaftsverkehr jeder Gemeinschaft urwüchsig ist. Was „unter Brüdern“ perhorresziert ist, ist dem Fremden gegenüber erlaubt. Den Mitjuden gegenüber ist die jüdische Ethik durchaus unbezweifelbar traditionalistisch, vom Standpunkt der „Nahrung“ ausgehend, und soweit auch – worauf Sombart gewiß mit Recht hinweist[420] In seiner „Protestantischen Ethik“ bemerkte Weber: „Die auri sacra fames ist so alt wie die uns bekannte Geschichte der Menschheit, wir werden aber sehen, daß diejenigen, die ihr als Trieb sich vorbehaltlos hingeben – wie etwa jener holländische Kapitän, der ‚Gewinnes halber durch die Hölle fahren wollte, und wenn er sich die Segel ansengte‘ – keineswegs die Vertreter derjenigen Gesinnung waren, aus welcher der spezifisch moderne kapitalistische ‚Geist‘ als Massenerscheinung – und darauf kommt es an – hervorbrach“. (Weber, Protestantische Ethik I, S. 20).
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– die [421]Rabbinen dabei Konzessionen, und zwar auch für das innerjüdische [A 352]Geschäftsgebaren machten: es blieben eben Zugeständnisse an die Laxheit, durch deren Benutzung diejenigen, welche sie sich machen ließen, eben hinter den höchsten Anforderungen der jüdischen Geschäftsethik zurückblieben, nicht jedoch: sich „bewährten“. Das Gebiet des geschäftlichen Verhaltens zu Fremden aber ist bei Dingen, welche unter Juden verpönt waren, weitgehend eine Sphäre des ethisch Indifferenten. Dies ist nicht nur in der ganzen Welt bei allen Völkern die urwüchsige Geschäftsethik, sondern daß es dauernd so blieb, ist für den Juden, dem der Fremde schon im Altertum Bei Werner Sombart heißt es: „Zwar wurde ihm [dem frommen Juden] in manchen Fällen ausdrücklich eingeschärft: du mußt auch den Fremden gegenüber ehrlich sein […], aber daß man das schon ausdrücklich sagen mußte! Und dann hieß es ja wieder expressis verbis […]: ‚Einen Nichtjuden kann man übervorteilen, denn es heißt in der [421]Schrift 3. Mos. 25, 14, es soll niemand seinen Bruder übervorteilen‘ (hier ist nicht vom Betrug die Rede, sondern von einem höheren Preise, den man einem Fremden abnimmt). […] Wie diese [Auffassung] auf das Geschäftsgebaren der Juden laxisierend eingewirkt hat, stellt Graetz anschaulich dar […]“. (Sombart, Juden und Wirtschaftsleben, S. 289). Julius Guttmann bemerkte dazu in seiner Kritik an Sombart: „Hätte Sombart den jüdischen Sittenbüchern einige Aufmerksamkeit geschenkt, so hätte er allenthalben die Warnung finden können, das rechtlich Erlaubte auch für sittlich zulässig zu halten, und mit ihr verbunden den Hinweis, daß ein Unrecht gegen einen Nichtjuden auch dann verwerflich bleibe, wenn es rechtlich gestattet sei. Auf solche Weise wurde laxeren Einzelbestimmungen ihre Wirkung im wesentlichen genommen und es ist fraglos irreführend, wenn man ihnen einen bestimmenden Einfluß auf die jüdische Geschäftspraxis zuschreibt. […] Alle rechtlichen Vorschriften, die dem Kundenschutze dienen und den Einbruch in die fremde Nahrung verwehren, gelten nur für den innerjüdischen Wirtschaftsverkehr. Und die sittliche Forderung humanen Verhaltens auch gegen den Nichtjuden vermochte selbstverständlich den scharfen Unterschied nicht zu überbrücken, der damit für die jüdische Geschäftspraxis zwischen dem Verhalten gegenüber dem Juden und dem Nichtjuden gegeben war.“ (Guttmann, Juden und Wirtschaftsleben, S. 196 f.).
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fast überall als „Feind“ entgegentrat, einfach eine Selbstverständlichkeit. Alle wohlbekannten Ermahnungen der Rabbinen zu Treu und Glauben gerade auch gegenüber dem Fremden konnten doch natürlich an dem Eindruck der Tatsache nichts ändern, daß das Gesetz den Zins von Juden verbot, von Fremden dagegen erlaubte, und daß (wie wiederum Sombart mit Recht hervorhob)[421]A: Altertum,
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der Grad der vorschriftsmäßigen Legalität [422](z. B. bei der Benutzung von Irrtümern des anderen) dem Fremden, und das heißt: dem Feinde, gegenüber nun einmal ein geringerer war. Und es bedarf gar keines Beweises (denn das Gegenteil wäre schlechthin unbegreiflich), daß auf die durch die Verheißungen Jahves, wie wir sahen, 5. Mose 23, 20 f.: „Du sollst von deinem Bruder nicht Wucher nehmen, weder mit Geld, noch mit Speise, noch mit allem, damit man wuchern kann. Von dem Fremden magst du Wucher nehmen, aber nicht von deinem Bruder, auf daß dich der HErr, dein Gott, segne in allem, das du vornimmst im Lande, dahin du kommest, dasselbe einzunehmen“. Werner Sombart führte dazu aus: „Wenn beispielsweise ein Satz des Fremdenrechts […] besagte: der von den Heiden (Fremden) selbst begangene Irrtum in einer Rechnung darf von dem Israeliten zu seinem Vorteil benützt werden, ohne daß eine Verpflichtung bestünde, darauf aufmerksam zu machen […]: so mußte eine derartige [422]Rechtsauffassung […] in dem frommen Juden doch unweigerlich den Glauben erwecken: im Verkehr mit den Fremden brauchst Du’s überhaupt nicht so genau nehmen“. (Sombart, Juden und Wirtschaftsleben, S. 288 f.).
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geschaffene Pariastellung und die daraus folgende stete Verachtung von seiten der Fremden Siehe oben, S. 255 ff.
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ein Volk gar nicht anders reagieren konnte als dadurch, daß seine Geschäftsmoral im Fremdverkehr dauernd eine andere blieb wie dem Mitjuden gegenüber. [422]A: Fremden,
Die gegenseitige Situation von Katholiken, Juden und Puritanern beim wirtschaftlichen Erwerb läßt sich also etwa so zusammenfassen: der strenggläubige Katholik bewegte sich im Erwerbsleben fortwährend in der Sphäre oder an der Grenze eines Verhaltens, welches teils gegen päpstliche Konstitutionen verstieß und nur rebus sic stantibus
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im Beichtstuhl ignoriert oder nur durch laxe (probabilistische) Moral gestattet, teils direkt bedenklich, teils wenigstens nicht positiv gottwohlgefällig war. Der fromme Jude kam dabei unvermeidlich in die Lage, Dinge zu tun, welche unter Juden direkt gesetzwidrig oder traditionell bedenklich oder nur kraft laxer Interpretation zulässig und nur dem Fremden gegenüber erlaubt, nie aber mit positiven ethischen Wertvorzeichen versehen waren; sein ethisches Verhalten konnte nur, als dem Durchschnitt des Üblichen entsprechend und formal nicht gesetzwidrig, von Gott erlaubt und als sittlich indifferent gelten. Eben hierauf beruht ja das, was an den Behauptungen von dem geringeren Legalitätsstandard der Juden wirklich wahr gewesen ist. Daß Gott es mit Erfolg krönte, konnte zwar ein Zeichen dafür sein, daß er auf diesem Gebiet nichts direkt Verbotenes getan und auf anderen Gebieten sich an Gottes Gebote gehalten hatte, nicht leicht aber konnte er gerade durch das spezifisch moderne ökonomische Erwerbshandeln sich ethisch bewähren. Eben dies letztere aber war bei dem frommen Puritaner der Fall, der gerade nicht kraft laxer [423]Interpretation oder doppelter Moral oder weil er etwas ethisch Indifferentes und auf dem eigentlichen Geltungsgebiet des Ethischen Verpöntes tat, sondern umgekehrt mit dem denkbar besten Gewissen, eben dadurch, daß er, rechtlich und sachlich handelnd, die rationale Methodik seiner gesamten Lebensführung im „Betrieb“ objektivierte, sich vor sich selbst und im Kreise seiner Gemeinde legitimierte und eben auch nur soweit und dadurch legitimierte, als und weil die absolute, nicht relativierte, Unanfechtbarkeit seines Verhaltens völlig feststand. Kein wirklich frommer Puritaner – darauf kommt es an – hätte je durch Pfandwucher, durch Ausnutzung des Irrtums des Gegenparts (was dem Juden gegen den Fremden zustand), durch Feilschen und Schachern, durch Beteiligung an politischen oder kolonialen Raubverdiensten erworbenes Geld für gottwohlgefälligen Gewinn halten können. Der feste Preis, die absolut sachliche, jeden Durst nach Geld verschmähende, bedingungslos legale Geschäftsgebarung jedermann gegenüber ist es, deren Bewährtheit vor den Menschen die Quäker und Baptisten es zugeschrieben haben, daß gerade die Gottlosen bei ihnen und nicht bei „Unter den bestehenden Umständen“.
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ihresgleichen kauften, ihnen, nicht ihresgleichen ihr Geld in Verwahrung und in Kommandite anvertrauten [A 353]und sie reich machten, und eben diese Qualitäten bewährten sie vor ihrem Gott. Das Fremdenrecht, in der Praxis: das Pariarecht der Juden dagegen gestattete, trotz noch so vieler Vorbehalte, dem Nichtjuden gegenüber die Betätigung gerade derjenigen Gesinnung, welche der Puritaner als erwerbsdurstigen Krämergeist verabscheute, die aber beim frommen Juden mit der strengsten Rechtlichkeit, mit voller Erfüllung des Gesetzes und mit der ganzen Gottinnigkeit seiner Religiosität und der opferbereitesten Liebe zu den ihm in Familie und Gemeinde Verbundenen und mit Erbarmen und Milde gegen alle Gottesgeschöpfe vereinbar war. Niemals galt, gerade in der Praxis des Lebens, der jüdischen Frömmigkeit die Sphäre jenes erlaubten Erwerbs im Geltungsbereich des Fremdenrechts als diejenige, in welcher sich die Echtheit des Gehorsams gegen Gottes Gebote bewährt. Niemals hat ein frommer Jude den inneren Standard seiner Ethik daran bemessen, was er hier für erlaubt hielt. Sondern wie dem Konfuzianer der zere[424]moniell und ästhetisch allseitig entwickelte, literarisch gebildete und sein Leben lang weiter die Klassiker studierende Gentlemen, so ist dem Juden der kasuistisch Gesetzeskundige, der Schriftgelehrte, der auf Kosten seines Geschäfts, das er sehr oft der Frau überläßt, immer weiter in den heiligen Schriften und Kommentaren forschende „Intellektuelle“ das eigentliche Lebensideal.[423] Fehlt in A; bei sinngemäß ergänzt.
