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MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[1]Einleitung

Ein unfertiger Schlüsseltext

Als Weber im Sommer 1913 an dem Text schrieb, der Jahre später unter der Überschrift „Religionssoziologie (Typen religiöser Vergemeinschaftung.)“ als Teil von „Wirtschaft und Gesellschaft“ veröffentlicht wurde, erhielt er von seinem Freund und ehemaligem Freiburger Kollegen Heinrich Rickert einen Sonderdruck „Vom System der Werte“.
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[1] Rickert, Heinrich, Vom System der Werte, in: Logos, Band 4, Heft 3, 1913, S. 295–327 (hinfort: Rickert, Vom System der Werte).
In seinem Dankesschreiben kündigte Weber „als Gegengabe das Mscr. meiner Religionssystematik“ an.
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Brief Max Webers an Heinrich Rickert vom Juli 1913 [nicht genauer datiert, wohl nach dem 3. Juli], GStA Berlin, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 25, Bl. 81 (MWG II/8).
Ende November schrieb er Rickert in einem weiteren Brief, er werde ihm seine „empirische Kasuistik der Contemplation und aktiven Religiosität“ schicken, wenn sie „abgetypt“ sei.
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Brief Max Webers an Heinrich Rickert von ca. Ende November 1913, Privatbesitz (MWG II/8).
In einem Brief an den Verleger Paul Siebeck charakterisierte Weber den Text noch einmal ähnlich: die Aufsätze zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen seien „Vorarbeiten und Erläuterungen der systematischen Religions-Soziologie im ‚G.d.S.Ö.‘“.
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Brief Max Webers an Paul Siebeck vom 22. Juni 1915, VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446 (MWG II/9).
Den Text als „Systematik“
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Zu Webers eigener Charakterisierung des Textes vgl. den Editorischen Bericht, unten, S. 104 f.
zu bezeichnen, ist gewagt. Ephraim Fischoff, der die amerikanische Übersetzung „The Sociology of Religion“ vornahm, sprach von der „Kluft zwischen der Präzision von seinem [Webers] Denken und der natürlichen Unordnung seines Ausdrucksstiles“.
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Weber, Max, The Sociology of Religion. Introduction by Talcott Parsons with a new foreword by Ann Swidler. – Boston: Beacon Press 1993 (hinfort: Weber, Sociology of Religion), S. XXVI („the gap between the acuity of his thought and the unstudied disorder of his style of expression“).
Zur Bekräftigung berief sich Fischoff auf Äußerungen, die Karl Jaspers über Webers Stil gemacht hatte. Liest man Jaspers Worte nach, sind sie jedoch wesentlich nuancierter. Anders als Ephraim Fischoff und übrigens auch als Friedrich [2]Meinecke
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[2] Friedrich Meinecke hat in seinem Nekrolog Max Weber eine „Vernachlässigung der Form“ angekreidet, die er „sich in seinen wissenschaftlichen Arbeiten zuschulden kommen ließ“. Meinecke hat in ihr einen empfindlichen Mangel gesehen. Meinecke, Friedrich, Max Weber, in: König, René und Winckelmann, Johannes (Hg.), Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit, 2. Aufl. – Opladen: Westdeutscher Verlag 1985, S. 143–147, Zitat: S. 145.
sah Karl Jaspers in Webers Stil mehr als nur Mängel. Im Gegenteil! Er warf zwar Weber eine Gleichgültigkeit gegenüber der sprachlichen Form vor. „Weil aber Max Weber ganz bei der Sache und nie bei der Sprache war, gelang ihm ohne Wollen der eigentliche Sprung auch in der Sprache: die wahrhaft unverkünstelten Klänge menschlichen Geistes in der Gegenwart“.
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Jaspers, Karl, Max Weber. Deutsches Wesen im politischen Denken, im Forschen und Philosophieren. – Oldenburg: Gerhard Stalling 1932, S. 71.
Jaspers Bemerkungen sollte man bei der Lektüre des Textes im Ohr behalten. Welcher Religionswissenschaftler hat je aus dem Meer der religionshistorischen Daten jemals so prägnante Metaphern geschaffen, die in die schwer zugängliche Innenwelt menschlichen Handelns führen? Es ist nur zu begreiflich, daß sich Ann Swidler in ihrem Vorwort zur amerikanischen Übersetzung von Webers Religionssoziologie anders als Ephraim Fischoff äußerte. Sie hielt gerade diesen Text für besonders brillant und lebendig. Er enthülle die dynamische Schubkraft von Webers Denken.
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Weber, Sociology of Religion (wie oben, S. 1, Anm. 6), S. X („The Sociology of Religion demonstrates, better than any other of his works, Weber’s brilliance as a historical analyst. […] In The Sociology of Religion, the daunting [„entmutigend“], sometimes cumbersome [„klobige“] theoretical apparatus laid out in other portions of Weber’s Economy and Society – definitions and typologies, lists and explications of concepts – comes to life, revealing the dynamic thrust of his ideas“).
Da Weber den Text nicht mehr zur Veröffentlichung fertig stellen konnte, ist er alles andere als systematisch. Wohl aber lebt er von einer durchgehenden und in diesem Sinne systematischen Idee. In Abwehr eines Materialismus, der menschliches Handeln aller Zeiten und Kulturen auf berechenbare Zwecke und Interessen zurückschneidet, vertiefte Weber sich in die Religionen, um dem menschlichen Handeln sowohl das Subjekt als auch dessen vorausgesetzte Deutung der Welt zurückzugeben. Am Leitfaden der Geschichte der Religionen legte Weber die dramatisch konträren Sinndeutungen menschlichen Handelns offen. Weber gebrauchte in seiner Darstellung nicht ohne Grund oft das Präsens. Die ermittelten Handlungstypen sind auch noch in der Gegenwart gültig. Es überrascht und berührt die Leser, wie eng und unlösbar Weber ganz alltägliches Handeln mit einem Streben nach Heil verknüpft sah. Mehr noch: darin lag ein Antrieb ganz eigener Art. Dies ist es, was Weber interessierte: „Denn der Effekt im Handeln ist es, der uns angeht“.
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Unten im Text, S. 333. Wilhelm Hennis versteht diese Aussage im Zusammenhang mit einer Rezeption von William James in Deutschland. Hennis, Wilhelm, Die spiritualistische [3]Grundlegung der „verstehenden Soziologie“ Max Webers. Ernst Troeltsch, Max Weber und William James’ „Varieties of religious experience“ (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, 1. Philologisch-historische Klasse). – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1996, S. 21 = Hennis, Max Webers Wissenschaft vom Menschen. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1996, S. 50–71, hier: S. 66.
[3]Daß Webers „Systematik“ schwer lesbar bleibt, hat allerdings auch einen Grund in der Systematik selber. Weber spricht nicht von Religion als solcher. „Eine Definition dessen, was Religion ‚ist‘, kann unmöglich an der Spitze, sondern könnte allenfalls am Schlusse einer Erörterung wie der nachfolgenden stehen“.
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Unten im Text, S. 121.
Ähnlich hatte er sich in der „Protestantischen Ethik“ geäußert: „Die endgültige begriffliche Erfassung kann […] nicht am Anfang, sondern muß am Schluß der Untersuchung stehen“. Es liege im Wesen der „historischen Begriffsbildung“, daß sie „für ihre methodischen Zwecke die Wirklichkeit nicht in abstrakte Gattungsbegriffe einzuschachteln, sondern in konkrete genetische Zusammenhänge von stets und unvermeidlich individueller Färbung einzugliedern strebt“.
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GARS I, S. 30 und S. 31 (MWG I/18).
Auch „Religion“ kann als Teil der Wirklichkeit nicht abstrakt gefaßt werden. Nur wenn individuelle Handlungen nicht anders als durch die Annahme einer Orientierung an Religionen verstanden und erklärt werden können, kann man von einer Realität der Religionen sprechen. Weber bleibt kritisch. Er nimmt den Ideologieverdacht der materialistischen Geschichtsphilosophie von Karl Marx genauso ernst wie Sigmund Freuds These der Sublimierung des Verdrängten oder Friedrich Nietzsches These, religiöse Ethik sei aus „Ressentiment“ entstanden. Ideen müssen im Lichte der sie tragenden Interessen, Interessen im Lichte ihrer Legitimationen gelesen werden. Diese systematischen Vorentscheidungen erschweren die Darstellung, die gezwungenermaßen immer wieder die Ebenen wechseln muß. Eine Wiedergabe der systematischen Achse kann den Einstieg in den Text daher erleichtern.

Wiedergabe des Textes

Religiöse Gemeinschaften: Religion ist ein Gemeinschaftshandeln, das diesseitige Zwecke mit Hilfe außeralltäglicher Kräfte erreichen will. Diese Kräfte manifestieren sich in bestimmten Dingen wie Fetischen oder individuellen bzw. gemeinschaftlichen Fähigkeiten wie Rauschzuständen. „Alle Kreise menschlicher Tätigkeit werden in diesen symbolistischen Zauberkreis hineingerissen“,
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Unten im Text, S. 129.
Wirtschaft ebenso wie Recht und Herrschaft. Wenn Weber später darauf zu sprechen kommt, daß Intellektuelle den umgekehr[4]ten Prozeß der Entzauberung vorantreiben, kehren die gleichen Worte noch einmal wieder. Je mehr „die Vorgänge der Welt ‚entzaubert‘ werden […], nur noch ‚sind‘ und ‚geschehen‘, aber nichts mehr ‚bedeuten‘, desto dringlicher erwächst die Forderung an die Welt und ‚Lebensführung‘ je als Ganzes, daß sie bedeutungshaft und ‚sinnvoll‘ geordnet seien“.
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[4] Unten im Text, S. 273.
Doch bis zu dem Moment ist es bei Weber noch ein langer Weg. Es bedarf der persönlichen Träger von außeralltäglicher Kraft, damit religiöses Handeln allmählich von den diesseitigen Zwecken unabhängig werden kann. Die Abfolge von Zauberer – Priester – Prophet verlagert das Prinzip des religiösen Gemeinschaftshandelns von Magie auf Kult, von Kult auf Ethik. Die Erfolglosigkeit des freiberuflichen Zauberers wurde zur Chance der Priester. Im Auftrag eines politischen Verbands wollen sie die Götter nicht zwingen, sondern durch Kult beeinflussen. Sie sind es, die die Welt als einen dauernd sinnvoll geordneten Kosmos konzipieren. Für Mißerfolge machen sie die Gläubigen selber verantwortlich, insofern sie die göttliche Ordnung mißachtet hätten. Propheten gaben dieser Erklärung eine ethische Wendung und vereinheitlichten die „Beziehung des Menschen zur Welt aus letzten einheitlichen Wertpositionen heraus“.
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Unten im Text, S. 207.
Um sie herum bilden sich Gemeinden, die auf einer Ethik basieren. Dabei wird der Unterschied folgenreich, daß der Prophet in Vorderasien, wo die Konzeption eines persönlichen überweltlichen ethischen Gottes vorherrscht, als Überbringer von Gottes Wort gilt und eine Ethik des Gehorsams lehrt, der Prophet in Indien aber, wo die Vorstellung einer göttlichen kosmischen Ordnung vorherrscht, den weltflüchtigen Heilsweg exemplarisch vorlebt, wie beispielsweise Buddha. Prophetische Gemeinden können aber nur dann dauerhaft bestehen, wenn Priester die verbindlichen Lehren festlegen und mittels Predigt und Seelsorge auf die Lebensführung der Laien einwirken.
Klassenbedingtheit der Religionen. Die Leistung der Religionen für das Gemeinschaftshandeln ist davon abhängig, welcher Schicht die Laien angehören. Die Abhängigkeit der Bauern von der unberechenbaren Natur ist ein Grund dafür, daß Bauern nur ausnahmsweise wie im antiken Judentum Träger einer rationalen Ethik sind. Häufiger findet man sie auf der Seite von Tradition und Magie. Krieger sind für die Idee eines aktiven Glaubenskampfes empfänglich, nicht aber einer gütigen Vorsehung oder systematisch ethischer Anforderungen eines überweltlichen Gottes. Beamte schätzen irrationale Religiosität höchstens als Mittel der Domestikation der Untertanen. Weniger festgelegt ist die Haltung bürgerlicher Schichten. Privilegierte bürgerliche Schichten, normalerweise einer Jenseitsreligion abgeneigt, favorisieren nur im Falle ihrer Entpolitisierung Erlösungsreligiosität, da sie ihr das [5]Bewußtsein fortdauernder Würde entlehnen können, wie bei den asiatischen Erlösungslehren, beim vorderasiatischen Manichäismus und der Gnosis. Wo bürgerliche Schichten Handwerk und Gewerbe betreiben und Stadtgemeinden bilden, können sie Träger rationaler ethischer Gemeindereligiosität werden, wie im Kleinbürgertum okzidentaler, nicht aber chinesischer und indischer Städte. Wenn negativ Privilegierte wie das Proletariat Träger einer Erlösungsreligion werden, änderte diese ihren Charakter und wird Heilandsverehrung oder magischer Kultus. Weber differenziert Erlösungsreligiosität nach ihrer unterschiedlichen Leistung für positiv oder negativ privilegierte Schichten. Das Würdegefühl der positiv Privilegierten beruht auf ihrem Sein, das Würdegefühl negativ Privilegierter auf dem Bewußtsein einer zukünftigen Mission. Im ersten Fall legitimiert sie das Glück Besitzender, im zweiten Fall das Bedürfnis nach Vergeltung. Das antike Judentum ist ein Beispiel dafür. Auf dem Boden seines Gesetzesmoralismus gewinnt das Ressentiment an Bedeutung, eine Theodizee der negativ Privilegierten. Das Christentum sprengt diesen Gesetzesmoralismus und schaltet so das Ressentiment aus. Es ist Nietzsches Fehler, seine Ressentiment-These auch auf den Buddhismus anzuwenden. Denn das Erlösungsbedürfnis hat neben den negativ Privilegierten und dem Bürgertum noch eine dritte Quelle, den Intellektualismus: das metaphysische Bedürfnis des Geistes, der durch innere Nötigung dazu gedrängt wird, die Welt als sinnvollen Kosmos zu erfassen. Art und Träger von Intellektualismus sind bestimmend für die Geschichte der Religionen: ob Priester, Mönche, Sänger, Rabbinen, gebildete Laien. Weber nimmt dann schlagwortartig eine Zuordnung von Weltreligionen und deren Trägern bzw. Propagatoren vor: für den Konfuzianismus ist es der weltordnende Bürokrat, für den Hinduismus der weltordnende Magier, für den Buddhismus der weltdurchwandernde Bettelmönch, für den Islam der weltunterwerfende Krieger, für das Judentum der wandernde Händler, für das Christentum der wandernde Handwerksbursche.
Kulturreligionen und Wirtschaftsgesinnung. Das religiöse Gemeinschaftshandeln ist nicht allein von der sozialen Schicht der Laien abhängig, sondern auch von der Verarbeitung der Erfahrung der Unvollkommenheit der Welt durch Intellektuelle. Es gibt insgesamt nur wenige konsequente Lösungen: die protestantische Prädestinationslehre, den Dualismus, die indische Seelenwanderungslehre. Diese Theodizeen kodifizieren die Irrationalität der Weit und eröffnen unterschiedlichste Wege für die Erlangung von Erlösung. Erlösung kann entweder mittels eigener Werke erlangt werden (aktive Weitablehnung oder mystische Weltflucht), oder ein Geschenk der Gnade sein, das in der alltäglichen Lebensführung bewährt werden muß. Besonders folgenreich für das religiöse Gemeinschaftshandeln werden die beiden Typen von Ethik. Gesetzesethik unterstützt bestehende Verhältnisse. Gesinnungsethik jedoch kann die Geltung traditioneller Normen sprengen [6]und die Lebensführung revolutionieren. Letztere verwandelt das nachbarschaftliche Gebot der Brüderlichkeit in ein konsequentes Postulat der Gemeindereligiosität. Konflikte dieses Postulats mit den Realitäten der Welt (Ökonomie, Staat, Sexualität, Kunst) führen dazu, daß die Eigengesetzlichkeiten der Lebenssphären hervortreten, zugleich damit aber auch in ihnen gesinnungsethische Alternativen des Einzelnen möglich werden. Gesinnungsethik stellt sich gegen ökonomische Ordnungen, da diese nicht karitativ reglementierbar sind. Askese kann dabei ungewollt zur Vermögensakkumulation beitragen. Eine ähnliche Spannung gibt es im Verhältnis zum politischen Handeln. Hier zieht Erlösungsreligiosität entweder Apolitismus oder Glaubensrevolutionen nach sich. Auch zur Sexualität tritt die Gesinnungsethik in Gegensatz. Sexualfeindschaft wird zum Mittel der Heilssuche, kann aber auch zur Erotik sublimiert werden. Schließlich gerät Gesinnungsethik zur Kunst in Konflikt. Am Ende zieht Weber alle idealtypischen Bestimmungen religiösen Gemeinschaftshandelns zusammen und bestimmt die Weltreligionen hinsichtlich Weltanpassung bzw. Weltablehnung. Der Abschnitt ist fragmentarisch und beginnt ebenso abrupt wie er abbricht. Der Weg, der aus dem Zaubergarten herausführt, ist weder der weltangepasste Konfuzianismus noch der weltablehnende Buddhismus noch der weltzugewandte Islam noch die Pariahoffnung des Judentums. Zwar sehen auch Juden im erfolgreichen Erwerb ein Zeichen göttlicher Fügung. Jedoch fehlt ihnen die einheitliche Beziehung zur „Welt“ aus dem Gesichtspunkt der certitudo salutis als Zentrum heraus. Erst das Christentum verallgemeinert die Nothilfeethik des Nachbarschaftsverbandes zur universalen brüderlichen Liebesgesinnung. Damit wird es zur Triebkraft der Herausbildung verselbständigter Ordnungen und rationaler methodischer Lebensführung.

