[1]Einleitung
Max Webers posthum publizierte, unvollendete Abhandlung „Die Stadt“ liegt in einem Bearbeitungsstand vor, der auf die Zeit zwischen Ende 1913 und Mitte 1914 datiert werden kann. Es läßt sich nicht eindeutig entscheiden, für welchen Kontext Weber die Studie geschrieben hat und wie er sie gegebenenfalls nach Fertigstellung hätte verwenden wollen.
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[1] Vgl. den Editorischen Bericht, unten, S. 46 ff.
Der Text bündelt eine Vielzahl von Fragen, die Weber zum Teil in seinen früheren Arbeiten erörtert, zum Teil in seinen vergleichenden religionssoziologischen Studien traktiert hat, denen er sich nach 1910 zugewandt hatte. Die hinter den wechselnden Fragestellungen und Vergleichsperspektiven stehende Leitfrage ist, warum sich trotz der Ubiquität des Phänomens Stadt nur im Okzident ein sich selbst verwaltendes städtisches Bürgertum herausgebildet habe. Es geht Weber darum, einerseits den Okzident vom Orient abzusetzen, andererseits die unterschiedlichen Ausprägungen der okzidentalen Stadtgemeinde herauszuarbeiten. Für den Okzident stehen griechisch-römische Antike und europäisches Mittelalter, für die Antike konkret die autonomen Stadtstaaten Athen, Sparta und Rom in ihrer jeweiligen Blütezeit; für das Mittelalter werden je nach Argumentationsbedarf die italienischen Städte (bei denen noch zwischen den Seestädten und den Binnenstädten zu unterscheiden ist), die Städte des kontinentalen Bereichs nördlich der Alpen oder die englischen Städte herangezogen. Für den kontrastierenden Vergleich mit dem Orient wird sowohl auf das ägyptische und vorderasiatische Altertum als auch auf China, Japan und Indien in der Gesamtheit ihrer historischen Entwicklung Bezug genommen. Weitere historische Beispiele (etwa aus Rußland, Mekka, Konstantinopel oder sogar den Städten der afrikanischen Goldküste) kommen im Einzelfall zur Hervorhebung spezieller Gesichtspunkte hinzu. Während der Vergleich zwischen den großen Kulturkreisen darauf zielt, die Einzigartigkeit der okzidentalen Stadtgemeinde und ihres politisch verfaßten Bürgertums herauszustellen, geht es bei dem innerokzidentalen Vergleich zwischen Antike und Mittelalter vornehmlich darum zu zeigen, warum trotz auffälliger Parallelitäten in den jeweiligen Verfassungsentwicklungen erst im Mittelalter wesentliche Voraussetzungen für die Entstehung des „modernen Kapitalismus“ und des „modernen Staats“ gelegt werden konnten.
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Unten, S. 233.
[2]1. Aspekte der Stadtgeschichte in früheren Arbeiten Webers
Die „Stadt“-Studie bietet einen in dieser Form im Weberschen Werk einzigartigen universalhistorischen Entwurf, der zugleich eine Synthese aus den Ergebnissen jener komparatistischen Unternehmungen darstellt, die Weber sowohl in den der Arbeit an der „Stadt“ vorausgegangenen wie in den etwa gleichzeitig damit betriebenen Studien erzielt hat. Insofern läßt sich nicht auf frühere Arbeiten verweisen, die das hier durchgeführte Untersuchungsprogramm bereits in allen Hinsichten auf Fragestellung, Methodik und Vergleichsobjekte erkennen ließen. Als Vorstudien können mit gewissen Einschränkungen Webers frühere Arbeiten zur Antike gelten, da sich in ihnen feststellen läßt, wie Weber – auch im Hinblick auf das Thema „Stadt“ – seine universalhistorische Perspektive erweitert, wie er zu methodischen Klärungen gelangt, die für seine weiteren Arbeiten grundlegend werden sollten, und wie er einige Deutungsmuster entwickelt, die er dann in der „Stadt“ auf zuvor nicht behandelte historische Materialien anwenden sollte. Es zeigt sich auch im vorliegenden Text, in dem die Antike zwar keineswegs im Vordergrund der Erörterungen steht, jedoch beachtlichen Raum einnimmt, in welch hohem Maße sich der „,Gelehrte‘ Max Weber […] in der Beschäftigung mit dem Altertum“
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ausgebildet hat. [2] Heuss, Alfred, Max Webers Bedeutung für die Geschichte des griechisch-römischen Altertums, in: Historische Zeitschrift, Band 201, 1965, S. 529–556, hier S. 531.
Ein wesentliches Thema seiner früheren Untersuchungen zur Antike war die Frage nach der Eigenart und den Entwicklungsschranken des antiken Kapitalismus gewesen, der nach Webers Einschätzung weitgehend auf der Ausnutzung politisch-militärisch vermittelter Erwerbschancen basiert hatte. Weber hatte sich dieser Fragestellung zunächst in seiner „Römischen Agrargeschichte“ von 1891, dann in dem Aufsatz „Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur“ von 1896,
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schließlich in den verschiedenen Fassungen des Artikels „Agrarverhältnisse im Altertum“ für das „Handwörterbuch der Staatswissenschaften“ von 1897, 1898 und (nun im Umfang einer Monographie) 1908/09 Vgl. Deininger, Jürgen, ,Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur‘. Bemerkungen zu Max Webers Vortrag von 1896, in: Alte Geschichte und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift für Karl Christ zum 65. Geburtstag, hg. von Peter Kneissl und Volker Losemann. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988, S. 95–112.
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gewidmet. Dabei zeigte sich eine Ausweitung seines Vergleichsrahmens von der römischen Geschichte über die gesamte griechisch-römische Antike bis zur Behandlung des gesamten vorderorientalischen Altertums, wie sie in der fortschreitenden Einbeziehung des alten Ägyptens, Mesopotamiens und Israels in den immer umfänglicher werden[3]den Fassungen der „Agrarverhältnisse“ zum Ausdruck kam. Zur Datierung vgl. den Editorischen Bericht, unten, S. 49, Anm. 21.
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Weber rezipierte dafür eine umfängliche Literatur, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert für den Bereich der „klassischen“ griechisch-römischen Welt verstärkt Themen der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte angenommen hatte und die aufgrund der zunehmenden Erschließung monumentaler Quellen für das alte Ägypten und den Alten Orient einen geradezu dramatischen Erkenntniszuwachs verzeichnete. Auch wenn Weber sich in einem erstaunlichen Ausmaß darum bemühte, eine weitverzweigte spezialisierte Literatur auszuwerten,[3] Weber, Agrarverhältnisse1 (MWG I/6) behandelt nur Griechenland und Rom; die erweiterte Fassung Agrarverhältnisse2 (MWG I/6) bezieht Ägypten und Mesopotamien ein, spart Israel aber noch aus.
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wird man dem Werk Eduard Meyers eine gewichtige Bedeutung für die Ausweitung seiner Darstellung der vorderorientalischen Kulturen zuschreiben können. Vgl. die Literaturhinweise in: Weber, Agrarverhältnisse3, S. 182–188 (MWG I/6).
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Darüber hinaus hat sich Weber in: Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 22, 1906, S. 143–177 (MWG I/7), ausführlich mit den (durch den „Methoden-Streit“ um Karl Lamprecht provozierten) geschichtstheoretischen Äußerungen Eduard Meyers, in: Zur Theorie und Methodik der Geschichte. Geschichtsphilosophische Untersuchungen. – Halle: Max Niemeyer 1902, auseinandergesetzt. Zum vielschichtigen, von größtem wechselseitigen Respekt geprägten, Verhältnis Weber–Meyer vgl. Momigliano, Arnaldo, Max Weber and Eduard Meyer. Apropos of city and country in antiquity, in: ders., Sesto contributo alla storia degli studi classici e del mondo antico. – Roma: Edizioni di Storia e Letteratura 1980, S. 285–293; Capogrossi Colognesi, Luigi, Economie antiche e capitalisme moderno. La sfida di Max Weber. – Bari: Laterza 1990, S. 331–350; Deininger, Jürgen, Eduard Meyer und Max Weber, in: Eduard Meyer. Leben und Leistung eines Universalhistorikers, hg. von William Μ. Calder III und Alexander Demandt (Mnemosyne, Supplement 112). – Leiden [u. a.]: E. J. Brill 1990, S. 132–158. – Die These von Tenbruck, Friedrich H., Max Weber und Eduard Meyer, in: Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schwentker (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Band 21). – Göttingen [u. a.]: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 337–379, Webers gesamtes Spätwerk sei aus der Auseinandersetzung mit Eduard Meyer erwachsen, ist in dieser Form nicht haltbar; vgl. Nippel, Wilfried, Max Weber, Eduard Meyer und die „Kulturgeschichte“, in: Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen, hg. von Manfred Hettling [u. a.] – München: C. H. Beck 1991, S. 323–330; ders., Eduard Meyer, Max Weber e le origini dello stato, in: Problemi e metodi della storiografia tedesca contemporanea, a cura di Beatrice de Gerloni. – Torino: Giulio Einaudi 1996, S. 175–193.
In diesen Studien hatte das Thema Stadt bereits eine wichtige Rolle gespielt,
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da es Weber – ungeachtet der wechselnden thematischen Schwerpunkte seiner Arbeiten – immer darum gegangen war, ein Gesamtbild der „Kultur“ zu zeichnen. So hatte er in dem Essay zum Untergang der antiken [4]Kultur die „Kultur des Altertums“ als „ihrem Wesen nach zunächst: städtische Kultur“ definiert Vgl. Deininger, Jürgen, Die antike Stadt als Typus bei Max Weber, in: Festschrift Robert Werner zu seinem 65. Geburtstag, hg. von Werner Dahlheim, Wolfgang Schuller, Jürgen von Ungern-Sternberg (Xenia, Heft 22). – Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1989, S. 269–289.
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und als „auf der Stadt als ökonomischem Untergrund“[4] Weber, Soziale Gründe, S. 59 (MWG I/6).
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ruhend bezeichnet. Die Entwicklung in der römischen Kaiserzeit, die insgesamt durch die Verlagerung der „Küstenkultur“ ins Binnenland und einen sich immer mehr verschärfenden strukturellen Widerspruch zwischen einer zunehmend naturalwirtschaftlich orientierten Ökonomie und einem auf Geldwirtschaft angewiesenen administrativ-militärischem „Überbau“ gekennzeichnet sei, habe zum Schwinden städtischer Kultur, zu ihrem „Winterschlaf“ im „ländlich gewordenen Wirtschaftsleben“ geführt. „Erst als auf der Grundlage der freien Arbeitsteilung und des Verkehrs die Stadt im Mittelalter wieder erstanden war, als dann der Übergang zur Volkswirtschaft die bürgerliche Freiheit vorbereitete und die Gebundenheit unter den äußern und innern Autoritäten des Feudalzeitalters sprengte, da erhob sich der alte Riese in neuer Kraft und hob auch das geistige Vermächtnis des Altertums empor an das Licht der modernen bürgerlichen Kultur“. Ebd., S. 68.
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Ebd., S. 77.
In der letzten Fassung der „Agrarverhältnisse im Altertum“, in der es Weber immer wieder um das wechselseitige Bedingungsverhältnis zwischen ökonomischen und politischen Strukturen gegangen war, hat er betont, daß die „antike Agrargeschichte […] in ihrem Verlauf in die Peripetieen der antiken Stadtgeschichte so eng verflochten [war], daß sie von ihnen isoliert kaum behandelt werden könnte“.
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Er führte weiter aus, daß „Organisationsstadien“ festzustellen seien, „die sich, bis zu einem gewissen Maße bei allen denjenigen ,antiken‘ Völkern, von der Seine bis zum Euphrat, welche überhaupt städtische Entwickelung gekannt haben, wiederholt zu haben scheinen“. Weber, Agrarverhältnisse3, S. 67 (MWG I/6).
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Auf die Stufe eines auf Dörfern und Hausgemeinschaften basierenden Bauerngemeinwesens mit einer lockeren politischen Struktur, gegebenenfalls mit einem über eingeschränkte Rechte verfügenden Häuptling oder Richter an der Spitze, folgt der Zusammenschluß in einer von einer Burg, als „nähere Vorstufe der Stadt“, geschützten Siedlung und die Herausbildung eines „Burgenkönigtums“ mit einer „persönliche[n] Gefolgschaft“. Ebd., S. 68.
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Danach gabelt sich die Entwicklung: im Orient kann der König seine Macht ausbauen, die Grundrenten und Handelsgewinne weitgehend monopolisieren, die Bevölkerung zu fron- und abgabepflichtigen Untertanen machen und sich selbst ein Heer und eine Bürokratie aufbauen. So entsteht ein „bürokratisches Stadtkönigtum“ bzw. in einer späteren Phase bei entsprechender territorialer Ausdehnung und fortschreitender Rationalisie[5]rung des Herrschaftsapparates der „autoritäre Leiturgiestaat, der planmäßig die Deckung der Staatsbedürfnisse durch ein kunstvolles System von öffentlichen Lasten erstrebt und die ,Untertanen‘ als reine Objekte behandelt“. Ebd.
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[5] Ebd., S. 70.
Für die mediterrane Entwicklung ist dagegen entscheidend, daß ein Kriegeradel Anteil an den Grundrenten und Handelsgewinnen nehmen kann, der ihm seine Eigenständigkeit gegenüber dem Monarchen sichert, der schließlich einer „sich selbst verwaltende[n], militärisch gegliederte[n] städtische[n] Gemeinde“ weichen muß.
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Hier kann sich schließlich aus der – mit dem Prinzip der Selbstequipierung gegebenen – militärischen Notwendigkeit der fortschreitenden Einbeziehung der breiteren Bürgerschaft eine Entwicklung von der „Adels-“, über die „Hopliten-“ bis hin zur „demokratischen Bürgerpolis“ ergeben. Ebd., S. 69.
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Schließlich setzt sich auch in den hellenistischen Reichen und im römischen Reich der bürokratisch organisierte Leiturgiestaat durch, der den Kapitalismus „erstickt“. Vgl. ausführlicher Winckelmann, Johannes, Max Webers historische und soziologische Verwaltungsforschung, in: Annali della fondazione italiana per la storia amministrativa, vol. 1, 1964, S. 27–67; Deininger, Jürgen, Die politischen Strukturen des mittelmeerisch-vorderorientalischen Altertums in Max Webers Sicht, in: Schluchter, Wolfgang (Hg.), Max Webers Sicht des antiken Christentums. Interpretation und Kritik. – Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 72–110, hier S. 81–90; Breuer, Stefan, Stromuferkultur und Küstenkultur. Geographische und ökologische Faktoren in Max Webers ,ökonomischer Theorie der antiken Staatenwelt‘, ebd., S. 111–150; ders., Max Weber und die evolutionäre Bedeutung der Antike, in: Saeculum, Band 33, 1982, 174–192; Chon, Song-U, Max Webers Stadtkonzeption. Eine Studie zur Entwicklung des okzidentalen Bürgertums. – Göttingen: Edition Herodot 1985, S. 104–159, passim.
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Weber, Agrarverhältnisse3, S. 181 (MWG I/6).
Für die divergierende Entwicklung macht Weber primär die unterschiedlichen geographischen Bedingungen verantwortlich, die er auf die Formel des Gegensatzes von der „Küstenkultur“ der griechisch-römischen und der „Stromufer- und Bewässerungskultur“ der ägyptischen und vorderorientalischen Antike zuspitzt.
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Seiner Theorie liegen zwei – aus heutiger Sicht problematische – Entscheidungen zugrunde. Zum einen die These, die Anlage von Städten sei primär aus Handelsinteressen erfolgt und die Kontrolle über die Fernhandelsgewinne sei entscheidend für den Fortgang sozialer Differenzierung Ebd., S. 53 und 54.
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(namentlich wenn eine Aristokratie aufgrund dieser Ressour[6]cen die Bauernschaft in Abhängigkeit bringen konnte)Diese These hält Finley, M[oses] I., Between slavery and freedom, in: ders., Economy and Society in Ancient Greece, ed. with an Introduction by Brent D. Shaw and Richard P. Saller. – London: Chatto & Windus 1981, S. 116–132, hier S. 130, im Hinblick auf die griechisch-römische Antike weder für beweis- noch widerlegbar.
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und für die Entwicklung der politischen Strukturen gewesen. Diese These hat Weber seit seiner „Römischen Agrargeschichte“ stets wie ein Axiom eingesetzt.[6] Weber distanziert sich von der gängigen Annahme, daß herrschende Gruppen generell aus der Unterwerfung von seßhaften Ackerbauern durch einwandernde Hirten hervorgegangen seien; Weber, Agrarverhältnisse3, S. 68 (MWG I/6).
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Zum zweiten wird unterstellt, daß die Notwendigkeiten der Stromregulierung die bürokratischen Strukturen in den orientalischen Monarchien bedingten; Weber, Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 202–204 und Weber, Agrarverhältnisse3, S. 154 (MWG I/6) und öfter; Weber, Judentum I, S. 77 (MWG I/21); Deininger, Strukturen (wie oben, S. 5, Anm. 18), S. 81.
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ideengeschichtlich handelt es sich um eine Variante des traditionellen Topos der „orientalischen Despotie“. Die neuere Forschung ist aufgrund archäologischer Evidenz für Mesopotamien zu dem Ergebnis gekommen, daß die Bewässerung zuerst auf lokaler Ebene organisiert worden ist, die damit verbundenen organisatorischen Notwendigkeiten demnach nicht zwingend den Aufbau größerer Herrschaftseinheiten forderten, aber doch begünstigt haben; vgl. Nissen, Hans J., Grundzüge einer Geschichte der Frühzeit des Vorderen Orients. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, S. 63 f. und S. 157 f.; Breuer, Stromuferkultur (wie oben, S. 5, Anm. 18), S. 113–125; ders., Max Webers Herrschaftssoziologie (Theorie und Gesellschaft, Band 18). – Frankfurt [u. a.]: Campus 1991, S. 108–113; in Ägypten ist der Aufbau einer bürokratischen Zentralgewalt lange vor der Einführung der künstlichen Bewässerung der Felder erfolgt; vgl. Schenkel, Wolfgang, Die Bewässerungsrevolution im alten Ägypten. – Mainz: Philipp von Zabern 1978.
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Dieses Modell hatte in der britischen Diskussion über Indien eine besondere Rolle gespielt und war dann von Marx aufgenommen worden; die ausführlichen Texte von Marx zu Indien sind jedoch zu Webers Lebzeiten wahrscheinlich nicht bekannt gewesen; vgl. Nippel, Wilfried, La costruzione dell’ „altro“, in: I Greci. Storia, Cultura, Arte, Società, a cura di Salvatore Settis, vol. 1: Noi e i Greci. – Torino: Giulio Einaudi 1996, S. 165–196, hier S. 192 f.