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[424] Julius Guttmann bemerkte zu einem Ausspruch von Rabbi Nehorai: „Der eigentliche Beruf des Juden ist diesem Ausspruch nach das Studium der göttlichen Lehre […]. Das soll daher sein Hauptberuf sein und nur nebenher soll er sich der Erwerbsarbeit widmen. […] In Polen und Rußland ist es noch heute eine verbreitete Erscheinung, daß der Mann sich fast ausschließlich dem Talmudstudium widmet und sich im wesentlichen von seiner Frau ernähren läßt […]“. (Guttmann, Juden und Wirtschaftsleben, S. 193). Studium der Tora ist Pflicht (vgl. 5. Mose 6, 6 ff. und Josua 1, 8). Eine Aufzeichnung der wichtigsten Gebote endet mit der Erklärung, daß das Studium der Tora das höchste Ziel sei (Mischna Peʼah 1, 1). Eine Frau erfüllt ihr höchstes religiöses Ideal, indem sie es ihrem Gatten ermöglicht, sich ganz dem Torastudium zu widmen. Orthodoxe Juden erwarteten von verheirateten Frauen, daß sie ihren Männern das Gesetzesstudium ermöglichten und zu diesem Zwecke berufliche oder geschäftliche Tätigkeiten ausübten.
Gegen eben diesen intellektualistischen, schriftgelehrtenhaften Zug des genuinen Spätjudentums lehnt sich Jesus auf. Nicht die in ihn hineininterpretierten „proletarischen“ Instinkte,
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sondern die Art der Gläubigkeit und das Niveau der Gesetzeserfüllung des Kleinstädters und Landhandwerkers, im Gegensatz zu den Virtuosen des Gesetzeswissens ist es, was in dieser Hinsicht seinen Gegensatz bildet gegen die auf dem Boden der Polis Jerusalem gewachsenen Schichten, die ganz wie jeder Großstadtbürger der Antike fragen: „Was kann von Nazareth Gutes kommen?“ Vgl. oben, S. 264, Anm. 8.
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Seine Art der Gesetzeserfüllung und Gesetzeskenntnis ist jener Durchschnitt, welchen der praktisch arbeitende Mann, der auch am Sabbat nicht sein Schaf im Brunnen liegen lassen kann, Johannes 1, 46: „Und Nathanael sprach zu ihm: Was kann von Nazareth Gutes kommen? Philippus spricht zu ihm: Komm, und sieh es.“
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wirklich leistet. Die für den eigentlich Frommen obligatorische jüdische Gesetzeskenntnis dagegen geht, schon in der Art der Jugenderziehung, nicht nur quantitativ, sondern qualitativ weit über die Bibelfestigkeit des Puritaners hinaus und ist nur allenfalls mit den Ritualgesetzen der Inder und Perser zu vergleichen, nur daß sie eben in weit größerem Umfang neben bloßen rituellen und Tabunormen [425]auch sittliche Gebote enthält. Das ökonomische Verhalten der Juden bewegte sich einfach in der Richtung des geringsten Widerstandes, den diese Normen ihnen ließen, und das hieß eben praktisch: daß der in allen Schichten und Nationen verbreitete, nur verschieden wirkende, „Erwerbstrieb“ auf den Handel mit Fremden, also „Feinden“, ausgerichtet wurde. Der fromme Jude schon der Zeit des Josias, erst recht der nachexilische Jude[,] ist ein Stadtmensch. Das ganze Gesetz ist darauf zugeschnitten. Weil ein Schächter Matthäus 12, 11: „Aber er sprach zu ihnen: Welcher ist unter euch, so er Ein Schaf hat. das ihm am Sabbbath in eine Grube fällt, der es nicht ergreife und aufhebe?“
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notwendig war, lebte der orthodoxe Jude nicht isoliert, sondern möglichst in Gemeinden (auch jetzt Spezifikum der Orthodoxie gegenüber den Reformjuden z. B. in Amerika). Das Sabbatjahr – in der jetzigen Fassung der Bestimmungen doch wohl sicher eine nachexilische Schöpfung städtischer Schriftgelehrter[425] Ein in den levitischen Speise- und Reinheitsvorschriften ausgebildeter Spezialist im rituellen Schlachten von Tieren. Aufgrund der jüdischen Speisegesetze war der Genuß von Blut verboten (1. Mose 9, 4). Im sog. „Heiligkeitsgesetz“ (3. Mose 17) sind die Vorschriften für das Schächten, das von Jahwe erlaubte Töten von Tieren, dargelegt.
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– machte, in seinem Geltungsbereich, die rationelle intensive Landwirtschaft unmöglich: noch jetzt haben die deutschen Rabbinen seine Anwendung auf die zionistische Palästinasiedelung, die daran gescheitert wäre, erzwingen wollen, Vgl. oben, S. 376, Anm. 9.
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und der Epoche der Pharisäer war ein „Landmann“ gleichbedeutend mit einem Juden zweiten Ranges, der das Gesetz nicht voll hält und halten kann. Vgl. oben, S. 223, Anm. 22.
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Die Teilnahme an den Gelagen einer Zunft, überhaupt jede Tischgemeinschaft mit den Nichtjuden, in der Antike wie im Mittelalter die unentbehrliche Grundlage jeder Einbürgerung in die Umwelt, verbot das Gesetz. Vgl. oben, S. 223, Anm. 21.
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Dagegen begünstigte (und begünstigt) die gemeinorientalische, ursprünglich auf dem Ausschluß der Töchter vom Erbe beruhende Sitte des „Brautschatzes“ „Du aber mein Sohn Jakob […] trenne Dich von den Völkern und iß nicht mit ihnen und handle nicht nach ihrem Tun und sei nicht ihr Genosse”. (Jubiläenbuch 22,16; vgl. auch Tobit 1, 10–11 und Daniel 1,8 ff.). „Man lädt einen Heiden nicht zu Tisch, denn wer es tut, verursacht seinen Kindern die Strafe des Exils“. (Sanhedrin 63b).
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die Tendenz, sich [426]gleichzeitig mit der Verheiratung als Kleinkrämer zu etablieren (das wirkt teilweise noch jetzt nach in Form des geringen „Klassenbewußtseins“ der jüdischen Handlungsgehilfen). [A 354]In allen anderen Hantierungen ist, wie der fromme Hindu, so der Jude auf Schritt und Tritt gehemmt durch Rücksichten auf das Gesetz. Wirkliches Gesetzesstudium konnte – das hat Guttmann Der Bräutigam zahlte dem Vater der Braut einen Preis, mohar (Mose 34, 12; 2. Mose 22, 16; 1. Samuel 18, 25). Umgekehrt konnte auch die Tochter mit einer Mitgift ausgestattet werden, wie jüdische Heiratsurkunden (ketubbā) erkennen lassen, was Weber mit „Brautschatz” bezeichnet.
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mit Recht hervorgehoben[426]A: Gollmann
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– am leichtesten mit dem relativ wenig stetige Arbeit erfordernden Geldleihgeschäft vereinigt werden. Die Wirkung des Gesetzes und der intellektualistischen Gesetzesschulung ist die „Lebensmethodik“ des Juden und sein „Rationalismus“. „Nie ändere der Mensch einen Brauch“ ist ein Talmudgrundsatz.[426] Julius Guttmann führte aus, daß der Hauptberuf eines orthodoxen Juden das zeitaufwendige Studium des göttlichen Gesetzes und der Schriften sein sollte. „Auf der anderen Seite hat man freilich im späteren deutschen Mittelalter gerade von dieser Auffassung aus einen Vorzug der Geldleihe darin erblickt, daß sie die Tätigkeit am wenigsten in Anspruch nehme“. (Guttmann, Juden und Wirtschaftsleben, S. 193).
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Einzig und allein auf Gebiet des ökonomischen Verkehrs mit Fremden hat die Tradition die Lücke des ethisch (relativ) Irrelevanten gelassen. Sonst nirgends. Die Tradition und ihre Kasuistik herrscht auf dem ganzen Gebiet des vor Gott Relevanten, nicht ein rational, voraussetzungslos, aus einem „Naturrecht“ heraus, selbstorientiertes methodisches Zweckhandeln. Die „rationalisierende“ Wirkung der Gesetzesangst ist eine überaus penetrante, aber gänzlich indirekte. „Wach“ und immer bei sich, stets beherrscht und gleichmäßig ist auch der Konfuzianer, der Puritaner, der buddhistische und jeder Mönch, der arabische Scheich, der römische Senator. Grund und Sinn der Selbstbeherrschtheit aber sind das Verschiedene. Die wache Beherrschtheit des Puritaners folgt aus der Notwendigkeit der Unterwerfung des Kreatürlichen unter die rationale Ordnung und Methodik im Interesse der eigenen Heilsgewißheit, die des Konfuzianers aus der Verachtung pöbelhafter Irrationalität seitens des zu Anstand und Würde erzogenen klassisch Gebildeten, die des alt[427]frommen Juden aus dem Grübeln über dem Gesetz, an dem sein Intellekt geschult ist, und der Notwendigkeit steter Aufmerksamkeit auf seine genaue Erfüllung. Dies aber gewann seine spezifische Färbung und Wirkung durch das Bewußtsein des frommen Juden daran: daß nur er und sein Volk dies Gesetz haben und um deswillen von aller Welt verfolgt und mit Schmutz beworfen sind, daß es gleichwohl verbindlich ist und daß eines Tages durch eine Tat, die über Nacht kommt, deren Zeitpunkt niemand wissen, zu dessen Beschleunigung auch niemand beitragen kann, Gott die Rangordnung der Erde umkehren wird in ein messianisches Reich für die, welche in allem dem Gesetz treu geblieben sind. Er wußte: daß nun schon ungezählte Geschlechter allem Spott zum Trotz so gewartet haben und warten und mit dem Gefühl einer gewissen „Überwachheit“, die daraus folgte, verband sich für ihn die Notwendigkeit, je länger voraussichtlich noch weiter vergeblich gewartet werden müßte, desto mehr das eigene Würdegefühl aus dem Gesetz und seiner peinlichen Befolgung, um seiner selbst willen, zu speisen. Endlich und nicht zuletzt die Notwendigkeit, stets auf der Hut zu sein und nie seiner Leidenschaft freien Lauf zu lassen gegen ebenso übermächtige wie erbarmungslose Feinde, verbunden mit der früher besprochenen „R[abbi] Tanchum ben Chanilai hat gesagt: Niemals ändere ein Mensch den Brauch (weiche von der herkömmlichen Sitte ab) […].“ (b. Talmud Baba Mezia 93, Fol 86b. Der Babylonische Talmud in seinen Haggadischen Bestandtheilen, übersetzt von August Wünsche, 2. Halbband, 2. Abtheilung. – Leipzig: Otto Schulze 1888, S. 103). Bereits in der „Protestantischen Ethik“ gab Max Weber das Zitat wie folgt wieder: „Niemals ändere der Mensch einen Brauch“. (Weber, Protestantische Ethik II, S. 91, Fn. 49).