Von der „Protestantischen Ethik“ zu den „Religiösen Gemeinschaften“

Der Text „Religiöse Gemeinschaften“ wurde 1921/22 im Zusammenhang anderer nachgelassener Texte in „Wirtschaft und Gesellschaft“ veröffentlicht. Er stammte aus einer Jahre zurückliegenden Forschungsphase, die deshalb besonders interessant ist, weil sie mit Webers Übergang von seiner Studie „Die protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus“ aus den Jahren 1904/05
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[6] Weber, Max, Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, zuerst erschienen in: AfSSp, Band 20, Heft 1, 1904, S. 1–54 und Band 21, Heft 1, 1905, S. 1–110 (MWG I/9). Bearbeitet unter dem Titel: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: GARS I. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1920, S. 17–206 (MWG I/18).
zur Aufsatzreihe „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ (ab 1915) zusammenfällt. Als Friedrich H. Tenbruck 1975 die These aufstell[7]te, daß nicht „Wirtschaft und Gesellschaft“, sondern „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ das Zentrum und Hauptwerk von Weber seien,
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[7] Tenbruck, Friedrich H., Das Werk Max Webers, in: KZfSS, Jg. 27, 1975, S. 663–702, abgedruckt in: Ders., Das Werk Max Webers. Gesammelte Aufsätze zu Max Weber, hg. von Harald Homann. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1999, S. 59–98.
hat Wolfgang Schluchter den Blick auf den Text „Religiöse Gemeinschaften“ gelenkt.
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Schluchter, Religion und Lebensführung II, S. 557–596.
In einer werkgeschichtlichen Rekonstruktion hat er zeigen können, daß in diesem einen Text alle beiden Vorhaben miteinander verklammert sind. Die „Religiösen Gemeinschaften“ sind ein integraler Bestandteil von „Wirtschaft und Gesellschaft“ und bilden zugleich eine Voraussetzung für „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“. Dieser Text nimmt die Frage einer sozialen Bedingtheit von Religionen wieder auf, die bereits in der „Protestantischen Ethik“ als ein Gesichtspunkt präsent war. Da Weber sich mit diesem Text Begriffe erarbeitete, die zu Voraussetzungen für „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ wurden, findet sich in ihm die innere Verbindung aller drei Vorhaben Webers.
Weber wandte sich in einem Moment der Mammutaufgabe des Studiums der Weltreligionen zu, als er 1910 die Debatte um die „Die protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus“ mit einem „Schlußwort“ beenden wollte. Er erinnerte noch einmal daran, was seine Schrift beabsichtigt hatte: „[…] eine bestimmte, konstitutive Komponente des Lebensstils, der an der Wiege des modernen Kapitalismus stand, […] zu analysieren und in ihren Wandlungen und ihrem Schwinden zu verfolgen“.
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Weber, Max, Antikritisches zum „Geist“ des Kapitalismus, in: AfSSp, Band 30, 1910, S. 176–202 (MWG I/9), Zitat: S. 197; Winckelmann, Kritiken und Antikritiken, S. 169.
Diese These hatte seiner Ansicht nach der Diskussion standgehalten. In einem Rückblick kurz vor seinem Tode im Jahre 1920 hat Weber anläßlich seiner Neubearbeitung von „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ die Gründe dafür genannt, warum seine Forschung gerade diese Richtung genommen habe. Da waren einmal die Arbeiten seines Freundes und Kollegens Ernst Troeltsch. Sie hätten manches erledigt, was er als Nicht-Theologe selber nicht so gut gekonnt hätte. Es sei daran erinnert, daß Ernst Troeltsch 1906 an Stelle Webers auf dem 9. Historikertag den Vortrag gehalten hat: „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“.
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Troeltsch, Ernst, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, in: Historische Zeitschrift, 97. Band, 1906, S. 1–66. Der Beitrag erschien in einer überarbeiteten Form als Monographie: Ders., Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. – München und Berlin: R. Oldenbourg 1911.
In ihm erläuterte Troeltsch den Historikern die Unterscheidung, die Weber zwischen dem „kapitalistischen System“ und dem „kapitalistischen Geist“ vorgenommen habe. Basierend darauf sei Weber der Nachweis gelungen, [8]daß der Frühkapitalismus in Holland, England und Amerika auf dem Boden einer calvinistischen Wirtschaftsgesinnung entstanden sei.
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[8] Ebd., S. 68 f.
Troeltsch machte mit diesem Vortrag deutlich, daß er die Fragen, an denen Weber arbeitete, auch als seine eigenen ansah. Möglicherweise fühlte Weber sich dadurch bestärkt, die so dringlich notwendige Weiterarbeit an der christlichen Religionsgeschichte ausgewiesenen Fachleuten überlassen zu können. Schon 1908 hatte Weber Worte der Bewunderung für Ernst Troeltsch mit der Bemerkung verbunden, er wolle „unnützes Parallelarbeiten“ vermeiden.
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Weber, Max, Bemerkungen zu der vorstehenden „Replik“, in: AfSSp, Band 26, 1908, S. 275–283, hier: S. 278, Fn. 3 (MWG I/9; hinfort: Weber, Bemerkungen zur „Replik“); Winckelmann, Kritiken und Antikritiken, S. 54.
Als Troeltschs Studien über die „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“
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Troeltsch hatte mehrere Aufsätze und Vorträge über „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ zunächst ab 1908 im AfSSp veröffentlicht, die 1912 als Monographie mit demselben Titel erschienen (Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck)). Die Entstehungsgeschichte der Soziallehren hat Friedrich Wilhelm Graf rekonstruiert: „endlich große Bücher schreiben“. Marginalien zur Werkgeschichte der „Soziallehren“, in: Graf, Friedrich Wilhelm und Rendtorff, Trutz (Hg.), Ernst Troeltschs Soziallehren. Studien zu ihrer Interpretation (Troeltsch-Studien, Band 6). – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1993, S. 27–48.
seit 1908 zu erscheinen begannen, hat Weber offensichtlich befürchtet, daß sich ihre Arbeitsgebiete allzu sehr überschneiden, was nicht ohne Einfluß auf seine Arbeitspläne blieb, wie Marianne Weber in ihrem „Lebensbild“ berichtet.
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Weber, Marianne, Lebensbild, S. 346.
Weber nannte 1920 auch den eigentlichen Grund für seine Hinwendung zur Religionsgeschichte. „Um diese Ausführungen [,Protestantische Ethik‘] ihrer Isoliertheit zu entkleiden und in die Gesamtheit der Kulturentwicklung hineinzustellen“, habe er sich entschlossen, „zunächst die Resultate vergleichender Studien über die universalgeschichtlichen Zusammenhänge von Religion und Gesellschaft niederzuschreiben“.
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Weber, Protestantische Ethik, GARS I, S. 206 (MWG I/18).
Zwar beziehen sich diese Worte auf die Skizzen zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Da er die Skizzen jedoch als „Vorarbeiten und Erläuterungen der systematischen Religions-Soziologie im ,G.d.S.Ö.‘“ verstanden wissen wollte,
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Vgl. oben, S. 1 mit Anm. 4.
hat Weber damit indirekt auch etwas über die Gründe des systematischen Textes gesagt.

[9]Der „Geist“ des Kapitalismus und das Judentum

Schon vor Max Weber hatte Werner Sombart nach den „seelischen“ Vorbedingungen und Ursachen des kapitalistischen Geistes gesucht, wie Ernst Troeltsch in seinem Vortrag 1906 vor den Historikern deutlich machte.
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[9] Troeltsch, Ernst, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Weit, in: Historische Zeitschrift, 97. Band, 1906, S. 1–66, hier: S. 43. In der Buchausgabe des Vortrages (1911) hat Troeltsch die Darstellung stärker in Webers Terminologie gekleidet: „Von dem kapitalistischen System ist der ‚kapitalistische Geist‘ zu unterscheiden, ohne den jenes nie zu seiner Macht über die Gemüter gekommen wäre“ (Ders., Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. – München und Berlin: R. Oldenbourg 1911, S. 66).
Sombart hat tatsächlich Jahre vor Weber das Problem beim Namen benannt: „Unzureichend scheint mir auch eine Begründung modem-kapitalistischen Wesens mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Religionsgemeinschaften. Daß der Protestantismus, zumal in seinen Spielarten des Calvinismus und Quäkertums, die Entwicklung des Kapitalismus wesentlich gefördert hat, ist eine zu bekannte Thatsache, als daß sie des weiteren begründet zu werden brauchte. Wenn jedoch jemand […] einwenden wollte: die protestantischen Religionssysteme seien zunächst vielmehr Wirkung als Ursache des modern-kapitalistischen Geistes, so wird man ihm schwer die Irrtümlichkeit seiner Auffassung darthun können, es sei denn mit Hilfe eines empirischen Nachweises konkret-historischer Zusammenhänge“.
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Sombart, Werner, Der moderne Kapitalismus, Band 1: Die Genesis des Kapitalismus. – Leipzig: Duncker & Humblot 1902, S. 380 f.
Diesen Nachweis hat Weber zwei Jahre später geführt. Der Protestantismus war kein Überbau über eine bestimmende ökonomische Basis. Er hat aktiv dazu beigetragen, den Kapitalismus hervorzubringen. Als Weber den Begriff des „Geistes“ des Kapitalismus in seine eigene Studie übernahm, unterließ er es nicht, auf Sombart hinzuweisen, auch wenn seine eigene „Problemstellung“ eine „etwas andere“ sei.
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Vgl. Weber, Protestantische Ethik I, S. 15, Fn. 2 (GARS I, S. 34, Fn. 1).
Er brauche nicht besonders zu betonen, wieviel seine eigenen Studien der Tatsache verdankten, „daß Sombarts große Arbeiten mit ihren scharfen Formulierungen vorliegen, […] auch – und gerade da, wo sie andere Wege gehen“.
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Weber, Protestantische Ethik I, S. 20, Fn. 1 (GARS I, S. 42, Fn. 2).
Werner Sombart war von Webers Nachweis nicht überzeugt. 1911 legte er einen eigenen Erklärungsversuch vor. Max Webers Untersuchungen hätten ihn dazu gebracht, dem Einfluß der Religion auf das Wirtschaftsleben noch mehr als zuvor nachzugehen. Die Prüfung habe etwas anderes ergeben, daß nämlich „alle diejenigen Bestandteile des puritanischen Dogmas, die mir von wirklicher Bedeutung für die Herausbildung des kapitalistischen [10]Geistes zu sein scheinen, Entlehnungen aus dem Ideenkreis der jüdischen Religion“
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[10] Sombart, Werner, Die Juden und das Wirtschaftsleben. – Leipzig: Duncker & Humblot 1911, Vorwort, S. V (hinfort: Sombart, Juden und Wirtschaftsleben).
waren. Der Puritanismus habe dem Kapitalismus nur deshalb eine Wirtschaftsgesinnung einhauchen können, weil er sich die jüdische Tradition angeeignet habe. In Wirklichkeit seien die Juden die hauptsächlichen Träger der Entwicklung zum Kapitalismus gewesen.
Mit dieser Schrift Sombarts wendete sich die Debatte über den Ursprung der kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung einer nicht-christlichen Religion zu.
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Bei Wolfgang Schluchter findet sich der Hinweis, daß Weber eventuell bereits seine Studie über den Protestantismus teilweise gegen eine von Sombart bereits früher geäußerte Auffassung geschrieben habe. Sombart hatte in früheren Veröffentlichungen auf die Bedeutung der Juden für die Entwicklung des Kapitalismus in Europa hingewiesen (Schluchter, Religion und Lebensführung II, S. 129, Anm. 5 mit Quellennachweis).
Ob Zufall oder nicht: in demselben Jahr, in dem Werner Sombart der Debatte eine religionswissenschaftliche Richtung gab, nahm Max Weber sein Studium der großen Religionen auf. Als Weber im letzten Abschnitt der „Religiösen Gemeinschaften“ auf das Judentum als Kulturreligion und seiner Wirkung auf die „Welt“ einging, setzte er sich sogleich mit der Arbeit von Sombart auseinander. Weber würdigte Sombarts Leistung. „Es hätte in der Polemik gegen Sombarts geistvolles Buch die Tatsache nicht ernstlich bestritten werden sollen: daß das Judentum an der Entfaltung des kapitalistischen Wirtschaftssystems in der Neuzeit sehr stark mitbeteiligt gewesen ist. Nur bedarf diese These Sombarts m. E. einer etwas weiteren Präzisierung“.
33
Unten im Text, S. 417 f.
Die spezifisch ökonomischen Leistungen des Judentums lägen im Darlehen.
34
Vgl. unten im Text, S. 418.
Hingegen fehle ihm „die Organisation der gewerblichen Arbeit in Hausindustrie, Manufaktur, Fabrik“.
35
Unten im Text, S. 419.
„Weder das spezifisch Neue des modernen Wirtschaftssystems noch das spezifisch Neue an der modernen Wirtschaftsgesinnung sind spezifisch jüdisch“.
36
Unten im Text, S. 420.
Die unterschiedliche Behandlung der Fremden, von denen Zins genommen werden dürfe, gegenüber den eigenen Brüdern – die „doppelte Moral“ – sei nie ein Bereich gewesen, in dem sich der Gehorsam gegen Gottes Gebote zu bewähren habe.
37
Unten im Text, S. 420.
Nicht die (typisch puritanische) Unterwerfung des Kreatürlichen unter die rationale Ordnung, sondern das Vertrauen auf das messianische Reich begründe die „Überwachheit“ und das Würdegefühl von Juden.
38
Unten im Text, S. 427.
Eine einheitliche Beziehung zur „Welt“ aus dem Gesichtspunkt der certitudo [11]salutis als Zentrum heraus habe ihm daher gefehlt. „Der Einzelne muß sich mit der Tatsache der Verheißungswidrigkeit der bestehenden Welt, solange Gott sie zuläßt, eben abfinden“.
39
[11] Unten im Text, S. 429.
Diese Ausführungen zeigen trotz aller Differenzen durchaus ähnliche Perspektiven. Wie Weber nimmt auch Werner Sombart eine kulturwissenschaftliche Analyse des Kapitalismus vor. Und wie Weber ist es auch für ihn die Fremdheit in der Welt, die eine rationale Lebensmethodik erzeugt.
40
Vgl. dazu Rehberg, Karl-Siegbert, Das Bild des Judentums in der frühen deutschen Soziologie. „Fremdheit“ und „Rationalität“ als Typusmerkmale bei Werner Sombart, Max Weber und Georg Simmel, in: Horch, Hans Otto (Hg.), Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur. – Tübingen: Francke 1988, S. 151–186.
Als Weber im Jahre 1919 die „Protestantische Ethik“ für die Gesammelten Aufsätze überarbeitete, ging er am Rande noch einmal auf Werner Sombarts These ein. Juden hätten wie die Puritaner das Theodizeeproblem und die Fragen nach dem „Sinn“ der Welt ausgeschaltet, wenn auch „aus ganz andern Gründen“.
41
Weber, Protestantische Ethik, GARS I, S. 101 (MWG I/18).
In einer neuen Fußnote legte er den Finger auf das, was er für Sombarts schwache Stelle hielt. Sombart habe nicht verstanden, daß nicht Lehren allgemein, sondern nur „ein religiöser Glauben, der Heilsprämien auf eine bestimmte (in diesem Fall: methodisch-rationale) Lebensführung“
42
Ebd., S. 40, Fn. 1.
setzt, eine lebensumwälzende Macht entwickeln könne.
43
Ebd., S. 40, Fn. 1.
Die Auseinandersetzung mit Sombart hat Max Weber offenbar in der Annahme bestärkt, daß nicht nur der Protestantismus, sondern auch andere Religionen zu Rationalisierungen von Lebensführung imstande sind.
44
Vgl. hierzu Schluchter, Religion und Lebensführung II.
Werner Sombarts Schrift war nicht der erste Versuch gewesen, die Ursprünge der modernen Wirtschaftsmentalität in der Religionsgeschichte zu suchen. Ein anderer stammte aus England und war Weber gleichfalls bekannt. „Wenn also, wie mehrfach schon die Zeitgenossen, so auch neuere Schriftsteller die ethische Grundstimmung speziell des englischen Puritanismus als ,English Hebraism‘ bezeichnen […], so ist dies, richtig verstanden, durchaus zutreffend“.
45
Weber, Protestantische Ethik, GARS I, S. 180 f. (MWG I/18).
Weber scheint schon zur Zeit der ersten Auflage der „Protestantischen Ethik“ Matthew Arnold zu kennen. In der Überarbeitung der „Protestantischen Ethik“ heißt es von Arnold, er habe über den „Zusammenhang“ von Protestantismus und kapitalistischem Geist gehandelt.
46
Vgl. ebd., S. 28, Fn. 3.
Matthew Arnold war ein seinerzeit bekannter Kritiker der englischen [12]Gesellschaft. Als ein sensibler und kritischer Beobachter der rasanten Industrialisierung Englands beanstandete er die Einseitigkeit des englischen Mittelstandes, der nichts anderes im Sinn habe als die praktische Erwerbstätigkeit. In seinem Buch „Culture and Anarchy. An Essay in Political and Social Criticism“, dessen moderner Titel in merkwürdigem Kontrast zu seinem Ersterscheinungsdatum 1869 steht, ging er mit dem Provinzialismus des puritanischen englischen Mittelstandes hart ins Gericht. Dieser hätte es versäumt, sein praktisches Engagement um die gebotene kritische Reflexion zu ergänzen. Dabei verwendete er das Begriffspaar „hebraism and hellenism“,
47
[12] Arnold, Matthew, Hebraism and Hellenism, in: Culture and Anarchy. An Essay in Political and Social Criticism. – London: Smith, Elder & Co 1875, S. 128–149.
die für zwei Fähigkeiten des Menschen stünden: gewissenhaft zu handeln und frei von praktischen Interessen zu denken. Nur wenn beide Fähigkeiten im Gleichgewicht seien, könne man von einer funktionierenden Kultur sprechen. Der englische Mittelstand habe jedoch dieses Gleichgewicht verloren. Praktische Interessen dominierten über intellektuelles Erkennen. Die Puritaner hätten den Glaubensgehorsam der Renaissance des griechischen Denkens vorgezogen. Damit hätten sie ihren Glauben jedoch pervertiert. Denn die Arbeit, die anfangs auch im Puritanismus durchaus noch ein Fluch und nur ein notwendiges Mittel zum Überleben gewesen sei, sei durch diese Liaison zum Selbstzweck geworden. Religion sei zur seelenlosen Maschine verkommen. Wer meine, es seien die Werke, durch die Menschen sich als die Kinder Gottes erwiesen, dem empfiehlt Arnold einen Blick auf London, eine „Großstadt unaussprechlicher Widerwärtigkeit“.
48
Zitiert nach Trilling, Lionel, Matthew Arnold, 4. Aufl. – London: Unwin 1963, S. 269.
Arnold blieb nicht bei der Diagnose stehen. Er verlangte gegen die Bevorzugung des „Hebraismus“ einen neuen „Hellenismus“: eine Rückkehr zum interessefreien spontanen Erkennen. Nur so könnten beide Hälften der menschlichen Existenz wieder zusammengefügt werden: das spontane Erkennen und das praktische Handeln. Arnolds Denken war ein früher Versuch, die mentalen Voraussetzungen des ökonomischen Umbruches aus der Religionsgeschichte verständlich zu machen.