Angesichts dieser Gegenüberstellung zweier Grundmuster von Kulturentwicklung hat Weber in den „Agrarverhältnissen“ verschiedentlich die Gemeinsamkeit okzidentaler Strukturen in Antike und Mittelalter angesprochen, zugleich aber (sicherlich auch mit einem Seitenblick auf Eduard Meyer)
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vor dem Ziehen vorschneller Analogien gewarnt, die „oft direkt schädlich für die unbefangene Erkenntnis“ seien. Vgl. unten, S. 9.
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Der Schlußabschnitt dieser langen Abhandlung trägt zwar den Titel „Grundlagen der Entwicklung in der römischen Kaiserzeit“, zeichnet diese jedoch nur in wenigen Strichen nach. Viel ausführlicher widmet sich Weber der Frage nach der „Eigenart der antiken Polis“ und danach, „wie sie sich denn zur ,Stadt‘ des Mittelalters verhält“, Weber, Agrarverhältnisse3, S. 54 (MWG I/6).
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wobei es ihm darauf ankommt, warum „das Mittelalter unsrer kapitalistischen Entwickelung längst vor dem Auftauchen kapitalisti[7]scher Organisationsformen näher stand als die Polis“. Ebd., S. 171.
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Als wesentliche Faktoren werden der Vorrang der Landwirtschaft in der Antike einerseits, des Gewerbes im Mittelalter andererseits, sowie die Auswirkungen auf den Charakter der typischen sozialen Konflikte (um Landbesitz im ersten, um Erwerbschancen im gewerblichen Sektor im zweiten Falle) betont. Weiter wird die Rolle der Zünfte des Mittelalters sowohl für die Organisation der gewerblichen Arbeit wie als Instrument politischer Interessenvertretung hervorgehoben; für beides habe es in der Antike kein Äquivalent gegeben. Schließlich wird die militärische Prägung der antiken Polis akzentuiert, die eine „kriegerische Beutepolitik als Stadtpolitik“ nahegelegt habe, während die mittelalterliche Stadt „von Anfang an, und zunehmend, ,bürgerlichen‘ Charakters“ gewesen sei, nämlich auf „friedlichen Markterwerb zugeschnitten“.[7] Ebd., S. 173.
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Ebd., S. 175.
Die unterschiedlichen militärischen Möglichkeiten der autonomen Polis als „vollkommenste Militärorganisation“
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des Altertums einerseits, der in größere Herrschaftsverbände eingebetteten Stadt des Mittelalters andererseits hätten den unterschiedlichen Charakter des jeweiligen Bürgertums geprägt: „Der ,Bürger‘ ist im Mittelalter von Anfang an in weit höherem Maße ,homo oeconomicus‘ als der Bürger einer antiken Polis es sein will oder kann.“ Ebd., S. 174.
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Weber betont jedoch wiederholt, daß diese Entgegensetzung vor allem dann gerechtfertigt sei, wenn man an die „industrielle Binnenstadt“ in Frankreich, Deutschland oder England denke, während die „Seestädte“ Italiens aufgrund ihrer Ausrichtung auf den Fernhandel wie ihrer militärischen Möglichkeiten mehr Analogien zum antiken Muster zeigten. Ebd., S. 175.
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Auf die Unterschiede in der ökonomischen Entwicklung von „See-“ und „Landstädten“ – hier in Italien – war Weber bereits in seiner Dissertation über die „Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter“ zu sprechen gekommen. Ebd., S. 172, 174 und 175.
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Als Postulat formuliert Weber schließlich: „Eine wirklich kritische Vergleichung der Entwickelungsstadien der antiken Polis und der mittelalterlichen Stadt […] wäre ebenso dankenswert wie fruchtbar, – natürlich nur, wenn sie als Ziel nicht, nach Art der heute modischen Konstruktionen von generellen Entwickelungsschemata, nach ,Analogien‘ und ,Parallelen‘ jagt, sondern gerade umgekehrt nur dann, wenn ihr Zweck die Herausarbeitung der Eigenart jeder von beiden, im Endresultat so verschiedenen, Entwickelungen […] ist.“ Weber, Handelsgesellschaften, S. 128 (MWG I/1).
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Weber, Agrarverhältnisse3, S. 188 (MWG I/6).
[8]Webers Arbeiten zur Antike zielten nicht nur auf die Herausstellung der Charakteristika der antiken Ökonomie im Vergleich zur mittelalterlichen und modernen. Sie dienten auch der methodischen Verständigung über den heuristischen Gebrauch von Idealtypen. Dies geschah namentlich in der Auseinandersetzung mit diversen Stufentheorien, wie sie seinerzeit in der historischen Nationalökonomie verbreitet waren. Insbesondere galt dies für die Ablehnung von „Kulturstufen“-Theorien, die eine bei allen Völkern gegebene quasi gesetzmäßige Entwicklung vom Nomadentum zum Ackerbau postulierten. Weber hat seine Position in der Abhandlung „Der Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung in der deutschen Literatur des letzten Jahrzehnts“ 1904 grundsätzlich entwickelt;
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die Verwerfung der Annahme eines ursprünglichen Nomadenlebens ohne jede Form des Ackerbaus war ihm in den „Agrarverhältnissen“ auch insofern wichtig, als er die grundlegenden Unterschiede zwischen Orient und Okzident auf die Bedeutung der Milchviehzucht im Okzident und deren Fehlen im Orient zurückführte.[8] Weber, Altgermanische Sozialverfassung (MWG I/6); vgl. Nippel, Wilfried, Methodenentwicklung und Zeitbezüge im althistorischen Werk Max Webers, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 16, 1990, S. 355–374, hier S. 360–363.
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Weber, Agrarverhältnisse3, S. 52 f. (MWG I/6).
Für seine weiteren Arbeiten wurde vor allem die Auseinandersetzung mit dem Konzept der „Wirtschaftsstufen“ relevant, wie sie u. a. Schönberg,
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Schmoller Schönberg, Gustav, Zur wirthschaftlichen Bedeutung des deutschen Zunftwesens im Mittelalter, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Band 9, 1867, S. 1–72 und 97–169, hier S. 14 und 164.
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und Bücher Schmoller, Gustav, Studien über die wirthschaftliche Politik Friedrichs des Großen und Preußens überhaupt von 1680–1786, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft im Deutschen Reich, Jg. 8, 1884, S. 1–61, hier S. 15 ff.
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entwickelt hatten, die in verschiedenen Varianten eine Abfolge von „Hauswirtschaft“ über „Stadtwirtschaft“ zur „Volkswirtschaft“ postuliert zu haben schienen. Namentlich Karl Büchers Modell war von führenden Althistorikern wie Eduard Meyer Bücher, Karl, Die Entstehung der Volkswirtschaft, in: ders., Die Entstehung der Volkswirtschaft. – Tübingen: H. Laupp 1893, S. 1–78*; vgl. Hoselitz, Bert F., Theories of Stages of Economic Growth, in: ders. [u. a.], Theories of Economic Growth. – Glencoe, Illinois: Free Press 1960, S. 193–238; Schefold, Bertram, Karl Bücher und der Historismus in der deutschen Nationalökonomie, in: Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, hg. von Notker Hammerstein. – Stuttgart: Franz Steiner 1988, S. 239–267, hier S. 251–259.
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und Karl Julius Beloch Meyer, Eduard, Die wirtschaftliche Entwickelung des Altertums. – Jena: Gustav Fischer 1895.
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scharf angegriffen worden, weil sie Bücher eine gesetzmäßige Abfolge von Stufen sowie eine Identifikation der Antike mit der Stufe der Hauswirtschaft [9]unterstellten – ob zu recht oder nicht, kann hier dahingestellt bleiben. Beloch, [Karl] Julius, Die Grossindustrie im Altertum, in: Zeitschrift für Socialwissenschaft, Jg. 2, 1899, S. 18–26; ders., Zur griechischen Wirtschaftsgeschichte, ebd., Jg. 5, 1902, S. 95–103 und 169–179.
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Dagegen verfochten sie eine weitgehende strukturelle Gleichartigkeit von antiker und frühmoderner Ökonomie.[9] In seinem späteren Beitrag, Volkswirtschaftliche Entwicklungsstufen, in: GdS, Band 1, 1914, S. 1–18, hier S. 10 ff., kam Bücher der von seinen Kritikern unterstellten Position jedoch sehr nahe.
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Gegen die Stufentheorien von Schmoller und Bücher wandten sich auch Mediävisten wie namentlich Georg von Below, der eine Gleichsetzung der Stadtwirtschaft mit dem Mittelalter ablehnte. Meyer, Wirtschaftliche Entwickelung, S. 28: „Man sieht, wie unhaltbar das Bild ist, welches Bücher von der wirtschaftlichen Entwickelung des Altertums entworfen hat. Das siebente und sechste Jahrhundert in der griechischen Geschichte entspricht in der Entwickelung der Neuzeit dem vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert n. Chr.; das fünfte dem sechzehnten“; S. 46 f. zur hellenistischen Zeit: „Nur darauf möchte ich noch hinweisen, daß sie im Gegensatz zu den landläufigen Anschauungen, die auch in wissenschaftlichen Kreisen weit verbreitet sind, in jeder Hinsicht nicht modern genug gedacht werden kann. Nur darf man nicht das neunzehnte Jahrhundert zum Vergleich heranziehen, sondern das siebzehnte und achtzehnte […]“. Vgl. zu den wechselseitigen Polemiken Schneider, Helmuth, Die Bücher–Meyer-Kontroverse, in: Calder/Demandt (Hg.), Eduard Meyer (wie oben, S. 3, Anm. 8), S. 417–445.
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In der mediävistischen Diskussion kam noch die Kritik an Sombart hinzu, der in seinem „Modernen Kapitalismus“ von 1902 die Abgrenzung zwischen der Bedarfsdeckungswirtschaft des Mittelalters und der Erwerbswirtschaft der Neuzeit vertreten hatte. Below, Georg von, Zur Würdigung der historischen Schule der Nationalökonomie. IV. Schmollers Stufentheorie, in: Zeitschrift für Socialwissenschaft, Jg. 7, 1904, S. 367–391; ders., Über Theorien der wirthschaftlichen Entwicklung der Völker, mit besonderer Rücksicht auf die Stadtwirthschaft des deutschen Mittelalters, in: Historische Zeitschrift, Band 86, 1901, S. 1–77; ders., Der Untergang der mittelalterlichen Stadtwirtschaft (über den Begriff der Territorialwirtschaft), in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 3. Folge, Band 21, 1901, S. 449–473 und 593–631.
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So u. a. Below, G[eorg] v[on], Die Entstehung des modernen Kapitalismus [Rezension Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, Leipzig 1902], in: Historische Zeitschrift, Band 91, 1903, S. 432–485; Sieveking, Heinrich, Die mittelalterliche Stadt. Ein Beitrag zur Theorie der Wirtschaftsgeschichte, in: Vierteljahrschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte, Band 2, 1904, S. 177–218; ders., Die kapitalistische Entwicklung in den italienischen Städten des Mittelalters, ebd., Band 7, 1909, S. 64–93; vgl. Schorn-Schütte, Luise, Stadt und Staat. Zum Zusammenhang von Gegenwartsverständnis und historischer Erkenntnis in der Stadtgeschichtsschreibung der Jahrhundertwende, in: Die Alte Stadt, Jg. 10, 1983, S. 228–266.
Wie schon in seinem „Objektivitäts“-Aufsatz von 1904 in bezug auf die „Stadtwirtschaft“
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– auf den Below hinsichtlich der methodischen Grundsatzfrage wiederholt zustimmend verwiesen hat –, Weber, Objektivität, S. 65 (MWG I/7).
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so hat Weber in seinen [10]„Agrarverhältnissen“ von 1908/09 auch die (auf Rodbertus zurückgehende) So schon in Below, Würdigung der historischen Schule, S. 370, Anm. 4; und erneut in ders., „Wirtschaftsstufen“, in: Wörterbuch der Volkswirtschaft in zwei Bänden, hg. von Ludwig Elster, Band 2, 2., völlig umgearbeitete Aufl. – Jena: Gustav Fischer 1907, S. 1330–1332.
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Kategorie der „Haus-“ bzw. „Oikenwirtschaft“ „im Sinne einer ,idealtypischen‘ Konstruktion einer Wirtschaftsverfassung“ interpretiert, die nicht einfach mit der antiken Ökonomie in ihrer gesamten räumlichen und zeitlichen Erstreckung gleichgesetzt werden dürfe.[10] Rodbertus, [Johann K.], Untersuchungen auf dem Gebiete der Nationalökonomie des klassischen Alterthums. II: Zur Geschichte der römischen Tributsteuern seit Augustus, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Band 4, 1865, S. 341–427, hier S. 345 ff.; dazu Weber, Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 317; Weber, Agrarverhältnisse3, S. 55 (MWG I/6).
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Weber verstand unter dem Oikos den Typ des fürstlichen oder grundherrlichen Haushalts, der vorrangig an Bedarfsdeckung interessiert ist und diesen Bedarf durch Fronarbeiten und Naturalabgaben von Abhängigen deckt. Als universal verwendbare Kategorie kommt dies dann auch in seinen späteren Schriften, so auch in der „Stadt“ vor. In der Sache distanzierte sich Weber in den „Agrarverhältnissen“ eindeutig von den modernisierenden Annahmen Meyers und Belochs, hielt gleichwohl jedoch – wie auch noch in der „Stadt“ zu sehen – an der Kategorie des „antiken Kapitalismus“ fest, gerade um seine von politischen und militärischen Faktoren bedingte Eigenart in Abgrenzung zum modernen Kapitalismus bestimmen zu können. Weber, Agrarverhältnisse3, S. 55 (MWG I/6).
2. Die Themen der „Stadt“ im Kontext der Forschung
Die allgemeine Stadttypologie
Weber beginnt seine Studie mit allgemeinen Erörterungen zur Kategorie der Stadt, in denen er verschiedene siedlungsgeographische, ökonomische und rechtliche Merkmale durchspielt und immer wieder die Inkongruenz dieser Kriterien betont. Für die ökonomische Definition ist entscheidend, daß es sich um eine Marktansiedlung handelt, bei der aufgrund einer bestehenden Produktionsspezialisierung die ortsansässige Bevölkerung regelmäßig einen erheblichen Teil ihres Alltagsbedarfes auf dem Markt deckt; dies grenzt die Stadt im ökonomischen Sinne sowohl von einem fürstlichen oder grundherrlichen Oikos wie von Orten mit nur periodisch stattfindenden Messen ab. Ein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal für Städte besteht darin, welche Schichten mit ihrer Kaufkraft wesentlich die Erwerbschancen der ortsansässigen Produzenten bestimmen. In der „Konsumentenstadt“ stammt die Kaufkraft entweder aus Einnahmen patrimonialer und politischer Natur, aus den Mitteln eines Fürsten („Fürstenstadt“) bzw. den Gehältern und Pfründen von Beamten („Beamtenstadt“), oder aus diversen [11]Rentenquellen, Grundrenten, Kapitalerträgen oder Staatspensionen („Grundrentnerstadt“, „Rentnerstadt“). Beruht dagegen die Kaufkraft für den einheimischen Markt auf den Erträgen ortsansässiger Erwerbsbetriebe, liegt entweder eine (sei es auf Industrie, sei es auf Handwerk basierende) „Gewerbestadt“ vor
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(in der die Unternehmer als Großkonsumenten, die Arbeiter und Handwerker als Massenkonsumenten auftreten) oder eine „Händlerstadt“ bzw. „Handelsstadt“ (in der die Einkünfte der Großkonsumenten auf ihren überörtlichen Geschäftsbeziehungen beruhen). Nicht eindeutig ist, ob diese beiden der Konsumentenstadt gegenübergestellten Typen unter „Produzentenstadt“ als Oberbegriff zu ziehen sind oder letzterer Begriff nur als Synonym für „Gewerbestadt“ verstanden werden soll. Auf jeden Fall vermeidet Weber eine eindeutige Zuordnung einzelner Typen zu spezifischen historischen Epochen.[11] Die in Weber, Agrarverhältnisse3, S. 171 f. (MWG I/6), noch verwendete Kategorie der „Industriestadt“ kommt hier nicht mehr vor.
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Dies entspricht seiner generellen Absage an Modelle von Wirtschaftsstufen. Mit der Kategorie der „Fürstenstädte“ wird ein zwar historischer, jedoch epochenübergreifender Gesichtspunkt angesprochen, da in einer Vielzahl von Fällen (wenngleich nicht immer) Städte aus Ansiedlungen neben einem fürstlichen Großhaushalt hervorgegangen seien und den Erwerb ihrer ökonomischen Stadtqualität der zunehmenden Orientierung des Hofes (und der ihm verbundenen Großhaushalte von Vasallen und Beamten) an Bedarfsdeckung auf dem Markt verdankten. Dagegen hatte Bücher die durch Handel und Gewerbe geprägten mittelalterlichen Städte von den Städten der Griechen und Römer abgesetzt, die ein „bloßes Konsumtionszentrum“ dargestellt hätten; Bücher, Karl, Großstadt-Typen aus fünf Jahrtausenden, in: ders., Die Entstehung der Volkswirtschaft, 5., stark vermehrte und verbesserte Aufl. – Tübingen: H. Laupp 1906, S. 355–382, hier S. 371. Weber hat in Agrarverhältnisse3, S. 58 (MWG I/6), allerdings festgestellt, daß die antiken Städte „stets in weit höherem Maße als die mittelalterlichen Konsum-, in weit geringerem dagegen Produktionszentren“ gewesen seien. – In der durch den Aufsatz von Finley, M[oses] I., The Ancient City: From Fustel de Coulanges to Max Weber and Beyond, in: Comparative Studies in Society and History, vol. 19, 1977, S. 305–327, ausgelösten althistorischen Diskussion wird Weber immer wieder unterstellt, die antike Stadt mit der „Konsumentenstadt“ gleichgesetzt zu haben. Ein Beispiel dafür, daß dies ohne Prüfung von Webers Texten geschieht, bietet Pleket, Henri W., Wirtschaft, in: Vittinghoff, Friedrich (Hg.), Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der römischen Kaiserzeit (Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, hg. von Wolfram Fischer [u. a.], Band 1). – Stuttgart: Klett-Cotta 1990, S. 25–160, hier S. 35.
Weber verzichtet jedoch darauf, „eine weitere Spezialisierung und Kasuistik, wie sie eine streng ökonomische Städtetheorie zu leisten hätte, vorzuführen“ und betont, „daß die empirischen Städte fast durchweg Mischtypen darstellen und daher nur nach ihren jeweils vorwiegenden ökonomischen Komponenten klassifiziert werden können“.
53
Unten, S. 67.