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Wirkung des „Ressentiment“ als eines in Jahves Verheißungen und in den dadurch verschuldeten, in aller Geschichte unerhörten Schicksalen dieses Volks begründeten unvermeidlichen Einschlags. – Diese Umstände sind es, welche, im wesentlichen, den „Rationalismus“ des Judentums begründen. Nicht aber „Askese“. „Asketische“ Züge gibt es im Judentum, aber sie sind allerdings nicht ihrerseits das Zentrale, sondern nur teils Konsequenzen des Gesetzes, teils aus der eigentümlichen Problematik der jüdischen Frömmigkeit gekommen, jedenfalls aber ebenso sekundär wie alles, was es an eigentlicher Mystik besitzt. Über die letztere ist hier nicht zu reden, da weder ihre kabbalistische noch ihre chassidistische noch andere Formen typische Motive für das praktische Verhalten der Juden zur Wirtschaft abgegeben haben, so symptomatisch wichtig die beiden genannten religiösen Erzeugnisse sind. Die „asketische“ Abwendung von allem Künstlerischen hat, neben dem zweiten Gebot, welches in der Tat [428]das Umschlagen der s. Z. weit entwickelten Angelologie[427] Siehe oben, S. 257 ff.
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in künstlerische Formung hinderte, vor allem in dem reinen Lehr- und Gebotscharakter des typischen synagogalen Gottesdienstes (in der Diaspora schon lange vor der Zerstörung des Tempelkults) seinen Grund: schon die Prophetie hatte gerade die plastischen Elemente des Kults herabgesetzt, die orgiastischen und orchestrischen im Erfolg so gut wie gänzlich ausgemerzt. Das Römertum und der Puritanismus sind (aber aus sehr verschiedenen Motiven) darin [A 355]im Effekt ähnliche Wege gegangen. Plastik, Malerei, Drama entbehrten also der überall normalen religiösen Anknüpfungspunkte, und das starke Zurückebben alles (weltlich) Lyrischen und speziell der erotischen Sublimierung des Sexuellen gegenüber dem noch ganz derben sinnlichen Höhepunkt, welchen das Hohelied[428] Gestützt auf das alttestamentliche Bilderverbot (2. Mose 20, 4) war die Beschäftigung mit Engeln verpönt. Wilhelm Bousset definierte „Angelologie“ als „Engeldogmatik“ (Bousset, Religion des Judentums, S. 369) und skizzierte die Auseinandersetzungen mit der Engellehre im Judentum (ebd., S. 368–381).
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darstellt, hat in dem Naturalismus der ethischen Behandlung dieser Sphäre seinen Anlaß. Für alle diese Ausfälle im ganzen aber gilt: daß die stumme, glaubende und fragende Erwartung einer Erlösung aus der Hölle dieser Existenz eines doch von Gott erwählten Volks sich immer wieder nur auf das Gesetz und die alten Verheißungen hingewiesen fand und daß demgegenüber, auch wenn entsprechende Aussprüche der Rabbinen nicht überliefert wären, in der Tat alle unbefangene Hingabe an die künstlerische und poetische Verklärung einer Welt, deren Schöpfungszweck schon den Zeitgenossen des späteren Makkabäerreichs gelegentlich recht problematisch geworden war, als höchst eitel und von den Wegen und Zielen des Herrn abführend erscheinen mußte. Aber gerade was der „innerweltlichen Askese“ ihren entscheidenden Zug verleiht: die einheitliche Beziehung zur „Welt“ aus dem Gesichtspunkt der certitudo salutis als Zentrum, aus welchem alles gespeist wird, fehlt. Der Pariacharakter der Religiosität und die Verheißungen Jahves sind auch hier der letzte entscheidende Grund. Eine innerweltlich asketische Behandlung der Welt – dieser jetzt, infolge der Sünden Israels, so grundverkehrten, aber eben nur durch ein von Menschen nicht zu erzwingendes und nicht zu beschleunigen[429]des freies Wunder Gottes zurechtzurückenden Welt – als einer „Aufgabe“ und als des Schauplatzes eines religiösen „Berufs“, der diese Welt, gerade auch die Sünde in ihr, unter die rationalen Normen des geoffenbarten göttlichen Willens zwingen will, zu Gottes Ruhm und zum Wahrzeichen der eigenen Erwählung, – diese calvinistische Stellungnahme war natürlich das Allerletzte, was einem traditionell frommen Juden je hätte in den Sinn kommen können. Er hatte ein weit schwereres inneres Schicksal zu überwinden als der seiner „Erwählung“ für das Jenseits sichere Puritaner. Der Einzelne muß sich mit der Tatsache der Verheißungswidrigkeit der bestehenden Welt, solange Gott sie zuläßt, eben abfinden und sich genügen lassen, wenn Gott ihm Gnade und Erfolg schenkt im Verkehr mit den Feinden seines Volks, denen er, wenn er den Ansprüchen seiner Rabbinen genügen will, legal und nüchtern rechnend, ohne Liebe und ohne Haß, „sachlich“ gegenübertritt und sie so behandelt, wie es ihm Gott erlaubt hat. Unrichtig ist es, wenn gesagt wird: nur die Äußerlichkeit der Gesetzesbefolgung sei religiöses Erfordernis gewesen. Das ist der naturgemäße Durchschnitt. Aber das Postulat stand höher. Allerdings aber ist es die einzelne Handlung, welche als einzelne mit anderen einzelnen verglichen und aufgerechnet wird. Und wenn auch die Auffassung der Beziehung zu Gott als eines KontokorrentesVgl. oben, S. 206, Anm. 77.
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(sie findet sich übrigens gelegentlich auch bei Puritanern) der einzelnen guten und bösen Werke mit ungewissem Gesamtergebnis nicht die offiziell herrschende war, so ist allerdings die zentrale methodisch-asketische Orientiertheit der Lebensführung, wie sie den Puritanismus kennzeichnet, von den schon erwähnten[429] Dargestellt von Sombart, Juden und Wirtschaftsleben, S. 245–248. „In der Art und Weise, wie sich die jüdische Theologie dieses Kontokorrent mit Gott vorstellt, kommt nun aber noch eine Auffassung zum Vorschein, die mit einer anderen Grundidee des Kapitalismus: der Erwerbsidee, eine seltsame Verwandtschaft aufweist“ (ebd., S. 247).
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Gründen abgesehen, einmal infolge der doppelten Moral eine unvermeidlich ungleich schwächere als dort. Dann aber deshalb: weil hier in der Tat, wie im Katholizismus, das Tun des einzelnen Gesetzmäßigen ein Produzieren der eigenen Heilschancen ist, mag auch (hier wie dort) Gottes Gnade die menschliche Unzulänglichkeit – die übrigens (wie im Katholizismus) durchaus nicht universell anerkannt war – ergänzen müs[430]sen. Die kirchliche Anstaltsgnade war, seit dem Verfall der alten palästinensischen Beichte (theschuba)[,] Siehe oben, S. 414 ff. und S. 422 f.
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weit unentwickelter als im Katholizismus, und diese Selbstverantwortlichkeit und Mittlerlosigkeit gab der jüdischen Lebensführung in der Tat notwendig etwas wesentlich Eigenmethodischeres, Systematischeres als der durchschnittlichen katholischen. Aber das Fehlen der spezifisch puritanischen asketischen Motive und der im Prinzip ungebrochene Traditionalismus der jüdischen Binnenmoral setzte auch da der Methodisierung eine Grenze. Es sind also zahlreiche nach Art der Asketen wirkende Einzelmotive da, nur fehlt gerade das religionseinigende Band des asketischen Grund[A 356]motivs. Denn die höchste Form der Frömmigkeit des Juden liegt nach der Seite der „Stimmung“ und nicht des aktiven Handelns: wie sollte er sich in dieser grundverkehrten und – wie er seit der Zeit Hadrians weiß[430] Der Terminus tešubȧ (von hebr. šub, „hinwenden“, „zurückkehren“) bedeutet nicht „Beichte“, wie Weber übersetzt, sondern „Umkehr“, „Buße“.
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– nicht durch menschliche Tat zu ändernden, ihm feindlichen Welt jemals als Vollstrecker von Gottes Willen durch deren rationale Neuordnung fühlen? Das kann der jüdische Freigeist tun, nie der fromme Jude. Das Puritanertum hat denn auch stets die innere Verwandtschaft sowohl wie deren Grenze empfunden. Die Verwandtschaft ist bei aller Grundverschiedenheit in der Bedingtheit doch prinzipiell die gleiche wie schon beim Christentum der Anhänger des Paulus. Die Juden waren für die Puritaner wie für die Urchristen stets das einmal von Gott erwählt gewesene Volk. Die für das Urchristentum unerhört folgenreiche Tat des Paulus war aber: einerseits das jüdische heilige Buch zu einem – damals: dem einzigen – heiligen Buch der Christen zu machen und damit allen Einbrüchen des hellenischen (gnostischen) Intellektualismus eine ganz feste Grenze zu setzen (wie namentlich Wernle betont hat). Vgl. oben, S. 391, Anm. 42.