Religion in einer Debatte des Ersten Deutschen Soziologentages 1910

Die Resonanz, die Webers Schrift „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ in Deutschland gefunden hat, erfaßte noch den Ersten Deutschen Soziologentag. Gegen die materialistische Geschichtsphilosophie bestanden zahlreiche deutsche Wissenschaftler darauf, daß der Auf[13]stieg des Kapitalismus, aber auch anderer moderner Institutionen wie der Menschenrechte, nicht ohne Berücksichtigung der Ideen der Handelnden analysiert werden durften. In Deutschland, wo die Erfahrung eines Traditionsbruches, wie ihn die Revolution 1789 in Frankreich bewirkt hatte, fehlte, lag es nahe, auch ausgesprochen moderne Institutionen als Produkte kulturhistorischer Kontinuität zu erklären. Allerdings mußte zur soziologischen Betrachtung eine kulturwissenschaftliche treten, die sich auf die Religionsgeschichte stützte, wie umgekehrt auch die Religionsgeschichte unter dieser Perspektive als Teil einer gegenwartsbezogenen Kulturwissenschaft betrieben wurde.
49
[13] Vgl. dazu Lenger, Friedrich, Werner Sombart 1863–1941. Eine Biographie. – München: C. H. Beck 1994, S. 128 f., sowie auch Graf, Friedrich Wilhelm, Rettung der Persönlichkeit. Protestantische Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums, in: Bruch, Rüdiger vom, Graf, Friedrich Wilhelm und Hübinger, Gangolf (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. – Stuttgart: Steiner 1989, S. 103–131.
Weber hatte mit seiner Schrift den Nerv dieser Bestrebungen getroffen. Umgekehrt war er selber mit seiner Weiterarbeit am Religionsthema ein Teil dieses Stromes von Diskussionen und Publikationen.
Einen selten klaren Einblick in die Fragestellungen und Gegenstände, die unter dieser Perspektive relevant wurden, gibt der Erste Deutsche Soziologentag in Frankfurt. Auf ihm sprach Ernst Troeltsch am 21. Oktober 1910 zum Thema: „Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht“.
50
Troeltsch, Ernst, Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht, in: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.–22. Oktober 1910 in Frankfurt a.M. Reden und Vorträge […] und Debatten. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1911, S. 166–192 (hinfort: Troeltsch, Naturrecht). Auf den Seiten 192–214 findet sich ein Protokoll der sich anschließenden Debatte (hinfort: Verhandlungen 1910). Webers Diskussionsbeitrag (ebd., S. 196–202, 210 f.; MWG I/9; hinfort: Weber, Verhandlungen 1910). Ernst Troeltsch ist auch der Autor des Eintrages „Naturrecht“ in: RGG1, Band 4, 1913, Sp. 697–704.
Warum, so fragte Troeltsch, konnte das Christentum trotz seiner Gleichgültigkeit gegenüber der Welt Soziallehren hervorbringen, die die profanen Lebensverhältnisse geformt haben? Die christliche Idee eines überweltlichen Reiches der Liebe habe sich nämlich von Beginn an in drei Typen soziologisch ausgeformt: der Kirche als einer Heilsanstalt, der Sekte als einer Gemeinschaft der Vollkommenen und schließlich der Mystik als eines radikalen gemeinschaftslosen Individualismus.
51
Zur soziologischen Bestimmung von Institutionen und Ideen siehe Lepsius, Μ. Rainer, Institutionenanalyse und Institutionenpolitik, in: Nedelmann, Birgitta (Hg.), Politische Institutionen im Wandel. – Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 392–403.
Es sind dies drei verschiedene regulative Prinzipien der Gläubigen für ihre Beziehungen zu den Erfordernissen des natürlichen und sozialen Lebens. „Die universalhistorisch wichtigste unter ihnen [den Typen] ist selbstverständlich die Kirche. Sie hat die stärkste Fortpflanzungs-, Ausbreitungs- und Organisations[14]kraft“.
52
[14] Troeltsch, Naturrecht, S. 174 f.
Diese soziologische Selbstgestaltung der christlichen Idee sei – und das ist der zweite Schritt in der Argumentation von Ernst Troeltsch – durch Eingliederung und Revisionen des stoischen Konzepts des Naturrechtes möglich geworden. Die Stoa hatte Gemeinschaft als eine Angelegenheit freier, gleicher, vernunftgeleiteter Menschen konstruiert. Da dieser Zustand allerdings nur in der Utopie, nicht aber in der Realität bestehe, unterschieden stoische Philosophen vom absoluten Naturgesetz ein relatives. Dieses relative Naturgesetz lehre die Menschen, wie sie ihre Leidenschaften beherrschen und Institutionen wie Macht, Familie, Eigentum relativ vernünftig gebrauchen könnten. Christen, gleichfalls mit der Aufgabe konfrontiert, mit den Gesetzen der „Welt“ zu leben, ohne den Glauben an das „Reich Gottes“ aufzugeben, machten sich diese Konzeption zu eigen. Der „Kirchengedanke“ habe die Differenz zwischen Naturzustand und Gnadenzustand wie in der Stoa als etwas Relatives gedeutet und so den Verzicht auf eine strenge Vollkommenheit sowie Kompromisse mit den tatsächlichen Ordnungen der Welt gerechtfertigt.
53
Vgl. ebd., S. 175 f.
Dieses christliche Naturrecht war ambivalent, identifizierte es in der gegenwärtigen Ordnung sowohl die Macht der Sünde wie die Gnade der Schöpfung.
54
Vgl. ebd., S. 178 f.
Der „Rigorismus“ der Sekten hingegen anerkannte nur ein absolutes Naturrecht, das mit dem „strengen Liebesgesetz Christi“ identisch war. Kompromisse waren von Übel.
55
Vgl. ebd., S. 185.
Die Mystik schließlich war der Welt und ihren Gesetzen gegenüber indifferent und hatte mit dem Naturrecht nichts im Sinn. Sie nahm ein inneres Licht an, das mit der göttlichen Vernunft zusammenfällt.
56
Vgl. ebd., S. 174. Die Konstruktion von „Kirche“ und „Sekte“ als alternative Idealtypen behandelt Molendijk, Arie Leendert, Zwischen Theologie und Soziologie. Ernst Troeltschs Typen der christlichen Gemeinschaftsbildung: Kirche, Sekte, Mystik (Troeltsch-Studien, Band 9). – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1996, S. 35–56.
Mit diesem Vortrag war Ernst Troeltsch eine Erklärung dafür gelungen, wieso das Christentum, das von der Idee eines überweltlichen Gottesreiches beseelt war, derartig differierende Konzeptionen des Verhältnisses der Gläubigen zur Welt hat ausbilden können.
An Ernst Troeltschs Ausführungen schloß sich eine Debatte an, an der sich außer Max Weber auch Ferdinand Tönnies, Georg Simmel, Eberhard Gothein, Martin Buber und Hermann Kantorowicz beteiligten. Ferdinand Tönnies bekannte sich zu der materialistischen Annahme einer Klassenbedingtheit des Christentums und vertrat die Ansicht, es sei das mittelalterliche städtische Bürgertum gewesen, das gegen die Heiligkeit der kirchlichen Institution rebelliert und das Naturrecht der Sekten durchgesetzt [15]habe.
57
[15] Vgl. Tönnies, Verhandlungen 1910 (wie oben, S. 13, Anm. 50), S. 192–196.
Als Weber nach ihm das Wort ergriff, wandte er sich erst gegen die Annahme von Tönnies, religiöse Gegensätzlichkeiten seien „Exponenten irgendwelcher ökonomischer Gegensätze“. Eine „Verwandtschaft der Sektenreligiosität mit der Stadt“ anzunehmen, sei eine „allzu gradlinige Konstruktion“. In der Antike seien die christlichen Sekten auf dem Lande daheim gewesen. Im Mittelalter gäbe es sie zwar in der Stadt, doch sei auf deren Boden auch der Kirchengedanke ausgebildet worden. Man könne daher die religiöse Entwicklung nicht als Reflex von ökonomischen Situationen betrachten. Anschließend ging Weber auf Ernst Troeltsch kritisch ein. Er stimme den von Troeltsch gebildeten drei Typen zu, wiewohl man sich vergegenwärtigen müsse, daß sich alle drei gegenseitig durchdringen. So konnte der Calvinismus mit seinem Prädestinationsglauben nicht kirchliche Anstalt bleiben, sondern mußte eine Gemeinschaft derer werden, die den Glauben im rechten Lebenswandel praktizierten. Die griechische Kirche sei von einem Mystizismus durchsetzt, einem Glauben an die Bruderliebe, der auch noch den Untergrund der russischen Literatur Tolstois oder Dostojewskis sowie eines spezifischen Naturrechts bilde.
58
Weber, Verhandlungen 1910, S. 199 f.
Weber wies zugleich darauf hin, daß naturrechtliche Lehren Konsequenzen haben könnten, die nicht beabsichtigt gewesen seien. So sei aus der asketischen Bewährung der Berufsmensch hervorgegangen, auf dem der Kapitalismus ruhe. Weber widersprach der Auffassung von Troeltsch, wonach die „Kirche“ im Vergleich zur Sekte „die stärkste Fortpflanzungs-, Ausbreitungs- und Organisationskraft“ besitze.
59
Troeltsch, Naturrecht, S. 175.
Er hielt dagegen, daß in den USA – „nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ gemessen, [das] religiöseste Land“ – „das Christentum weit vorwiegend die Form der Sekten angenommen“ habe. „Gerade, weil der religiöse Typus dort faktisch der Sektentypus ist, ist die Religion dort Volkssache, und weil dieser Sektentypus nicht universal, sondern exklusive ist, und weil exklusiv, seinen Anhängern innerlich und äußerlich ganz bestimmte Vorzüge bietet, darum ist dort die Stätte des Universalismus der effektiven Zugehörigkeit zu religiösen Gemeinschaften“.
60
Weber, Verhandlungen 1910, S. 201 f.
Georg Simmel bezweifelte, daß das Christentum überhaupt ihm adäquate soziale Gestalten habe annehmen können. Im Christentum sei die Liebe „aus den Verhältnissen des empirischen Lebens […] in die ganz andere Schicht hineintransponiert worden […], in der allein die Seele und ihr Gott steht“. Das sei „der Grund dieser prinzipiellen Gleichgültigkeit der Christen [16]gegen alles Soziale“.
61
[16] Simmel, Verhandlungen 1910 (wie oben, S. 13, Anm. 50), S. 205. Laut Volkhard Krech läßt Simmels Wortbeitrag erkennen, daß Simmel von der lebensphilosophischen Diskussion um die Mystik angeregt worden sei. Vgl. Krech, Volkhard, Georg Simmels Religionstheorie. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1998, S. 210.
Es war dies ein für Simmel typischer Gedankengang, der auch in seinen Schriften wiederkehrt. Religiosität bestand bei ihm aus einer eigenartigen Mischung „von sinnlicher Unmittelbarkeit und unsinnlicher Abstraktion“.
62
Simmel, Georg, Zur Soziologie der Religion (Erstdruck 1898), in: Ders., Gesammelte Schriften zur Religionssoziologie, hg. von Horst Jürgen Helle. – Berlin: Duncker & Humblot 1989, S. 36–51, Zitat: S. 38.
Aus „religiösen Halbprodukten“ wie der familiären Liebe entstehe auf dem Wege einer Differenzierung ein religiöses Gut. Religiöse Gefühle äußerten sich nicht allein in der Religion,
63
Ebd., S. 37.
aber Religion stellte sie rein und abstrakt dar.
64
Vgl. ebd., S. 43.
Weber hielt diesem Einwand Simmels entgegen, es ginge nicht um den Sinn der christlichen Religiosität, sondern um die individuelle Bewährung des Glaubens. Darin stecke immer ein soziales Moment, sei es der Bewährungsgedanke des Calvinismus oder der mystische Liebesakosmismus der Brüderlichkeit, der an die alte Tradition der naturgewachsenen Brüderschaftsverhältnisse anknüpfte. Für die „Formungen der Weit ablehnenden Religiositäten“ sei bestimmend, wie der Einzelne psychologisch seiner Beziehung zum Ewigen gewiß werde.
65
Vgl. Weber, Verhandlungen 1910, S. 210 f.
Auch Martin Buber griff in die Debatte ein. Er hatte damals gerade im Eugen-Diederichs-Verlag eine Sammlung mystischer Selbstzeugnisse veröffentlicht. In den „Ekstatischen Konfessionen“ – so der Titel des Buches – überraschte er seine Leserschaft mit einer provozierenden Behauptung. „Zuerst scheint der Mensch mit dem Namen Gottes vornehmlich das erklärt zu haben, was er an der Welt nicht verstand, dann aber immer öfter das, was der Mensch an sich nicht verstand. So wurde die Ekstase – das, was der Mensch an sich am wenigsten verstehen konnte – zu Gottes höchster Gabe“.
66
Buber, Martin, Ekstase und Bekenntnis (Erstdruck Jena 1909), in: Sloterdijk, Peter (Hg.), Mystische Zeugnisse aller Zeiten und Völker. – München: Diederichs 1993, S. 53–67, Zitat: S. 55.
Es ist von einer solchen Sicht aus begreiflich, daß Martin Buber in der Diskussion in Frankfurt die Frage stellte, ob Mystik überhaupt eine soziologische Kategorie sei oder nicht vielmehr eine rein psychologische, die jede Gemeinschaft negiere und mit dem Naturrecht nichts zu tun habe.
67
Vgl. Buber, Verhandlungen 1910 (wie oben, S. 13, Anm. 50), S. 206 f.
Hierzu nahm am Ende Ernst Troeltsch kritisch Stellung.
[17]Was läßt sich aus dieser Debatte für Webers Text erkennen? Sie macht deutlich, daß Fragestellungen, Themen und methodische Zugriffe in den „Religiösen Gemeinschaften“ sich in einem Feld von bereits abgesteckten Positionen und Gegenpositionen bewegten. Die deutschen Wissenschaftler, die 1910 in Frankfurt debattierten, nahmen alle an, daß die Weltablehnung, die die Religionen brachten, in hohem Grade sozial produktiv war.
68
[17] Als Weber in den „Religiösen Gemeinschaften“ auf die Spannungen von religiöser Ethik und Welt eingeht, nimmt er indirekt auch auf Troeltschs Ausführungen zum Naturrecht bezug. In Abschnitt 11 (S. 396 f.) führt er aus, daß die Kirche des Mittelalters die Spannungen zwischen religiöser Ethik und Gewaltordnung durch das Naturrecht und eine organische Berufsethik gelöst habe, ähnlich wie das in Indien mit den Kasten geschah.
Ob aber die Freiräume, die so eröffnet wurden, vom Einzelnen allein, oder nur im Zusammenhang religiöser Gemeinschaften eingelöst werden konnten, war eine der Streitfragen, die dabei aufkamen. Eine andere war, ob Religionen als Ideologie von Klassen zu lesen seien oder als Ausdruck einer vorrationalen Erfahrung. Die Eigenart der deutschen Debatte wird noch einmal anders deutlich, wenn man auf die damaligen britischen und französischen Religionswissenschaftler blickt. Sie konzipierten Religion nicht als eine Macht, die eine Spannung zur Welt begründet. Ihre Analysen richteten sich auf elementare Rituale, die sie für den Ursprungsort aller sozialen Verbindlichkeiten hielten. Ausgehend vom Totemismus konzipierten sie Religion als jene Macht, die den Einzelnen moralisch an das Kollektiv bindet.
69
Weber verarbeitete kritisch die Diskussion um den Totemismus, vgl. unten, S. 169 f.
Weltablehnung spielte bei ihnen keinerlei Rolle.