[12]Webers Versuch, eine ökonomische Stadttypologie zu entwickeln, ist vor allem als eine Auseinandersetzung mit Werner Sombart zu verstehen.
54
Sombarts Darlegungen im 2. Band seines „Modernen Kapitalismus“ gelten den „Aufgaben einer Städtetheorie“ und der „Genesis der kapitalistischen Stadt“; sie werden wiederholt und zum Teil ergänzt in einem Aufsatz von 1907.[12] Vgl. zum folgenden Bruhns, H[innerk], De Werner Sombart à Max Weber et Moses I. Finley. La typologie de la ville antique et la question de la ville de consommation, in: L’origine des richesses dépensées dans la ville antique (Actes du colloque organisé à Aix-en-Provence par l’U.E.R. d’Histoire, les 11 et 12 Mai 1984, présentés et réunis par Philippe Leveau). – Marseille: Jeanne Laffitte 1985, S. 255–273; Schott, Reinmar, „Die Stadt“ und ihre Vorläufer. Zu den Quellen der Stadttypologie Max Webers, in: Geschichte und Gegenwart, Jg. 15, 1996, S. 141–153, hier S. 146–148; Betz, Horst K., Werner Sombart’s Theory of the City, in: Backhaus, Jürgen G. (ed.), Werner Sombart (1863–1941). Social Scientist, vol. 2: His Theoretical Approach Reconsidered. – Marburg: Metropolis 1996, S. 233–250.
55
Sombart betont die Notwendigkeit, eine „ökonomische Theorie der Städtebildung“ zu entwickeln, und verweist darauf, daß ökonomische und rechtliche Definitionen auseinanderfallen können. Sombart, Werner, Der moderne Kapitalismus, Band 2. – Leipzig; Duncker & Humblot 1902, S. 187–195 und S. 196–224; ders., Der Begriff der Stadt und das Wesen der Städtebildung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Band 25, 1907, S. 1–9.
56
Sombart bezeichnet als „eigentliche Städtegründer“ oder „primäre Städtebildner“ Monarchen, Grundherren, Kaufmänner, die mit Fremden Handel treiben, Handwerker und Industrielle, die gewerbliche Produkte nach auswärts verkaufen. Sombart, Kapitalismus, Band 2, S. 191; ders., Begriff der Stadt, S. 4.
57
Er betont die Rolle von Grund- und Staatsrentnern für die frühkapitalistische Großstadt des 18. Jahrhunderts, Sombart, Begriff der Stadt, S. 7 f.
58
stellt die mit der Entfaltung des Kapitalismus zunehmende Tendenz heraus, daß sich die Großstadt zu einem „Konsumtionscentrum“ entwickle, da in den „hochkapitalistischen Großstädten“ ein „industrielles Rentnertum“ tonangebend werde, Sombart, Kapitalismus, Band 2, S. 201.
59
und bezeichnet als einen der modernen Städtetypen „die reine Konsumtionsstadt“, wie sie im „Typus der reinen Residenzstadt, wie Potsdam, oder der Pensionopolis, wie Wiesbaden“ erkennbar werde. Ebd., S. 221.
60
Ebd., S. 223.
Webers Typologie, sein Nachdruck auf der Bedeutung der Herkunft der Kaufkraft der örtlichen Konsumenten, die Hervorhebung der verschiedenen Formen des Rentnertums ist sicherlich durch die Auseinandersetzung mit Sombart geprägt,
61
stellt jedoch eine eigenständige Konzeption dar. Wäh[13]rend sich Sombart ganz auf die europäischen Städte der Neuzeit konzentriert, geht es Weber offensichtlich darum, eine für alle Epochen und Kulturen anwendbare Typologie zu entwickeln. Weber war Sombart jedoch insofern gefolgt, als er für die Stadt unterstellt hatte, daß sie vom Ertrag nichtlandwirtschaftlicher Arbeit lebte; Dafür sprechen auch Details wie die Bezeichnung von Wiesbaden als „Pensionopolis“ oder die Parallele im Hinblick auf die Tendenzen zur „Citybildung“; Sombart, Kapitalismus, Band 2, S. 247 f.
62
der auf seine Absage an eine weitere Erörterung einer „streng ökonomischen Städtetheorie“ folgende Absatz mit der Hervorhebung der Ackerbürgerstädte in Antike und Mittelalter korrigiert dies in gewisser Weise.[13] Diese „rein ökonomische“ Definition hatte Weber jedoch mit Einschränkungen versehen; unten, S. 60; vgl. Sombart, Kapitalismus, Band 2, S. 191: „eine Ansiedlung von Menschen, die für ihren Unterhalt auf die Erzeugnisse fremder landwirtschaftlicher Arbeit angewiesen sind“.
63
Unten, S. 67. Sombart, Kapitalismus, Band 2, S. 191 f. hatte diesen Typus („Landstädte“ in seiner Terminologie) aus seiner ökonomischen Definition ausgeschlossen. – Ob Weber die Kategorie „Ackerbürgerstadt“ geprägt hat, läßt sich nicht verifizieren. Klar ist jedenfalls, daß Weber sie nicht bevorzugt auf das Mittelalter angewendet hat, auch wenn sich „Ackerbürgerstädtchen“ in: Agrarverhältnisse3, S. 171 (MWG I/6), auf das Mittelalter bezieht. In: Römische Agrargeschichte, MWG I/2, S. 144, wird der Begriff „Ackerbürgerstadt“ auf die italische Frühzeit appliziert, in: Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 266, spricht Weber auch von Ackerbürgerstädten in China. – Für das Vorkommen in zeitgenössischer Literatur vgl. Meyer, Eduard, Die wirtschaftliche Entwickelung des Altertums. – Jena: Gustav Fischer 1895, S. 60, Anm. 4.
Für die weiteren Ausführungen Webers bleiben die am Anfang des Textes vorgenommenen Typologisierungen weitgehend unerheblich; die Begriffe „Konsumentenstadt“, „Produzentenstadt“, „(Grund-)Rentnerstadt“ und „Beamtenstadt“ werden im späteren Text nicht mehr aufgenommen.
Wenn somit die Relevanz dieser Passagen für den gesamten Text nicht zwingend scheint, so kann doch auf jeden Fall ausgeschlossen werden, daß es sich hier (oder gar beim ganzen Text) um Ausführungen zur „Stadtsoziologie“ handelt, weder in der Art, wie sie seinerzeit Georg Simmel betrieb,
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noch gar in einem später gebräuchlichen Sinne. Simmel, [Georg], Die Großstädte und das Geistesleben, in: Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung (Jahrbuch der Gehe-Stiftung zu Dresden, Band 9). – Dresden: Zahn & Jaensch 1903, S. 185–206. Das schließt Berührungen in einzelnen Punkten mit den stärker universalhistorisch ausgerichteten Arbeiten Simmels wie: Soziologie des Raums, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Jg. 27, 1903, S. 25–71, und: Über räumliche Projektion sozialer Formen, in: Zeitschrift für Socialwissenschaft, Jg. 6, 1903, S. 287–302, nicht aus; vgl. weiter unten, S. 19, Anm. 102.
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Die von Wirth, Louis, Urbanism as a Way of Life, in: American Journal of Sociology, vol. 44, 1938/39, S. 1–24, hier S. 8, sowie von Don Martindale im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe der „Stadt“ (Weber, Max, The City, translated and ed. by Don Martindale and Gertrud Neuwirth. – New York: Free Press 1958) gezogene Verbindungslinie zur „urban sociology“ der „Chicago-School“ geht an der Sache völlig vorbei.
[14]Die Stadtgemeinde
Nach Beendigung der Diskussion um einen generellen Stadtbegriff leitet Weber zur Erörterung des „politisch-administrativen“ Stadtbegriffs über. Die Stadt in diesem Sinne, die über ein abgegrenztes Stadtgebiet verfügt, wird historisch auf den Ursprung aus einer „Festungsstadt“ zurückgeführt. Es handle sich um einen – im Regelfall durch eine Mauer – befestigten Ort, der sich von anderen befestigten Ansiedlungen dadurch unterscheide, daß er zu einer mit einer Garnison versehenen herrscherlichen Burg gehörte, so daß sich ökonomischer „Marktfrieden“ und militärischer „Burgfrieden“ ergänzten.
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Für die Entwicklung der Stadtverfassung sei überall entscheidend gewesen, wieweit der Herrscher sich ein Monopol auf die Erträge des (Fern- bzw. See-)Handels habe sichern können oder diese nolens volens mit seinem Gefolge habe teilen müssen bzw. wie sich die „politisch-militärische Struktur desjenigen Herrschaftsverbandes [entwickelt habe], innerhalb dessen die Stadtgründung oder Stadtentwicklung sich vollzog“.[14] Unten, S. 80.
67
Unten, S. 84.
Die Stadt, die sich durch die Kombination von Befestigung und Markt auszeichnet, ist für Weber ein universales Phänomen. Dies gilt jedoch nicht für die Stadt als „Gemeinde“, für die neben Befestigung und Markt ein eigenes Gericht und – in Grenzen – eigenes Recht, Verbandscharakter und partiell Autonomie und Autokephalie konstitutiv seien. Städte mit Verbandscharakter, in denen eine Stadtbürgerschaft Träger ständischer Privilegien gewesen sei, seien das auszeichnende Merkmal der okzidentalen Kultur, das sie scharf vom Orient abhebe.
Die über die allgemeine rechtliche Definition der Stadt hinausgehenden, eben genannten Kriterien finden sich in der Sache weitgehend bereits in einschlägigen Darstellungen Georg von Belows.
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Below hatte sich bei seinen Bemühungen um eine Definition der „Stadt im Rechtssinne“ Below, Georg v[on], Zur Entstehung der deutschen Stadtverfassung. Zweiter Theil, in: Historische Zeitschrift, Band 59, 1888, S. 193–247, hier S. 194; ders., Das ältere deutsche Städtewesen und Bürgertum (Monographien zur Weltgeschichte, Band 6), 2. Aufl. – Bielefeld [u. a.]: Velhagen und Klasing 1905, S. 4; ders., Stadtgemeinde, Landgemeinde und Gilde, in: Vierteljahrschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte, Band 7, 1909, S. 411–445, hier S. 412.
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– wie in allen seinen Arbeiten Below, Georg v[on], Die ältere deutsche Stadtverfassung, in: Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart, Band 10, 1906, S. 313–321, hier S. 314.
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– auf die mittelalterlichen Verhältnisse in Deutschland bezogen: er hatte jedoch in der Frage geschwankt, ob man der mittel[15]alterlichen deutschen Stadt „Gemeinde“-Qualität zuschreiben solle, Vgl. Bloch, Marc, Un temperament: Georg von Below, in: Annales d’histoire économique et sociale, Année 3, 1931, S. 553–559, hier S. 557 f.; OexIe, Otto G., Ein politischer Historiker: Georg von Below (1858–1927), in: Hammerstein (Hg.). Geschichtswissenschaft (wie oben, S. 8, Anm. 40), S. 283–312, hier S. 309 f.
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oder ob diese Kategorie nicht besser auf die mit vergleichsweise geringeren Selbstverwaltungsrechten ausgestatteten mittelalterlichen Dörfer bzw. modernen Städte passe.[15] So Below, Georg von, Die Entstehung der deutschen Stadtgemeinde. – Düsseldorf: L. Voß 1889, S. 2 f.
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Möglicherweise hängt dies mit seiner Deutung zusammen, die Landgemeinde habe in diversen Hinsichten das Muster für die Stadtverfassung abgegeben. So Below, Georg v[on], Zur Entstehung der deutschen Stadtverfassung. Zweiter Theil, in: Historische Zeitschrift. Band 59, 1888, S. 193–247, hier S. 194.
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Below, Georg von, Der Ursprung der deutschen Stadtverfassung. – Düsseldorf: L. Voß 1892; ders., Stadtgemeinde, Landgemeinde und Gilde, in: Vierteljahrschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte, Band 7, 1909, S. 411–445.
Weber geht es auch hier wieder um eine von einer konkreten historischen Konstellation ablösbare Kategorie, die eine Minimaldefinition abgibt, die von den italienischen Stadtstaaten des Mittelalters
74
und den antiken Stadtrepubliken a fortiori erfüllt wird. Problematisch wird jedoch die Assoziation von „Gemeinde“ und „anstaltsmäßiger Gebietskörperschaft“, die das Recht auf alle Rechtsunterworfenen nach dem Territorialprinzip anwendet. Unten, S. 237 f.
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Der Charakter als Gebietskörperschaft impliziert Grenzen der Autonomie, die durch den übergeordneten staatlichen Verband gesetzt sind. Weber ist sich bewußt, daß der ein Spannungsverhältnis zum „Staat“ implizierende Gemeindebegriff Vgl. WuG1, S. 28 (MWG I/23).
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eigentlich nur auf die nicht mehr über politische Unabhängigkeit verfügenden Städte innerhalb der hellenistischen Großstaaten bzw. innerhalb des Römischen Reiches zutrifft. Unten, S. 232, werden (in einem anderen Kontext) Gemeinden dadurch definiert, daß sie „kraft Delegation des Staates einen Teil von dessen Aufgaben“ erfüllen.
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Auch insofern erscheint seine Aussage problematisch, daß mit der „Durchführung des Ortsgemeindeprinzips“ die Polis als solche (nicht etwa ihre Untereinheiten) zu einer „anstaltsmäßigen Gebietskörperschaft“ geworden sei. Unten, S. 112; ähnlich schon Weber, Soziale Gründe, S. 68 (MWG I/6).
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Unten, S. 217. Vgl. Webers Erörterung des „Anstalts“-Begriffs in: Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur, Band 4, 1913, S. 253–294, hier S. 287–290 (MWG I/12), sowie WuG1, S. 270 (MWG I/22–2).
Typische Verlaufsformen der Verfassungsentwicklung in frühen Gesellschaften
Auch wenn Weber sich von ökonomischen Stufenmodellen distanziert, so rechnet er doch mit bestimmten typischen Verlaufsformen der Verfassungsentwicklung. Weber nimmt das Schema der „Organisationsstufen“ aus den [16]„Agrarverhältnissen“ in der „Stadt“ insofern wieder auf, als er die Phänomene des Burgkönigtums bzw. eines Burgadels sowie des ritterlichen Kampfes, speziell mit Streitwagen, als seit der Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. universale Erscheinungen „von China bis Irland“
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nachzuweisen sucht, was mitunter zu recht angestrengten Interpretationen der Befunde führt.[16] Die Formulierung findet sich in: Weber, Judentum I, S. 78 (MWG I/21), die Sache ebenso unten, S. 76 f.
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Auch für die mittelalterliche Entwicklung des Okzidents sei ausschlaggebend gewesen, daß die Burg die militärische Beherrschung des Landes ermöglicht habe, so daß entscheidend gewesen sei, wer über dieses Herrschaftsmittel verfügt habe. Unten, S. 77 mit Anm. 45, S. 79 mit Anm. 53, S. 175, S. 179 mit Anm, 123 und S. 185 mit Anm. 145.
81
Unten, S. 79.
Weber konstatiert, daß außerhalb des Okzidents im Regelfall keine Entwicklung zu einer Stadtgemeinde stattgefunden habe bzw. diese über „Ansätze“ nicht hinausgekommen sei.
82
Begründungen dafür lassen sich im vorliegenden Text nur in höchst verkürzter Form finden, sie sind jedoch für die wichtigsten Beispiele aus den „Agrarverhältnissen“ bzw. aus den religionssoziologischen Studien zu entnehmen. Für das antike Ägypten und Mesopotamien wird erneut auf die durch die Bedürfnisse der Stromregulierung und Bewässerung bedingte Stärke der königlichen Bürokratie hingewiesen, Unten, S. 84 f., 88 f., 108 f. und 121.
83
wobei für Mesopotamien nicht ganz ausgeschlossen wird, daß es gewisse Ansätze zu einer Stadtgemeindebildung gegeben haben könnte. Unten, S. 143 f.
84
Aufmerksamkeit finden auch die kanaanitischen Städte (vor ihrer Eroberung durch die Israeliten) und die phoinikischen Seestädte, in denen ein Handelspatriziat seine Herrschaft dauerhaft bewahrt und nicht (jedenfalls nicht vor der hellenistischen Zeit) einer breiteren Schicht der Bürgerschaft politische Partizipation eingeräumt habe, wofür auch in Karthago keine Notwendigkeit bestanden habe, da man sich für die Expansionspolitik auf Söldner stützte. Die Bemerkungen, unten, S. 84, 92 f., 107 f. und 222, lassen ein Schwanken in diesem Punkt erkennen, zumal wenn S. 93 Analogien zur antiken Polis auch „am Euphrat“ festgestellt werden.
85
Unten, S. 93 und 291.
Besonderes Interesse gilt schließlich den Verhältnissen im alten Israel, wo die Entwicklung zur Polis etwa den Stand erreicht habe, der sich für das archaische Griechenland und die Frühphase der römischen Republik feststellen lasse,
86
zumal man auch hier das typische Phänomen feststellen könne, daß ein stadtsässiger, wehrhafter Adel die Bauern in seine Abhän[17]gigkeit gebracht habe. Unten, S. 93 f., und Weber, Judentum I, S. 76 (MWG I/21).
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Die Entwicklung in Israel fügt sich jedoch nicht ohne weiteres dem Schema der Weberschen „Organisationsstadien“. Wie Weber sich im einzelnen die Herausbildung eines städtischen Patriziats innerhalb der ursprünglich stark bäuerlich geprägten Eidgenossenschaft der vereinigten Stämme,[17] Unten, S. 94 und 223.
88
den Charakter des späteren Königtums, dessen zentralistische Tendenzen an den Rechten der traditionellen Honoratioren Schranken fanden, Unten, S. 107 f. nur implizit angedeutet; vgl. Weber, Judentum I, S. 78–84 (MWG I/21).
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die Eigenart und zeitliche Ansetzung des „Stadtstaats“ Juda, Unten, S. 88.
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schließlich die Konstituierung der aus dem Exil zurückgekehrten jüdischen Bevölkerung als rein religiöser, nicht politischer Gemeinde vorstellt, Unten, S. 93. – Die Stadtstaatlichkeit sieht Weber anscheinend generell für den, nach der Teilung des Reiches Salomos im Jahre 927/26 v. Chr. entstandenen, Südstaat Juda gegeben; das sich auf eine Bürokratie stützende Königtum sei dann mit den Reformen des späten 7. Jahrhunderts v. Chr. unter die Kontrolle der Priesterschaft geraten, zu einer Zeit, als der Staat Juda mit der „Polis“ Jerusalem gleichzusetzen gewesen sei; Weber, Agrarverhältnisse3, S. 93 (MWG I/6); Weber, Judentum I, S. 122 (MWG I/21).