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Andererseits hie und da unter Mithilfe einer Dialektik, wie sie nur ein Rabbine besitzen konnte – gerade das Spezifische und im Judentum spezifisch Wirkende am „Gesetz“: die Tabunormen und die ganz spezifischen, in ihrer Wirkung so furchtbaren messianischen Verheißungen, welche die Kettung der ganzen religiösen Würde des Juden an die Pariastellung begründeten, als durch den geborenen [431]Christus teils abrogiert, teils erfüllt herauszubrechen, unter dem triumphierenden, höchst eindrucksvollen Hinweis: daß gerade die Erzväter Israels ja vor dem Erlaß jener Normen dem göttlichen Willen gemäß gelebt und dennoch, kraft ihres Glaubens, der das Unterpfand von Gottes Erwählung war, selig geworden seien. Wernle, Anfänge unserer Religion, bes. S. 348 ff.
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Der ungeheure Schwung, den das Bewußtsein, dem Parialose entronnen, den Hellenen ebenso ein Hellene wie den Juden ein Jude sein zu können und dies nicht auf dem Wege der glaubensfeindlichen Aufklärung, sondern innerhalb der Paradoxie des Glaubens selbst erreicht zu haben, – dieses leidenschaftliche Befreiungsgefühl ist die treibende Kraft der unvergleichlichen paulinischen Missionsarbeit. Er war tatsächlich frei geworden von den Verheißungen des Gottes, von dem sein Heiland sich am Kreuze verlassen fühlte.[431] Mit „Erzvätern Israels“ werden die Stammväter Israels bezeichnet, nämlich Abraham, Isaak und Jakob. Römer 4, 9–13 thematisiert die „Gerechtigkeit Abrahams“, der lediglich durch seinen Glauben an Jahwe selig wurde, nicht aber durch die Einhaltung des jüdischen Gesetzes, in diesem Fall die Beschneidung.
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Der hinlänglich bezeugte furchtbare Haß gerade der Diasporajudenschaft gegen diesen einen Mann, Schwanken und Verlegenheit der christlichen Urgemeinde, der Versuch des Jakobus und der „Säulenapostel“, Matthäus 27, 46: „Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut und sprach: Eli, Eli, lama asabthani? das ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
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im Anschluß an die Laiengesetzlichkeit von Jesus selbst ein „ethisches Minimum“ Die Bezeichnung „Säulenapostel“ stammt aus dem Galaterbrief des Paulus und bezieht sich auf die Apostel Jakobus, Petrus und Johannes, „die für Säulen [des christlichen Glaubens]“ angesehen waren (Galater 2, 9). Auf dem sog. „Apostelkonzil von Jerusalem“ 48/49 n. Chr. (Apostelgeschichte 15), auf dem die Frage diskutiert wurde, ob die Beschneidungspflicht als Zeichen der Zugehörigkeit zum auserwählten Volk auch für die Heidenchristen gelten müsse, wurde beschlossen, daß für die Heidenchristen vier ethische Verpflichtungen gelten sollten: „daß sie sich enthalten von Unsauberkeit der Abgötter und von Hurerei und vom Erstickten und vom Blut“ (15, 20).
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von Gesetzesgeltung als allgemeinverbindlich zu konstruieren, schließlich die offene Feindschaft der Judenchristen, waren die Begleiterschei[432]nung einer solchen Sprengung gerade der entscheidenden, die Pariastellung des Judentums festlegenden Ketten. Den menschenbezwingenden Jubel des aus dem hoffnungslosen „Sklavengesetz“ mit dem Blut des Messias in die Freiheit Erkauften Der Ausdruck stammt von dem Staats- und Völkerrechtler Georg Jellinek (1851–1911). Jellinek definierte das Recht als „ethisches Minimum“: „Das Recht ist nichts anderes, als das ethische Minimum. Objektiv sind es die Erhaltungsbedingungen der Gesellschaft, soweit sie vom menschlichen Willen abhängig sind, also das Existenzminimum ethischer Normen, subjektiv ist es das Minimum sittlicher Lebensbetätigung und Gesinnung, welches von den Gesellschaftsgliedern gefordert wird“. (Jellinek, Georg, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 2., durchgesehene Aufl. – Berlin: O. Häring 1908, S. 45).
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fühlen wir aus jeder Zeile, die Paulus schrieb. Die Möglichkeit christlicher Weltmission aber war die Folge. Ganz ebenso übernahmen die Puritaner gerade nicht das talmudische und auch nicht das alttestamentliche spezifisch jüdische rituelle Gesetz, sondern die sonstigen im Alten Testament bezeugten – schwankend, in welchem Umfang noch maßgebenden – Willensäußerungen Gottes, oft bis in Einzelheiten, und fügten sie zusammen mit den neutestamentlichen Normen. Nicht die frommen, orthodoxen Juden, wohl aber die der Orthodoxie entronnenen Reformjuden, noch jetzt z. B. Zöglinge der Educational Alliance,[432] Laut Adolf Deissmann hat Paulus sich bei seinem Bild der Befreiung durch Christus aus der Sklaverei der Sünde an der Praxis antiker sakraler Sklavenbefreiung orientiert, vgl. oben, S. 244, Anm. 68.
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und vollends die getauften Juden werden in der Tat gerade von den puritanischen Völkern, speziell den Amerikanern, früher ohne weiteres und trotz allem auch noch jetzt relativ leicht bis zur absoluten Spurlosigkeit des Unterschieds resorbiert, während sie etwa in Deutschland durch lange Generationen eben „Assimilationsjuden“ bleiben. Auch darin manifestiert sich die tatsächliche „Verwandtschaft“ des Puritanismus mit dem Judentum. Aber gerade das Unjüdische am Puritanismus ist es, was diesen zu seiner Rolle in der Entwicklung der Wirtschaftsgesinnung ebenso befähigt hat, wie zu diesen Resorptionen von jüdischen Proselyten, welche religiös anders orientierten Völkern nicht gelungen ist. In seiner „Protestantischen Ethik“ berichtete Weber von einer persönlichen Begegnung mit einem der Leiter der „Educational Alliance“ in den USA, „einer Organisation, welche mit erstaunlichem Erfolg und großartigen Mitteln die ‚Amerikanisierung‘ der jüdischen Immigranten betreibt“. (Weber, Protestantische Ethik II, S. 91, Fn. 49).
[A 357]Wieder in einem gänzlich anderen Sinne „weltangepaßt“ ist der durch alttestamentliche und judenchristliche Motive stark mitbedingte Spätling des vorderasiatischen Monotheismus: der Islam. Die in seiner ersten mekkanischen Periode noch in einem weltabgewendeten städtischen Pietistenkonventikel auftretende eschatologische Religiosität Muhammeds schlug schon in Medina und dann in der Entwicklung der frühislamitischen Gemeinschaft in [433]eine national-arabische und dann vor allem: ständisch orientierte Kriegerreligion um. Diejenigen Bekenner, deren Übertritt den entscheidenden Erfolg des Propheten darstellte, waren durchweg Anhänger mächtiger Geschlechter. Das religiöse Gebot des heiligen Krieges galt nicht in erster Linie Bekehrungszwecken, vielmehr: „bis sie (die Anhänger fremder Buchreligionen) in Demut den Zins (dschizja) zahlen“,
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bis also der Islam der an sozialem Prestige in dieser Welt Erste gegenüber Tributpflichtigen anderer Religionen sein wird. Nicht nur dies alles in Verbindung mit der Bedeutung der Kriegsbeute in den Ordnungen, Verheißungen und, vor allem, Erwartungen gerade des ältesten Islam, stempelte ihn zur Herrenreligion, sondern auch die letzten Elemente seiner Wirtschaftsethik sind rein feudal. Gerade die Frömmsten schon der ersten Generation waren die Reichsten oder richtiger: die durch Kriegsbeute (im weitesten Sinn) am meisten Bereicherten von allen Genossen. Die Rolle aber, die dieser durch Kriegsbeute und politische Bereicherung geschaffene Besitz und der Reichtum überhaupt im Islam spielt, ist höchst entgegengesetzt der puritanischen Stellungnahme. Die Tradition schildert mit Wohlgefallen den Kleiderluxus, die Parfüms und die sorgsame Bartcoiffüre der Frommen,[433] Juden und Christen besaßen aufgrund der Zahlung einer Abgabe (ğizya) den Status von Schutzbefohlenen. An ihrer Bekehrung zum Islam waren die Araber anfänglich nicht interessiert. In Koran, Sure 9, 29 heißt es von ihnen: „Bekämpfet diejenigen der Schriftbesitzer, welche nicht glauben an Gott und den jüngsten Tag, und die das nicht verbieten, was Gott und sein Gesandter verboten, und sich nicht zur wahren Religion bekennen; so lange, bis sie ihren Tribut entrichten und gänzlich unterworfen sind“.
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und es ist das äußerste Gegenteil aller puritanischen Wirtschaftsethik, entspricht dagegen feudalen Standesbegriffen, wenn die Überlieferung Muhammed begüterten Leuten, die vor [434]ihm im dürftigen Aufzug erscheinen, sagen läßt: daß Gott, wenn er einen Menschen mit Wohlstand segne, es liebe, daß „dessen Spuren auch an ihm sichtbar seien“, Ignaz Goldziher: „Es ist bezeichnend, daß diese Biographien [das Klassenbuch des Ibn Saʿd und dessen biographische Materialien] in der Regel weitläufige Traditionsmitteilungen darüber bieten, wie sich diese heiligen Personen zu parfümieren pflegten, wie sie ihren Bart und ihre Haare färbten, wie sie sich in ihrer Kleidung zierten und schmückten“. (Goldziher, Vorlesungen über den Islam, wie oben, S. 172, Anm. 5, S. 147). Außerdem bemerkte Goldziher: „Es geschieht nicht ohne Tendenz, daß z. B. in den Nachrichten über Abū Bekr bei Ibn Saʿd volle drei Seiten […] ausschließlich der Dokumentierung der herzlich gleichgültigen Tatsache gewidmet sind, daß der fromme Chalife seinen Bart mit kosmetischen Mitteln zu behandeln pflegte. […] Der tendenziöse Charakter solcher Mitteilungen wird ersichtlich, wenn wir […] erfahren, daß ,Leute von den verrückten Koranrezitierern (d. h. Frömmlern) meinen, daß das Färben des Bartes verboten sei‘. Traditionen ersterer Art sollen demnach in großer Häufung als überwältigende Argumente gegen jene Betbrüder dienen“ (ebd., S. 188, Anm. 20).