Max Webers Entdeckung

Weber wußte, daß seine These von der Einwirkung des asketischen Protestantismus auf die kapitalistische Lebensführung der „Ergänzung, Interpretation und weiteren Prüfung“ bedurfte.
70
Weber, Bemerkungen zur „Replik“ (wie oben, S. 8, Anm. 22), S. 278; Winckelmann, Kritiken und Antikritiken, S. 48.
„Die Gegenprobe und nähere Interpretation, die versprochen ist, fehlt bisher“, stellte er 1908 fest.
71
Ebd., S. 279, Fn. 3; Winckelmann, Kritiken und Antikritiken, S. 54, Fn. 3.
Seit 1911 erarbeitete Weber sich einen Fundus an soliden religionsgeschichtlichen Kenntnissen. Mehrere Vorhaben kamen zusammen und weckten Webers besonderes wissenschaftliches Interesse an der Religionsgeschichte. Neben seiner Absicht, die „Protestantische Ethik“ in einen größeren Rahmen zu stellen, ergaben sich aus der Planung eines „Handbuchs der Politischen Ökonomie“, dem späteren „Grundriß der Sozialökonomik“, neue Aufgaben. Weber habe mit seinen „universalsoziologischen Studien“ seine religions[18]soziologischen Abhandlungen fortsetzen und zugleich seinen Beitrag zum GdS vorbereiten wollen, weiß Marianne Weber zu berichten.
72
[18] Weber, Marianne, Lebensbild, S. 346.
Im Stoffverteilungsplan zum „Handbuch der Politischen Ökonomie“ von 1910 sah Weber sich selbst vor als Verfasser eines Abschnitts „Wirtschaft und Kultur (Kritik des historischen Materialismus)“. Die Formulierung läßt eine Brücke zu den früheren Studien erkennen. Anscheinend wollte Weber das Verhältnis von Wirtschaft und Kultur in einer Weise behandeln, wie er dies bereits in der „Protestantischen Ethik“ getan hatte: nämlich als einer impliziten Kritik des historischen Materialismus. Den äußeren Bedingungen des Wirtschaftshandelns sollten die inneren Bedingungen, die Kultur, hinzugefügt werden. Weber wird von Anfang an auch Religion ins Auge gefaßt haben, zumal der Begriff „Kultur“ in allen Spielarten deutscher Wissenschaftstheorien nachdrücklich Religionen mit einschloß.
73
„Wenn er überhaupt über Religion schreiben wollte, so unter dem Begriff der Kultur“, heißt es bei Schluchter, Religion und Lebensführung II, S. 564.
Wenn man Marianne Webers Biographie liest, wird etwas von der Faszination spürbar, die diese Untersuchungen auf Weber selbst ausübten. Mit den religionshistorischen Studien sei eine Entdeckung verbunden gewesen, die Weber selbst für eine seiner wichtigsten gehalten habe: „[…] der Rationalisierungsprozeß löst die magischen Vorstellungen auf, ‚entzaubert‘ und entgöttert zunehmend die Welt. Religion wandelt sich aus Magie in Lehre. Und nun zeigen sich nach Zerfall des primitiven Weltbildes zwei Tendenzen: Einmal zur rationalen Beherrschung der Welt und andrerseits zum mystischen Erlebnis. Aber nicht nur die Religionen empfangen ihren Stempel durch das sich zunehmend entfaltende Denken – der Rationalisierungsprozeß bewegt sich in mehreren Geleisen, und seine Eigengesetzlichkeit ergreift alle Kulturgebilde: Wirtschaft, Staat, Recht, die Wissenschaft und die Kunst. Vor allem die abendländische Kultur wird in all’ ihren Formen entscheidend bestimmt durch eine zuerst im Griechentum entwickelte methodische Denkart, der sich im Zeitalter der Reformation auch eine an bestimmten Zwecken orientierte methodische Lebensführung zugesellt: Diese Vereinigung von theoretischem und praktischem Rationalismus scheidet die moderne Kultur von der antiken, und die Eigenart beider scheidet die moderne abendländische von der asiatischen Kultur. Freilich vollzogen sich auch im Orient Rationalisierungsprozesse, aber weder der wissenschaftliche, noch der staatliche, noch der wirtschaftliche, noch der künstlerische sind in die dem Okzident eignen Bahnen eingelenkt. – Für Weber bedeutet diese Erkenntnis der Besonderheit des okzidentalen Rationalismus und der ihm zugefallenen Rolle für die abendländische Kultur eine seiner wichtig[19]sten Entdeckungen. Infolge davon erweitert sich seine ursprüngliche Fragestellung nach dem Verhältnis von Religion und Wirtschaft nun zu der noch umfassenderen, nach der Eigenart der ganzen abendländischen Kultur […]“.
74
[19] Weber, Marianne, Lebensbild, S. 348 f.
Man wird diesen Bericht kaum als Stilisierung eines Heros abtun können, obwohl das „Lebensbild“ zu einer Gattung gehört, die davon nicht frei ist.
75
Guenther Roth hat das „Lebensbild“ dem biographischen Genre von Werken zugeordnet, die „von verehrenden Ehefrauen und pietätsvollen Töchtern“ verfaßt wurden (Roth, Guenther, Marianne Weber und ihr Kreis. Einleitung zu: Weber, Marianne, Max Weber. Ein Lebensbild. – München und Zürich: Piper 1989, S. IX–LVIII, Zitat: S. XII).
Wie will man Max Webers gewaltige Arbeitsintensität anders erklären als aus einer Vision eines ganz neuartigen Zuganges zur Kulturgeschichte? „Ein Durchbruch hatte sich ereignet“, schreibt Wolfgang Schluchter.
76
Schluchter, Religion und Lebensführung I, S. 102 f.
Dazu paßt gut, daß Weber Teile der neuen Untersuchungen „Freunden vorgelesen“ hat.
77
MWG I/19, S. 83 f.
Die Fußnote, die dies erwähnt, wird von Georg Lukács bestätigt. Nach Empfang von Sonderdrucken der „Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Religionssoziologische Skizzen. Einleitung. Konfuzianismus und Taoismus“ schrieb Lukács Mitte Dezember 1915 an Weber: „Das bisher Gelesene hat denselben großen Eindruck auf mich gemacht, wie seinerzeit die Vorlesung in Heidelberg […]“.
78
Brief von Lukács mit der ungenauen Datierung „Mitte Dezember“; MWG I/19, S. 36, mit Quellenangabe.
Den Daten der Auslieferung des Archiv-Heftes mit Webers Artikel zufolge (14. Oktober 1915) können nur die „Einleitung“ und/oder Teile der Studie zum Konfuzianismus gemeint sein. Die Zwischenbetrachtung wurde erst mit Heft 2 am 23. Dezember 1915 ausgeliefert und kommt weniger in Frage.
79
Vgl. MWG I/19, S. 37, Hg.-Anm. 22.
Es gibt noch andere Indizien für einen „Durchbruch“: Webers „Musiksoziologie“, im gleichen Zeitraum entstanden, rückte die Musik unter die Besonderheiten des okzidentalen Rationalismus.
80
Weber, Max, Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik. – München: Drei Masken Verlag 1921 (MWG I/14). Eine Studie dazu von Braun, Christoph, Max Webers „Musiksoziologie“. – Laaber: Laaber-Verlag 1992, darin: Die Soziologie der Weltreligionen und Musiksysteme, (ebd., S. 112–123). Webers Interesse ging weiter als die Musik. Vgl. auch Gephart, Werner, Religiöse Ethik und ästhetischer „Rationalismus“. Zur Soziologie der Kunst im Werk Max Webers, in: Sociologia Internationalis, Band 31, 1993, S. 101–121.
Marianne Weber berichtete darüber 1925 im Vorwort zur 2. Auflage von „Wirtschaft und Gesellschaft“. „Was ihn bei der erstmaligen Durchforschung der musikalischen Gebilde des Orients und Okzidents so packte, war die Entdeckung, daß auch und gerade in der Musik – dieser scheinbar am reinsten aus dem Gefühl quel[20]lenden Kunst – die Ratio eine so bedeutsame Rolle spielt und daß ihre Eigenart im Okzident, ebenso wie die seiner Wissenschaft und aller staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen, durch einen spezifisch gearteten Rationalismus bedingt ist“. Daß diese Entdeckung in Wirklichkeit nicht ganz so einzigartig ist, wie die Worte nahelegen, sondern auf soliden Vorarbeiten anderer basiert, hat Hubert Treiber nachgewiesen. Zeitgenössische musikwissenschaftliche Nachschlagewerke hätten die Anfänge des modernen Tonsystems mit der Geschichte des Abendlandes in Verbindung gebracht.
81
[20] Treiber, Hubert, War mit Max Webers „Musiksoziologie“ tatsächlich eine ungewöhnliche „Entdeckung“ verbunden?, in: Simmel Newsletter, vol. 8, No. 2, 1998, S. 144–160.
Die Frage muß gestellt werden: Was heißt dann Entdeckung? Max Weber hat am Ende seiner Studie zur Entstehung des modernen Kapitalismus eine Bemerkung gemacht, die darauf ein Licht werfen könnte: daß „der moderne Mensch im ganzen selbst beim besten Willen nicht imstande zu sein pflegt, sich die Bedeutung, welche religiöse Bewußtseinsinhalte auf die Lebensführung, die Kultur und die Volkscharaktere gehabt haben, so groß vorzustellen, wie sie tatsächlich gewesen ist“.
82
Weber, Protestantische Ethik, GARS I, S. 205 (MWG I/18).
Demnach braucht die Entdeckung nicht in den Fakten zu liegen, sondern in der unerwarteten Erkenntnis, daß auch ästhetische Erscheinungen der modernen Kultur eine religionsgeschichtliche Genealogie haben. Oder wie Weber auch sagen kann: in der Tragweite des Religiösen auf Gebieten, wo man sie nicht sucht.
Den überzeugendsten Beweis für Webers Entdeckung liefert jedoch sein Beitrag „Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte“ zum „Grundriß der Sozialökonomik“ selber. Dieser machte mit seiner religionswissenschaftlichen Erklärung gegenwärtiger gesellschaftlicher Sachverhalte nämlich nicht mehr bei der Wirtschaftsgesinnung halt. Weber setzte bei seiner Arbeit voraus, daß auch andere Lebensordnungen von einer fortdauernden Macht der Religionen beeinflußt waren. Aufgrund dieser Annahme machte er sich die Mühe, seine Analysen von Gemeinschaften, Religion, Recht und Herrschaft nicht nur mit Wirtschaft, sondern auch untereinander zu verknüpfen. Zahlreiche Vor- und Rückverweise zwischen den Texten
83
Zu den Textverweisen der „Religiösen Gemeinschaften“ vgl. den Editorischen Bericht, unten, S. 94–102, sowie die Tabellen im Anhang zum Editorischen Bericht, unten, S. 115–117.
haben den Zweck zu zeigen, daß die Handlungen auch noch in diesen Ordnungen von der religiösen Entwicklung bedingt waren, wie auch umgekehrt die religiöse Entwicklung von der Handlungsrationalität sozialer Ordnungen einschließlich der ökonomischen vorangetrieben wurde.
Eine Erklärung moderner sozialer Tatbestände aus der Religionsgeschichte kam zur damaligen Zeit auch außerhalb Deutschlands vor. Ver[21]gleichbare Ansätze finden sich bei Émile Durkheim (1853–1917) und seinen Schülern in Frankreich. Allerdings zeigt ein näherer Blick auch, wie unterschiedlich die Durchführung sein konnte. Durkheim hatte in seiner Studie zum Selbstmord
84
[21] Vgl. Durkheim, Émile, Le suicide. Étude de sociologie. – Paris: F. Alcan 1897.
den Beweis angetreten, daß Menschen auch dann, wenn sie Handlungen vollkommen freiwillig auszuführen meinten, dabei durchaus einem Zwang gehorchen können, der im Falle des Selbstmordes von der Zugehörigkeit zu einer der Religionsgemeinschaften ausging. Derartige Handlungen, die weder einem Naturgesetz unterstehen noch aus freien Stücken geschehen, faßte er zu einer eigenen Klasse zusammen: „faits sociaux“. Sie bestehen aus „Arten des Handelns, Denkens und Fühlens, die außerhalb der Einzelnen stehen und mit zwingender Gewalt ausgestattet sind, kraft derer sie sich aufdrängen“.
85
Durkheim, Émile, Les règles de la méthode sociologique. – Paris: F. Alcan 1895 (zitiert nach der deutschen Übersetzung: Die Regeln der soziologischen Methode, hg. und eingeleitet von René König. – Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 107).
Menschen könnten den obligatorischen Charakter derartiger Handlungen nicht durch Introspektion erkennen. Erkennbar würden sie erst, wenn man sich den Religionen zuwende. Im Vorwort zum zweiten Band der L'Année sociologique 1897/98 hatte sich Durkheim in Sachen Religion direkt an die Leserschaft gewandt: „Man wird erstaunt sein über den besonderen Vorrang, den wir dieser Art Erscheinungen eingeräumt haben. Aber sie sind der Keim, aus dem alle anderen [Erscheinungen] – oder fast so gut wie alle anderen – hervorgegangen sind. Die Religion enthält in sich im Prinzip, aber in einem noch ungeklärten Zustande, alle die Elemente, die dadurch, daß sie sich trennen, sich festlegen und sich auf tausendfache Weise wieder miteinander verbinden, die verschiedenen Manifestationen des kollektiven Lebens hervorgebracht haben“.
86
Wieder abgedruckt in: Durkheim, Émile, Journal Sociologique. Introduction et notes de Jean Duvignaud. – Paris: Presses Universitaires de France 1969, S. 138 (Übersetzung ins Deutsche). Durkheim scheint von dieser Idee wie besessen gewesen zu sein. Jedenfalls fand es einer seiner Mitarbeiter wert, einem Freund in einem Brief mitzuteilen, daß Durkheim Heiratsregeln, Strafrecht, einfach alles aus der Religion erklären wolle (Vgl. Pickering, William S. F., Durkheim’s Sociology of Religion. Themes and Theories. – London: Routledge & Kegan Paul 1984, S. 75).
Für Durkheim ist Religionsgeschichte nicht mehr explanandum, sondern explanans. Um die soziale Bindung des Menschen in der arbeitsteiligen Gesellschaft zu erkennen, bedarf es der Erkenntnis elementarer Religion.

[22]Der Heidelberger „Eranos“-Kreis und die religionsgeschichtliche Genealogie moderner Tatbestände

Eine Entdeckerfreude dieser Art grassierte schon länger unter Forschern in Heidelberg. Viele waren von dem Staats- und Völkerrechtler Georg Jellinek beeindruckt, der nachgewiesen hatte, daß die modernen Menschenrechte nicht ein Produkt der Religionskritik der Aufklärung waren. Es seien religiöse Nonkonformisten des 17. Jahrhunderts gewesen, die als erste, und noch vor der Aufklärung, das fundamentale Grundrecht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit verbrieft hätten. Unmittelbares Vorbild für die Erklärung der Rechte, die die französische Nationalversammlung am 26. August 1789 abgegeben habe, sei nicht Rousseaus Gesellschaftsvertrag gewesen, sondern die „bills of rights“ der Verfassungen nordamerikanischer Bundesstaaten von 1776 und später.
87
[22] Vgl. Jellinek, Georg, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 4. Aufl. – München und Leipzig: Duncker & Humblot 1927, S. 16 (Ersterscheinung 1895).
Daß der einzelne Bürger ein angeborenes und nicht vom Staat verliehenes Recht besitzt, sei aus der reformatorischen Idee einer Religions- und Gewissensfreiheit gewonnen worden.
88
Vgl. ebd., S. 55 f.
Im religionswissenschaftlichen Gesprächskreis „Eranos“, der 1904 gegründet worden war und dem auch Weber angehörte, hat Georg Jellinek 1904 zu diesem Thema vorgetragen: „Die religiösen und metaphysischen Grundlagen des Liberalismus“. Das „Eranos“-Album notierte als Inhalt: „Zunächst wird auf den ununterbrochenen Zusammenhang der politischen Werthaltungen mit den religiösen Grundauffassungen hingewiesen und der Einfluß der christlichen Lehre und der alten und mittelalterlichen Kirche auf das Bewußtsein von einer dem Staat gegenüber selbständigen Sphäre des Individuums dargelegt“.
89
Zu den Eranos-Protokollen vgl. Lepsius, Μ. Rainer, Der Eranos-Kreis Heidelberger Gelehrter 1904–1908. Ein Stück Heidelberger Wissenschaftsgeschichte anhand der neu aufgefundenen Protokollbücher des Eranos. Vortrag zur Sitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, am 16. April 1983, in: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für das Jahr 1983. – Heidelberg: Carl Winter 1984, S. 46–48.
Daß Jellineks Arbeiten Max Weber beeindruckt haben, bekannte dieser freimütig in einer Rede, die er im März 1911 anläßlich der Hochzeit von Jellineks Tochter Dora Busch gehalten hat. Er habe wesentlichste Anregungen aus Jellineks großen Arbeiten bekommen: so den „Nachweis religiöser Einschläge in der Genesis der ‚Menschenrechte‘ für die Untersuchung der Tragweite des Religiösen überhaupt auf Gebieten, wo man sie zunächst nicht sucht“.
90
König, René und Winckelmann, Johannes (Hg.), Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit, 2. Aufl. – Opladen: Westdeutscher Verlag 1985, S. 15 (hinfort: König, Winckelmann (Hg.), Max Weber).
[23]Der Neutestamentier Adolf Deißmann hatte 1904 den „Eranos“, das „wissenschaftliche Kränzchen“, wie Marianne Weber die Professorenrunde nannte,
91
[23] Weber, Marianne, Lebensbild, S. 358.
zusammen mit dem Altertumswissenschaftler Albrecht Dieterich gegründet. Die Satzung sah vor, daß bei den Treffen einmal im Monat während des Semesters der Gastgeber „ein Referat über ein religionswissenschaftliches Thema“ erstattet oder „einen Bericht über Entdeckungen, Publikationen etc. aus dem Gebiet der Religionswissenschaft und ihrer Grenzdisziplinen“ gibt.
92
Ich verdanke Herrn Professor Dr. Μ. Rainer Lepsius eine Kopie des Schriftstückes.
An den monatlichen Treffen des „Freundesmahls“ – das ist die Bedeutung des griechischen Wortes eranos – nahmen u. a. der Philosoph Wilhelm Windelband, der systematische Theologe und Religionsphilosoph Ernst Troeltsch, der Staats- und Völkerrechtler Georg Jellinek, der Nationalökonom und Kulturhistoriker Eberhard Gothein teil. In seinen späteren Erinnerungen hielt Deißmann fest: „Daß Nichttheologen die große Mehrheit dieses religionswissenschaftlichen Kreises bildeten, […] war von ungemein anregender Wirkung. […] Die Weltgeltung der Religion und ihre tiefe Verflochtenheit in alle Gebiete des geistigen Lebens, politische Geschichte, Recht, Wirtschaft, Kunst, Philosophie kam in diesen Sonntagsfeierstunden zu einem ganz plastischen Ausdruck“.
93
Deißmann, Adolf, in: Stange, Erich (Hg.), Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen. – Leipzig: Felix Meiner 1925, S. 43–78, Zitat S. 64 f.
N
Hier fand sich in der MWG-Druckausgabe die Seitengabe „22 f.“, diese bezog sich auf die Beitragszählung von S. 1–36, aber nicht auf die Buchpaginierung (S. 43–78). Korrektur in MWG digital.
Informationen zum „Eranos“-Kreis finden sich bei Honigsheim, Paul, Erinnerungen an Max Weber, in: König, Winckelmann (Hg.), Max Weber (wie oben, Anm. 90), S. 176 (hinfort: Honigsheim, Erinnerungen an Max Weber); Drescher, Hans-Georg, Ernst Troeltsch. Leben und Werk. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1991, S. 209 f. Zum weiteren sozialen Umfeld vgl. Treiber, Hubert und Sauerland, Karol (Hg.), Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise. Zur Topographie der „geistigen Geselligkeit“ eines „Weltdorfes“: 1850–1950. – Opladen: Westdeutscher Verlag 1995.
Weber hat im „Eranos“ laut dem vorliegenden Protokollbuch zweimal referiert, einmal über das Thema „Die protestantische Askese und das moderne Erwerbsleben“ am 5. Februar 1905 und dann noch einmal am 29. Februar 1908 über den „Kapitalismus im Altertum“. Das Album verzeichnet Zusammenkünfte bis zum Januar 1909. Wie lange der Kreis danach noch bestanden hat, ist nicht bekannt.