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läßt sich aus den – gerade angesichts der Komplexität der Verhältnisse – äußerst knappen Bemerkungen im vorliegenden Text der „Stadt“ schwerlich verstehen, ohne daß man die früheren Äußerungen in den „Agrarverhältnissen“ und vor allem die umfangreichen Studien zum Judentum heranzieht. Unten, S. 93 und 121; vgl. Weber, Judentum VI, 555 und 577 (MWG I/21), und WuG1, S. 259 (MWG I/22-2).
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Allerdings bleiben auch dann noch viele offene Fragen; vgl. u. a. Caspari, Wilhelm, Die Gottesgemeinde vom Sinaj und das nachmalige Volk Israel. Auseinandersetzungen mit Max Weber (Beiträge zur Förderung christlicher Theologie, Band 27, Heft 1). – Gütersloh: C. Bertelsmann 1922; Guttmann, Julius, Max Webers Soziologie des antiken Judentums, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, Jg. 69, 1925, S. 195–223 (wieder abgedruckt in: Schluchter, Wolfgang (Hg.), Max Webers Studie über das antike Judentum. Interpretation und Kritik. – Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 289–326); Schäfer, Christa, Stadtstaat und Eidgenossenschaft. Max Webers Analyse der vorexilischen Gesellschaft, ebd., S. 78–109; Schäfer-Lichtenberger, Christa, Stadt und Eidgenossenschaft im Alten Testament. Eine Auseinandersetzung mit Max Webers Studie „Das antike Judentum“ (Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, Beiheft 156). – Berlin [u. a.]: Walter de Gruyter 1983; Petersen, David L., Max Weber and the Sociological Study of Ancient Israel, in: Sociological Inquiry, vol. 49, 1979, S. 117–149; Schottroff, Willy, Soziologie und Altes Testament, in: Verkündigung und Forschung, Jg. 19, 1974, S. 46–66, hier S. 49–56; Fahey, Tony, Max Weber’s Ancient Judaism, in: American Journal of Sociology, vol. 88, 1982, S. 62–87; Kreuzer, Siegfried, Max Weber, George Mendenhall und das sogenannte Revolutionsmodelll für die ,Landnahme‘ Israels, in: Altes Testament. Forschung und Wirkung. Festschrift für Henning Graf Reventlow, hg. von Peter Mommert und Winfried Thiel. – Frankfurt am Main [u. a.]: Peter Lang 1994, S. 283–305.
[18]Die ostasiatischen Städte
Weber skizziert ferner, warum sich in den großen ostasiatischen Reichen Japan, Indien und China keine Stadtautonomie entwickelt habe.
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Für Japan werden das Fehlen von Befestigungen und die unmittelbare Kontrolle durch Beamte der Monarchie angeführt, die nur gewisse Formen von Selbstverwaltung auf der Ebene von Stadtvierteln[18] In den religionssoziologischen Studien werden die Unterschiede hinsichtlich der Bedeutung der Stadtkultur jeweils in den Eingangssätzen herausgestellt: „China war, in scharfem Gegensatz zu Japan, schon seit einer für uns vorhistorischen Zeit ein Land der großen ummauerten Städte“; Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 128; „Indien ist und war, im Gegensatz zu China, ein Land der Dörfer […]“; Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 49.
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bzw. Berufsverbänden zugelassen habe. Daß eine Organisation von Stadtvierteln als solche noch keine Stadtgemeinde konstituiert, sondern unter Umständen den Ausbruch gewalttätiger Konflikte fördert, wird an den Beispielen Mekka und Konstantinopel sowie der Städte der Goldküste hervorgehoben; unten, S. 95–98, 99 f. und 108. Anders liegt der Fall, wenn wie im Mittelalter (so in London und in den italienischen Städten) Stadtviertel Bestandteil der politischen Organisation der Stadt sind; unten, S. 194 und 216.
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Für China und Indien wird ebenfalls betont, daß die Städte Sitze der Monarchen bzw. ihrer Behörden gewesen seien, so daß in China Selbstverwaltung am ehesten noch im Dorf stattfinden konnte. Unten, S. 73, 86 und 88 f.
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Aber Weber begnügt sich nicht mit den Feststellungen über die Stärke der Zentralgewalten, die er im chinesischen Fall erneut auch mit dem Zusammenhang von Stromregulierung und Bürokratisierung erklärt. Unten, S. 73 und 89. – In: Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 266, wird dies auf die Formel von der Stadt als „Mandarinensitz ohne Selbstverwaltung“ und dem Dorf als „Ortschaft mit Selbstverwaltung ohne Mandarinen“ zugespitzt.
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Indien und China werden in besonderer Weise als Gegenmodelle zur okzidentalen Stadt angesehen, da es hier religiöse Faktoren gewesen seien, die die Möglichkeit einer auf Verbrüderung basierenden Stadtgemeindebildung verhindert hätten. Und dies, obwohl sich für das indische Altertum Unten, S. 143 f. – Vgl. Zingerle, Arnold, Max Weber und China. Herrschafts- und religionssoziologische Grundlagen zum Wandel der chinesischen Gesellschaft (Soziologische Schriften, Band 9). – Berlin: Duncker & Humblot 1972, S. 59–64; Elvin, Mark, Warum hat das vormoderne China keinen industriellen Kapitalismus entwickelt? Eine Auseinandersetzung mit Max Webers Ansatz, in: Schluchter, Wolfgang (Hg.), Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus. – Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 114–133, hier S. 124 f.
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durchaus Beispiele einer von einem Patriziat getragenen Stadtautonomie feststellen ließen, Der von Weber unterstellte chronologische Rahmen läßt sich nicht eindeutig definieren; er reicht frühestens vom 6., wahrscheinlicher erst vom 3. Jahrhundert v. Chr., bis zum 6. Jahrhundert n. Chr. Die häufige zeitliche Unbestimmtheit seiner Aussagen ist allerdings auch Folge der Eigenart der indischen Überlieferung.
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[19]und es sowohl für Indien wie für China (in beiden Fällen wohl die gesamte Geschichte hindurch) beachtliche faktische, wenngleich nicht rechtlich abgesicherte, Kompetenzen von Gilden und Zünften gegeben habe. Unten, S. 93. Vgl. Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 53: „Die Städteentwicklung näherte sich jahrhundertelang in wichtigen Punkten […] mittelalterlichen occidentalen Erscheinungen“.
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Entscheidend sei aber gewesen, daß die nach dem endgültigen Sieg des Brahmanismus[19] Unten, S. 85–89 und 145. – Vgl. v.a. Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 91: „Im Zeitalter ihrer Blüte glich die Stellung der Gilden [in Indien] durchaus derjenigen in den Städten des mittelalterlichen Occidents“; ferner die Bemerkungen zu äußerlichen Parallelen zwischen chinesischen und englischen Gilden, in: Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 151 f. Webers wichtigste Quelle für die ausführliche Darstellung der Gilden in der Chinastudie (Konfuzianismus, MWG I/19, v.a. S. 155–158) ist Morse, Hosea B., The Gilds of China. With an Account of the Gild Merchant or Co-hong of Canton. – London: Longmans, Green 1909; dort werden die neuzeitlichen Gilden in China durchgängig mit dem mittelalterlichen englischen Pendant verglichen.
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etablierte Kastenordnung, mit der rituellen Absonderung der Berufe voneinander, jegliche Tischgemeinschaft als Verwirklichung von Verbrüderung definitiv ausgeschlossen habe. Von Weber wurde dies als ein Prozeß verstanden, der etwa im 6. Jahrhundert n. Chr. begann, sich aber über mehrere Jahrhunderte hinzog; Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 464-467; vgl. Kulke, Hermann, Orthodoxe Restauration und hinduistische Sektenreligiosität im Werk Max Webers, in: Schluchter, Wolfgang (Hg.), Max Webers Studie über Hinduismus und Buddhismus. Interpretation und Kritik. – Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 293–332, hier S. 319 ff.
102
In der chinesischen Gesellschaft habe der Ahnenkult auch den Stadtbewohner an seine Sippe und das Herkunftsdorf gebunden, somit den Zusammenschluß zu einer Stadtgemeinde, wenn nicht prinzipiell, so doch de facto ausgeschlossen. Unten, S. 89, 109, 112, 121 und 143. Vgl. Nelson, Benjamin, On Orient and Occident in Max Weber, in: Social Research, vol. 43, 1976, S. 114–129. – Dieser Punkt ist auch von Simmel, Georg, Soziologie der Mahlzeit, in: ders., Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, hg. von Michael Landmann. – Stuttgart: K. F. Koehler 1957, S. 243–250 (zuerst erschienen in: Der Zeitgeist, Beiblatt zum Berliner Tageblatt, 19.10.1910), hervorgehoben worden. Ob Weber diesen Zeitungsartikel gekannt hat, muß offenbleiben.
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Auch diese Bemerkungen erschließen sich erst ganz, wenn man Webers Studien zu Hinduismus und Buddhismus Unten, S. 110, 112, 115 und 143.
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bzw. Konfuzianismus und Taoismus Namentlich zum Ausschluß der Verbrüderung durch die Kastenordnung, zur „brahmanischen Restauration“ und zu den Zünften. – Die Frage, ob Weber die indische Sozialstruktur angemessen erfaßt habe bzw. einer eurozentrischen Sichtweise aufgesessen sei, kann hier nicht erörtert werden; für Kritik in diesem Sinne vgl. u. a. Rösel, Jakob, Die Hinduismusthese Max Webers. Folgen eines kolonialen Indienbildes in einem religionssoziologischen Gedankengang (Materialien zu Entwicklung und Politik, Band 22). – München [u. a.]: Weltforum Verlag 1982; Munshi, Surendra, Max Weber über Indien. Eine einführende Kritik, in: Kocka, Jürgen (Hg.), Max Weber, der Historiker (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Band 73). – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986, S. 221–241 (dessen Beispiele aus dem 19. Jahrhundert jedoch Webers Argumentation schwerlich treffen können).
105
heranzieht. Insbesondere die diversen Ausführungen zum Ahnenkult, zu den Gilden und Zünften [20]sowie zur Selbstverwaltung des Dorfes. Auffällig ist, daß in dieser Studie die Kategorie der Verbrüderung bzw. ihrer Hemmung durch den Ahnenkult nicht vorkommt. – Zu Webers Bild der chinesischen Stadt, das jedoch die zahlreichen Städte, die nicht Behördensitz waren, nicht erfaßt, vgl. u. a. Franke, Herbert, Max Webers Soziologie der ostasiatischen Religionen, in: Max Weber. Gedächtnisschrift der Ludwig-Maximilians-Llniversität München zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages 1964, hg. von Karl Engisch, Bernhard Pfister, Johannes Winckelmann. – Berlin: Duncker & Humblot 1966, S. 115–130, hier S. 118–124; Eberhard, Wolfram, The Structure of the Pre-Industrial Chinese City, in: ders., Settlement and Social Change in Asia. Collected Papers, Vol. 1. – Hong Kong: University Press 1967, S. 43–64; Shiba, Yoshinobu, Max Webers Beitrag zur Geschichte nicht-europäischer Gesellschaften: China, in: Kocka (Hg.), Max Weber, S. 242–256, hier S. 248 ff.; zur Rolle des Dorfes Sprenkel, Sybille van der, Die politische Ordnung Chinas auf lokaler Ebene: Dörfer und Städte, in: Schluchter (Hg.), Konfuzianismus (wie oben, S. 18, Anm. 97), S. 91–113.
[20]Verbrüderung
Die schon erwähnte Kategorie der „Verbrüderung“ ist grundlegend nicht nur für den Zivilisationsvergleich, sondern auch für die Unterschiede, die trotz aller Gemeinsamkeiten innerhalb der okzidentalen Kultur bestehen. Der Verbrüderungscharakter gilt als auszeichnendes Merkmal der okzidentalen Stadtgemeinde. Nur sie gründet auf willkürlich konstituierten Verbänden im Gegensatz zu natürlichen oder als natürlich gedachten Abstammungsgemeinschaften. Zwischen den Mitgliedern dieser Verbände bestehen keine Hemmnisse für alle Formen sozialen Verkehrs, einschließlich der Markttransaktionen; neben connubium und commercium ist es vor allem Kommensalität, das Bestehen von Tischgemeinschaft, die symbolischer Ausweis von Verbrüderung ist.
106
In der „Stadt“ unterscheidet Weber zwischen Verbrüderungen, die von Verbänden verwandtschaftlicher oder militärischer Natur ausgehen, und solchen, bei denen sich Individuen zusammenschließen; Unten, S. 109 f., und WuG1, S. 247 (MWG I/22-2); Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 94 f.
107
in beiden Fällen wird aber die prinzipielle rechtliche Gleichheit der beteiligten Gruppen oder Individuen impliziert. Unten, S. 110–112, 179 f. und 217.
108
Die höchste Intensität wird bei der von Individuen getragenen Verbrüderung erreicht. Historisch sieht Weber das Verbrüderungsprinzip deshalb vor allem in der mittelalterlichen Stadtgemeinde verwirklicht, und zwar in der ursprünglichen Eidverschwörung (coniuratio), aus der die Kommune hervorgeht, weiter in den Sonderverbandsbildungen des popolo der italienischen Kommu[21]nen und schließlich auch auf der Ebene kleinerer Verbände sowohl berufsständischer wie religiöser Provenienz. In der Rechtssoziologie von WuG1, S. 415 f. (MWG I/22-3), faßt Weber dagegen auch „,Status‘-Kontrakte“ zwischen Ungleichen wie u. a. Herr und Sklave, Patron oder Klient als „Verbrüderungsverträge“ auf; vgl. Meier, Christian, Einleitung, in: ders. (Hg.), Die Okzidentale Stadt nach Max Weber. Zum Problem der Zugehörigkeit in Antike und Mittelalter (Historische Zeitschrift, Beihefte, Neue Folge, Band 17). – München: R. Oldenbourg 1994, S. 7–33, hier S. 18.
Weber hat sich nicht dazu geäußert, woher er die Kategorie der Verbrüderung gewonnen hat, die in seinem früheren Werk noch keine erkennbare Rolle gespielt hatte, in der „Stadt“ jedoch zentral wird. Die Bruderschaftsterminologie deckt ein breites Spektrum sozialer Zusammenschlüsse ab, die in je unterschiedlicher Weise auf der christlichen Brüderlichkeitsidee gründen. Geläufig war die Bezeichnung „Verbrüderung“ in erster Linie für die, der wechselseitigen Fürbitte und dem Totengedächtnis dienenden, Gebets-Verbrüderungen zwischen Klöstern im frühen Mittelalter.
109
Inhaltlich zeigt Webers Kategorie eine beachtliche Nähe zu Gierkes Konzept der „freien Einungen“ als „gewillkürte“ bzw. „gekorene Genossenschaften“ in der Abgrenzung zu auf Abstammung oder Verwandtschaft basierenden Verbänden.[21] Wilda, Wilhelm E., Das Gildenwesen im Mittelalter. – Halle: Renger 1831, S. 31; Hartwig, O[tto], Untersuchungen über die ersten Anfänge des Gildewesens, in: Forschungen zur Deutschen Geschichte, Band 1, 1862, S. 133–163, hier S. 151 f.; Ebner, Adalbert, Die klösterlichen Gebets-Verbrüderungen. Eine kirchengeschichtliche Studie. – Regensburg [u. a.]: Friedrich Pustet 1890. – In der Ethnologie begegnet „Verbrüderung“ auch als Bezeichnung für rituell geschlossene „Blutsbrüderschaft“; vgl. Kohler, J[osef], Studien über die künstliche Verwandtschaft, in: Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft, Band 5, 1884, S. 415–440, hier S. 434 f.
110
Gierke, der die Genossenschaften als genuin germanisch-rechtliches Phänomen ansah, hatte diesen Einungscharakter primär am Beispiel der mittelalterlichen Gilden mit ihrer Verknüpfung religiöser und sozialer Funktionen herausgestellt; Gierke, Otto, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Band 1: Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft. – Berlin: Weidmann 1868, S. 9 und 221.
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er spricht in diesem Kontext auch einmal beiläufig von „Verbrüderungen“. Vgl. Dilcher, Gerhard, Zur Geschichte und Aufgabe des Begriffs Genossenschaft, in: Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey. Studien zu Grundbegriffen der germanistischen Rechtstheorie. Symposion für Adalbert Erler, hg. von Gerhard Dilcher und Bernhard Diestelkamp. – Berlin: Erich Schmidt 1986, S. 114–125; Oexle, Otto G., Otto von Gierkes ,Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft‘. Ein Versuch wissenschaftsgeschichtlicher Rekapitulation, in: Hammerstein (Hg.), Geschichtswissenschaft (wie oben, S. 8, Anm. 40), S. 193–217; Blickle, Peter, Otto Gierke als Referenz? Rechtswissenschaft und Geschichtswissenschaft auf der Suche nach dem Alten Europa, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, Band 17, 1995, S. 245–263; Hardtwig, Wolfgang, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland, Band 1: Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution. – München: C. H. Beck 1997, S. 25–33.
112
Weber akzentuiert jedoch noch stärker als Gierke die kultische Dimension solcher Zusammenschlüsse und sieht in der [22]„Verbrüderung“ – ungeachtet der neuen Möglichkeiten, die erst durch das Christentum eröffnet worden seien – eine von den spezifisch mittelalterlichen Verhältnissen ablösbare Kategorie. Gierke, Genossenschaftsrecht, Band 1, S. 237. – Der Begriff begegnet auch schon bei Wilda, Gildewesen, S. 307: „Verbrüderungen der Handwerker“: vgl. ebd., S. 200: „Bürgerverbrüderung“, oder Hartwig, Untersuchungen, S. 153 und 154: „Gildeverbrüderungen“.
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[22] Vgl. auch Sohm, Rudolph, Kirchengeschichte im Grundriß, 8., vermehrte Aufl. – Leipzig: E. Ungleich 1893, S. 4, der im Hinblick auf die Parallele zwischen den heidnischen Kultgenossenschaften und den frühchristlichen Gemeinden von einer „allgemeine[n] Verbrüderung der Vereinsgenossen“ spricht.
Grenzen der Verbrüderung in der Antike
Weber hat die Verbrüderung in der Antike vor allem im Akt des „Synoikismos“ verwirklicht gesehen. Diese, der Quellensprache entlehnte, Kategorie war ein geläufiger Begriff der Forschung.
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Es geht bei dieser „Zusammensiedlung“ um die Konstituierung eines politischen Entscheidungszentrums, bei der für Weber entscheidend ist, daß sich in Griechenland und Rom die wehrfähigen Geschlechter – unter Aufgabe ihrer Burgen, wie er unterstellt – in der Stadt ansiedelten. In: Weber, Agrarverhältnisse3, S. 183 (MWG I/6), beruft sich Weber auf Kuhn, Emil, Über die Entstehung der Städte der Alten. Komenverfassung und Synoikismos. – Leipzig: B. G. Teubner 1878.