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in unserer Sprache etwa: daß ein Reicher auch „standesgemäß zu leben“ verpflichtet sei. Die strikte Ablehnung zwar nicht aller und jeder Askese (vor Fastern, Betern, Büßern bekundet Muhammed seinen Respekt),[434] Ignaz Goldziher: „Wenn Gott einen Menschen mit Wohlstand begünstigt, so liebt er es, daß dessen Spuren an ihm sichtbar seien. Mit dieser Lehre tadelt der Prophet begüterte Leute, die in armseligem Aufzuge vor ihm erscheinen“. (Goldziher, Vorlesungen über den Islam, wie oben, S. 172, Anm. 5, S. 148).
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wohl aber jedes Mönchtums (rahbanija) Ignaz Goldziher: „Er selbst [Mohammed] hatte, bei aller Berücksichtigung der weltlichen Erfordernisse und bei aller Nachsicht, die er für sich selbst beanspruchte, wie dies aus manchen Stellen des Korans ersichtlich ist, die höchste Achtung vor wirklichen Asketen, Büßern, Betbrüdern, Fastern – mit einer Ausnahme vielleicht: dem ehelosen Leben“. (Ebd., S. 146).
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im Koran mag, soweit dabei die Keuschheit in Betracht kommt, bei Muhammed persönlich ähnliche Gründe gehabt haben wie in den bekannten Aussprüchen, in denen Luthers derb-sinnliche Natur hervortritt; also in der auch dem Talmud eigenen Überzeugung, daß, wer mit einem bestimmten Alter nicht verheiratet sei, ein Sünder sein müsse. Vgl. oben, S. 358, Anm. 70.
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Aber wenn ein Prophetenspruch den Charakter dessen anzweifelt, der 40 Tage kein Fleisch genießt, Vgl. oben, S. 415, Anm. 85.
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oder wenn einer anerkannten, teilweise als Mahdi gefeierten Säule des alten Islam auf die Frage, warum er, im Gegensatz zu seinem Vater Ali, Haarkosmetika brauche, die Antwort: „um bei den Frauen Erfolg zu haben“ Bei Ignaz Goldziher lautet ein Ausspruch des Mohammed: „Wer vierzig Tage kein Fleisch genießt, dessen Charakter wird schlecht“. (Goldziher, Vorlesungen über den Islam, wie oben, S. 172, Anm. 5, S. 152).
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in [435]den Mund gelegt wird – so stände Derartiges wohl einzig in der Hagiologie Muḥammed b. al-Ḥanafīya (637–700/701) war der Sohn einer Frau aus dem Stamm der Banū Ḥanīfa, die nach der Schlacht von Akraba als Gefangene nach Medina ins Haus Alis gekommen war. Ignaz Goldziher führte folgendes aus: „Da ist die Gestalt des Muhammed b. al-Ḥanafijja, des Sohnes des ʿAlī, den eine Menge religiöser Eiferer als den Mahdī, den von Gott erkorenen Erlöser des Islams feierte, als den Träger der theokratischen Idee unter den als gottlos und usurpatorisch verschrieenen ersten Omajjaden. […] Nun lesen wir folgendes Detail aus den biographischen Traditionen über diese heilige Person. Abū Idrīs berichtet: Ich sah, daß Muhammed ibn al-Ḥanafijja sich verschiedener Färbemittel bediente. Er gestand mir, daß sein Vater ʿAlī solche Kosmetika nicht zu gebrauchen pflegte. Warum tust du es denn? … ,Um den Frauen mit Erfolg den Hof zu machen‘, war die Antwort“. (Ebd., S. 148 f.).
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einer ethischen „Erlösungsreligion“ da. Allein eine solche ist der Islam in dieser Ausprägung eben überhaupt nicht. Der Begriff „Erlösung“ im ethischen Sinn des Worts ist ihm direkt fremd. Sein Gott ist ein unbegrenzt machtvoller, aber auch ein gnädiger Herr, und seinen Geboten zu entsprechen geht durchaus nicht über Menschenkraft. Die Beseitigung der Privatfehde im Interesse der Stoßkraft nach außen, die Regulierung des legitimen Geschlechtsverkehrs im streng patriarchalen Sinn und die Verpönung aller illegitimen Formen (infolge des Fortbestandes des Konkubinats mit Sklavinnen und der Leichtigkeit der Scheidung faktisch eine ausgeprägte sexuelle Privilegierung der Begüterten), die Verpönung des „Wuchers“ sowie die Abgaben für den Krieg und die Unterstützung Verarmter waren Maßregeln wesentlich politischen Charakters. Zu ihnen traten als spezifische Unterscheidungspflichten im wesentlichen: das bloße Bekenntnis zum einen Gott und seinem Propheten als einzige dogmatische Anforderung, die einmalige Pilgerschaft nach Mekka, das Fasten unter Tags im Fastenmonat,[435] Gleichbedeutend mit „Hagiographie“, Erforschung und Darstellung des Lebens von Heiligen.
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die einmal wöchentliche Gottesdienstpräsenz und die täglichen Gebete; ferner für das Alltagsleben: Bekleidung (eine ökonomisch wichtige Vorschrift noch jetzt bei Bekeh[A 358]rungen wilder Völkerschaften), die Meidung gewisser unreiner Speisen, des Weins und des Hasardspiels (was ebenfalls, für die Haltung zu Spekulationsgeschäften, wichtig wurde). Individuelle Heilssuche und Mystik ist dem alten Islam fremd. Reichtum, Macht, Ehre sind die altislamitischen Verheißungen für das Diesseits: Soldatenverheißungen also, und ein sinnliches Soldatenparadies sein Jenseits. Ähnlich feudal orientiert erscheint der ursprünglich genuine „Sünden“-Begriff. Die „Sündlosigkeit“ des starken sinnlichen Leidenschaften und Zornausbrüchen aus kleinem Anlaß unterworfenen Propheten ist späte theologische Konstruktion, ihm selbst im Koran ganz fremd, Im Islam der Monat Ramadan, der neunte Monat des islamischen Mondjahres.
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ebenso aber auch seit seiner Übersiedelung nach [436]Medina Ignaz Goldziher: „Aus seiner [Mohammeds] Lebensführung seien sowohl in der Zeit vor, als auch nach seiner Berufung sowohl große als kleine Sünden ausgeschlossen. Ganz gewiß gegen die Absicht der ältesten Islambekenner, die dem Propheten Bekenntnisse der Sündhaftigkeit und des Bußbedürfnisses in den Mund geben: ‚Kehret zu Gott [436]zurück (tuet Buße), denn auch ich kehre hundertmal im Tage zurück‘“. (Goldziher, Vorlesungen über den Islam, wie oben, S. 172, Anm. 5, S. 221. Als Quelle gibt Goldziher Ibn Sa‘d VI 32, 5 an). Ibn Sa‘d (gest. 845) war der Verfasser des kitāb al-ṭabaqāt, des „Klassenbuches“, das die Geschichte des Propheten, seiner Genossen und Nachfolger bis zu seinen Lebzeiten erzählt.
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jede Art einer „Tragik“ des Sündengefühls, und dieser letztere Zug ist dem orthodoxen Islam geblieben: „Sünde“ ist ihm teils rituelle Unreinheit, teils Religionsfrevel (wie die schirk: Unter dem zweiten Kalifen Omar wurde der Auszug Mohammeds aus Mekka in die Stadt Jathrib-Medina (die sog. „Hiğra“) auf den 16. Juli 622 festgesetzt. Mit diesem Ereignis beginnt die islamische Zeitrechnung.
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die Vielgötterei), teils Ungehorsam gegen die positiven Gebote des Propheten, teils ständische Würdelosigkeit durch Verletzung der Sitte und Schicklichkeit. Die Selbstverständlichkeit der Sklaverei und der Hörigkeit, die Polygamie und die Art der Frauenverachtung und -domestikation, der vorwiegend ritualistische Charakter der religiösen Pflichten, verbunden mit großer Einfachheit der hierher gehörigen Ansprüche und noch größerer Bescheidenheit in den ethischen Anforderungen sind ebenso deutliche Der Ausdruck „širk“ ist der islamische Begriff für Abgötterei, für jegliche Art der Gottesverehrung, die nicht ausschließlich Allah dient. Ignaz Goldziher erläuterte: „Im Sinne des koranischen Monotheismus ist schirk ,Zugesellung‘ die größte Sünde, für die Gott keine Vergebung hat (31 v. 12, 4 v. 116). Die Entwicklung dieses frühesten dogmatischen Begriffes […] hat nun nicht nur die äußere Trübung des Glaubens an die Gotteseinheit als schirk gebrandmarkt, sondern auch jede Art der Gottesverehrung, die nicht Selbstzweck ist. […] Heuchlerische Religionsübung, die geschieht, um den Beifall oder die Bewunderung der Menschen zu gewinnen, gehört zum schirk […]. Auch Hochmütigkeit ist eine Art des schirk“. (Goldziher, Vorlesungen über den Islam, wie oben, S. 172, Anm. 5, S. 46).
a
Merkmale spezifisch ständischen feudalen Geistes. Die große Spannweite, welche der Islam durch Entstehung der theologisch-juristischen Kasuistik und der teils aufklärerischen, teils pietistischen Philosophenschulen einerseits, durch das Eindringen des persischen, von Indien herkommenden Sufismus und die Bildung der noch bis heute sehr stark von Indern beeinflußten Derwischorden[436]A: viele
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andererseits gewann, hat ihn dem Judentum und Christentum in den entscheidenden Punkten nicht näher gebracht. Diese waren ganz spezifisch bürgerlich-städtische Religiositäten, während für den Islam die Stadt nur politische Bedeutung hatte. Die Art des offiziellen Kultus sowohl wie die sexuellen und rituellen Gebote können [437]in der Richtung einer gewissen Nüchternheit der Lebensführung wirken. Das Kleinbürgertum ist in sehr starkem Maß Träger der fast universell verbreiteten Derwischreligiosität, welche, stets zunehmend an Macht, die offizielle Kirchenreligiosität überragte. Aber diese teils orgiastische, teils mystische, stets aber außeralltägliche und irrationale Religiosität und ebenso die durch ihre große Einfachheit propagandistisch wirksame offizielle, durchaus traditionalistische Alltagsethik weisen die Lebensführung in Bahnen, welche im Effekt gerade entgegengesetzt der puritanischen und jeder innerweltlich-asketischen Lebensmethodik verlaufen. Gegenüber dem Judentum fehlt die Anforderung einer umfassenden Gesetzeskenntnis und jene kasuistische Denkschulung, welche dessen „Rationalismus“ speist. Der Krieger, nicht der Literat, ist das Ideal der Religiosität. Und es fehlen auch alle jene Verheißungen eines messianischen Reichs auf Erden in Verbindung mit der peinlichen Gesetzestreue, welche im Zusammenhang mit der priesterlichen Lehre von der Geschichte, Erwählung, Sünde und Verbannung Israels, den Pariacharakter der jüdischen Religiosität und alles, was aus ihm folgte[,] begründeten. Asketische Sekten hat es gegeben. Ein gewisser Zug zur „Einfachheit“ war breiten Kreisen der altislamischen Kriegerschaft eigen und ließ sie von Anfang an in Gegensatz gegen die Ommajadenherrschaft treten. Ihre heitere Weltfreude galt als Verfall gegenüber der straffen Zucht in den Lagerfestungen, in denen Omar die islamische Kriegerschaft im Eroberungsgebiet konzentriert hatte, Vgl. oben, S. 315, Anm. 88.