Religion als Gemeinschaftshandeln Max Webers Fragestellung

Webers Darstellung gehört zum Genre „Handbuch“ und privilegiert Sachverhalte auf Kosten einer Explikation von vorausgesetzter Fragestellung und Theorie. Die dem Text „Religiöse Gemeinschaften“ vorausgehenden Abschnitte in „Wirtschaft und Gesellschaft“ können nur eingeschränkt hel[24]fen. Das Problem wird insbesondere durch den Ersten Teil von WuG1, nicht gelöst, sondern verschärft. Der von Weber 1920 zum Druck gegebene Erste Teil seines Grundriß-Beitrages ist später abgefaßt worden und paßt weder von der Terminologie noch von der Systematik her zu den älteren Manuskripten, die in der Ausgabe von Marianne Weber und Melchior Palyi den Zweiten Teil bilden.
1
[24] Vgl. die Allgemeinen Hinweise der Herausgeber, oben, S. XIII, sowie Schluchter, Religion und Lebensführung II, S. 597–634, bes. S. 622.
Wenn Weber Religion als Gemeinschaftshandeln bestimmt, wie er gleich zu Beginn tut, verbindet er damit mehrere konzeptionelle Annahmen. Die erste ist eine gewisse Eigengesetzlichkeit. In „Wirtschaft und Gesellschaft im allgemeinen“
2
Der WuG1-Abschnitt „Wirtschaft und Gesellschaft im allgemeinen“ (WuG1, S. 181–193) wird in der MWG-Edition unter dem neuen Titel „Wirtschaftliche Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen“ herausgegeben (MWG I/22-1).
nennt Weber „Eigengesetzlichkeit“ als Merkmal einer Strukturform von Gemeinschaftshandeln, zu der auch Religion gehört. Diese Eigengesetzlichkeit ergibt sich daraus, daß sich „an die Vergesellschaftung […] regelmäßig eine ‚übergreifende‘ Vergemeinschaftung [knüpft]“.
3
WuG1, S. 187 (MWG I/22-1).
Diese Eigengesetzlichkeit des Gemeinschaftshandelns ist dynamisch. Weber spricht in „Die Wirtschaft und die Ordnungen“
4
MWG I/22-3.
von einem „Rationalisierungs- und Vergesellschaftungsprozess“, „dessen fortschreitendes Umsichgreifen in allem Gemeinschaftshandeln wir auf allen Gebieten als wesentliche Triebkraft der Entwicklung zu verfolgen haben werden“.
5
WuG1, S. 382 (MWG I/22-3). Vgl. auch Schluchter, Religion und Lebensführung II, S. 604.
Dazu kommt, daß die unterschiedlichen Typen des religiösen Gemeinschaftshandelns in einer Wechselwirkung mit den anderen gesellschaftlichen Ordnungen und Mächten stehen. Welcher Art die „Wahlverwandtschaften“ bzw. „Adäquanzbeziehungen“ sind, darüber lassen sich jedoch keine allgemeinen Regeln aufstellen.
6
„[…] auch die Wirtschaft [pflegt] irgendwie durch die eigengesetzlich bedingte Struktur des Gemeinschaftshandelns, innerhalb dessen sie sich vollzieht, beeinflußt zu sein. Darüber, wann und wie dies der Fall ist, läßt sich etwas ganz Allgemeines von Belang nicht aussagen. Wohl aber läßt sich Allgemeines über den Grad der Wahlverwandtschaft konkreter Strukturformen des Gemeinschaftshandelns mit konkreten Wirtschaftsformen aussagen, d. h. darüber: ob und wie stark sie sich gegenseitig in ihrem Bestand begünstigen oder umgekehrt einander hemmen oder ausschließen: einander ,adäquat‘ oder ‚inadäquat‘ sind. Solche Adäquanzbeziehungen werden wir immer wieder zu besprechen haben“. (WuG1, S 183). Beide Begriffe („Eigengesetzlichkeit“ und „Adäquanz“) kommen in den „Religiösen Gemeinschaften“ wiederholt vor.
Sehr wohl aber nimmt Weber laut einer Aussage in dem Abschnitt „Staat und Hierokratie“ an, daß die Rationalisierung des Reli[25]giösen ihre Eigengesetzlichkeit hat, „auf welche ökonomische Bedingungen nur als ‚Entwicklungswege‘ wirken […]“.
7
[25] WuG1, S. 795 (MWG I/22-4).
Weitere Auskünfte gibt Webers sog. „Kategorienaufsatz“. 1913 veröffentlichte er in „Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur“ eine methodische Abhandlung „Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie“.
8
Weber, Kategorienaufsatz (MWG I/12).
In einer Fußnote wies Weber auf den Zusammenhang mit dem geplanten Handbuch hin:
„Der zweite Teil [dieses Aufsatzes] ist ein Fragment aus einer schon vor längerer Zeit geschriebenen Darlegung, welche der methodischen Begründung sachlicher Untersuchungen, darunter eines Beitrages (Wirtschaft und Gesellschaft
9
„Wirtschaft und Gesellschaft“ war – nach der Einteilung des Gesamtwerkes von 1914 – die Überschrift für Abteilung III des Ersten Buches des „Grundrisses der Sozialökonomik“.
[…]) für ein demnächst erscheinendes Sammelwerk dienen sollte […]. Die pedantische Umständlichkeit der Formulierung entspricht dem Wunsch, den subjektiv gemeinten Sinn von dem objektiv gültigen zu scheiden (darin teilweise abweichend von Simmels Methode)“.
10
Weber, Kategorienaufsatz, S. 253. Weber nennt in der Fußnote Simmel, Georg, Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie, 3. Aufl. – Leipzig: Duncker & Humblot 1907.
Der zweite Teil, von dem Weber hier spricht, muß – wie Hiroshi Orihara und Wolfgang Schluchter gezeigt haben – in den Abschnitten IV–VII vorliegen. Sie sind älter als die vorangehenden. Die Abschnitte I–III sind hingegen jünger und auf sie bezieht sich die Bemerkung über Georg Simmel.
11
Orihara, Hiroshi, Max Webers Beitrag zum „Grundriss der Sozialökonomik“, in: KZfSS, Jg. 51, 1999, S. 724–734. Vgl. dazu Schluchter, Wolfgang, „Kopf“ oder „Doppelkopf“ – das ist hier die Frage. Replik auf Hiroshi Orihara, in: ebd., S. 735–743.
So spiegeln die beiden Teile des Kategorienaufsatzes zwei unterschiedliche Arbeitsphasen wider, die auch sonst in Webers hinterlassenen GdS-Manuskripten erkennbar sind. Wenn man speziell den theoretischen Einstieg in die Thematik der „Religiösen Gemeinschaften“ sucht, kommt also nur der jüngere Teil des Kategorienaufsatzes in Frage. Tatsächlich enthält er Überlegungen zur Religionstheorie, die in Zusammenhang mit einer Abgrenzung von Georg Simmel zur Sprache kommen und für den gesamten Text höchst aufschlußreich sind. Simmel schied wie Weber das objektive Verstehen eines Sinnes von der subjektiven Deutung von Motiven Handelnder. „Im ersteren Fall ,verstehen‘ wir das Gesprochene, im letzteren den Sprechenden (oder Handelnden)“,
12
Weber, Max, Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie. II. Knies und das Irrationalitätsproblem, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, N. F., 29. Jg., Heft 4, 1905, S. 89–150, Zitat: S. 139 (MWG I/7); WL, S. 93.
so Webers Erläuterung von Simmels Unterscheidung. Weber warf Simmel jedoch im Kategorienaufsatz und spä[26]ter vor, die Unterscheidung nicht konsequent durchzuhalten.
13
[26] Wie wichtig Weber dieser Punkt war, zeigt sich darin, daß er ihn später in der Vorbemerkung zu den „Soziologischen Grundbegriffen“ in WuG1 wiederholt: „Von Simmels Methode (in der ‚Soziologie‘ und in ‚Philos[ophie] des Geldes‘), weiche ich durch tunlichste Scheidung des gemeinten von dem objektiv gültigen ‚Sinn‘ ab, die beide Simmel nicht nur nicht immer scheidet, sondern oft absichtsvoll ineinander fließen läßt“ (ebd., S. 1; MWG I/ 23). Vgl. dazu: Cavalli, Alessandro, Max Weber und Georg Simmel: Sind die Divergenzen wirklich so groß?, in: Wagner, Gerhard und Zipprian, Heinz, Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik. – Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 224–238. Durch eine genaue Vergleichung beider weist Cavalli die vielen Gemeinsamkeiten auf.
Daß dieser Einwand stichhaltig ist, läßt sich daran erkennen, wie Georg Simmel die Genese von Religion aus sozialen Formen als „religiösen Halbprodukten“ herleitete. Diese bilden den Ausgangspunkt einer Verfeinerung und Verselbständigung.
14
Vgl. dazu Krech, Volkhard, Georg Simmels Religionstheorie. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1998, S. 184 f.
In diese Richtung gingen auch Simmels Äußerungen in der Debatte auf dem Soziologentag in Frankfurt 1910. Weber hingegen unterschied die Motive sozialer Akteure von dem durch den Forscher rekonstruierten objektiven Sinnzusammenhang.
15
Vgl. Lichtblau, Klaus, Kausalität oder Wechselwirkung? Max Weber und Georg Simmel im Vergleich, in: Wagner, Gerhard und Zipprian, Heinz, Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik. – Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 527–562, bes. S. 539.
Um Caesar zu verstehen, brauche man nicht Caesar zu sein: auf diese Formel brachte Weber seine Auffassung in einem Brief an Karl Jaspers (2. November 1912)
16
Weber, Max, Briefe 1911–1912, hg. von Μ. Rainer Lepsius und Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Birgit Rudhard und Manfred Schön, MWG II/7, 1998, S. 729.
und wiederholte damit nur eine bereits früher von ihm vertretene Position. Wenn man – wie Weber es in seiner „Verstehenden Soziologie“ tut – „Handeln“ bestimmt „als ein verständliches, und das heißt ein durch irgendeinen […] (subjektiven) Sinn spezifiziertes Sichverhalten zu ‚Objekten‘“,
17
Weber, Kategorienaufsatz, S. 255.
wird „Sinn“ eine objektive und unvermeidliche Größe in der Beziehung der Subjekte zur Welt. „Sinn“ muß dann allerdings von den Motiven der Einzelnen prinzipiell unterschieden und vom Wissenschaftler rekonstruiert werden. Die Wirkung auf die Analyse ist erheblich. Religion besitzt keine ihr eigene Evidenz, wie die Lebensphilosophie annahm. Sie muß aus den Handlungen selber erhoben werden. Religion kommt nur als regulative Leistung in den Blick, nicht als irrationales Erleben.
Eine weitere Unterscheidung hängt ebenfalls damit zusammen, die Unterscheidung zwischen einer Rationalität von Handeln und seiner Richtigkeit.
„Subjektiv zweckrational orientiertes und am objektiv Gültigen ‚richtig‘ orientiertes (‚richtigkeitsrationales‘) Handeln sind an sich gänzlich zweierlei. Dem Forscher kann ein von ihm zu erklärendes Handeln im höchsten Grade [27]zweckrational, dabei aber an für ihn ganz ungültigen Annahmen des Handelnden orientiert erscheinen“.
18
[27] Ebd., S. 258.
Ein rationales Handeln brauche keineswegs auf richtigen Annahmen zu beruhen, sondern könne in Wirklichkeit durch ganz irrationale Motive historisch ins Leben gerufen worden sein, wie Friedrich Nietzsche oder die Theorie des ökonomischen Materialismus aufgedeckt hätten.
19
Vgl. ebd., S. 259 f.
Das Argument ist deutlich: Nicht irgendeine Evidenz von Richtigkeit, sondern eine praktisch wirksame Sinndeutung stehen am Ursprung rationalen Handelns. Dieser Ausgangspunkt führt direkt in die Religionsgeschichte:
„An magischen Vorstellungen orientiertes Handeln beispielsweise ist subjektiv oft weit zweckrationaleren Charakters als irgend ein nicht magisches ‚religiöses‘ Sichverhalten, da die Religiosität ja gerade mit zunehmender Entzauberung der Welt zunehmend (subjektiv) zweckirrationalere Sinnbezogenheiten (,gesinnungshafte‘ oder mystische z. B.) anzunehmen genötigt ist“.
20
Ebd., S. 258 f.
Es ist vor allem diese Bemerkung, in der man ein tragendes Element von Webers Religionsabschnitt in „Wirtschaft und Gesellschaft“ wiedererkennt. Religiös oder magisch motiviertes Handeln sei diesseitig ausgerichtet, heißt es dort. Zwar würden „wir, vom Standpunkt unserer heutigen Naturanschauung aus, […] dabei objektiv ‚richtige‘ und ‚unrichtige‘ Kausalzurechnungen unterscheiden“, jedoch stellen auch unrichtige Zurechnungen „ein mindestens relativ rationales Handeln“ dar.
21
Unten im Text, S. 121 f.
Webers beide Unterscheidungen, die von subjektiven Motiven und objektiv gültigem Sinn sowie die von Zweckrationalität und richtigen Kausalitätsannahmen, sind eiserne Voraussetzungen der Analyse religiösen Gemeinschaftshandelns. Man muß beide zusammennehmen, um die Konstruktion als ganze zu erkennen. Rationale Weltverhältnisse ergeben sich nicht aus einer Evidenz des Richtigen, sondern aus der Abhängigkeit des Handelns von religiösen Weltbildern und Ethiken. In diesem Zusammenhang kaum verständlich ist die Bemerkung, die Entzauberung der Welt lasse Religiosität ‚gesinnungshaft‘ oder mystisch werden. Hingegen ist dies ein Leitmotiv des Abschnittes „Religiöse Gemeinschaften“. Je „weltfremder“ Religiosität werde, um so irrationaler werde das Handeln im Blick auf magische Zwecke.