115
In der „Stadt“ hebt Weber den kultischen Zusammenschluß im Sinne einer Verbrüderung hervor, die sich namentlich in der Speisegemeinschaft dieser Wehr- und Sippenverbände ausweise. Weber, Agrarverhältnisse3, S. 101, 102, 109, 123, 145, 148, 150 und 152 (MWG I/6); vgl. noch WuG1, S. 153 (MWG I/23). – Ein Zusammenschluß von Sippenverbänden liegt ebenfalls beim Synoikismos in Jerusalem nach der Rückkehr der Juden aus dem Exil vor; Weber, Agrarverhältnisse3, S. 95 und 125 (MWG I/6), Weber, Judentum I, S. 76 f. und 83 (MWG I/21), sowie unten, S. 116.
116
(Das Argument paßt in Grenzen auf die griechischen Verhältnisse, jedoch schwerlich auf Rom). Unten, S. 110 f., 121 und 179 f.; in: Weber, Agrarverhältnisse3, S. 126 (MWG I/6), wird dieser Punkt nur en passant erwähnt.
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Die Prägung der antiken Verbrüderung durch den ursprünglichen Zusammenschluß von Geschlechtern, die mit der Exklusivität ihrer Kulte die Abgrenzung zu den Nicht-Adligen aufrecht erhalten hätten, Vgl. Nippel, Wilfried, Max Weber zwischen Althistorie und Universalgeschichte: Synoikismos und Verbrüderung, in: Meier (Hg.), Okzidentale Stadt (wie oben, S. 20, Anm. 108), S. 35–57, hier S. 50–54; Martin, Jochen, Der Verlust der Stadt, ebd., S. 95–114, hier S. 101.
118
sei erst später von seiten der „sippenlosen“ Plebs aufgehoben worden. Vgl. WuG1, S. 236 (MWG I/22-2).
119
Diese Argumentation folgt offensichtlich der Intention, den Kontrast zu den Phänomenen der Verbrüderung im Mittelalter herauszustellen. Unten, S. 110–112, 179 f. und 216 f.
120
Nippel, Max Weber zwischen Althistorie und Universalgeschichte, S. 42–46 und S. 49.
[23]Für die im Mittelalter mögliche Verbrüderung von Individuen sei nämlich entscheidend gewesen, daß alle schon der gemeinsamen Kirche angehört hätten (was zugleich den Ausschluß der Juden bedingte).
121
Einen welthistorisch folgenreichen Durchbruch, der eine positive religiöse Disposition für diese Form der Verbrüderung geschaffen habe, sieht Weber in der Herauslösung des Christentums aus den Vorschriften des jüdischen Gesetzes, wie sie Paulus durchgesetzt habe. Symbolisiert werde dies durch den von Paulus im Galaterbrief geschilderten Konflikt in Antiochia, bei dem Petrus zunächst die Tischgemeinschaft mit (unbeschnittenen) Heidenchristen gepflegt hatte, diese dann aber aufgrund der Vorhaltungen von Vertretern der (judenchristlichen) Gemeinde aus Jerusalem wieder aufgab. Allerdings kommt Weber in der „Stadt“ darauf nur mit einem Satz zu sprechen.[23] Unten, S. 119 und 180.
122
Unten, S. 111 f. – Vgl. zur Bedeutung dieses Streits Weizsäcker, Carl, Das apostolische Zeitalter der christlichen Kirche, 3. Aufl. – Tübingen [u. a.]: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1902, S. 158–167. – Die Einzelheiten, namentlich der Zusammenhang mit den Beschlüssen des sogenannten Apostelkonzils (Apostelgeschichte 15) und der ungewisse Ausgang des konkreten Konflikts in Antiochien, interessieren Weber hier augenscheinlich nicht.
Größte Bedeutung legt er dem „Tag von Antiochien“
123
jedoch in der Hinduismus-Studie bei, in der der Kontrast zur indischen Kastenordnung, die eben gerade jede Tischgemeinschaft über die Kastengrenzen hinweg ausgeschlossen habe, betont wird. „Die Abstreifung aller rituellen Geburts-Schranken für die Gemeinschaft der Eucharistie, wie sie in Antiochia vor sich ging, war auch – hingesehen auf die religiösen Vorbedingungen – die Konzeptionsstunde des ,Bürgertums‘ des Occidents, wenn auch dessen Geburt, in den revolutionären ,conjurationes‘ der mittelalterlichen Städte, erst mehr als ein Jahrtausend später erfolgte. Denn ohne Kommensalität, christlich gesprochen: ohne gemeinsames Abendmahl, war eine Eidbrüderschaft und ein mittelalterliches Stadtbürgertum gar nicht möglich.“ So die Formulierung in: Weber, Wirtschaftsgeschichte, S. 277 (MWG, Abt. III) [[MWG III/6]].
124
Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 96 f.; vgl. noch WuG1, S. 247 (MWG I/22-2).
Commune und coniuratio
Das Gegenstück zum antiken Synoikismos liegt in der mittelalterlichen coniuratio, durch die eine Commune konstituiert wird. Das entscheidende Moment liegt in der Verbrüderung von Individuen durch Eidverschwörung. Dies gilt auch für die Verbände innerhalb einer Stadt, die sich nach dem gleichen Muster konstituieren. Die Frage nach der Bedeutung von Tischgemeinschaften wird (abgesehen vom Hinweis auf die grundsätzliche Bedeu[24]tung der Abendmahlsgemeinschaft) hier jedoch nicht mehr konkret aufgenommen, obwohl die Geselligkeit ein konstitutives Element etwa von Gilden und Zünften darstellt.
125
[24] Vgl. die Erwähnung der „Trinkstuben der Gilden und Zünfte“ in: Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 94; dort auch die Feststellung: „Alle Verbrüderung aller Zeiten setzte Speisegemeinschaft voraus. Nicht die wirkliche, alltäglich geübte, aber: ihre rituelle Möglichkeit“.
Die Kommune-Gründung durch coniuratio, wechselseitige promissorische Eidesleistung der Bürger, sieht Weber insbesondere in den oberitalienischen Städten seit dem Ende des 10. Jahrhunderts verwirklicht, die angesichts des faktischen Fehlens einer Zentralgewalt bzw. der vielfältigen Überkreuzungen von Herrschaftsrechten
126
die besten Chancen dafür besaßen. In anderen Ländern, besonders in Deutschland, lagen die Verhältnisse anders, wie sich u. a. in den wiederholten Versuchen des Verbots städtischer Schwurgemeinschaften durch die Kaiser ausweist. Hier gab es in vielen Fällen eine komplizierte Gemengelage zwischen der Konzession von Rechten durch den Stadtherrn und der Usurpation durch die Bürger, wobei Weber hervorhebt, daß es in der Natur der Urkunden liegt, die Gewährung von oben zu dokumentieren, den möglicherweise vorausgegangenen, durch Usurpationsversuche ausgelösten, Konflikt jedoch zu übergehen. Bei „Neugründungsstädten“ Mit der Parallele in diesem Punkt begründet Weber, unten, S. 127, seine auffällig langen Ausführungen zu den Machtverhältnissen in Mekka, unten, S. 94–98.
127
konnte das ökonomische Interesse des Stadtherrn den Anstoß zur Konstituierung einer Stadtgemeinde geben. Unten, S. 171.
128
Insgesamt gibt es also ein breites Spektrum von Möglichkeiten zwischen „originärer“, d. h. auf coniuratio beruhender, und „abgeleiteter“, d. h. vom Stadtherrn konzessionierter Kommunebildung. Unten, S. 140 und 271.
129
(Einen – ausführlich behandelten – Extremfall stellen die englischen Städte dar, deren Rechte sämtlich aus Konzessionen der Krone stammten, die aber später im Parlament eine Interessenvertretung auf nationaler Ebene erhielten). Unten, S. 124 f.
Die erfolgreiche Kommunegründung durch eine Eidverbrüderung stellt für Weber einen usurpatorischen Akt dar, da sich die coniuratio gegen eine bestehende legitime Herrschaftsgewalt richtet. Diese Einschätzung war in der Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sicherlich geläufig.
130
Bei manchen Autoren verband sich dies auch mit der Tendenz, in einer nachträglichen Legitimierung durch die Landesherren die eigentliche Vor[25]aussetzung für den Fortbestand von Bürgergemeinden zu sehen. So z. B. in bezug auf Deutschland und Nordfrankreich bei Joachim, Hermann, Die Gilde als Form städtischer Gemeindebildung, in: Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst, Jg. 26, 1907, S. 80–110, hier S. 95 f.
131
Dies wirft die Frage auf, ob Weber sich dieser Interpretation anschließt. Dagegen dürfte sprechen, daß er Italien (wo diese Form der nachträglichen Sanktionierung kaum eine Rolle spielte) als eigentliche Heimat der coniurationes bezeichnet; weiter, daß er betont, bei der Hervorhebung des usurpatorischen Charakters der Kommunegründung handle es sich um eine „formalrechtliche“ Sichtweise, die den soziologischen und politischen Implikationen des Vorgangs nicht gerecht werde.[25] Vgl. die Beispiele bei Schreiner, Klaus, Legitimität, Autonomie, Rationalisierung. Drei Kategorien Max Webers zur Analyse mittelalterlicher Stadtgesellschaften – wissenschaftsgeschichtlicher Ballast oder unabgegoltene Herausforderung? In: Meier (Hg.), Okzidentale Stadt (wie oben, S. 20, Anm. 108), S. 161–211, hier S. 166–168, die sich aber auf Nordfrankreich und Flandern beziehen; so bei Hegel, Karl, Städte und Gilden der germanischen Völker im Mittelalter, Band 2. – Leipzig: Duncker & Humblot 1891, S. 510 f.
132
Allerdings gibt es auch mögliche Bezüge zu Webers Herrschaftssoziologie, die prima facie eine andere Deutung nahelegen könnten. Weber hatte nämlich in der aus dem Jahre 1914 stammenden Planung für seinen Beitrag zum „Grundriß der Sozialökonomik“ auch einen Abschnitt „Die nichtlegitime Herrschaft. Typologie der Städte“ vorgesehen. Unten, S. 125–127.
133
Der vorliegende Text kann gewiß nicht als ganzes, wohl aber hinsichtlich der Ausführungen zur Kommunegründung durch „usurpatorische Verbrüderungen“ Vgl. den Editorischen Bericht, unten, S. 46.
134
und der Umgestaltung der Verfassung durch die Formierung des popolo damit in Beziehung gesetzt werden. (Außerdem bezüglich der Bewertung der antiken Tyrannis und der italienischen Signorie). Unten, S. 125.
135
„Nichtlegitime Herrschaft“ kommt hier jedoch wörtlich nicht vor. In bezug auf die Konstituierung des popolo in den italienischen Städten – gegen die aus der ursprünglichen coniuratio hervorgegangene Honoratiorenherrschaft – spricht Weber davon, es habe sich um den „erste[n] ganz bewußt illegitime[n] und revolutionäre[n] politischen Verband“ gehandelt. Die bewußte Illegitimität liegt hier darin, daß mit der Konstituierung einer „politische[n] Sondergemeinde innerhalb der Kommune, mit eigenen Beamten, eigenen Finanzen und eigener Militärverfassung […] im eigentlichsten Wortsinn ein Staat im Staate“ gegründet worden sei. Die Tyrannen gelten als „spezifisch illegitime Herren“, unten, S. 224; für die Signorie geht dies aus der Bemerkung hervor, sie sei durch die Entwicklung zu einem erblichen Patrimonialfürstentum „in den Kreis der legitimen Gewalten“ eingetreten, unten, S. 230.
136
(Das gleiche ließe sich mutatis mutandis auch von der Eidverschwörung der römischen [26]Plebs und der Konstituierung ihrer Sondergemeinde sagen). Unten, S. 200.
137
Ob in Webers Herrschaftssoziologie ein systematischer Ort für „nichtlegitime Herrschaft“ überhaupt denkbar ist,[26] Die Parallele hat Weber, unten, S. 209–211, gezogen. Dem Volkstribunat fehlte „legitime Amtsgewalt“, „legitimes Imperium“, „legitime Strafgewalt“. Die in diesem Lichte etwas irritierende Feststellung, der popolo sei die „erste“ bewußt illegitime und revolutionäre Bewegung gewesen, erklärt sich wohl aus der Einordnung in die Reihe der „fünf großen, für das Schicksal des Okzidents entscheidenden Revolutionen, die italienische des 12. und 13., die niederländische des 16., die englische des 17., die amerikanische und französische des 18. Jahrhunderts“; Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 226. Das in WuG1, S. 155 (MWG I/23), angekündigte Kapitel zur „Theorie der Umwälzungen“ hat Weber nicht mehr geschrieben. – Die Bewertung der Kommunebewegung als Revolution findet sich wohl zuerst in Arbeiten von Augustin Thierry seit den 1820er Jahren; vgl. Schreiner, Klaus, „Kommunebewegung“ und „Zunftrevolution“. Zur Gegenwart der mittelalterlichen Stadt im historisch-politischen Denken des 19. Jahrhunderts, in: Stadtverfassung, Verfassungsstaat, Pressepolitik. Festschrift für Eberhard Naujoks zum 65. Geburtstag, hg. von Franz Quarthal und Wilfried Setzler. – Sigmaringen: Jan Thorbecke 1980, S. 139–168, hier S. 146.
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kann hier ebenso auf sich beruhen bleiben wie die Frage, ob Weber bei der weiteren Entwicklung seiner Herrschaftssoziologie gegebenenfalls das demokratische Legitimationsprinzip als viertes Element aufgenommen hätte. Dies bestreitet Mommsen, Wolfgang J., Politik und politische Theorie bei Max Weber, in: Weiß, Johannes (Hg.), Max Weber heute. Erträge und Probleme der Forschung. – Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 515–542, hier S. 537.
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Berücksichtigt man, wie hoch Weber den Verbrüderungscharakter der originären coniuratio bewertet, und daß er den auf die ursprüngliche Kommunebildung folgenden Bewegungen zur Einschränkung oder Brechung der Honoratiorenregimes die Rationalisierung von Recht und Verwaltung zuschreibt, dann sollte man nicht annehmen, daß Weber mit seiner Betonung des formalrechtlich usurpatorischen Charakters der Kommunegründung zugleich das legitimitätsstiftende Element, das im freien Zusammenschluß der Bürger liegt, gänzlich ignoriert habe. Zu dieser möglichen, in die publizierten Fassungen seiner Herrschaftssoziologie so jedoch nicht eingegangenen Erweiterung vgl. den Bericht „Ein Vortrag Max Webers über die Probleme der Staatssoziologie“, in: Neue Freie Presse, Wien, Nr. 19 102 vom 26. Oktober 1917, S. 10 (MWG I/22-4); dazu auch Schluchter, Wolfgang, Religion und Lebensführung, Band 2: Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie. – Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 473.
140
Auf politische Grundüberzeugungen Webers zurückgehende Vor[27]behalte dürften sich eher hinsichtlich einer nach seiner Einschätzung zu weit getriebenen „Demokratisierung“ feststellen lassen, wie sie sich besonders in seinen Bewertungen der athenischen Demokratie niederschlagen. So jedoch Sternberger, Dolf, Max Weber und die Demokratie, in: ders., Ich wünschte ein Bürger zu sein. Neun Versuche über den Staat. – Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967, S. 93–113, hier S. 106–111 f.; Schreiner, Klaus, Die mittelalterliche Stadt in Webers Analyse und die Deutung des okzidentalen Rationalismus. Typus, Legitimität, Kulturbedeutung, in: Kocka (Hg.), Max Weber (wie oben, S. 19, Anm. 104), S. 119–150, hier S. 130 (Webers „Unfähigkeit“, den „Wertvorstellungen hochmittelalterlicher Bürger legitimitätsstiftende Kraft zuzubilligen“); ähnlich ders., Legitimität (wie oben, S. 25, Anm. 131), S. 164 f. und S. 172–177; vgl. dagegen Oexle, Otto G., Kulturwissenschaftliche Reflexionen über so[27]ziale Gruppen in der mittelalterlichen Gesellschaft: Tönnies, Simmel, Durkheim und Max Weber, in: Meier (Hg.), Okzidentale Stadt (wie oben, S. 20, Anm. 108), S. 115–159, hier S. 142–156.
141
Dazu weiter unten, S. 35 ff.
Gilden, Zünfte und Stadtverfassung
Die Dominanz der Honoratioren in den mittelalterlichen Kommunen wurde durch eine „Serie […] neuer Revolutionen“ überwunden.
142
„Deren Träger waren abermals beschworene Einigungen von Bürgern“, Unten, S. 148.
143
namentlich Zünfte unterschiedlicher Natur, wobei Weber insbesondere die Unterschiede zwischen der italienischen und der deutschen Entwicklung betont. Unten, S. 172.
Weber konnte sich für die Fragen der Entstehung und Entwicklung der mittelalterlichen Stadtgemeinden auf eine weitverzweigte historische und nationalökonomische Forschungsliteratur stützen,
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wobei er sich im Regelfall auf die Publikationen deutscher Wissenschaftler beschränkt haben dürfte. Die fachwissenschaftliche Diskussion seiner Zeit war höchst unübersichtlich; zum einen, weil hinter vielen Fragestellungen außerwissenschaftliche, durch aktuelle Probleme bedingte, Interessen standen: an dem Verhältnis von Staat und Gemeinde (als über originäre oder nur abgeleitete Kompetenzen verfügend), Vgl. aus einer Serie von Forschungsberichten von Karl Uhlirz v.a.: Neuere Literatur über deutsches Städtewesen III, in: Mittheilungen des Instituts für Oesterreichische Geschichtsforschung, Band 15, 1894, S. 488–516; dass. VI, ebd., Band 17, 1896, S. 316–342; dass. VII, ebd., Band 19, 1898, 173–199; dass. IX, ebd., Band 24, 1903, S. 449–472.
145
oder dem von Zunftzwang und Gewerbefreiheit (die angesichts des Aufbrechens der „sozialen Frage“ nicht mehr uneingeschränkt als positiv bewertet werden konnte) sowie an der Prägung mittelalterlicher Institutionen durch primär germanische oder römische Rechtsfiguren (auch vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um [28]die Kodifikation eines einheitlichen deutschen Privatrechts). Zum politischen Hintergrund im Deutschland des 19. Jahrhunderts vgl. Matzerath, Horst, Von der Stadt zur Gemeinde. Zur Entwicklung des rechtlichen Stadtbegriffs im 19. und 20. Jahrhundert, in: Archiv für Kommunalwissenschaften, Jg. 13, 1974, S. 17–46; Koch, Rainer, Staat oder Gemeinde? Zu einem politischen Zielkonflikt in der bürgerlichen Bewegung des 19. J[ahr]h[undert]s, in: Historische Zeitschrift, Band 236, 1983, S. 73–96; Langewiesche, Dieter, „Staat“ und „Kommune“. Zum Wandel der Staatsaufgaben in Deutschland im 19. Jahrhundert, ebd., Band 248, 1989, S. 621–635.