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und an deren Stelle nun die Entstehung einer Feudalaristokratie trat. Aber es ist eben Askese des Kriegslagers oder eines kriegerischen Ritterordens, nicht mönchische und erst recht nicht bürgerliche asketische Systematik der Lebensführung – immer nur periodisch wirklich herrschend und stets zum Umschlagen in Fatalismus disponiert. Über die durchaus andere Wirkung, welche unter solchen Verhältnissen der Vorsehungsglaube entfalten mußte, wurde schon gesprochen.[437] Omar, der zweite Kalif des Islam, gründete Militärlager, aus denen einige der Metropolen des Islam hervorgingen. Die nachfolgenden „weltfreudigen“ Omayyaden bildeten die Dynastie der Kalifen von 661 bis 750. Von dem Omayyadenkalifen al-Walīd II. (Al-Walīd b. ʿAbd al-Malīk, 705–715) wird berichtet, daß er bei seinen prunkvollen Bautätigkeiten kostbare Materialien wie Marmor und Gold bevorzugte, dem Alkohol gern und oft zusprach und Frauen sehr schätzte.
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[438]Das Eindringen des Heiligenkults und schließlich der Magie hat vollends von jeder eigentlichen Lebensmethodik abgeführt. Siehe oben, S. 227 f. und S. 393 f.
[A 359]Diesen im Effekt spezifisch ökonomisch-innerweltlichen religiösen Ethiken steht als extremste Ethik der Weltablehnung gegenüber die mystische Erleuchtungskonzentration des genuinen alten Buddhismus, nicht natürlich die völlig umgestalteten Abwandlungen, die er in der tibetanischen, chinesischen, japanischen Volksreligiosität erfuhr. Auch diese Ethik ist „rational“ im Sinn einer stetigen wachen Beherrschung aller natürlichen Triebhaftigkeit, aber mit gänzlich anderem Ziel. Nicht Erlösung von Sünde und Leid allein, sondern von der Vergänglichkeit an sich, von dem „Rade“ der Karmankausalität in die ewige Ruhe wird gesucht. Diese ist und kann nur sein das eigenste Werk des einzelnen Menschen. Es gibt keine Prädestination, aber auch keine göttliche Gnade, kein Gebet und keinen Gottesdienst. Die Karmankausalität des kosmischen Vergeltungsmechanismus setzt automatisch Prämien und Strafen auf jede einzelne gute und böse Tat, immer proportional, daher immer zeitlich begrenzt, und immer wieder, solange der Lebensdurst zum Handeln treibt, muß der Einzelne aus tierischem, himmlischem oder höllischem Dasein in immer neuem menschlichen Leben die Früchte seines Handelns auskosten und sich neue Zukunftschancen schaffen. Der edelste Enthusiasmus wie die schmutzigste Sinnlichkeit führen beide gleichmäßig immer wieder hinein in diese Verkettung der Individuation (für die buddhistische Metaphysik, die keine Seele kennt, sehr mit Unrecht „Seelenwanderung“ genannt), solange nicht der „Durst“ nach Leben, diesseitigem wie jenseitigem, der ohnmächtige Kampf um die eigene individuelle Existenz mit all ihren Illusionen, vor allem derjenigen einer einheitlichen Seele und „Persönlichkeit“, absolut ausgerottet ist. Jedes rationale Zweckhandeln als solches – außer der inneren Tätigkeit konzentrierter, die Seele vom Weltdurst entleerender Kontemplation – und jede Verbindung mit welchen Interessen der Welt auch immer führt vom Heil ab. Dies Heil zu erreichen, ist aber nur wenigen selbst von denjenigen beschieden, welche sich entschließen, besitzlos, keusch, arbeitslos (denn Arbeit ist Zweckhandeln), also vom Bettel lebend und außer in der großen Regenzeit ewig unstet
b
wandernd, losgelöst von allen persönlichen Ban[439]den an Familie und Welt, in Erfüllung der Vorschriften des richtigen Weges (Dharma) das Ziel der mystischen Erleuchtung zu erstreben. Ist es erreicht, so gibt es durch die hohe Freude und das zarte objektlose Liebesgefühl, welches ihr eignet, die höchste diesseitige Seligkeit bis zum Eingehen in den ewigen traumlosen Schlaf des Nirwana, den einzigen, keinem Wechsel unterworfenen Zustand. Alle anderen mögen durch Annäherung an die Vorschriften der Regel und Enthaltung von groben Sünden die Chancen desjenigen künftigen Lebens verbessern, welches nach der Karmankausalität vermöge des nicht ausgeglichenen ethischen Kontos und des sozusagen nicht „abreagierten“ Lebensdurstes durch neue Individuation unvermeidlich irgendwo zusammenschießt, wenn ihr eigenes erlischt, das wahrhafte ewige Heil aber bleibt ihnen unvermeidlich verschlossen. – Keinerlei Weg führt von dieser einzigen wirklich konsequent weltflüchtigen Position zu irgendeiner Wirtschafts- oder rationalen Sozialethik. Die universelle, auf alle Kreatur sich erstreckende „Mitleidsstimmung“, rational die Konsequenz der durch die gemeinschaftliche Karmankausalität hergestellten Solidarität aller lebenden und daher vergänglichen Wesen und psychologisch der Ausfluß des mystischen, euphorischen, universellen und akosmistischen Liebesempfindens, trägt keinerlei rationales Handeln, sondern führt von ihm direkt ab. [438]A: unstät
Der Buddhismus gehört in den Kreis jener Erlösungslehren, wie sie der Intellektualismus vornehmer indischer Laienbildungsschichten in größerer Zahl vorher und nachher geschaffen hat, und ist nur deren konsequenteste Form. Seine kühle und stolze, den Einzelnen auf sich selbst stellende Befreiung vom Dasein als solchen konnte nie ein Massenerlösungsglaube werden. Seine Wirkung über den Kreis der Gebildeten hinaus knüpfte an das gewaltige Prestige an, welches der „Sramana“ (Asket) von jeher dort genoß und welches vorwiegend magisch-anthropolatrische Züge trug. Sobald er selbst eine missionierende „Volksreligiosität“ wurde, verwandelte er sich demgemäß in eine Heilandsreligion auf der Basis der Karman[A 360]vergeltung mit Jenseitshoffnungen, welche durch Andachtstechniken, Kultus- und Sakramentsgnade und Werke der Barmherzigkeit garantiert werden und zeigt naturgemäß die Neigung, rein magische Vorstellungen zu rezipieren. In Indien selbst erlag er in den Oberschichten der Renaissance der auf vedischem Boden stehenden Erlösungsphilosophie, bei den Massen [440]der Konkurrenz der hinduistischen Heilandsreligionen, namentlich der verschiedenen Formen des Vischnuismus, der tantristischen Zauberei und der orgiastischen Mysterienreligiosität, vor allem der Bhakti-(Gottesliebe-)Frömmigkeit. Im Lamaismus wurde der Buddhismus eine reine Mönchsreligiosität, deren religiöse Macht über die theokratisch beherrschten Laien durchaus magischen Charakters ist. In seinem ostasiatischen Verbreitungsgebiet ist er in sehr starker Umwandlung seines genuinen Charakters, konkurrierend und in mannigfachen Kreuzungen kombiniert mit dem chinesischen Taoismus, die spezifische, über das diesseitige Leben und den Ahnenkult hinausweisende, Gnade und Erlösung darbietende Volksreligiosität geworden. Aber weder die buddhistische noch die taoistische noch die hinduistische Frömmigkeit enthalten Antriebe zur rationalen Lebensmethodik. Die letztere insbesondere ist, wie schon früher ausgeführt,
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nach ihren Voraussetzungen die stärkste traditionalistische Macht, welche es überhaupt geben kann, weil sie die konsequenteste religiöse Begründung der „organischen“ Gesellschaftsauffassung und die schlechthin bedingungslose Rechtfertigung der gegebenen, aus Schuld und Verdienst in einem früheren Dasein der Beteiligten, kraft mechanisch proportionaler Vergeltung folgenden Verteilung von Macht und Glück ist. Alle diese asiatischen volkstümlichen Religiositäten gaben dem „Erwerbstrieb“ des Krämers ebenso wie dem „Nahrungs“-Interesse des Handwerkers und dem Traditionalismus des Bauern Raum und ließen daneben die philosophische Spekulation und ständisch konventionelle Lebensorientierung der privilegierten Schichten ihre eigenen Wege gehen, welche in Japan feudale, in China patrimonial-bürokratische und daher stark utilitarische, in Indien teils ritterliche, teils patrimoniale, teils intellektualistische Züge behielten. Keine von ihnen konnte irgendwelche Motive und Anweisungen zu einer rationalen ethischen Formung einer kreatürlichen „Welt“ gemäß einem göttlichen Gebot enthalten. Denn für alle war diese Welt vielmehr etwas fest Gegebenes, die beste aller möglichen Welten,[440] Siehe oben, S. 173 f.