[28]Die historischen Religionen aus der Sicht von Kulturwissenschaft

Als Weber sich daran machte, Religion als eine der „kulturbedeutsamen Gemeinschaften“
22
[28] WuG1, S. 183 (MWG I/22-1, Gemeinschaften).
zu studieren, war eine Klärung der Beziehung von Religion und Kultur notwendig. Nur wenn die Eigenständigkeit und Besonderheit von Religion im Verhältnis zu anderen kulturellen Ordnungen bestimmt war, konnten die wechselseitigen Beziehungen dieser Größen empirisch beschrieben werden. Weber fand die hierfür ergiebigsten Ansätze bei Vertretern einer Kant fortführenden philosophischen Richtung: der sog. „Südwestdeutschen Schule“. Sie war an der damals hoch aktuellen Wendung der Philosophie zur Wissenschaftstheorie beteiligt, an der Weber selbst aktiv mitwirkte.
Wilhelm Windelband (1848–1915), nicht erst durch den „Eranos“-Kreis Weber persönlich bekannt, hatte 1894 in einer Rektoratsrede zu Straßburg mit dem Titel „Geschichte und Naturwissenschaft“ der Philosophie die Aufgabe zugewiesen, Wissenschaftstheorie zu betreiben. Sie solle sich nicht darauf beschränken, nur ihre eigene Geschichte zu studieren oder sich gar zur Psychologie zu wandeln. Statt dessen solle sie sich den Erkenntnisvorgängen in den Wissenschaften zuwenden, ihre Struktur ergründen, in eine allgemeine Form fassen und ihre Grenzen bestimmen. „Niemals ist eine fruchtbare Methode aus abstrakter Konstruktion oder rein formalen Überlegungen der Logiker erwachsen: diesen fällt nur die Aufgabe zu, das erfolgreich am Einzelnen Ausgeübte auf seine allgemeine Form zu bringen und danach seine Bedeutung, seinen Erkenntniswert und die Grenzen seiner Anwendung zu bestimmen“.
23
Windelband, Wilhelm, Geschichte und Naturwissenschaft, in: Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie, 3., vermehrte Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1907, S. 355–379, Zitat: S. 357 f. (Erstveröffentlichung 1894).
Das herkömmliche Natur-Geist-Schema sei dafür nicht geeignet. Statt dessen schlug er vor, die Erfahrungswissenschaften in solche zu gliedern, die im Wirklichen das Allgemeine in Form eines Naturgesetzes, und in solche, die im Wirklichen einzelne Tatsachen oder Ereignisse suchten. Die einen seien Gesetzeswissenschaften („Naturwissenschaften“), die anderen Ereigniswissenschaften („Historik“); die einen nomothetisch, die anderen idiographisch. Nicht der Inhalt des Wissens, sondern die Behandlung des Wirklichen begründe den Unterschied zwischen beiden.
Wilhelm Windelband hat 1902 in einem glasklaren Beitrag mit dem Titel „Das Heilige“
24
Windelband, Wilhelm, Das Heilige. (Skizze zur Religionsphilosophie), in: Präludien. Aufsätze und Reden zur Einleitung in die Philosophie, 3,, vermehrte Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1907, S. 414–450. (Erstveröffentlichung 1902; hinfort: Windelband, Das Heilige).
diese Wendung zur Wissenschaftstheorie auch für die Reli[29]gionsgeschichte vorgenommen. Windelband ging es um die „wirkliche Religion – die Religion, wie wir sie alle kennen und erleben“, nicht um eine philosophisch konstruierte Vernunftreligion.
25
[29] Ebd., S. 414.
Im Blick auf diese ließ er die Religionsphilosophie Revue passieren. Immanuel Kant habe den religionsphilosophischen Standpunkt von der theoretischen Vernunft – dem Wissen und Erkennen – in die praktische Vernunft – die Ethik – umgelegt. Danach habe Friedrich Schleiermacher ihn in die ästhetische Vernunft verlegt. Beide Operationen fand Windelband jedoch bezogen auf die historischen Religionen einseitig. Die Religionsphilosophie dürfe das Heilige nicht in einer gesonderten Sphäre suchen, sondern müsse ihren Ausgang von demjenigen Grundverhältnis nehmen, das dem logischen, dem ethischen und dem ästhetischen Bewußtsein gemeinsam sei. Dieses sei die Antinomie des Bewußtseins: der Widerspruch zwischen dem Sollen und dem Sein, der Norm und dem Naturgesetz – eine Kluft übrigens, für die ein Schüler Windelbands Emil Lask die Bezeichnung „hiatus irrationalis“ schuf.
26
Zu Emil Lask wie überhaupt zu dieser philosophischen Schule vgl. Oakes, Guy, Max Weber und die Südwestdeutsche Schule: Der Begriff des historischen Individuums und seine Entstehung, in: Mommsen, Wolfgang J. und Schwentker, Wolfgang (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988, S. 595–612, bes. S. 602–604.
Das menschliche Bewußtsein, so Windelband, sei durch beides gekennzeichnet: die Norm und das Normwidrige. Nur dadurch sei es dem Menschen möglich, sich gegen bestehende Normen aufzulehnen und statt dessen auf andere transzendent gültige zu berufen. Wenn diese transzendenten Normen „heilig“ genannt würden, hieße dies auch, daß diese Normen letztlich unbestimmt und unaussagbar seien. Sie seien heilig, weil sie weder Produkte des persönlichen Seelenlebens noch des empirischen Gesellschaftsbewußtseins seien, sondern Wertinhalt einer transzendenten Wirklichkeit.
Windelbands Konstruktion gab dem „Heiligen“ einen Ort sowohl in der Kultur wie jenseits von ihr. Wenn das „Heilige“ eine transzendente Instanz gegenüber dem Kognitiven, dem Ethischen und Ästhetischen ist, dann ist es in diesen Bereichen sowohl präsent wie ihnen gegenüber transzendent. Die Religion nimmt allen Ordnungen gegenüber eine Sonderstellung ein. Neben den großen „Kulturfunktionen der Menschheit“, Wissenschaft, Moral, Recht, Geschichte und Kunst, steht noch eine „andere Kulturmacht, vielleicht die größte, die Religion. […] Tatsächlich greift ja die Religion in alle drei hinein“.
27
Windelband, Das Heilige (wie oben, S. 28, Anm. 24), S. 416.
Windelband spielte diese besondere Stellung der Religion zuerst theoretisch durch, wobei er die „Verschiedenheit der positiven Religionen“ systematisch als Hauptformen transzendenten Vorstellens begriff: als Pantheismus und Deismus, als Theismus und Dualismus. Alsdann be[30]stimmte er das praktische Verhältnis der Religion zu den Kulturmächten. Diese Beschreibung verdient deshalb besondere Beachtung, weil ihr eine ähnliche Idee zugrunde liegt wie Webers Konzeption der Spannungen von ethischer Erlösungsreligion zu den säkularen Lebensordnungen. Windelband betonte, die religiöse Gesinnung bedinge „eine Entwertung des Weltlichen im Gegensatz oder wenigstens im Verhältnis zum Göttlichen. Sie setzt alle empirischen Werte herab, – in extremer Konsequenz, indem sie geneigt ist, sie grundsätzlich zu verneinen“. Eine „Vergleichgültigung gegen die empirischen Werte wie Besitz und Ehre“ sei die Folge. „Familie und Vaterland, Freundschaft und Berufspflicht verlieren ihre Macht über den Menschen. So entwickelt sich gelegentlich in religiösen Gemeinschaften […] eine bedenkliche Gleichgültigkeit gegen alles Weltliche, auch gegen Wissenschaft und Kunst, gegen Staat und Sittlichkeit“.
28
[30] Ebd., S. 438.
Windelbands Worte kommen Webers Konzeption einer Spannung von religiöser Ethik und Welt recht nahe, nur daß Windelband solche Spannung „bedenklich“, ja „fanatisch“ fand.
29
Ebd., S. 438.
Die religiöse Ethik greife in die Sphäre der sozialen Ordnungen sehr verschieden tief ein, bemerkte Weber in Worten, die an Windelband erinnern. Je prinzipieller ihre Spannung mit den innerweltlichen Ordnungen werde, um so mehr würden diese in ihrer Eigengesetzlichkeit konstituiert, worin Weber „ein starkes dynamisches Entwicklungsmoment“
30
Unten im Text, S. 370.
sah.
An dieser Stelle kommt man um die Frage nicht herum, wie Weber die Beziehung der „Lebenssphären“ von Nachbarschaft, Religion, Recht, Herrschaft, Wirtschaft zueinander sah. Sind sie gleich in Rang und Gewicht? Dagegen spricht, daß offensichtlich nur Religion im Stande ist, Vergesellschaftung dauerhaft zu verbürgen.
31
Vgl. unten im Text, S. 140.
Wenn das so ist, würde es kein Zufall sein, daß Weber Religion den rechtlichen und herrschaftlichen Beziehungen vorgeordnet hat. Anders steht es mit dem Nachbarschaftsverband. Ihm scheint nicht nur in der Gliederung von WuG1,
32
Vgl. den Text „Hausgemeinschaften“, in: WuG1, S. 194–215 (MWG I/22-1, Gemeinschaften).
sondern auch sachlich eine Vorrangstellung vor der Religionsgemeinschaft zuzukommen. Dafür spricht die Bemerkung Webers, die religiöse Gemeinde habe sich neben dem „aus ökonomischen, fiskalischen oder anderen politischen Gründen vergesellschafteten Nachbarschaftsverband“ als „zweite Kategorie von Gemeinde“ gebildet.
33
Unten im Text, S. 195.
Sie ist deshalb sachlich nachgeordnet, weil die von Propheten inaugurierte religiöse Gemeinschaft die Nothilfepflicht der Nachbarschafts[31]verbände übernahm und daraus das Gebot der „Brüderlichkeit“ machte.
34
[31] In „Hausgemeinschaften“, WuG1, S. 199 (MWG I/22-1, Gemeinschaften) spricht Weber davon, daß die Nachbarschaftsgemeinschaft Trägerin von „Brüderlichkeit“ sei. Unten im Text, S. 372, heißt es: „Den Verbänden der Sippe, der Blutsbrüder und des Stammes fügt die Gemeindereligiosität als Stätte der Nothilfepflicht den Gemeindegenossen hinzu“.
Man wird kaum fehlgehen in der Annahme, daß Weber an dieser Stelle an Ferdinand Tönnies anknüpfte, der von der Gemeinschaft des Blutes (der Verwandtschaft) die Gemeinschaft des Ortes (Nachbarschaft) unterschied, die – im Gegensatz zu Gesellschaft, die durch Tausch und Vertrag zustande kommt – durch das pure Zusammenleben soziale Bande hervorbringt.
35
Vgl. Tönnies, Ferdinand, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, 2. Aufl. – Berlin: Karl Curtius 1912, S. 16–19 und 28–34. Hierzu auch die Einleitung von MWG I/22-1.

Geschichte als heterogenes Kontinuum

Während Wilhelm Windelband einen Zusammenhang von Fragen und Begriffen ausformulierte, in dem auch Weber stand, wurde Heinrich Rickert (1863–1936) für Webers Methodologie in engerem Sinne von Bedeutung.
36
Vgl. dazu Schluchter, Religion und Lebensführung I, S. 40–52; Merz, Peter-Ulrich, Max Weber und Heinrich Rickert. Die erkenntniskritischen Grundlagen der verstehenden Soziologie. – Würzburg: Königshausen & Neumann 1990 (hinfort: Merz, Max Weber und Heinrich Rickert).
Mit ihm war Weber seit seiner Studentenzeit befreundet. Rickert gehörte wie Windelband zur Südwestdeutschen Schule. Wie dieser war Rickert an dem Versuch beteiligt, dem historischen Wissen einen gleichen Status zu geben wie dem naturwissenschaftlichen. Die RGG1, stellt ihn mit den Worten vor: „Die Rechtfertigung historischer Wissenschaft in ihrer Selbständigkeit und Eigenart ist das Ziel seiner Arbeit. […] eine Erkenntnistheorie der Geschichte soll das eigentümliche Recht der Geschichtswissenschaft gewinnen und wahren“.
37
Eck, Samuel, Rickert, in: RGG1, Band 4, 1913, Sp. 2314–2317, Zitat: Sp. 2315.
Welche Perspektive sich mit der erstrebten Gleichstellung von Natur- und Kulturwissenschaft verband, hat Georg Simmel beschrieben. Die Naturwissenschaften würden den Menschen als Teil der natürlichen Welt studieren und die Kausalität der Natur in Gesetze menschlichen Erkennens verwandeln. So werde die Natur zu einer Form des menschlichen Geistes. „Damit ist von den zwei Vergewaltigungen, die den modernen Menschen bedrohen: durch die Natur und durch die Geschichte, die eine aufgehoben“.
38
Zitiert nach: Georg Simmel, Kant. Die Probleme der Geschichtsphilosophie, hg. v. Oakes, Guy und Röttgers, Kurt (Georg Simmel-Gesamtausgabe, Band 9). – Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 230.
Es [32]bedürfe nun auch noch einer Befreiung von der Macht der Geschichte. Der Erkenntniskritik müsse es gelingen, auch sie souverän nach eigenen Kategorien zu formen. Erst wenn man sich diese Problemstellung vor Augen führt, wird das Vorhaben von Heinrich Rickert begreiflich, das eigentümliche Recht der Geschichtswissenschaft nachzuweisen. Doch auch auf Max Webers Vorhaben fällt ein Licht. Weber hatte Rickerts Überlegungen schon länger mit Interesse, ja Zustimmung verfolgt. „In welchem Sinne gibt es ‚objektiv gültige Wahrheiten‘ auf dem Boden der Wissenschaften vom Kulturleben überhaupt?“ hatte Weber 1904 in einem methodologischen Artikel gefragt.
39
[32] Weber, Max, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: AfSSp, Band 19, 1904, S. 22–87, Zitat: S. 24 (MWG I/7).
Seine Antwort ging in die gleiche Richtung wie die von Rickert: Wer Werte untersucht, könne nicht deren Geltung, sondern nur deren Erkennbarkeit zum Gegenstand machen. In dieser Differenz war begründet, daß Weber den Text „Religiöse Gemeinschaften“ nicht mit einer Definition von Religion eröffnete. Wenn Hartmann Tyrell meint, Weber sei einer Definition von Religion „ausgewichen“ und mit Religion „begriffsbildnerisch“ nicht gut zurechtgekommen,
40
Tyrell, Hartmann, „Das Religiöse“ in Max Webers Religionssoziologie, in: Saeculum, Band 43, 1992, S. 172–230, Zitate: S. 179 und 184. Tyrell spricht von „heterogenenen Schichten“ in Webers Religionsverständnis (ebd., S. 185).
wird er dieser Methodologie nicht gerecht. Die Wirklichkeit stellt ein „heterogenes Kontinuum“ dar: Kontinuität und Heterogenität, Kausalität und Normativität sind in ihr vermischt. Es ist das wissenschaftliche Erkennen, das diese Wirklichkeit zergliedert: in ein von Gesetzen konstituiertes homogenes Kontinuum einerseits und in die Heterogenität von Subjekten und ihren Normen andererseits. Zur Erkenntnis der Wirklichkeit als ganzer gehört daher auch das Unwirkliche.
41
Vgl. Bast, Rainer A. (Hg.), Heinrich Rickert, Philosophische Aufsätze. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1999, Einleitung, S. XXIII.
Nur durch die Analyse gut dokumentierter Handlungsabläufe kann die „sinnhafte Konstitution der kulturellen Wirklichkeit“
42
Merz, Max Weber und Heinrich Rickert (wie oben, S. 31, Anm. 36), S. 337.
erkannt werden. Mit Blick auf die Religion aber heißt dies, daß die bekannte Duplizität von institutionalisierter Religion und individueller Religiosität um ein weiteres Element erweitert wird: Religion als Bestandteil empirischer Kultur.
Heinrich Rickert stellte in dem Aufsatz, den er seinem Freund Weber 1913 schickte, als dieser sich mitten in der Abfassung der „Religiösen Gemeinschaften“ befand, die Frage nach dem möglichen Systemcharakter aller Werte. „Mögen wir noch so fest davon überzeugt sein, daß Werte unabhängig von uns gelten und unserm Dasein ‚objektiven‘ Sinn verleihen, so sind sie doch unserer Kenntnis nur soweit zugänglich, als sie an wirklichen Gütern haften, und diese stellen sich uns stets als das Produkt einer geschicht[33]lichen Entwicklung dar. Alles Geschichtliche aber hat seinem Wesen nach etwas Unabgeschlossenes“.
43
[33] Rickert, Vom System der Werte (wie oben, S. 1, Anm. 1), S. 296.
Die Philosophie müsse die Werte zuerst an den historischen Kulturgütern finden, um sie dann zu ordnen.
44
Ebd., S. 298.
Dafür wollte Rickert formale Voraussetzungen nennen, die „dem Strom der Entwicklung entzogen sind“.
45
Ebd., S. 299 f.
Dies seien: Werte, die gelten (logische, ästhetische, ethische und religiöse); Güter, an denen die „unwirklichen gültigen Werte haften“; Menschen, die als Subjekte zu Werten und Gütern Stellung nähmen.
46
Ebd., S. 300.
Im Rahmen dieser Kasuistik von „Wertverwirklichung“ trifft man dann auch jene Kategorien an, die Weber im Postskriptum eines Briefes vom November 1913 an Rickert
47
Brief Max Webers an Heinrich Rickert, ca. Ende November 1913, Privatbesitz (MWG II/8).
nennt: Kontemplation und Aktivität. Wenn man das Verhältnis von Weber und Rickert betrachtet, besteht an dieser Stelle ein hohes Maß an Übereinstimmung beider, während Weber den späteren Versuchen Rickerts, Werte in irgendeiner Weise doch direkt erkennen zu wollen, skeptisch gegenüber stand. Nachdem Weber Rickerts Darlegungen gelesen hatte, schrieb er ihm im besagten Brief, die Lektüre des Aufsatzes habe ihm Vergnügen bereitet. „Sowohl die Idee des ‚offenen Systems‘ wie die Sechsteilung und der Parallelismus sind höchst glücklich und wertvoll, – gerade weil die Werthe in unserer empirischen Arbeit in so absolut heterogener, irrationaler Art untereinander verknüpft sind“.
48
Ebd.
Max Webers „Religiöse Gemeinschaften“ lassen eine Nähe zu Rickerts Theorie erkennen, insofern er sich ganz auf „Sachen“ bzw. „Personen“ richtet, an denen Werte „haften“. Weber rekonstruiert die Entwicklung der Religion im Blick erstens auf die Träger außeralltäglicher Kraft, zweitens auf Laien als Trägern von Weltbildern und schließlich drittens auf mögliche Lebensführungen (darunter Rickerts Wertverwirklichungen Askese und Kontemplation). Rickert hat 1914 seine Kasuistik der Generierung von Werten noch einmal anders zusammengefaßt: „Alle objektiven Güter, an denen Werte haften, lassen sich in Sachen und Personen einteilen, und das subjektive Verhalten zu ihnen kann, wenn ihm überhaupt ein Sinn mit Rücksicht auf Werte innewohnen soll, nur entweder Kontemplation oder Aktivität sein“.
49
Rickert, Heinrich, Über logische und ethische Geltung, in: Kant-Studien. Philosophische Zeitschrift der Kant- Gesellschaft, Band 19, 1914, S. 182–221, Zitat: S. 196.
Auch diese Zusammenfassung wirft ein Licht auf Webers Methodologie. Nach einem solchen Gesichtspunkt entwarf Weber auf der Basis des religionswissenschaftlichen Wissens seiner Zeit eine Theorie der Religionsgeschichte.