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Zum anderen litt die innerfachliche Diskussion darunter, daß sich Autoren in unterschiedlichem Maße entweder nur auf deutsche oder auch auf außerdeutsche Verhältnisse in je unterschiedlichen Zeiten bzw. auch auf unterschiedliche Typen von Städten bezogen, die divergierende Quellenbasis bei der Aufstellung generalisierter Theorien jedoch häufig nicht berücksichtigten. Hinzu kam ferner, daß über die Verwendung zentraler Kategorien wie Gilde und Zunft keine Einigkeit bestand, unmittelbare Übernahmen aus der Quellensprache und Umwandlungen zu Termini einer fachwissenschaftlichen Begriffsprache sich zumeist in einem ungeklärten Verhältnis nebeneinander fanden.[28] Vgl. schon die zeitgenössische Stellungnahme von Sander, Paul, Die geschichtliche Erforschung der stadtwirtschaftlichen Handwerksverfassung in Deutschland, in: Die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre im neunzehnten Jahrhundert. Gustav Schmoller zur siebenzigsten Wiederkehr seines Geburtstages, 24. Juni 1908, 2. Teil. – Leipzig: Duncker & Humblot 1908, S. 1–20; aus neuerer Literatur Heit, Alfred, Die mittelalterlichen Städte als begriffliches und definitorisches Problem, in: Die Alte Stadt, Jg. 5, 1978, S. 350–408; Fröchling, Jürgen, Georg von Below – Stadtgeschichte zwischen Wissenschaft und Ideologie, ebd., Jg. 6, 1979, S. 54–85; Schreiner, Kommunebewegung (wie oben, S. 26, Anm. 137); Buhr, Hermann de, Wandlungen in der Geschichtsschreibung über die mittelalterliche Stadt im 19. und 20. Jahrhundert, in: Die Bergischen, „ein Volk von zugespitzter Reflexion“. Region, Schule, Mentalität, hg. von Hermann de Buhr, Heinrich Küppers, Volkmar Wittmütz. – Wuppertal: J. H. Born 1992, S. 255–277, hier S. 255–262.
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Die weit verbreitete Neigung zu einem höchst polemischen Diskussionsstil trug im Regelfall ebenfalls nicht zu einer Klärung der Probleme bei. Vgl. Oexle, Otto G., Die mittelalterliche Zunft als Forschungsproblem. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Moderne, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, Jg. 118, 1982, S. 1–44; Irsigler, Franz, Zur Problematik der Gilde- und Zunftterminologie, in: Gilden und Zünfte. Kaufmännische und gewerbliche Genossenschaften im frühen und hohen Mittelalter, hg. von Berent Schwineköper (Vorträge und Forschungen, Band 29). – Sigmaringen: Jan Thorbecke 1985, S. 53–70; zur Komplexität der Quellensprache auch Schmidt-Wiegand, Ruth, Die Bezeichnungen Zunft und Gilde in ihrem historischen und wortgeographischen Zusammenhang, ebd., S. 31–52; dies., Gilde und Zunft. Die Bezeichnungen für Handwerksgenossenschaften im Mittelalter, in: Das Handwerk in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, Teil 1: Historische und rechtshistorische Beiträge und Untersuchungen zur Frühgeschichte der Gilde, hg. von Herbert Jankuhn [u. a.] (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, 3. Folge, Nr. 122). – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1981, S. 355–369.
148
Vgl. nur die Replik auf Below durch Hoeniger, R[obert], Professor Georg von Below’s „Detailpolemik“. Ein Nachwort zu dessen Arbeiten über städtische Verfassungsgeschichte. – Berlin: Hermann Walther 1892.
Weber hat sich teils explizit, teils implizit auf den „Kampf der ,Städtetheorien‘“ bezogen, an dem er speziell die Neigung zu einer formalrechtlichen [29]Betrachtungsweise kritisierte.
149
Die „Gildentheorie“ war in unterschiedlichen Akzentuierungen zuerst von Wilda, später von Nitzsch und Gierke vertreten,[29] Unten, S. 124 f. – Dilcher, Gerhard, Rechtshistorische Aspekte des Stadtbegriffs, in: Vor- und Frühformen der europäischen Stadt im Mittelalter. Bericht über ein Symposium in Reinhausen bei Göttingen in der Zeit vom 18. bis 24. April 1972, Teil 1, hg. von Herbert Jankuhn, Walter Schlesinger, Heiko Steuer (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, 3. Folge, Nr. 83). – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1973, S. 12–32, hier S. 13, spricht von „monokausal-juristische[n] Stadtentstehungstheorien […] nach dem Bild des Wirkungszusammenhangs zwischen Begriffen, des Hervorgehens einer rechtlichen Institution aus einer vorhergehenden.“
150
von Below, Hegel und Gross bekämpft worden. Wilda, Gildenwesen (wie oben, S. 21, Anm. 109), ging es v.a. um den germanisch-heidnischen Ursprung der Gilden; er bezog sich insbesondere auf dänische Schutzgilden; Nitzsch, [Karl W.], Über die niederdeutschen Genossenschaften des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Königlich Preussische Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Monatsberichte 1879, S. 4–28; ders., Über niederdeutsche Kaufgilden, in: Königlich Preussische Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Monatsberichte 1880, S. 370–403; ders., Die niederdeutsche Kaufgilde, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abtheilung, Band 13, 1892, S. 1–95, stützte sich besonders auf westfälische und norddeutsche Quellen; vgl. Doren, Alfred, Untersuchungen zur Geschichte der Kaufmannsgilden des Mittelalters. Ein Beitrag zur Wirtschafts-, Social- und Verfassungsgeschichte der mittelalterlichen Städte (Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen, Band 12, Heft 2). – Leipzig: Duncker & Humblot 1893, S. 130–145; für Gierkes Verteidigung der Gildentheorie ist seine Rezension von Hegel, Städte und Gilden der germanischen Völker im Mittelalter, in: Deutsche Litteraturzeitung, Jg. 13, 1892, Sp. 55–59, einschlägig; vgl. schon seine Bemerkungen in: Genossenschaftsrecht, Band 1 (wie oben, S. 21, Anm. 110), S. 242. – Vgl. zum Gang der Forschung: Cordt, Ernst, Die Gilden. Ursprung und Wesen (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Nr. 407). – Göppingen: Kümmerle 1984, S. 5–35.
151
Sie besagte, grob gesagt, daß die Anfänge von Stadtgemeinden in Gilden, namentlich im Zusammenschluß aller Kaufleute eines Ortes in einer „Gesamtgilde“, zu sehen seien. Weber sah eine politische Funktion von Gilden nur in Fällen gegeben, in denen die Konstituierung einer Stadtgemeinde obrigkeitlicher Privilegierung verdankt wurde wie in England (in Frankreich nur im Sonderfall von Paris) Gross, Charles, Gilda Mercatoria. Ein Beitrag zur Geschichte der englischen Städteverfassung. – Göttingen: Deuerlich 1883; ders., The Gild Merchant. A Contribution to British Municipal History, 2 vols. – Oxford: Clarendon Press 1890; Hegel, Städte (wie oben, S. 25, Anm. 131); ders., Städte und Gilden der germanischen Völker im Mittelalter. Eine Antikritik, in: Historische Zeitschrift, Band 70, 1893, S. 442–459; Below, Georg von, Die Bedeutung der Gilden für die Entstehung der deutschen Stadtverfassung, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 3. Folge, Band 3, 1892, S. 56–68; ders., Rezension von Hegel, Städte und Gilden der germanischen Völker im Mittelalter, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen, Jg. 1892, 1. Band, S. 406–423, sowie diverse weitere Stellungnahmen Belows.
152
bzw. hielt in bezug auf Deutschland „Gesamtgilden“ für ein [30]spätes Phänomen von eingeschränkter regionaler Bedeutung. Unten, S. 134.
153
Auch auf die Hofrechtstheorie, wie sie etwa von Nitzsch verfochten,[30] Unten, S. 200.
154
von Below und anderen kritisiert wurde, Nitzsch, K[arl] W., Ministerialität und Bürgerthum im 11. und 12. Jahrhundert. Ein Beitrag zur deutschen Städtegeschichte (Vorarbeiten zur Geschichte der staufischen Periode, Band 1). – Leipzig: B. G. Teubner 1859. In der Sache bezieht sich Nitzsch in erster Linie auf deutsche Bischofsstädte. – Vgl. weiter Arnold, Wilhelm, Das Aufkommen des Handwerkerstandes im Mittelalter. – Basel: H. Georg 1861.
155
spielt Weber an. Diese Theorie besagte im wesentlichen, daß die Zünfte auf die Organisation von Fronhandwerkern zurückgingen, entsprechend die Stadtverfassung in der Fronhofsverfassung ihr Vorbild habe. Weber akzeptiert, daß die Verbände von Fronhofshandwerkern eine gewisse Vorbildfunktion für die Zünfte in Gestalt freier Einungen gehabt haben könnten, verweist jedoch zugleich auf die Einflüsse, welche von religiös geprägten Bruderschaften ausgingen. Below, Georg von, Kritik der hofrechtlichen Theorie, in: ders., Territorium und Stadt. Aufsätze zur deutschen Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte (Historische Bibliothek, Band 11). – München [u. a.]: R. Oldenbourg 1900, S. 303–320, und verschiedene weitere Publikationen, so wieder: ders., Handwerk und Hofrecht, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Band 12, 1914, S. 1–21. – Zur Diskussion über den Ursprung der Zünfte vgl. auch Müller, Walther, Zur Frage des Ursprungs der mittelalterlichen Zünfte. Eine wirtschafts- und verfassungsgeschichtliche Untersuchung (Leipziger Historische Abhandlungen, Heft 22). – Leipzig: Quelle & Meyer 1910, S. 1–18.
156
Er wendet sich, vor allem im Blick auf Italien, zugleich dagegen, Zünfte vorschnell mit „Handwerkerzünften“ zu identifizieren. Unten, S. 137 f.
157
Andere Konzepte zur Erklärung der Ursprünge der (deutschen) Stadtverfassungen, Sohms Hervorhebung des Marktrechts Unten, S. 172.
158
oder Belows Betonung der Rolle der Landgemeinden, Sohm, Rudolph, Die Entstehung des deutschen Städtewesens. – Leipzig: Duncker & Humblot 1890; ähnlich: Schulte, Aloys, Ueber Reichenauer Städtegründungen im 10. und 11. Jahrhundert, mit einem ungedruckten Stadtrecht von 1100, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Neue Folge, Band 5, 1890, S. 137–169. Kritisch zu dieser Theorie u. a.: Bernheim, Ernst, Die Entstehung des Deutschen Städtewesens. Eine Kritik der Sohm’schen Theorie, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Band 6, 1891, S. 257–272; Rietschel, Siegfried, Markt und Stadt in ihrem rechtlichen Verhältnis. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Stadtverfassung. – Leipzig: Veit 1897; Keutgen, F[riedrich], Untersuchungen über den Ursprung der deutschen Stadtverfassung. – Leipzig: Duncker & Humblot 1895. Ders., Aemter und Zünfte. Zur Entstehung des Zunftwesens. – Jena: Gustav Fischer 1903, bietet eine eigenständige Kombination von hof- und marktrechtlichen Elementen.
159
übergeht Weber weitgehend. Vgl. die Belege, oben, S. 14 f.
[31]Mit den wichtigsten Forschungspositionen war Weber sicherlich vertraut.
160
Eine andere Frage ist, wieweit er diese Diskussionen in sämtlichen Ausfächerungen rezipiert hat, ob er sich manchmal mehr auf erste zeitgenössische Resümees stützte[31] Dafür sprechen auch die Literaturangaben in seinem Vorlesungsgrundriß von 1898; Weber, Max, Grundriss zu den Vorlesungen über Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie (1898). – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1990, § 11 (MWG, Abt. III). [[MWG III/1]]
161
bzw. auch hinsichtlich einzelner Beispiele wie der viel diskutierten Fälle von Freiburg im Breisgau In Frage kommen hier besonders einschlägige Handlexikon-Artikel wie Ehrenberg, Richard, „Gilden“, in: HdStW3, Band 5, S. 11–13; Stieda, Wilh[elm], „Zunftwesen“, in: HdStW3, Band 8, S. 1088–1111; Below, G[eorg] v[on], „Zünfte“, in: Wörterbuch der Volkswirtschaft in zwei Bänden, hg. von Ludwig Elster, Band 2, 2., völlig umgearbeitete Aufl. – Jena: Gustav Fischer 1907, S. 1425–1435; ferner Schröder, Richard, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 5., verbesserte Aufl. – Leipzig: Veit 1907, S. 632–662.
162
und Κöln Das besondere Interesse der Forschung hängt vor allem mit der komplizierten Quellenlage zusammen, da der Text der Gründungsurkunde nicht unmittelbar, sondern nur durch spätere Zeugnisse überliefert ist, die hinsichtlich Datierung und Echtheit eine Reihe von Problemen aufwerfen. Vgl. aus der zeitgenössischen Literatur u. a. Hegel, Karl, Das erste Stadtrecht von Freiburg im Breisgau, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Neue Folge, Band 11, 1896, S. 277–287; Rietschel, Siegfried, Die älteren Stadtrechte von Freiburg im Breisgau, in: Vierteljahrschrift für Social- und Wirtschaftsgeschichte, Band 3, 1905, S. 421–441; Beyerle, Franz, Untersuchungen zur Geschichte des älteren Stadtrechts von Freiburg i. Br. und Villingen a[m] Schw[arzwald] (Deutschrechtliche Beiträge, Band 5, Heft 1). – Heidelberg: Carl Winter 1910.
163
be[32]stimmten Autoritäten folgte. Dies läßt sich aufgrund der von ihm verwendeten Materialien, die sich natürlich in einer Vielzahl von Publikationen durchaus unterschiedlicher Tendenz finden ließen, schwerlich entscheiden. Auch wenn man annehmen muß, daß er seine Beispiele im Regelfall der einschlägigen Sekundärliteratur entnommen hat, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, daß er sie in einen originären, in dieser Form nicht durch die Spezialliteratur vorgegebenen Interpretationsrahmen eingefügt hat. So haben u. a. die Fragen nach der Existenz einer Allmende, der Implikationen der coniuratio von 1112, der Bedeutung der frühen Bruderschaft von 1149 (Bettziechenweber), der Rolle der Richerzeche und dem Status der auf Parochien basierenden Sondergemeinden eine Fülle von Literatur provoziert. Aus der zeitgenössischen Literatur seien hier genannt: Kelleter, Heinrich, Zur Geschichte des Kölner Stadtpfarrsystems im Mittelalter, in: Beiträge zur Geschichte vornehmlich Kölns und der Rheinlande. Zum achtzigsten Geburtstag Gustav von Mevissens dargebracht von dem Archiv der Stadt Köln. – Köln: DuMont-Schauberg 1895, S. 222–241; Kruse, Ernst, Die Kölner Richerzeche, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abtheilung, Band 9, 1888, S. 152–209; Below, Georg von, Die Kölner Richerzeche, in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Band 1, 1889, S. 443–448; Lau, Friedrich, Entwicklung der kommunalen Verfassung und Verwaltung der Stadt Köln bis zum Jahre 1396 (Preis-Schriften der Mevissen-Stiftung, Band 1). – Bonn: H. Behrendt 1898; Oppermann, Otto, Zur mittelalterlichen Verfassungsgeschichte von Freiburg i. B., Köln und Niedersachsen, in: Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst, Jg. 25, 1906, S. 273–327; Seeliger, Gerhard, Studien zur älteren Verfassungsgeschichte Kölns. Zwei Urkunden des Kölner Erzbischofs von 1169 (Abhandlungen der Philologisch-Historischen Klasse der Königl[ich] Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Band 26, Nr. 3). – Leipzig: B. G. Teubner 1909; Keussen, Hermann, Die Entwicklung der älteren Kölner Verfassung und ihre topographische Grundlage, in: Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst, Jg. 28, 1909, S. 465–520; Philippi, F[riedrich], Die Kölner Richerzeche, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, Band 32, 1911, S. 87–112. – Webers Hinweis auf Beyerle, Entstehung, deutet darauf, daß er sich in erster Linie auf diese Arbeit gestützt hat.
Mittelalterliche und antike Verfassungsentwicklung
Das zuerst in den „Agrarverhältnissen“ entwickelte Schema typischer Verfassungsentwicklungen hat Weber auch angelegt, um die jeweiligen Tendenzen zur Herausbildung der Geschlechterstadt und ihrer Überwindung durch die zunehmende Partizipation breiterer Schichten der Bürgerschaft in Antike und Mittelalter in Parallele zu setzen. Die Darstellung geht dabei im Regelfall von den mittelalterlichen Phänomenen aus und fragt dann nach Entsprechungen in der Antike. Der Sonderfall Venedig wird vor allem deshalb so ausführlich dargestellt, weil hier zum einen mit der Entwicklung der Dogenherrschaft in Richtung „zu einem erblichen patrimonialfürstlichen Stadtkönigtum“
164
eine sonst im Mittelalter nicht anzutreffende Parallele zu dem am Anfang der antiken Stadtstaaten stehenden, wenngleich zumeist nur aus Überresten erschließbaren, Königtum zu finden ist; und zum anderen, weil Venedig, nachdem es mit der konstitutionellen Einbindung des Dogen das Stadium der Geschlechterherrschaft erreicht hatte, nicht die sonst sowohl für Antike wie Mittelalter typische Entwicklung zur Modifizierung dieses Systems mitmachte, sondern hier das Patriziat seine Herrschaft im vollen Umfang bewahren konnte. Voraussetzung war dafür auch, daß man sich Instrumente schuf, mit denen die für andere italienischen Städte so charakteristischen Geschlechterfehden unterbunden wurden. Die innere Disziplinierung verlieh Venedig jene Stabilität, die an Sparta erinnerte.[32] Unten, S. 150.
165
Unten, S. 155 und 214.