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und für den höchsten Typus des Frommen: den [441]Weisen, Stand nur die Wahl frei: entweder sich dem „Tao“, dem Ausdruck der unpersönlichen Ordnung dieser Welt, als dem einzigen spezifisch Göttlichen, anzupassen, oder gerade umgekehrt aus ihrer unerbittlichen Kausalverkettung sich selbst durch eigene Tat in das einzig Ewige: den traumlosen Schlaf des Nirwana, zu erlösen. Dahinter steht die Auffassung des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) zur Theodizeefrage. Leibniz geht davon aus, daß die Welt, die der gütige Schöpfergott geschaffen habe, die „beste aller möglichen Welten“ sei. Das Leid in ihr, das Gott [441]zwar nicht gewollt, aber dennoch zugelassen habe, habe seinen Sinn, wenn man die Weit als Harmonie des Ganzen betrachte.
„Kapitalismus“ hat es auf dem Boden all dieser Religiositäten gegeben. Eben solchen, wie es ihn
c
in der okzidentalen Antike und in unserem Mittelalter auch gab. Aber keine Entwicklung, auch keine Ansätze einer solchen, zum modernen Kapitalismus und vor allem: keinen „kapitalistischen Geist“[441] Fehlt in A; ihn sinngemäß ergänzt.
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in dem Sinn, wie er dem asketischen Protestantismus eignete. Es hieße den Tatsachen in das Gesicht schlagen, wollte man dem indischen oder chinesischen oder islamischen Kaufmann, Krämer, Handwerker, Kuli einen geringeren „Erwerbstrieb“ zuschreiben als etwa dem protestantischen. So ziemlich das gerade Gegenteil ist wahr: gerade die rationale ethische Bändigung der „Gewinnsucht“ ist das dem Puritanismus Spezifische. Und jede Spur eines Beweises dafür fehlt: daß geringere natürliche „Begabung“ für technischen und ökonomischen „Rationalismus“ den Grund des Unterschieds abgeben. Alle diese Völker lassen sich heut eben dies „Gut“ als wichtigstes Erzeugnis des Okzidents importieren, und die Hemmungen dabei liegen nicht auf dem Gebiet des Könnens oder Wollens, sondern der gegebenen festen Traditionen, ebenso wie bei uns im Mittelalter. Soweit dabei nicht die später zu erörternden Weber spielt hier auf seine Studie „Die protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus“ an. (Weber, Protestantische Ethik I und II).
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rein politischen Bedingungen (die inneren Strukturformen der „Herrschaft“) mitspielen, ist der Grund vornehmlich in der Religiosität zu suchen. Nur der asketische Protestantismus machte der Magie, der Außerweltlichkeit der Heilssuche und der in[A 361]tellektualistischen kontemplativen „Erleuchtung“ als deren höchster Form wirklich den Garaus, nur er schuf die religiösen Motive, gerade in der Bemühung im innerweltlichen „Beruf“ – und zwar im Gegensatz zu der streng [442]traditionalistischen Berufskonzeption des Hinduismus: in methodisch rationalisierter Berufserfüllung – das Heil zu suchen. Für die asiatische volkstümliche Religiosität jeder Art blieb dagegen die Welt ein großer Zaubergarten, Siehe WuG1, S. 741–752 (MWG I/22-4).
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die Verehrung oder Bannung der „Geister“ oder ritualistische, idolatrische, sakramentale Heilssuche der Weg, sich in ihr, für das Diesseits und Jenseits, praktisch zu orientieren und zu sichern. Und so wenig wie von der Weltanpassung des Konfuzianismus oder der Weltablehnung des Buddhismus oder der Weltwaltung[442] Den Ausdruck „Zaubergarten“ verwendete Weber auch im Zusammenhang mit dem Mahayana-Buddhismus, der „das absolute Höchstmaß von Mechanisierung des Kults erreicht und mit der Verwandlung der ganzen Welt in einen ungeheuren magischen Zaubergarten verbunden hat“. (MWG I/20, S. 406). In MWG I/19, S. 451, gebrauchte Weber den Ausdruck in Zusammenhang mit dem Konfuzianismus: „Die Erhaltung dieses Zaubergartens aber gehörte zu den intimsten Tendenzen der konfuzianischen Ethik“.
d
des Islam oder den Pariahoffnungen und dem ökonomischen Pariarecht des Judentums führte von jener magischen Religiosität der asiatischen Nichtintellektuellen ein Weg zur rationalen Lebensmethodik. [442] Gemeint ist: das Walten in der Welt
Magie und Dämonenglauben stehen nun auch an der Wiege der zweiten großen, in einem spezifischen Sinn „weltablehnenden“ Religion: des alten Christentums. Sein Heiland ist vor allen Dingen ein Magier, das magische Charisma eine nie fortzudenkende
e
Stütze seines spezifischen Selbstgefühls. Aber dessen Eigenart ist nun im besonderen bedingtA: fortzudatierende
f
durch die in aller Welt einzigartigen Verheißungen des Judentums – das Auftreten Jesu fällt in eine Epoche intensivster messianischer Hoffnungen – einerseits und durch den intellektualistischen Schriftgelehrsamkeitscharakter der jüdischen Frömmigkeit höchster Ordnung. Das christliche Evangelium entstand demgegenüber als eine Verkündigung eines Nichtintellektuellen nur an Nichtintellektuelle, an die „geistlich Armen“. Das „Gesetz“, von dem Jesus keinen Buchstaben fortnehmen wollte,In A folgt: einmal
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handhabte und verstand er so, wie die Unvornehmen und Ungelehrten, die ländlichen und kleinstädtischen Frommen es meist verstanden und den Bedürfnissen ihres Berufs anpaßten, im Gegensatz zu den hellenisierten Vornehmen und Reichen und zu dem [443]kasuistischen Virtuosentum der Schriftgelehrten und Pharisäer: meist, so namentlich in den rituellen Vorschriften, speziell in der Sabbatheiligung, milde, in einigen Hinsichten, so in den Ehescheidungsgrundsätzen, strenger. Und es scheint, daß hier der paulinischen Auffassung insofern präludiert ist, wenn die Anforderungen des mosaischen Gesetzes als durch die Sündhaftigkeit der angeblich Frommen bedingt Matthäus 5, 18: „Denn ich sage euch wahrlich: Bis daß Himmel und Erde zergehe, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe, noch Ein Tüttel vom Gesetze, bis daß es alles geschehe“ (vgl. auch Lukas 16, 17).
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bezeichnet werden. In jedem Fall stellt Jesus gelegentlich so eigene Gebote pointiert der alten Tradition gegenüber. Nicht angebliche „proletarische Instinkte“[443]A: bedingt,
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aber geben ihm jenes spezifische Selbstgefühl, das Wissen: daß er eins ist mit dem göttlichen Patriarchen, daß durch ihn und nur durch ihn der Weg zu jenem führt.[443] Vgl. oben, S. 264, Anm. 8.
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Sondern daß er, der Nichtschriftgelehrte, das Charisma der Dämonenherrschaft und seiner gewaltigen Predigt besitzt, so besitzt, wie beide keinem Schriftgelehrten und Pharisäer zu Gebote stehen, daß er die Dämonen zwingen kann, wo die Menschen an ihn glauben, Johannes 14, 6–10: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich. […] Glaubest du nicht, daß Ich im Vater, und der Vater in mir ist? […]“.
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nur dort, sonst nicht, aber dann auch bei den Heiden, daß er in seiner Vaterstadt, bei seiner Familie, bei den Reichen und Vornehmen des Landes, bei den Schriftgelehrten und Gesetzesvirtuosen diesen Glauben, der ihm die magische Wunderkraft gibt, nicht findet, wohl aber bei den Armen und Bedrängten, bei Zöllnern, Sündern und selbst bei römischen Soldaten, – dies sind, was nie vergessen werden sollte, absolut entscheidende Komponenten seines messianischen Selbstgefühls. Deshalb erklingt das „Wehe“ über die Galiläerstädte Jesu Jünger waren nicht imstande, einen mondsüchtigen Jungen zu heilen, während Jesus den Dämonen austreiben konnte. „Da traten zu ihm seine Jünger besonders, und sprachen: Warum konnten wir ihn [den Dämon] nicht austreiben? Jesus aber antwortete und sprach zu ihnen: Um eures Unglaubens willen. […].“ (Matthäus 17, 19 f.).
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ganz eben[444]so wie der zornige Fluch über den widerspenstigen Feigenbaum, Das „Wehe“ über die Städte Chorazin, Bethsaida und Kapernaum findet sich in Matthäus 11, 20–24: „Da fing er [Jesus] an, die Städte zu schelten, in welchen am meisten seiner Taten geschehen waren, und hatten sich doch nicht gebessert: Wehe dir, Chorazin! Weh dir, Bethsaida! Wären solche Taten zu Tyrus und Sidon geschehen, als bei euch geschehen sind, sie hätten vor Zeiten im Sack und in der Asche Buße getan. Doch ich sage euch: Es wird Tyrus und Sidon erträglicher gehen am jüngsten Gericht denn euch. Und du, Kapernaum, die du bist erhoben bis an den Himmel, du wirst bis in die Hölle hinuntergestoßen werden. Denn so zu Sodom die Taten geschehen wären, die bei [444]dir geschehen sind, sie stünde noch heutiges Tages. Doch ich sage euch: Es wird der Sodomer Lande erträglicher gehen am jüngsten Gerichte denn dir“ (vgl. auch Lukas 10, 13–15).
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und deshalb wird ihm die Erwählung Israels immer wieder problematisch, die Bedeutung des Tempels zweifelhaft und die Verwerfung der Pharisäer und Schriftgelehrten zur Sicherheit. Markus 11, 13 f.: „Und sah einen Feigenbaum von ferne, der Blätter hatte; da trat er hinzu, ob er etwas darauf fände. Und da er hinzukam, fand er nichts denn nur Blätter; denn es war noch nicht Zeit, daß Feigen sein sollten. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Nun esse von dir niemand keine Frucht ewiglich!“ In Matthäus 21, 19 heißt es: „[…] und er sah Einen Feigenbaum an dem Wege, und ging hinzu, und fand nichts dran denn allein Blätter, und sprach zu ihm: Nun wachse auf dir hinfort nimmermehr keine Frucht! Und der Feigenbaum verdorrte alsbald“.
Zwei absolute „Todsünden“ kennt Jesus: die eine ist die „Sünde gegen den Geist“,
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die der Schriftgelehrte begeht, der das Charisma und seine Träger verachtet. Die andere ist: zum Bruder zu sagen: „Du Narr“ In Markus 3, 28 f. finden sich folgende Worte Jesu während einer Diskussion mit den Schriftgelehrten: „Wahrlich, ich sage euch: Alle Sünden werden vergeben den Menschenkindern, auch die Gotteslästerungen, damit sie Gott lästern. Wer aber den heiligen Geist lästert, der hat keine Vergebung ewiglich, sondern ist schuldig des ewigen Gerichts“ (vgl, auch Matthäus 12, 31).