[34]Der Religionsbegriff zu Webers Zeit

Weber vertiefte sich seit 1911 in die Religionsgeschichte. Marianne Weber weiß in ihrem „Lebensbild“ zu berichten, es habe Weber in den Orient gezogen, als er um 1911 seine religionssoziologischen Studien wieder aufnahm: „nach China, Japan und Indien, dann zum Judentum und Islam. Er will nun das Verhältnis der fünf großen Weltreligionen zur Wirtschaftsethik durchforschen“.
50
[34] Weber, Marianne, Lebensbild, S. 346.
Der Text „Religiöse Gemeinschaften“ ist eine erste schriftliche Auswertung dieser Forschungen. Aus dem Text geht weiterhin hervor, daß Weber sich auch noch intensiv mit den Religionen der Antike, des Iran sowie mit den Stammesreligionen befaßt hat. Wie gesonderte Schichten laufen Aussagen über diese Religionen durch den Text. Webers Ausführungen lassen öfters durchschimmern, auf welche Fachliteratur er sich bezog.
51
Vgl. den Anhang zur Einleitung, unten, S. 75–83.
Als Weber sich der Religionswissenschaft zuwandte, war diese noch eine junge Disziplin, die erst durch eine Serie aufsehenerregender Entzifferungen fremder Schriften möglich geworden war: der indischen Veden, des zoroastrischen Awesta, der ägyptischen Hieroglyphen, der mesopotamischen Keilschriften. Ethnologische Berichte lieferten Informationen über die Religionen außereuropäischer Völker.
52
Edmund Hardy hat den Stand zu Webers Zeit beschrieben: Hardy, Edmund, Zur Geschichte der vergleichenden Religionsforschung. I. Religionsstudien vor Begründung der Religionswissenschaft, in: Archiv für Religionswissenschaft, Band 4, 1901, S. 45–66. Ders., II. Die Entdeckung und Durchforschung der Religionsurkunden; in: ebd., S. 97–135. Ders., III. Max Müller und die vergleichende Religionswissenschaft, in: ebd., S. 193–228.
Ein weiterer Anstoß, in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen, war von der Archäologie gekommen: die Entdeckung der alle Vorstellungen sprengenden Räume der menschlichen Prähistorie, die im selben Moment zur Gewißheit wurde, als Charles Darwin seine Erkenntnisse der biologischen Evolution veröffentlichte. Die neuen Erkenntnisse stimulierten Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, für die Religionen etwas gleiches zu versuchen wie zuvor schon für die Sprache und die natürlichen Arten: durch vergleichende Verfahren die Geschichte der menschlichen Religionen für Zeiträume, aus denen es keine Quellen gab, zu rekonstruieren. „In der Wissenschaft von Recht und Gesellschaft meint alt nicht alt in der Chronologie, sondern in der Struktur: das ist am archaischsten, was dem Beginn menschlichen Fortschritts als Entwicklung am nächsten steht, und das am modernsten, das von jenem Beginn am weitesten entfernt ist“.
53
MacLennan, John Ferguson, Primitive Marriage. An Inquiry into the Origin of the Form of Capture in Marriage Ceremonies, hg. und mit einem Vorwort versehen von Peter Rivière. – Chicago und London: University of Chicago Press 1970, S. 6 (Ersterscheinung 1865).
Diese Formel des schottischen Rechtshistorikers [35]John Ferguson MacLennan lag der Methode des Vergleichens zugrunde. Der Vergleich von Überbleibseln („Survivals“) früherer Entwicklungsstufen im Denken und Handeln zivilisierter Völker mit Analogien bei den außereuropäischen Völkern sollte einen Blick in die vorgeschichtlichen Räume unter der obersten Zivilisationsschicht erlauben.
Religionsgeschichte zu treiben, ohne den Religionsbegriff zu bestimmen, ist umöglich.
54
[35] Kritische Analysen des Begriffes „Religion“ finden sich bei bei folgenden Autoren: Despland, Michel, La Religion en Occident. Évolution des idées et du vécu. – Paris: Fides 1979 (hinfort: Despland, Religion), bei Feil, Ernst, Religio, Band 1: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Reformation. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1986. Ders., Religio, Band 2: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs zwischen Reformation und Rationalismus (ca. 1540–1620). – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1997 (hinfort: Feil, Religio I und II) und bei Smith, Jonathan Z., Religion, Religions, Religious, in: Taylor, Mark C. (Hg.), Critical Terms for Religious Studies. – Chicago: Chicago University Press 1998, S. 269–284 (hinfort: Smith, Religion).
Das lateinische Wort „religio“ wurde schon in der Antike ganz unterschiedlich etymologisch hergeleitet.
55
Darauf geht Weber unten im Text (S. 135) ein: „Die römische Religion blieb ‚religio‘, d. h., einerlei ob dieses Wort etymologisch von religare oder von relegere abzuleiten ist: Gebundenheit, an die erprobte kultische Formel und ‚Rücksichtnahme‘ auf die überall im Spiel befindlichen numina aller Art“. Vgl. dazu die Kommentierung, ebd., S. 135, Anm. 25.
Cicero sah es als Derivat von „relegere“, „gewissenhaft beobachten“, der christliche Theologe Lactantius leitete es ab von „religare“, „anbinden“. Zur Zeit Webers (und heute noch) gilt die Etymologie Ciceros als die richtige.
56
Otto, Walter Friedrich, Religio und Superstitio, in: Archiv für Religionswissenschaft. Band 12, Heft 4, 1909, S. 533–554 und dass., Band 14, Heft 3/4, 1911, S. 406–422. Benveniste, Émile, Indoeuropäische Institutionen. Wortschatz, Geschichte, Funktionen. – Frankfurt a.M.: Campus 1993, S. 505–518 (französisches Original von 1969).
Die paganen Römer verstanden religio als sorgfältige und gewissenhafte Ausführung des Götterkultes und ordneten den Begriff der Sphäre des Handelns zu. Gegenbegriffe waren „superstitio“ („Irrglaube“) bzw. „magia“ („Magie“). Erst Christen wie Lactantius deuteten „religio“ als Bindung an den biblischen Schöpfergott, als Glaubensanschauung, und bestimmten es etymologisch anders.
57
Feil, Religio I (wie oben, Anm. 54), S. 39–49.
„Religio“ als Bezeichnung einer „richtigen“ Praxis gegenüber einer „falschen“ ging jedoch auch im Sprachgebrauch der christlichen Kultur nicht völlig unter. Als sich das Bürgertum von der klerikalen Kultur emanzipierte, berief es sich auf eine jedem Menschen zugängliche innere Religion.
58
Vgl. Matthes, Joachim, Religion und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie I. – Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1967, S. 35–40.
Von diesem Begriff nahm die bürgerliche Religionsphilosophie ihren Ausgang. Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, David Hume, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, um nur diese zu nennen, verstanden Religion als eine Instanz, die von der kirchlichen Theologie unabhängig war und gegen sie [36]kritisch ausgespielt werden konnte. Diese spezielle Konstellation hat im Begriff etwas hinterlassen, was Ernst Feil eine „unvermittelte Duplizität“
59
[36] Feil, Religio I (wie oben, S. 35, Anm. 54), S. 18.
genannt hat: er stand einerseits für eine äußere Institution, andererseits für eine innere davon zu unterscheidende innere Welt. Religion wurde ein Fundamentalbegriff der bürgerlichen Philosophie des 18. und 19. Jahrhunderts, in Frankreich, England und Deutschland gleichermaßen, der nicht nur der Kritik der klerikalen Bevormundung diente, sondern zugleich auch der Bezeichnung einer originären Dimension menschlichen Lebens. Der klassifikatorische und normative Begriff bot daher „ständig Anlaß zu immer neuen Fragen über Religion, so daß er selbst“ – wie Friedrich H. Tenbruck ausführt – „den Antrieb für seinen unaufhörlichen Bedeutungswandel bereit stellte und damit letztlich auch für die besondere Dynamik der europäischen Religionsgeschichte sorgte“.
60
Tenbruck, Friedrich H., Die Religion im Maelstrom der Reflexion, in: Religion und Kultur, hg. von Jörg Bergmann, Alois Hahn und Thomas Luckmann. – Opladen: Westdeutscher Verlag 1993, S. 31–67, Zitat: S. 39.
Dabei zeichneten sich zwischen den großen Philosophienationen durchaus Unterschiede der Perspektiven ab, die allerdings aufgrund des intellektuellen Austauschs zwischen den Ländern schnell europäisches Gemeingut wurden. Britische Religionsforscher haben in der Geschichte der Religionen (mit David Hume) den Versuch gesehen, die unberechenbare Macht der Natur zu verstehen und zu beherrschen. Für Edward Burnett Tylor war im Laufe der Geschichte diese erklärende Funktion von Religion weitgehend auf die Wissenschaft übergegangen, von der Seelenkonzeption abgesehen, die auch in der rationalen Zivilisation erhalten blieb und im Spiritismus neu belebt wurde. James George Frazer (1854–1941) ging weiter und hielt die moderne Zivilisation insgesamt für ein dünnes Firnis über einem potentiell zerstörerischen Reich von Gewalttätigkeit. Hier zeigt sich, daß die wissenschaftlichen Berichte über Religionen auch kritische Reflexionen auf die Gegenwart waren.
Die Verzahnung von religionshistorischer Darstellung und Gegenwartsdiagnose gilt es im Auge zu behalten, wenn man sich den unterschiedlichen Perspektiven deutscher und französischer Religionswissenschaftler zuwendet. Die französische Debatte über die Religion wurde schon im 18. Jahrhundert ganz von der Frage ihrer Beziehung zur Moral beherrscht.
61
Vgl. Despland, Religion (wie oben, S. 35, Anm. 54), S. 482.
Aus dem Sündenerlebnis sei in Frankreich das moralische Bewußtsein geworden, aus der Sünde gegen Gott das Vergehen gegen die soziale Ordnung, beobachtete Bernhard Groethuysen.
62
Vgl. Groethuysen, Bernhard, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, Band 1: Das Bürgertum und die katholische Weltanschauung. – Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S. 215–226 (Erstdruck 1927).
Als die Französische Revoluti[37]on scheiterte, nährte dies einen Zweifel, ob eine aufgeklärte Gesellschaft überhaupt imstande wäre, im Namen der Vernunft eine verbindliche soziale Moral hervorzubringen. Die sich bildende Religionswissenschaft stand in Frankreich, so Michel Despland in seinen gründlichen Studien, im Zeichen des Problems kollektiver Bindung. Man traute der Religion eine Leistung zu, zu der die Vernunft nicht imstande sei.
63
[37] Vgl. Despland, Michel, L’Émergence des sciences de la religion. La Monarchie de Juillet: un moment fondateur. – Montreal: L’Harmattan 1999, S. 363.
Die deutsche Problematik sah anders aus.
64
Vgl. Despland, Religion (wie oben, S. 35, Anm. 54), S. 488–507.
Hier, wo keine Revolution die traditionalen Bindungen zerstört hatte, befürchtete man beim Aufkommen der Moderne weniger die Bindungslosigkeit des Einzelnen in der Gesellschaft, als den ihm drohenden Verlust an Freiheit und Spontaneität. Religion wurde von Kant, von Schleiermacher oder Hegel als ein Prinzip gedeutet, das das Subjekt gegen die Gesellschaft stark macht: sei es als moralisches Gewissen oder ästhetisches Erleben des Universums oder als Entzweiung des Subjekts mit der Welt.
Es kann kaum überraschen, daß diese Komplexität des Religionsbegriffes eine beträchtliche Wirkung auf die wissenschaftliche Begriffsgeschichte gehabt hat. Keiner der kulturwissenschaftlichen Hauptbegriffe ist gleichermaßen durch divergierende Perspektiven fragmentiert worden wie dieser. James H. Leuba zählte im Jahre 1912 nicht weniger als 48 Definitionen von Religion auf.
65
Vgl. Leuba, James H., A Psychological Study of Religion. Its Origin, Function, and Nature. – New York: MacMillan 1912, Appendix, S. 339–361.
Auch wenn man sie auf vier große Typen reduziert, bleibt das Problem bestehen. Man hat Religion definiert 1) intellektualistisch als „belief in supernatural beings“; 2) funktionalistisch als Macht sozialer Integration; 3) ästhetisch als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit; 4) lebenspraktisch als Bezug auf außeralltägliche Werte. Jonathan Z. Smith hat mit Hinweis auf dieses Dilemma argumentiert, daß Religion kein Begriff der Gläubigen selber ist, sondern ein Begriff, den Wissenschaftler für ihre Erkenntniszwecke geschaffen haben.
66
Vgl. Smith, Religion (wie oben, S. 35, Anm. 54), S. 281.
Inzwischen mehren sich die Versuche, die unlösbare Frage nach der „richtigen“ Definition aufzugeben und sich einer Analyse der Pragmatik dieser Definitionen zu widmen.
67
Vgl. Platvoet, Jan G. und Molendijk, Arie Leendert (Hg.), The Pragmatics of Defining Religion. Contexts, Concepts & Contests. – Leiden: E. J. Brill 1999.
Friedrich Max Müller hatte bereits 1889 das Problem der Definition von Religion scharf gesehen und ihr in seinen Gifford Lectures an der Universität von Glasgow zu „Natural Religion“ nicht weniger als drei volle Vorlesungen gewidmet. Abgesehen von der Pluralität der Definitionen, die auch ihm auffiel, kam er mit einer klugen Beobachtung, die er zudem noch in ein be[38]eindruckendes Bild kleidete: Wenn man Europa verlasse und in östliche Länder reise, werde der Tausch zunehmend schwieriger, mit dem richtigen Geld ebenso wie mit der intellektuellen Münze. Auch wenn es kaum vorstellbar sei, suche man doch in einer so reichen Sprache und Literatur wie dem Sanskrit vergeblich nach einem Wort für „Religion“. Erst wenn man gelernt habe, in zwei Sprachen zu denken, würde man erkennen, wie viele Elemente des Denkens nicht durch das Sieb einer anderen Sprache gingen.
68
[38] Vgl. Müller, Friedrich Max, Natural Religion. The Gifford Lectures delivered before the University of Glasgow in 1888. – London: Longmans, Green, and Co. 1889, S. 92.
Diese Beobachtung des führenden Indologen Friedrich Max Müller (1823–1900) macht deutlich, daß es den Spezialisten schon damals völlig bewußt war, daß Religion ein Konzept des Wissenschaftlers war. Es war alles andere als selbstverständlich, Hinduismus eine „Religion“ zu nennen, davon noch abgesehen, daß die Bezeichnung „Hinduismus“ selber ein Wort der kolonialen Sprache war.
69
Vgl. King, Richard, Orientalism and Religion. Postcolonial Theory, India and „The Mystic East“. – London: Routledge 1999, S. 96–117.
Das gleiche Problem hat man bei Buddhismus, Judentum oder Islam.
70
Vgl. Haußig, Hans-Michael, Der Religionsbegriff in den Religionen. Studien zum Selbst- und Religionsverständnis in Hinduismus, Buddhismus, Judentum und Islam. – Berlin und Bodenheim: Philo Verlagsgesellschaft 1999.