Die auffälligsten Ähnlichkeiten hinsichtlich der Formen des Verfassungswandels ergeben sich, wenn für das Mittelalter das Beispiel der italienischen Städte herangezogen wird. Sie liegen zumal darin, daß die bisher von der politischen Macht ausgeschlossenen Bürger sich in Form einer Sondergemeinde organisieren, die sich eigene Magistrate gibt, die den Magistraten der Gesamtgemeinde unter Beanspruchung einer „Kassations-Kollegialität“
166
entgegengestellt werden. Der italienische Popolo mit dem Volks[33]kapitan an der Spitze hat so seine Pendants in der römischen Plebs unter Führung der Volkstribunen und im spartanischen Demos mit seinen Ephoren. Sowohl im italienischen wie im römischen Fall führen die „Ständekämpfe“ nicht zu einer völligen Überwindung der Macht der Geschlechter, sondern zu einer Kompromißlösung, aus der jeweils eine, aus altem Patriziat und den Führungsgruppen des „Volkes“ gebildete, neue Führungsschicht hervorgeht. Ausnahmen bilden Sparta, dessen Verfassungsordnung die Vernichtung eines ursprünglichen Adels vorausgesetzt habe, und Athen, wo sich (als Folge der militärischen Bedeutung seiner Flotte) die Entwicklung zu einer Demokratie vollzog, an der alle, auch die besitzlosen, Bürger teilhatten (die damit nicht mehr den Beschränkungen ihrer politischen Rechte wie in einer Hoplitenpolis unterlagen). In beiden Fällen ist eine wesentliche Folge die Rationalisierung von Recht und Verwaltung durch Formalisierung der Gerichtsverfahren, Kodifikation des herkömmlichen und zunehmende Satzung neuen Rechts sowie die Entwicklung einer differenzierten, auf kurzen Amtszeiten und spezifischen Kompetenzzuweisungen basierenden Ämterstruktur. Parallelen ergeben sich auch insofern, als man in bestimmten inneren Konfliktkonstellationen eine Befriedung der Verhältnisse von einem Schiedsrichter (Podestà, Aisymnet) erwartete, sie liegen auch darin, daß aus der Ständekampfsituation eine Alleinherrschaft (Signorie, Tyrannis) erwachsen konnte, wobei dies freilich in Italien mit weitaus größeren, dauerhaften Konsequenzen verbunden war. (Beim Podestat gilt dies für die Auswirkungen auf Verwaltung und Recht, die sich nach der Umwandlung der Signorien in erbliche Fürstentümer durch eine fortschreitende „Rationalisierung der Verwaltung“ So WuG1, S. 159 (MWG I/23).
167
noch verstärkten). Die Verfassungsentwicklung im nördlicheren Europa, besonders in Deutschland, zeigt bei manchen Entwicklungen jedoch auch deutliche Abweichungen, die vor allem durch die hier gegebene scharfe Grenzziehung zwischen Stadt und Land bedingt sind,[33] Unten, S. 232.
168
die zugleich impliziert, daß es in diesen Städten keinen Adel mit ritterlicher Lebensführung gegeben hat. Die grundsätzliche Vergleichbarkeit der inneren politischen Entwicklung in Antike und Mittelalter darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die schrittweise Einbeziehung breiterer Bürgerschichten in das Stadtregiment im ersten Fall aus ihrer Unentbehrlichkeit für das Hoplitenheer resultierte, während im zweiten Fall (neben der Abwehr von Übergriffen der Magnaten in Italien) die ökonomischen Interessen von Gewerbetreibenden hinter den Forderungen nach politischer Partizipation standen. Auf der anderen Seite konnte dadurch die Stadt nördlich der Alpen in besonderer Weise „ein Ort des Aufstiegs aus der Unfreiheit“ werden, was sie nicht nur von den italienischen, sondern auch in besonders scharfem Kontrast von den Verhältnissen in Rußland absetzt: unten, S. 103 f.
[34]Manche der von Weber gezogenen Parallelen zwischen den antiken und den italienischen Stadtrepubliken lassen sich in den Kontext einer langen ideengeschichtlichen Tradition stellen. So war der Vergleich zwischen Venedig und Sparta seit dem Aufkommen des „mito di Venezia“ in Florenz an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert als Topos etabliert; dies gilt auch für die Gleichsetzung bestimmter städtischer Magistrate mit Ephoren und Tribunen.
169
[34] Vgl. Nippel, Wilfried, „Klassischer Republikanismus“ in der Zeit der Englischen Revolution. Zur Problematik eines Interpretationsmodells, in: Schuller, Wolfgang (Hg.), Antike in der Moderne (Xenia, Heft 15). – Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1985, S. 211–224, hier S. 213 f.; ders., Ancient and modern republicanism: ,mixed constitution‘ and ,ephors‘, in: Fontana, Biancamaria (ed.), The Invention of the modern republic. – Cambridge: Cambridge University Press 1994, S. 6–26, hier S. 12 ff.
Die „Fakten“ der antiken Verfassungsgeschichte konnte Weber einer Vielzahl von Handbüchern zur Geschichte und zum Staatsrecht Griechenlands und Roms entnehmen. Auf Grund seiner vergleichenden Perspektive gelingen ihm dabei verschiedene Einsichten, die sich in der ihm zugänglichen Forschung schwerlich finden lassen, jedenfalls nicht in dieser Pointiertheit. Dies gilt etwa für die Erkenntnis, daß die spartanische Verfassungsordnung erst das Ergebnis eines Ständekampfes gewesen sein könne, der zur Eliminierung eines ursprüngliches Adels geführt habe.
170
Unten, S. 181, 213 und 272. – Vgl. Heuss, Max Webers Bedeutung (wie oben, S. 2, Anm. 3), S. 550.
Für die italienische Geschichte hat sich Weber deutlicher an einzelnen Werken der deutschen Forschung orientiert. Für Venedig war dies – neben der von ihm selbst genannten Studie von Lenel – sicherlich der 1. Band von Kretschmayrs „Geschichte“, für Florenz ist in erster Linie an die Arbeiten von Davidsohn zu denken.
171
Für die ihn speziell interessierenden Themen Podestà und Signorie hat er, wie er selbst angibt, die einschlägigen Arbeiten von Hanauer und Salzer ausgewertet. Lenel, Entstehung: Kretschmayr, Heinrich, Geschichte von Venedig, Band 1: Bis zum Tode Enrico Dandolos (Allgemeine Staatengeschichte, hg. von Karl Lamprecht, 1. Abteilung: Geschichte der europäischen Staaten, Werk 35). – Gotha: Friedrich A. Perthes 1905; Davidsohn, Robert, Geschichte von Florenz, Bände 1–3 (in 4). – Berlin: Ernst S. Mittler 1896–1912; Davidsohn, Robert, Forschungen zur Geschichte von Florenz, 4. Teil: 13. und 14. Jahrhundert. – Berlin: Ernst S. Mittler 1908.
172
Angesichts der Qualität dieser bis in die Gegenwart als Standardwerke anerkannten Arbeiten wird man gegen Webers Literaturauswahl kaum gravierende Einwände erheben kön[35]nen. Hanauer, Berufspodestat; Salzer, Anfänge. – Für den von Weber betonten Aspekt der Bedeutung des Podestats für die Rationalisierung der Verwaltung wäre noch einschlägig gewesen Kantorowicz, Hermann U., Albertus Gandinus und das Strafrecht der Scholastik, Band 1: Die Praxis. Ausgewählte Strafprozessakten des dreizehnten Jahrhunderts nebst diplomatischer Einleitung. – Berlin: J. Guttentag 1907.
173
Problematisch dürfte allenfalls sein, daß Weber bei der Orientierung an Salzer dessen Betonung der „demokratischen“ Wurzeln der Signorie übernimmt und damit einer zu sehr formalrechtlichen Sichtweise folgt.[35] Anders Kudrna, Jaroslav, Kommentar zu K[laus] Schreiners Beitrag, in: Kocka (Hg.), Max Weber (wie oben, S. 19, Anm. 104), S. 151–157, dessen Kritik an Webers Konzentration auf deutsche Literatur aber nicht erkennen läßt, daß Weber damit wesentliche Erkenntnisse der internationalen zeitgenössischen Forschung zur italienischen Geschichte entgangen wären.
174
Vgl. Sestan, Ernesto, Die Anfänge der städtischen Signorien: ein erschöpfend behandeltes historisches Problem? In: Stoob, Heinz (Hg.), Altständisches Bürgertum, Band 1: Herrschaft und Gemeinverfassung (Wege der Forschung, Band 352). – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1978, S. 346–379; Breuer, Stefan, Blockierte Rationalisierung. Max Weber und die italienische Stadt des Mittelalters, in: Archiv für Kulturgeschichte, Band 66, 1984, S. 47–85, hier S. 75 ff.
Homo politicus und homo oeconomicus
Weber warnt ausdrücklich davor, aus den Entsprechungen hinsichtlich der Verfassungsentwicklung in Antike und Mittelalter den Fehlschluß auf „gleiche ökonomische Grundlagen“ zu ziehen.
175
Der Schlußteil der Abhandlung (so, wie sie vorliegt) nimmt das am Ende der „Agrarverhältnisse“ skizzierte Programm auf, die divergierende ökonomische Orientierung des antiken und des mittelalterlichen Bürgers herauszuarbeiten. Diese liege in der unterschiedlichen militärischen Kapazität und der andersartigen Zusammensetzung der Bürgerschaften begründet: Dominanz von Bauern in der Antike, die sich auch in der Art und Weise niederschlägt, in der die Unterabteilungen der Bürgerschaft konstituiert werden, ausschlaggebende Rolle von Handwerkern und Kaufleuten im Mittelalter. Stärker als in den „Agrarverhältnissen“ bezieht sich Weber jetzt nicht nur auf die Wertvorstellungen der Eliten, die eine Unternehmerstellung weitgehend ausschlossen, sondern auch auf die Verhaltensmuster der breiten Masse der jeweiligen Bürgerschaft. Weil diese in der Antike an den Eroberungen – durch Landverteilungen, Beute, Sold, Getreideversorgung etc. – partizipiert, wird sie nicht auf den Weg des rationalen Wirtschaftsbetriebs verwiesen (den nur solche Gruppen wie Freigelassene und Metöken gehen, die diese Prämien auf den Bürgerstatus nicht oder nur eingeschränkt wahrnehmen können). Ein solcher Demos bewirkt, daß die Stadtwirtschaftspolitik sich an Konsumenten-, und nicht an Produzenteninteressen orientiert. Die mit der Zugehörigkeit zur Bürgerschaft verbundenen Gratifikationen lassen (im athenischen Fall) den Demos die Exklusivität des Bürgerrechts verteidigen, was wiederum negativ auf die Fähigkeit zu stabiler Reichsbildung zurückwirkt. Die Statusgren[36]zen gegenüber Sklaven und anderen Nichtbürgern schließen eine Organisation nach Art der Zünfte aus, die im Mittelalter die erste Organisationsform freier Arbeit bieten. (Antike Äquivalente von Handwerkerorganisationen gibt es nur in der Form von Zwangsverbänden, die zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden). Unten, S. 211 f.
Der Kontrast zwischen den Mitgliedern der antiken „Kriegerzunft“,
176
deren Städte „den Charakter eines chronischen Kriegslagers“ gezeigt hätten,[36] Unten, S. 283.
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und für die im Prinzip „von persönlicher Freiheit der Lebensführung keine Rede“ gewesen sei, Unten, S. 284.
178
und den Angehörigen eines friedlichen Produzentenstandes im Mittelalter wird betont. Er wird hier zum einen dadurch erhöht, daß für die Antike wiederum die auf Expansion angelegten Stadtrepubliken als Muster herangezogen werden. Dagegen werden die in die hellenistischen Großreiche und das römische Imperium eingebundenen Städte (erneut) ausgeblendet, obwohl Weber selbst feststellt, daß in ihnen auch für die Vollbürger die Ausrichtung auf das friedliche Erwerbsleben im Vordergrund stehen mußte. Unten, S. 285.
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Zum anderen dient dem kontrastierenden Vergleichsverfahren, daß für das Mittelalter hier bevorzugt die „bürgerliche gewerbliche Binnenstadt“ Vgl. Webers Bemerkungen, unten, S. 289: Der „Untergang der Stadtfreiheit in hellenistischer und spätrömischer Zeit“ bedingte die „Vernichtung der Chance, ökonomischen Verdienst auf dem Wege der kriegerischen Politik der Stadt für die Bürger zu schaffen“, sowie in: Weber, Agrarverhältnisse3, S. 174 (MWG I/6): „Sie [die mittelalterlichen Städte] unterscheiden sich durch diesen weit spezifischer ,ökonomischen‘ Charakter von Anfang an sehr stark von der antiken Polis der klassischen Zeit, – während die hellenistischen Städte und diejenigen der Spätantike ihnen gerade darin näher stehen“.
180
nördlich der Alpen herangezogen wird, die aufgrund ihrer Einbettung in größere Herrschaftsstrukturen (anders als die italienischen Städte) nie die Chance zu einer expansiven Politik besessen hat. Weber sagt, daß „alle conjurationes und Einungen des Okzidents […], von der frühen Antike angefangen, […] Zusammenschlüsse der wehrhaften Schichten der Städte“ gewesen seien. Unten, S. 274.
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Im Hinblick auf die strukturellen Voraussetzungen für die Entfaltung ökonomischer Rationalität erscheint es demnach so, daß die Chancen dafür um so größer werden, je stärker der Charakter als Wehrverband zurücktritt bzw. überwunden wird. Welche Perspektiven sich daraus auf die unterschiedliche ökonomische Entwicklung in [37]der frühen Neuzeit in Italien, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und ganz besonders in England (wo den Städten diese Eigenschaft als Wehrverband nie zu gekommen war) gegebenenfalls ableiten ließen, wird nicht weiter ausgeführt, sondern nur mit der Feststellung angedeutet, daß im Hinblick auf die „entwicklungsgeschichtliche Sonderstellung“ der mittelalterlichen Stadt „der eine, wesentlich südeuropäische, speziell italienische und südfranzösische [Typus], dem Typus der antiken Polis trotz aller Unterschiede dennoch wesentlich näher steht als der andere, vornehmlich nordfranzösische, deutsche und englische […]“. Unten, S. 145. Vgl. Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 151: „politische[r] Schwurverband von wehrhaften Stadtinsassen“ im Okzident; Weber, Hinduismus, MWG I/20, S. 214: „Nirgends […] wurde [in den indischen Städten] eine Verbrüderung der Stadtbürgerschaft als solche Träger der höchst entwickelten Wehrmacht nach Art der Polis in der Antike und der Stadt wenigstens des südeuropäischen Mittelalters im Occident“.
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[37] Unten, S. 253.
Deutlich wird jedoch, daß Weber unter diesem Gesichtspunkt zu einer sehr kritischen Bewertung der athenischen Demokratie kommt, die ihre Bürger durch Politik und Kriegsdienst in einem Maße in Anspruch genommen habe, wie es „bei differenzierter Kultur weder vorher noch nachher in der Geschichte“ vorgekommen sei.
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Gerade damit sei ihnen aber der Weg in Richtung des „befriedeten ökonomischen Erwerbs und eines rationalen Wirtschaftsbetriebes“ versperrt geblieben. Unten, S. 285 f.
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Die Verpflichtungen der wohlhabenden Bürger, öffentliche Aufgaben durch Liturgien zu finanzieren, habe ebenso eine ständige Bedrohung der privaten Vermögen dargestellt, wie sie ebenso von den auch in Zivilsachen urteilenden Volksgerichten aus „hunderten von rechtsunkundigen Geschworenen“ ausgegangen sei, deren „Kadijustiz“ formale Rechtssicherheit (damit auch die Entwicklung einer formalen Rechtswissenschaft wie in Rom) Unten, S. 288.
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ausgeschlossen habe. Vgl. WuG1, S. 158 (MWG I/23).
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Unten, S. 286 f. – Für eine kritische Bewertung dieser Ausführungen vgl. Finley, Moses I., Max Weber und der griechische Stadtstaat, in: Kocka (Hg.), Max Weber (wie oben, S. 19, Anm. 104), S. 90–106.
Eine kritische Sicht der athenischen Demokratie war – besonders im Hinblick auf Liturgien und Volksgerichte – sicherlich in der wissenschaftlichen Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vorherrschend. Webers Sichtweise läßt sich darüber hinaus noch in Kontinuität zu einer älteren Tradition der Entgegensetzung von Antike und Moderne verstehen.
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Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts hatten schottische und französische, schließlich amerikanische Theoretiker diskutiert, daß die antiken, auf materiellen Gewinn durch Expansion angelegten Staaten für eine auf friedlichen Handel und Gewerbe setzende Gesellschaftsordnung nicht mehr vorbildlich sein könn[38]ten; mitunter wurde dies auf alle antiken Republiken bezogen, zumeist in spezifischer Weise auf Sparta, das als „militärisches Kloster“ bezeichnet wurde; hinzu kam die Ablehnung der unmittelbaren Demokratie und die Befürwortung einer Repräsentativverfassung. Im nachrevolutionären Frankreich wurde die Absetzung von der Antike noch verschärft, weil man die These einer unmittelbaren Verbindung zwischen dem Antikekult der Revolution und dem Terror der Jakobinerherrschaft pflegte. In seinem bekannten Essay von 1819 („De la liberté des anciens comparée à celle des modernes“) hat Benjamin Constant diese Sicht auf die Formel vom Gegensatz zwischen moderner, rechtsstaatlich geschützter, individueller Freiheit und einer antiken Freiheit gebracht, in der ein Höchstmaß an politischer Partizipation mit dem Fehlen jeglicher Schranken gegen den Eingriff des Staates in individuelle Rechte erkauft worden sei. Diese Tradition wurde unter anderem in den Werken von Fustel de Coulanges („La cité antique“, 1864) und Jacob Burckhardt („Griechische Kulturgeschichte“, 1898–1902) fortgesetzt. Vgl. zum folgenden Nippel, Wilfried, Republik, Kleinstaat, Bürgergemeinde. Der antike Stadtstaat in der neuzeitlichen Theorie, in: Blickle, Peter (Hg.), Theorien kommunaler Ordnung in Europa (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, Band 36). – München: R. Oldenbourg 1996, S. 225–247, hier S. 229 ff.
Obwohl Weber sich der Problematik von Constants Theoriebildung bewußt war,
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scheinen manche seiner Äußerungen doch stark dieser Tradition verhaftet zu bleiben. Dies könnte nicht nur mit seiner prononcierten Vergleichsabsicht zusammenhängen, sondern auch mit seinen politischen Wertvorstellungen. In der Herrschaftssoziologie des jüngeren Teils von „Wirtschaft und Gesellschaft“ hat Weber seinen Typus der „herrschaftsfremden Verbandsverwaltung“, die „unmittelbare Demokratie“ heißen soll, „solange die Genossenversammlung effektiv ist“, mit den charakteristischen Regelungen zur „Minimisierung von Herrschaft“ (kurze Amtsfristen, Abberufungsrecht, Turnusprinzip, Rechenschaftspflicht, Berichtspflicht, Sonderaufträge, Nebenberufscharakter des Amtes) konzis umrissen. Die – eigentlich auch aufgrund seiner Ausführungen in der „Stadt“ naheliegende – Applizierung dieser Kategorie auf die athenische Demokratie hat er jedoch mit der apodiktischen Behauptung abgelehnt, daß in diesem Falle die Größenordnung weit überschritten gewesen sei, bis zu der ein solches System praktikabel sein könne.[38] Weber, Objektivität, S. 79 (MWG I/7).