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– der unbrüderliche Hochmut des Intellektuellen gegen den geistlich Armen. Dieser antiintellektualistische Zug, die Verwerfung der hellenischen wie der rabbinischen Weisheit, ist das einzige „ständische“ und höchst spezifische Element der Verkündigung. Diese ist im übrigen [A 362]weit davon entfernt, eine Verkündigung für Jedermann und alle Schwachen zu sein. Gewiß, das Joch ist leicht, aber nur für die, welche wieder werden können wie die Kinder. Matthäus 5, 22: „Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha! der ist des Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig“.
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In Wahrheit stellt sie gewaltige Anforderungen und ist streng heilsaristokratisch. Nichts liegt Jesus ferner als der Gedanke an einen Universalismus göttlicher Gnade, gegen den vielmehr seine ganze Verkündigung streitet: wenige sind auserwählt, durch die enge Pforte zu gehen, Weber kombinierte hier zwei Bibelstellen miteinander: Matthäus 11, 30 („Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht“) und Matthäus 18, 3 („Wahrlich, ich sage euch: Es sei denn, daß ihr euch umkehret, und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen“).
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sie, die Buße tun und an ihn glauben; die [445]anderen verstockt und verhärtet Gott selbst, und es sind naturgemäß gerade die Stolzen und Reichen, die am meisten diesem Schicksal verfallen. Das war gegenüber anderen Prophetien nichts völlig Neues: auch die altjüdische Prophetie hatte schließlich angesichts der Hoffahrt der Großen dieser Erde den Messias als einen König kommen sehen, der auf dem Lasttier der Armen in Jerusalem einzieht. Matthäus 7, 14: „Und die Pforte ist enge, und der Weg ist schmal, der zum Leben führet; und wenig ist ihrer, die ihn finden“.
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Keinerlei „soziale“ Position spricht daraus. Jesus speist bei wohlhabenden Leuten, die den Gesetzesvirtuosen ein Greuel sind.[445] Sacharja 9, 9: „Aber du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze; siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm, und reitet auf einem Esel und auf einem jungen Füllen der Eselin“. Das Reiten auf einem Esel ohne Sattel ist ein Symbol für einen friedlichen Nicht-Krieger, das Reiten auf einem Pferd das des Kriegers.
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Auch dem reichen Jüngling wird das Verschenken des Reichtums ausdrücklich nur für den Fall geboten, daß er „vollkommen“, Lukas 14, 1 berichtet von einem Mahl Jesu im Hause eines führenden Pharisäers, Matthäus 9, 10 f., Markus 2, 15 f. und Lukas 5, 29 f. berichten von der Tischgemeinschaft Jesu mit „Zöllnern und Sündern“.
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d. h.: ein Jünger, sein wolle. Das freilich setzt die Loslösung aus allen Banden der Welt voraus, aus der Familie so gut wie aus dem Besitz, wie bei Buddha und allen ähnlichen Propheten auch. Aber freilich – obwohl bei Gott alles möglich ist – bleibt die Anhänglichkeit an den „Mammon“ eins der schwersten Hemmnisse für die Errettung zum Gottesreich. Sie lenkt von dem religiösen Heil, auf das allein alles ankommt, ab. Nicht ausdrücklich gesagt ist: daß sie auch zur Unbrüderlichkeit führe. Aber der Gedanke liegt in der Sache. Denn die verkündeten Gebote enthalten an sich auch hier die urwüchsige Nothilfeethik des Nachbarschaftsverbandes der kleinen Leute. Aber freilich ist alles „gesinnungsethisch“ zur brüderlichen Liebesgesinnung systematisiert, dies Gebot „universalistisch“ auf jeden, der jeweils gerade der „Nächste“ ist, bezogen und zur akosmistischen Paradoxie gesteigert an der Hand des Satzes: daß Gott allein vergelten wolle und werde. Bedingungsloses Verzeihen, bedingungsloses Geben, bedingungslose Liebe auch des Feindes, bedingungsloses Hinnehmen des Unrechts, ohne dem Übel mit Gewalt zu widerstehen, – diese Forderungen an den religiösen Heroismus könnten ja Produkt eines mystisch bedingten [446]Liebesakosmismus sein. Aber es darf doch nicht, wie es oft geschieht, übersehen werden, daß sie bei Jesus überall mit dem jüdischen Vergeltungsgedanken in Beziehung gesetzt werden: Gott wird dereinst vergelten, rächen und lohnen, darum soll es der Mensch nicht tun und sich auch seiner Guttat nicht rühmen: sonst hat er sich seinen Lohn vorweggenommen. Matthäus 19, 21: „Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach.“ (vgl. auch Markus 10, 21 und Lukas 18, 22).
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Deshalb, um sich Schätze im Himmel zu sammeln, soll man auch dem leihen, von dem man vielleicht nichts wiederbekommen wird,[446] In Matthäus 6, 1–4 weist Jesus die Gläubigen an, Almosen unter Ausschluß der Öffentlichkeit zu geben und nicht damit zu prahlen, „ihr habt anders keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel“ (ebd., 6, 1).
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– denn sonst ist es kein Verdienst. Mit dem gerechten Ausgleich der Schicksale wird stark in der Lazaruslegende Lukas 6, 34 f.: „Und wenn ihr leihet, von denen ihr hoffet zu nehmen, was Danks habt ihr davon? Denn die Sünder leihen den Sündern auch, auf daß sie Gleiches wiedernehmen. Vielmehr liebet eure Feinde; tut wohl und leihet, daß ihr nichts dafür hoffet, so wird euer Lohn groß sein, und werdet Kinder des Allerhöchsten sein”.
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und auch sonst gelegentlich operiert: schon deshalb also ist Reichtum eine gefährliche Gabe. Im übrigen ist aber völlig entscheidend die absolute Indifferenz der Welt und ihrer Angelegenheiten. Das Himmelreich, ein Reich der leidlosen und schuldlosen Freude auf Erden[,] ist ganz nahe herbeigekommen, dies Geschlecht wird nicht aussterben[,] ohne es zu sehen, es wird kommen wie der Dieb in der Nacht, Die Legende des Lazarus findet sich in Lukas 16, 19–31. Geschildert wird das Leben eines in Luxus schwelgenden Mannes im Kontrast zum armen und aussätzigen Lazarus. Nach dem Tod beider kehren sich die Verhältnisse um: Der Reiche leidet Höllenqualen zur Strafe für seinen Egoismus, Lazarus lebt als Ausgleich für sein irdisches Leben „in Abrahams Schoß”.
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ja es ist eigentlich schon mitten unter den Menschen im Anbruch begriffen. Man mache sich Freunde mit dem ungerechten Mammon, statt an ihm zu hängen. 1. Thessalonicher 5, 2: „Denn ihr selbst wisset gewiß, daß der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb in der Nacht“ (vgl. auch 2. Petrus 3, 10).
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Man gebe dem Kaiser[,] was sein ist, Lukas 16, 9: „Und Ich sage euch auch: Machet euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, auf daß, wenn ihr nun darbet, sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten“.
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– was liegt an solchen Dingen? Man bete zu Gott um das tägliche Brot und sorge sich nicht um den kommenden Tag. Matthäus 22, 21: „[…] Da sprach er zu ihnen: So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ (vgl. auch Lukas 20, 25).
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Das Kommen des [447]Reichs kann ein menschliches Tun nicht beschleunigen. Aber man bereite sich darauf vor, daß es komme. Und hier wird dann, obwohl das Gesetz formell nicht aufgehoben wird, allerdings doch schlechthin alles auf die Art der Gesinnung abgestellt, der ganze Inhalt von Gesetz und Propheten mit dem einfachen Gebot der Gottes- und Nächstenliebe identifiziert und der weittragende Satz hinzugefügt: daß man die echte Gesinnung an ihren Früchten, Matthäus 6, 25 und 34: „Darum sage ich euch: Sorget nicht für euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht für euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr denn die Speise? Und der Leib mehr denn die Kleidung?” „Darum sor[447]get nicht für den andern Morgen; denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigne Plage habe“.
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an ihrer Bewährung also, erkennen solle. Matthäus 7, 16–20, besonders 7, 20: „Darum an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“. (Ähnliche Aussagen in Matthäus 12, 33 und Lukas 6, 43 f.).
Nachdem dann die Auferstehungsvisionen, wohl sicher mit unter dem Einfluß der rundum weit verbreiteten soteriologischen Mythen, einen gewaltigen Ausbruch [A 363]pneumatischer Charismata und die Gemeindebildung, mit der eigenen, bisher ungläubigen Familie an der Spitze, und die folgenschwere Bekehrung des Paulus
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die Zerbrechung der Pariareligiosität unter Erhaltung der Kontinuität mit der alten Prophetie und die Heidenmission zur Folge gehabt hatte, blieb für die Stellung der Gemeinden des Missionsgebiets zur „Welt“ die Wiederkunftserwartung einerseits, die überwältigende Bedeutung der charismatischen Gaben des „Geistes“ andererseits, maßgebend. Die Welt bleibt wie sie ist, bis der Herr kommt. Der Einzelne bleibe ebenso in seiner Stellung und seinem „Beruf“ (ϰλῆσις) Die Bekehrungsgeschichte des Paulus findet sich Galater 1, 15–24 (vgl. auch Apostelgeschichte 9, 1–18).
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untertan der Obrigkeit, es sei denn, daß sie die Sünde von ihm verlangt. Der Terminus κλῆσις (klēsis, griech.: „Ruf“, „Einladung“, „Vorladung vor Gericht”) bezeichnet im frühchristlichen Sprachgebrauch die göttliche Berufung sowie den sozialen Stand. 1 Korinther 7, 20: „Ein jeglicher bleibe in dem Beruf, darinnen er berufen ist“ (vgl. auch 1. Korinther 7, 17; 7, 24 und Sirach 11, 20 f.). Zum Begriff κλῆσις äußerte sich Weber im Kontext des Berufsbegriffs ausführlich in seiner „Protestantischen Ethik“ (Weber, Protestantische Ethik I, S. 35 ff.).
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[447] In A bindet die Anmerkung der Erstherausgeber an: 1) Nach Notizen im Manuskript sollte dieser Abschnitt weitergeführt werden.