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Hier schlägt offensichtlich auch seine Überzeugung durch, daß ein Demos sich in größeren Verbänden nicht selbst verwalten könne, sondern es nur darum gehen könne, wie das Führungspersonal ausgewählt und beeinflußt werde. WuG1, S. 169 f. (MWG I/23); knapper im älteren Teil von WuG1, S. 667 (MWG I/22-4).
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Politische Führung geht einher mit einem „Pathos der Distanz“. WuG1, S. 667 (MWG I/22-4). – Vgl. Mommsen, Wolfgang J., Die antinomische Struktur des politischen Denkens Max Webers, in: Historische Zeitschrift, Band 233, 1981, S. 35–64, hier S. 45 ff.
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Dies zeigt sich auch in den emphatischen [39]Ausführungen über den würdevollen Habitus der politischen Führungsschicht in Rom, die am Schluß des vorliegenden Textes stehen, wenn auch (wegen seines unvollendeten Zustands) etwas zufällig. Die Formulierung findet sich (in einem etwas anderem Kontext) bei Hennis, Wilhelm, Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1987, S. 212.
3. Die Rezeption des Textes in der wissenschaftlichen Kritik
Die Abhandlung „Die Stadt“ nimmt in Webers Werk eine exzeptionelle Stellung ein, da sie der einzige Text ist, der die Spezifika des abendländischen Bürgertums sowohl im diachronen inner-okzidentalen Vergleich zwischen Antike und Mittelalter wie im Kontrast zu den orientalischen Kulturen – die zwar Städte, jedoch kein politisch organisiertes Stadtbürgertum gekannt haben – herausstellt. In seiner Eigenart liegt zugleich begründet, daß der Text, obwohl er ein „Hauptglied in Webers Gesamtwerk“
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darstellt, als ganzer kaum rezipiert worden ist, da er über die begrenzten Fragestellungen diverser Disziplinen weit hinausging. Zudem bedingte die Form der Publikation, zunächst als Aufsatz, dann als Kapitel von „Wirtschaft und Gesellschaft“, daß keine eingehenden Auseinandersetzungen zeitgenössischer Kritiker speziell mit diesem Text erfolgten; zeitgenössische Reaktionen auf „Wirtschaft und Gesellschaft“ konzentrierten sich im Regelfall auf die Erörterung einiger grundsätzlicher Probleme des Weberschen Verständnisses von „Soziologie“.[39] Bendix, Reinhard, Max Weber – Das Werk. Darstellung, Analyse, Ergebnisse. – München: R. Piper 1964, S. 375, Anm. 44. – Zur Schlüsselstellung des Textes vgl. auch Nelson, Benjamin, Max Weber and the Discontents and Dilemmas of Contemporary Universally Rationalized Post-Christian Civilization, in: Max Weber und die Rationalisierung sozialen Handelns, hg. von Walter Μ. Sprondel und Constans Seyfarth. – Stuttgart: Ferdinand Enke 1981, S. 1–8.
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Im sozialwissenschaftlichen Kontext wäre noch am ehesten Interesse an Webers Typologien zu erwarten gewesen; Vgl. den Überblick über diese Stellungnahmen bei Käsler, Dirk, Einführung in das Studium Max Webers. – München: C. H. Beck 1979, S. 204–207. Auch Otto Hintze hat trotz seines sonstigen Interesses an historischen Vergleichen in seiner Rezension der 2. Aufl. von WuG, Max Webers Soziologie, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche, 50. Jg., 1926, S. 83–95, nur kurz das Problem der Plazierung des Textes im Kontext des Gesamtwerkes erörtert.
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die spätere Inanspruchnahme Webers als Inspirator einer „Stadtsoziologie“ beruht dagegen auf einem Mißverständnis. Vgl. Sombart, W[erner], „Städtische Siedlung, Stadt“, in: Handwörterbuch der Soziologie, hg. von Alfred Vierkandt. – Stuttgart: Ferdinand Enke 1931, S. 527–533. Aus späterer sozialwissenschaftlicher Literatur sind zu nennen: Murvar, Vatro, Some Tentative Modifications of Weber’s Typology: Occidental versus Oriental City, in: Social Forces, vol. 44, 1966, S. 381–389; Spencer, Martin E., History and Sociology: An Analysis of Weber’s The City, in: Sociology, vol. 11, 1977, S. 507–525.
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Historiker, zumal der Antike und des Mittelalters, hätten sich grundsätzlich von dem stark historischen Charakter [40]der Abhandlung angesprochen fühlen können, wenngleich die Art und Weise der Präsentation nicht geläufigen fachwissenschaftlichen Darstellungsformen entsprach. Vgl. oben, S. 13, Anm. 65.
Unmittelbare Beachtung und Auswirkungen haben Teile von Webers Ausführungen zunächst im Bereich der Althistorie gefunden; hier spielte sicherlich mit, daß Weber sich mit seinen Arbeiten zur „Römischen Agrargeschichte“ und zu den „Agrarverhältnissen im Altertum“ bei aller Distanz zur Zunft in Fachkreisen Respekt erworben hatte;
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hinzu kam, daß die Ende des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der „Bücher-Meyer-Kontroverse“ in Gang gekommene Grundsatzdebatte über die Eigenart der antiken Ökonomie weiterging.[40] Zu den zeitgenössischen Reaktionen auf die „Agrargeschichte“ siehe die Nachweise in der Einleitung von Jürgen Deininger in MWG I/2, S. 37–43; beachtenswert ist in diesem Zusammenhang auch Eduard Meyers respektvoller Umgang mit Weber, vgl. dazu die oben, S. 3, Anm. 8, zitierte Literatur.
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Namentlich Johannes Hasebroek hat in seinen Untersuchungen zu den Organisationsformen des Handels und zur Stellung der Händler in der klassischen Polis sowie zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des archaischen Griechenlands wiederholt auf Webers Kennzeichnung des antiken Bürgers als homo politicus bzw. auf dessen Rekonstruktion der Entwicklung von der Geschlechter- über die Hopliten- zur Bürgerpolis Bezug genommen und sich dessen Konzeption (einschließlich der Ausführungen in den „Agrarverhältnissen“) weitgehend zum Vorbild genommen. Vgl. Oertel, Friedrich, Anhang, in: Pöhlmann, Robert von, Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, Band 2, 3. Aufl. – München: C. H. Beck 1925, S. 510–585 (mit zahlreichen Hinweisen auf Weber); vgl. ferner oben, S. 9, mit Anm. 44.
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Allerdings hat Hasebroek innerhalb seiner Disziplin eine Minderheitenposition vertreten; Hasebroek, Johannes, Staat und Handel im alten Griechenland. Untersuchungen zur antiken Wirtschaftsgeschichte. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1928, v.a. S. 29–31; ders., Griechische Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte bis zur Perserzeit. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1931.
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es setzte sich stärker eine eher modernisierende Betrachtung der antiken Wirtschaft in der Tradition Eduard Meyers durch, Für weitere Arbeiten zur antiken Ökonomie in der Tradition Webers vgl. v.a. Mickwitz, G[unnar], Economic Rationalism in Graeco-Roman Agriculture, in: English Historical Review, vol. 52, 1937, S. 577–589; ders., Zum Problem der Betriebsführung in der antiken Wirtschaft, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Band 32, 1939, S. 1–25.
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wie sie zumal von Rostovtzeff Vgl. Will, Édouard, Trois quarts de siècle de recherches sur l’économie grecque antique, in: Annales. Économies, Sociétes, Civilisations, Année 9, 1954, S. 7–19.
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forciert wurde. Ein neues Interesse an Weber ist dann seit den 1970er Jahren spürbar geworden, als mit [41]der Diskussion um Moses Finleys Arbeiten zur antiken Ökonomie So hat Rostovtzeff, M[ichael], Rezension von Hasebroek, Griechische Wirtschafts- und Gesellschaftsgeschichte, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Band 92, 1932, S. 333–339, hier S. 333 und 335, den „genialen Μ. Weber“, der Büchers Theorie [41]„modifiziert und für die Historiker annehmbarer gemacht“ habe, als „hauptsächlich Theoretiker und Philosoph“ abgetan; vgl. dagegen die respektvollen Bemerkungen zur „Römischen Agrargeschichte“ in: ders. [Rostowzew], Studien zur Geschichte des römischen Kolonats (1. Beiheft zum Archiv für Papyrusforschung). – Leipzig und Berlin: B. G. Teubner 1910, S. VI f.
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auch Weber als eine entscheidende Quelle für dessen Sichtweise wieder in das Blickfeld geriet. Zusammengefaßt in Finley, M[oses] I., The Ancient Economy (Sather Classical Lectures, vol. 43). – Berkeley [u. a.]: University of California Press 1973; zu Finleys Bezug auf Weber vgl. v.a. ders., The Ancient City (wie oben, S. 11, Anm. 52), sowie ders., Stadtstaat (wie oben, S. 37, Anm. 186).
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Bruhns, Hinnerk und Nippel, Wilfried, Max Weber, Moses I. Finley et le concept de cité antique, in: OPUS, vol. 6–8, 1987–1989, S. 27–50; Nippel, Methodenentwicklung (wie oben, S. 8, Anm. 36), S. 356 f.; Andreau, Jean, Présentation, in: Annales. Histoire, Sciences Sociales, Année 50, 1995, S. 947–960; Descat, Raymond, L’Économie antique et la cité grecque. Un modèle en question, ebd., S. 961–989; Bruhns, Hinnerk, Max Weber, l’économie et l’histoire, in: Annales. Histoire, Sciences Sociales, Année 51, 1996, S. 1259–1287, hier S. 1274 f.
In der Mediävistik stellten die ausführlichen, in ihrem Grundtenor positiven Diskussionen von Webers „Stadt“, die zwei russische Autoren im Anschluß an die 1923 erfolgte Publikation einer russischen Übersetzung des Textes
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vorlegten, eine Ausnahme dar; Im gleichen Jahr erschienen auch russische Fassungen der „Agrarverhältnisse im Altertum“ und der „Wirtschaftsgeschichte“; siehe die Nachweise bei Weiß, Johannes, Das Werk Max Webers in der marxistischen Rezeption und Kritik. – Opladen: Westdeutscher Verlag 1981, S. 224.
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auf die spätere dezidiert marxistische Geschichtswissenschaft blieben sie jedoch ohne Wirkungen Siehe die Referate der Arbeiten von A. Neusychin und V. Stoklickaja-Tereškovič bei Weiß, Das Werk Max Webers, S. 129–132.
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In [42]der zünftigen Forschung zur mittelalterlichen Stadtgeschichte scheint Weber zunächst nur vereinzelt Beachtung gefunden zu haben. Das gilt auch für einige andere Reaktionen marxistischer Theoretiker. Eine ausführliche, allerdings von kruder Polemik gegen Webers Verfehlen einer materialistischen Geschichtsauffassung begleitete, Auseinandersetzung mit Webers „Stadt“ durchzieht das Buch von Wittfogel, Karl A., Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft von ihren Anfängen bis zur Schwelle der großen Revolution. – Berlin: Malik 1924. Ebd., S. 98, akzeptiert Wittfogel Webers Betonung der grundlegenden Unterschiede zwischen den asiatischen und abendländischen Städten, führt sie jedoch auf eine „verstohlene Anlehnung an Marx“ zurück. Wittfogels weitere Arbeiten zu China und zur Theorie der orientalischen Gesellschaft (siehe die Bibliographie in: Ulmen, G[ary] L., The Science of Society. Toward an Understanding of the Life and Work of Karl August Wittfogel. – The Hague [u. a.]: Mouton 1978, S. 509–523), dürften Weber mehr verdanken, als der Autor lange einzuräumen bereit war. Den entscheidenden Anstoß durch Weber hat er später selbst festgestellt in: Wittfogel, Karl A., Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht. – Köln [u. a.]: Kiepenheuer & Witsch 1964, S. 28. – Kautsky, Karl, Die materialistische Geschichtsauffassung, 2. Band: Der Staat und die Entwicklung der Menschheit. – Berlin: J.H.W. Dietz 1927, S. 303 f., belegt seine positive Bewertung dieser Unterscheidung Webers (der damit „einen bedeutenden Beitrag zu einer materialistischen Auffassung der Geschichte [lieferte], die er freilich ablehnte“), mit einigen längeren Zitaten aus der „Stadt“.
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Wenn sich auch nicht ausschließen läßt, daß seine Studie mehr Wirkungen gezeitigt hat, als sich aus dem weitgehenden Fehlen expliziter Bezugnahmen erkennen läßt,[42] So bei Jecht, Horst, Studien zur gesellschaftlichen Struktur der mittelalterlichen Städte, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Band 19, 1926, S. 48–85, hier S. 52–55; Ennen, Edith, Die europäische Stadt des Mittelalters als Forschungsaufgabe unserer Zeit, in: Rheinische Vierteljahrsblätter, Jg. 11, 1941, S. 119–146, hier S. 121 mit Anm. 8 (angesichts des „Fehlens einer vergleichenden Betrachtung des europäischen Städtewesens im Mittelalter“ stelle die „großangelegte, die ganze Welt umspannende Skizze“ Webers eine Ausnahme dar); Goetz, Walter, Die Entstehung der italienischen Kommunen im frühen Mittelalter (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Abteilung, Jg. 1944, Heft 1). – München: Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1944, S. 102 mit Anm. 1 (bei Webers These, Italien sei die Heimat der coniurationes, handle es sich um eine „irrtümliche Auffassung“); Steinbach, Franz, Stadtgemeinde und Landgemeinde. Studien zur Geschichte des Bürgertums I, in: Rheinische Vierteljahrsblätter, Jg. 13, 1948, S. 11–50, hier S. 17 ff. mit S. 47, Anm. 20.
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so dürfte doch ein deutlicher Rekurs auf Webers Modellbildung erst seit den 1970er Jahren eingesetzt haben, zumal in Arbeiten, die sich mit den Ursprüngen der Stadtkommune befassen. Dies vermutet Haase, Carl, Einleitung, in: ders. (Hg.), Die Stadt des Mittelalters. 1. Band: Begriff, Entstehung und Ausbreitung. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1969, S. 1–6, hier S. 2. In diesen Sammelband ist ein Abdruck des 1. Kapitels der „Stadt“ aufgenommen worden.
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Ennen, Edith, Die europäische Stadt des Mittelalters. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1972, S. 120 ff.; Keller, Hagen, Die Entstehung der italienischen Stadtkommunen als Problem der Sozialgeschichte, in: Frühmittelalterliche Studien, Band 10, 1976, S. 169–211, v.a. S. 211; ders., Einwohnergemeinde und Kommune: Probleme der italienischen Stadtverfassung im 11. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, Band 224, 1977, S. 561–579, v.a. S. 577.
Für die Spezialisten der nicht-okzidentalen Kulturen gilt, daß sie zwar Webers „Fehlanzeige“ hinsichtlich eines politisch verfaßten Stadtbürgertums teilen mochten;
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wieweit Webers gesamte Analyse dieser Kulturen (für die der Komplex Stadt und Stadtbürgertum nur einen Teilaspekt darsteilt) für eine Sichtweise tragen kann, die mehr als eine Negativfolie der abendländischen Entwicklung darstellt, bleibt auch in der lebhaften neueren Diskussion umstritten. Becker, C[arl] H., Islamstudien, Band 1: Vom Werden und Wesen der islamischen Welt. – Leipzig: Quelle & Meyer 1924, S. 36. – Grunebaum, Gustav E. von, Die islamische Stadt, in: Saeculum, Band 6, 1955, S. 138–153, folgt dem Weberschen Interpretationsmuster; Cahen, Claude, Zur Geschichte der städtischen Gesellschaft im islamischen Orient des Mittelalters, ebd., Band 9, 1958, S. 59–76, setzt sich davon ab; beide Autoren beziehen sich jedoch nicht explizit auf Weber.
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Vgl. die oben, S. 19, Anm. 104 und 105, zitierte Literatur. Explizite Distanzierungen von Weber finden sich u. a. bei Eickelman, Dale F., Is There an Islamic City? The Making of a Quarter in a Morrocan Town, in: International Journal of Middle East Studies, vol. 5, 1974, [43]S. 274–294; Wirth, Eugen, Die orientalische Stadt. Ein Überblick aufgrund jüngerer Forschungen zur materiellen Kultur, in: Saeculum, Band 26, 1975, S. 45–94.
[43]Webers Analyse der okzidentalen Stadtgemeinde stellt „bis zur Gegenwart eine uneingelöste Herausforderung an die Geschichtswissenschaft“
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dar. Nachdem Otto Brunner 1953 den Vergleich zwischen antikem und mittelalterlichem Stadtbürgertum aufgenommen und dabei die durch das unterschiedliche Verhältnis von Stadt und Umland bedingten Unterschiede zwischen den Epochen betont hatte, Schreiner, Die mittelalterliche Stadt (wie oben, S. 26, Anm. 140), S. 140.
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zeigt sich erst in jüngster Zeit in Althistorie und Mediävistik eine zunehmende Bereitschaft, sich dieser Herausforderung zu stellen. Brunner, Otto, Stadt und Bürgertum in der europäischen Geschichte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Jg. 4, 1953, S. 525–537. – Die russische Stadt ordnete Brunner dem orientalischen Typus Webers zu; ders., Europäisches und russisches Bürgertum, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Band 40, 1954, S. 1–27; vgl. auch Murvar, Vatro, Max Weber’s Urban Typology and Russia, in: Sociological Quarterly, Band 8, 1967, S. 481–494.
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Auch neuere Versuche historisch orientierter Soziologen, die Eigenarten der europäischen Entwicklung im Kontext eines Zivilisationsvergleichs zu erhellen, belegen die anhaltende Inspiration, die von Webers Modellbildung ausgeht. Vgl. die Beiträge in: Kocka (Hg.), Max Weber (wie oben, S. 19, Anm. 104); Meier (Hg.), Okzidentale Stadt (wie oben, S. 20, Anm. 108), sowie in: City States in Classical Antiquity and Medieval Italy. Athens and Rome, Florence and Venice, ed. by Anthony Molho, Kurt Raaflaub, Julia Emlen. – Stuttgart: Franz Steiner 1991.
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Solange man sich dieser Frage stellt, die den Vergleich zwischen den Epochen und Kulturen fordert, werden Webers Darlegungen zur universalhistorischen Besonderheit des okzidentalen Bürgertums schwerlich obsolet werden. Hall, John A., Powers & Liberties. The causes and consequences of the rise of the West. – Oxford: Basil Blackwell 1985; Mann, Michael, The Sources of Social Power, vol. 1: A history of power from the beginnlng to A.D. 1760. – Cambridge: Cambridge University Press 1986.