Die Konstruktion von Religionsgeschichte im Handbuch „Die Kultur der Gegenwart“

Friedrich Max Müllers Bild trifft das, was in der wissenschaftlichen Arbeit geschah, genau: Die intellektuelle Währung des kolonisierenden Westens wurde zur Leitwährung, um die Tatbestände fremder Kulturen als „Religion“ zu handeln. Wie die Tauschoperation in der deutschen Religionswissenschaft ablief, gibt ein Hauptartikel der RGG1 „Erscheinungswelt der Religion (Phänomenologie der Religion)“ zu erkennen: Die Phänomenologie beschäftige sich mit der Religion, „insofern diese in die Welt der Erscheinungen hinaustritt und als eine empirische und historische Größe beobachtet werden kann […]. Diese äußeren Erscheinungen setzen ein inneres Leben voraus […]. Im allgemeinen läßt sich sagen, daß auf den niederen Stufen das Äußere, auf den höheren das Innere besonders hervortritt“.
71
Lehmann, Edvard, Erscheinungswelt der Religion. Phänomenologie der Religion, in: RGG1, Band 2, 1910, Sp. 497–577, Zitat: Sp. 497 f.
Ein angebliches „inneres Leben“ äußerer Tatbestände war die Währung, die historische Tatbestände zu zirkulierenden Gütern werden ließ. Obwohl damalige Wissenschaftler den Konstruktionscharakter von „Religion“ [39]durchschauten, widerstanden sie den damals um sich greifenden Versuchen, diese Konstrukte aufzuheben, um zu den „echten“ Gegenständen vorzudringen. Ernst Troeltsch schrieb dazu im Jahre 1906: „Die naive Religion, soweit man ihrer habhaft werden kann, führt auf die wesentlichen Grundzüge des Phänomens, aber sie ist darum nicht etwa die echtere, reinere, wahrere Religion, der gegenüber die wissenschaftlich reflektierte die unechtere, gefälschte, mit fremdem Beisatz vermengte wäre“.
72
[39] Troeltsch, Ernst, Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, in: Christliche Religion mit Einschluß der israelitisch-jüdischen Religion (Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hg. von Paul Hinneberg, Teil 1, Abt. 4). – Berlin und Leipzig: B. G. Teubner 1906, S. 461–491, Zitat: S. 468.
„Die durch die Einwirkung der Wissenschaft hindurchgegangene Religion wird eine andere werden und muß eine andere werden”.
73
Ebd., S. 469.
Es war Ernst Troeltsch nicht alleine, der erkannt hatte, daß auch die Religionsgeschichte von den Konstruktionen der Wissenschaftler abhängt, mithin subjektiv ist. Religionsgeschichte war in die Krise des Historismus verstrickt. Auch in diesem Fach war es die Stellung zur Gegenwart, die das Verhältnis zur Vergangenheit bestimmte.
74
Die Literatur zu diesem zentralen Baustein jeder Geschichtsschreibung ist kaum überschaubar. Überaus lehrreich und erhellend sind Koselleck, Reinhart, „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“ – zwei historische Kategorien, in: Ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. – Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979, S. 349–375 und Rüsen, Jörn, Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik, Band I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1983, besonders das Kapitel 2: Pragmatik – Die lebenspraktische Konstitution des historischen Denkens.
Blickt man aus späterer Zeit zurück, wie Edward W. Said es in seinem Buch „Orientalismus“
75
Vgl. Said, Edward W., Orientalismus. – Frankfurt a.M., Berlin und Wien: Ullstein 1981.
tut, wird erkennbar, daß das Wissen über den Orient in diesem Sinne kulturell konstruiert war. Nun wird man Said recht geben müssen, daß Wissenschaftler einen Beitrag zur kolonialen Beherrschung des Orients geliefert haben, indem sie ihn zu einem textlichen Universum verdinglicht haben. Die aus den Texten ermittelten Ideen und Institutionen haben den kolonialistischen Staaten dazu gedient, die fremden orientalischen Kulturen beherrschbar zu machen. Die intensive Diskussion, die Said mit dieser Behauptung ausgelöst hat, hat jedoch auch gewisse Einseitigkeiten seiner Deutung aufgezeigt. Eine besteht in der Auslassung der deutschen Orientalistik, der ein zwingender kolonialer Kontext fehlte. Nach welchen Kriterien sie ihre Rekonstruktionen vornahm, darüber schweigt Said.
Als Max Weber sich an das Studium der Entwicklung der Religionen machte, hat er sich überwiegend, aber nicht nur, auf die deutsche Wissenschaft gestützt. Viele Hinweise auf die Fachliteratur hatte Weber von Ernst Troeltsch sowie von den Kollegen des „Eranos“-Kreises erhalten. Zudem [40]lebte er in einer Zeit, in der sich in Deutschland ein bestimmter Typus religionsgeschichtlicher Forschung auf hohem Niveau herausbildete. Eine Plattform hierfür hatte Paul Hinneberg mit seinem Handbuch „Die Kultur der Gegenwart“ geschaffen. In diesem Werk erschienen im Jahre 1906 die Teilbände „Die Orientalischen Religionen“ und die „Christliche Religion mit Einschluss der israelitisch-jüdischen Religion“. Aus der Untersuchung der „Religiösen Gemeinschaften“ ergab sich, daß Weber im Blick auf das Judentum Julius Wellhausen viel verdankt, im Blick auf den Islam Ignaz Goldziher und im Blick auf Hinduismus und Buddhismus Hermann Oldenberg. Ob Zufall oder nicht: alle diese Wissenschaftler sind in den beiden genannten Bänden als Autoren vertreten. Man kann daher an ihren konzisen Beiträgen die Konstruktionen von Religionsgeschichte gut erkennen.
Julius Wellhausen (1844–1918) ging in seinem Beitrag „Die israelitisch-jüdische Religion“
76
[40] Wellhausen, Julius, Die israelitisch-jüdische Religion, in: Christliche Religion mit Einschluß der israelitisch-jüdischen Religion (Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hg. von Paul Hinneberg, Teil 1, Abt. 4). – Berlin und Leipzig: B. G. Teubner 1906, S. 1–40.
von einer Erkenntnis der Quellenkritik aus: daß die Anordnung der biblischen Bücher trotz ihrer inneren Logik nicht der historischen Abfolge ihrer Entstehung entsprach. Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation war das Fünfte Buch Mose, das Deuteronomium. Es war aller Wahrscheinlichkeit nach identisch mit dem Buch, das im Jahre 621 v. Chr. im Tempel von Jerusalem gefunden und König Josia gebracht worden war (2. Könige 22 f.). Als das Dokument einer reformatorischen Partei verlangte es die Konzentration des Kultus in Jerusalem und die Zerstörung aller anderen Anbetungsstätten Jahwes im Lande. Bis dahin hatten die Könige an vielen Stätten Altäre errichtet, wie die Bücher Samuel und Könige berichten. Und die Opfer waren überaus heitere Mahle der Menschen mit ihrem Gott bzw. Göttern. Eine exklusive Verehrung Jahwes habe es nicht gegeben. Erst die Propheten hätten diesen Zustand zu beenden verlangt. Als dem Nord- und dann dem Südreich der militärische Untergang bervorstand, hätten sie dem Volke Israel vorgeworfen, den Bund mit Gott übertreten zu haben, und Gerechtigkeit statt Opfer verlangt. Das Deuteronomium habe diese Sicht kanonisiert und dem Judentum mit der kultischen Zentralisierung eine neue Organisation gegeben. Die prophetischen Ideen erhielten eine priesterliche „Verschalung“, um nicht verloren zu gehen. Die Moral, nicht der Kultus, wurde zur Quintessenz der göttlichen Forderungen. „Jetzt mußte sich der geborene Jude […] selbst zum Juden machen“.
77
Ebd., S. 33.
Julius Wellhausen brachte durch eine historisch-kritische Methode die biblischen Schriften in eine neue Sequenz, die er als Phasen einer „stufenmä[41]ßigen Entwicklung der Tradition“ ansah.
78
[41] Wellhausen, Julius, Prolegomena zur Geschichte Israels. – Berlin: Georg Reimer 1883, S. 312.
Erst kam die Prophetie, dann die Gesetzesreligion. Aus einer heiteren offenen kultischen Gemeinschaft Israels mit seinem Gott war eine rituelle Religion geworden, die die endgültige Rechtfertigung des Einzelnen erst von der Endzeit erwartete. Damit hatte sich das religiöse Zentralproblem verlagert: von dem drohenden Untergang des Staates, auf den die Propheten reagiert hatten, zum unerklärlichen Leiden des gerechten Frommen. Wellhausen stand mit seiner Arbeit im Bann des deutschen Historismus, der Religionsgeschichte aus der Perspektive von Sinndeutung las.
79
Perlitt, Lothar, Vatke und Wellhausen. Geschichtsphilosophische Voraussetzungen und historiographische Motive für die Darstellung der Religion und Geschichte Israels durch Wilhelm Vatke und Julius Wellhausen. – Berlin: Alfred Töpelmann 1965, geht auf Wellhausens „konstruktive Darstellung der Geschichte“ ein (ebd., S. 185–206).
Weber, auf der Suche nach dem objektiven Sinn subjektiven Handelns, hat aus dieser Rekonstruktion zentrale Elemente seiner Konzeption geschöpft: den Gegensatz von Kult und Ethik, die Zuordnung von Ethik und Prophetie, die Ideen einer Systematisierung und Veralltäglichung der Prophetie durch eine Priesterschaft, die Unterscheidung von Gesinnungs- und Gesetzesethik, die Dynamik des Theodizeeproblems.
Im Bereich des Islam war es Ignaz Goldziher (1850–1921), dessen „Vorlesungen über den Islam“
80
Goldziher, Ignaz, Vorlesungen über den Islam. – Heidelberg: Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung 1910.
Weber an entscheidenden Stellen seiner Darstellung folgte.
81
Vgl. unten, S. 172, Anm. 5; S. 213, Anm. 93; S. 229, Anm. 32; S. 358, Anm. 70; S. 359, Anm. 74; S. 433–436.
Ignaz Goldziher gehörte zu jenen deutschsprachigen Orientalisten, denen es um das „innere Leben“ in den islamischen Reichen ging und die eine subjektive Teilnahme des Wissenschaftlers an den Objekten der Forschung befürworteten.
82
Vgl. Fück, Johann, Die arabischen Studien in Europa bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts. – Leipzig: Otto Harrassowitz 1955, S. 226.
Goldzihers „Die Religion des Islams“ in Hinnebergs Handbuch
83
Goldziher, Ignaz, Die Religion des Islams, in: Die orientalischen Religionen (Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hg. von Paul Hinneberg, Teil 1, Abt. 3, 1). – Berlin, Leipzig: B. G. Teubner 1906, S. 87–135.
behandelte den Islam als „Weltanschauung“ und „Lebensführung“. Der Prophet Mohammed wollte die von Juden und Christen verdorbene Religion Abrahams wiederherstellen. Daß der Islam mit Judentum und Christentum rivalisierte und in diesem Prozeß seine Besonderheiten ausbildete, war ein wiederkehrendes Thema Goldzihers, das auch Weber sich zu eigen machte. Der Islam sei, als er entstand, von christlichen Gedanken der Askese und Weltverneinung umgeben gewesen. Jedoch wurden diese „verdrängt, sobald der Islam eine kriegerische, erobernde Religion geworden war und das Ziel der Weltbeherrschung ins Auge gefaßt [42]hatte“.
84
[42] Ebd., S. 112.
An die Stelle des Mönchtums trat der Religionskrieg. Zugleich lenkte Ignaz Goldziher den Blick auf eine konträre Erscheinung, den Sufismus, den er als Widerstand gegen die Verrechtlichung des Islam deutete. Mit ihm „gewinnt die nicht aus gesetzlichen Gesichtspunkten, sondern aus freier Neigung der Seele erwählte Askese eine normale und anerkannte Stellung innerhalb der islamischen Frömmigkeit“.
85
Ebd., S. 113.
Den dogmatischen Verzweigungen und Sektenbildungen wurde dadurch die Schärfe genommen, daß die Feststellung von Rechtgläubigkeit oder Ketzerei eine Sache des Konsensus der Gläubigen blieb und nicht, wie im Christentum, von Institutionen wurde. Meinungsverschiedenheiten in der Gemeinde konnten selbst als ein Zeichen göttlicher Barmherzigkeit gewertet werden. Nur die Schia hat die kollektive Autorität der Gesamtgemeinde zu Gunsten der persönlichen des Imam zurückgedrängt. Am Ende der Darstellung gab Goldziher dem Mahdismus eine herausgehobene Stelle. Er drücke die Erwartungen eines neuen rechtgeleiteten Herrschers aus und habe sich in zwei Formen auskristallisiert: in der einen Version (z. B. der Wahhabiten) werde der Mahdi die Zustände des Anfangs wiederherstellen, in der anderen Version (z. B. der Babis) eine universale Weltreligion gründen, die das Religionsgesetz hinter sich läßt. Für Ignaz Goldziher – wie schon für Ernst Troeltsch – überschritten solche historischen Konstruktionen eine rein wissenschaftliche Bedeutung. „Zu einer höheren Stufe des religiösen Lebens freilich werden die Bekenner des Islams, deren Gesamtzahl heute über 200 Millionen beträgt, sich erst durch die historische Betrachtung der Dokumente ihrer Religion erheben können“.
86
Ebd., S. 132.
Die von christlichen Theologen und jüdischen Historikern ausgehende Debatte über das Wesen von Christentum und Judentum würde demnach auch dem Islam gut tun.
87
Adolf Harnacks Vorlesung „Über das Wesen des Christentums“ im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin hatte bei jüdischen Studenten Fragen nach ihrer Identität ausgelöst. Im Horizont dieser Vorgänge verfaßte Leo Baeck seine Schrift: Das Wesen des Judentums. – Berlin: Nathusen & Lamm 1905. Sie diente ebenso wie die Vorlesung Harnacks dazu, aus der Religionsgeschichte normative Erkenntnis zu gewinnen. Vgl. auch Tal, Uriel, Die Theologische Debatte um das „Wesen“ des Judentums, in: Mosse, Werner (Hg.), Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1976, S. 599–632.
Hermann Oldenberg (1854–1920) hat in dem Abschnitt „Die indische Religion“
88
Oldenberg, Hermann, Die indische Religion, in: Die orientalischen Religionen (Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hg. von Paul Hinneberg, Teil 1, Abt. 3, 1). – Berlin, Leipzig: B. G. Teubner 1906, S. 51–73.
in Hinnebergs Handbuch einen Entwurf vorgelegt, der von der Veda-Religion über die Spekulation zum Buddhismus und schließlich zum [43]Hinduismus führt. Die frühen Götter seien Naturgottheiten gewesen und hätten die wichtigsten Naturphänomene personifiziert, daneben jedoch auch bestimmte Typen des Handelns vertreten. Diese Epoche neigte sich zu Ende, als sich die Bedürfnisse des sozialen Lebens meldeten und nach einem Gott verlangten, der das Recht schützt. Diesem Gott machte sich der Mensch mit dem Opfer geneigt. Von Vergeistigung sei noch wenig zu spüren gewesen, das menschliche Dasein nicht als Ganzes erfaßt.
89
[43] Vgl. ebd., S. 57.
Neben dem Kultus, oft mit ihm jedoch verschlungen, gab es „Zauberriten, die ohne Hilfe göttlicher Bundesgenossen direkt auf das Geschehen einzuwirken suchen“.
90
Ebd., S. 57.
Kosmologische Spekulation über die Wirksamkeit des Opfers führten zur Vorstellung einer Allsubstanz, dem Brahma, die zugleich im eigenen Ich als Atman vorhanden sei. Verbunden mit dem Glauben, die Seele sei aufgrund der Macht des Karma zu Wanderungen gezwungen, wurde diese Allsubstanz zur Grundlage eines Erlösungsglaubens. Asketentum breitete sich aus. Aus dieser Umwälzung gingen nicht nur die Sekte des Jaina, sondern insbesondere der Buddhismus hervor. Er steigerte die Abwendung von der Welt und ersehnte das Nirvana, das Erlöschen von Begierden und Wiedergeburt. Der alte Glaube ging jedoch nicht unter, sondern erstarkte neu in zwei Göttern: Vischnu-Krischna und dem orgiastischen Schiva.
Was zeigt ein Blick auf diese Konstruktion von Religionsgeschichte? Für den deutschen Orientalismus, so stellt Georg Stauth richtig fest, sei eine auf Innerlichkeit abstellende Aneignungsform typisch gewesen. Sie habe sich von einer äußeren Bemächtigung, wie Edward W. Said sie darstellte und kritisierte, unterschieden. Sie sei machtvoll gewesen, da sie egalitär war. Allerdings, wendet Stauth ein, habe sie ein bestimmtes Verständnis des anderen einfach unterstellt und „den selbstkonstitutiven Akt der Fremderkenntnis verschleiert“.
91
Stauth, Georg, Islam und westlicher Rationalismus. Der Beitrag des Orientalismus zur Entstehung der Soziologie. – Frankfurt a.M.: Campus 1993, S. 11.
Ob der Zeigefinger, den Stauth erhebt, wirklich berechtigt ist oder eher heutige Unkenntnis über die damals voll vorhandene Einsicht in den Konstruktionscharakter von Geschichte widerspiegelt, sei dahingestellt. Der Hinweis auf die Bedeutung von Innerlichkeit in Deutschland geht jedoch in die richtige Richtung. In allen drei Fällen verwandelten die Religionswissenschaftler historische Daten in ein Bild von Welt, das einem angenommenen Bedürfnis nach Sinn entsprach. Die deutsche Religionsphilosophie hatte mit ihrer Aufwertung des Subjektes gegen rationale Ordnungen die Voraussetzungen hierfür geschaffen. Um noch einmal das Bild von Friedrich Max Müller von der intellektuellen Münze „Religion“ auf[44]zugreifen: in Deutschland wurden „äußere Erscheinungen“ als „inneres Leben“ gewertet und gehandelt.

Robert Ranulph Maretts Präanimismus

„Eine Definition dessen, was Religion ‚ist‘, kann unmöglich an der Spitze, sondern könnte allenfalls am Schlusse einer Erörterung wie der nachfolgenden stehen“.
1
[44] Unten im Text, S. 121.
Diese Worte am Anfang der „Religiösen Gemeinschaften“ waren eine Konsequenz von Webers Auffassung von historischer Begriffsbildung.
2
Vgl. oben, S. 3.
Sie kamen jedoch einer Konzeption von Religion entgegen, die sich seit Beginn des Jahrhunderts schnell durchzusetzen begann: dem Präanimismus. Weber griff ihn auf, als er davon sprach, daß für den religiös oder magisch Handelnden die Annahme außeralltäglicher Kräfte typisch sei. Die Worte „mana“, „orenda“, „tabu“, „präanimistisch“, die auch Weber verwendet, waren seit der Jahrhundertwende ins Zentrum der Religionstheorie gerückt.
Der Präanimismus brachte eine Kehrtwendung in die Religionswissenschaft. Es war die zweite seit ihrem Beginn als akademischer Disziplin in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Die erste war von dem englischen Anthropologen Edward Burnett Tylor (1832–1917) eingeleitet worden,
3
Zu Tylor vgl. Kohl, Karl-Heinz, Edward Burnett Tylor (1832–1917), in: Michaels, Axel (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft. – München: C. H. Beck 1997, S. 41–59.
als dieser an die Stelle von Friedrich Max Müllers Erklärung der Mythologie aus einer „Krankheit“ der Sprache (der Verdinglichung von Bezeichnungen zu mythischen Wesen) die einleuchtendere These einer frühen Denkform setzte, die natürliche Ereignisse nach Analogie beseelter geistiger Wesen erklärte.
4
Vgl. Tylor, Edward Burnett, The Religion of Savages, in: The Fortnightly Review, vol. 6, 1869, S. 71–86, hier: S. 81.
Im Laufe der Entwicklung sei zwar Wissenschaft an die Stelle dieser Erklärung getreten, die Konzeption einer immateriellen persönlichen Seele habe jedoch noch in der zivilisierten Gesellschaft „überlebt“.
5
Vgl. Tylor, Edward Burnett, On the Survival of Savage Thought in Modern Civilization, in: Proceedings of the Royal Institution of Great Britain, Jg. 5, 1866–69, S. 522–535. Dazu Stocking, G. W. jr., Animism in Theory and Practice. E. B. Tylor’s unpublished „Notes on Spiritualism“, in: Man, vol. 6, 1971, S. 88–104.
Tylors Konzeption von „Survivals“, die frühere Stufen der Religion in der entwickelten Zivilisation aufspürte und so den Nachweis von Entwicklung er[45]brachte, blieb bis 1900 vorherrschend.
6
[45] Vgl. Hodgen, Margaret T., The Doctrine of Survivals. A Chapter in the History of Scientific Method in the Study of Man. – London: Allenson & Company 1936, S. 38; Kippenberg, Hans G., Survivals: Conceiving of Religious History in an Age of Development, in: Molendijk, Arie Leendert und Pels, Peter (Hg.), Religion in the Making. The Emergence of the Sciences of Religion. – Leiden: E. J. Brill 1998, S. 297–312.
Das sollte sich mit Robert Ranulph Marett zu Beginn des Jahrhunderts schlagartig ändern.
1899 hatte Robert Ranulph Marett (1866–1943), Philosoph aus Oxford mit Liebe zur Ethnologie („anthropology“ im Englischen), auf der Tagung der Britischen Anthropologischen Gesellschaft in Dover einen Vortrag „Pre-animistic Religion“ gehalten und damit einen überwältigenden Erfolg erzielt,
7
Marett berichtet in seiner Autobiographie ausführlich über den Vorgang. Aus ihr stammen einige der Informationen zur Rezeption des Präanimismus. Marett, Robert Ranulph, A Jerseyman at Oxford. – London, New York and Toronto: Oxford University Press 1941, S. 156–164 (hinfort: Marett, Jerseyman).
der sich ein Jahr später mit der Publikation in der Zeitschrift „Folk-Lore“ fortsetzte.
8
Abgedruckt in Marett, Robert Ranulph, The Threshold of Religion. – London: Methuen & Co. Ltd. 1909, S. 1–28. (hinfort: Marett, Threshold of Religion).
Tylors bekannte Formel von „belief in spiritual beings“ sei zu starr und zu intellektualistisch, fand Marett. Der begrifflichen Vorstellung von Beseelung müsse etwas anderes vorausgegangen sein. Ein Gefühl von Ehrfurcht („feeling of awe“) bringe „den Menschen dazu, in persönliche Beziehungen mit dem Übernatürlichen einzutreten, bevor er darüber nachdenkt und theoretisiert“.
9
Ebd., S. 15 (Übersetzung Hans G. Kippenberg).
Nicht Gefühle an sich, sondern der existentielle Bezug des Menschen auf Gegenständliches war für Marett der genuine Ort von Religion, wie Martin Riesebrodt richtig präzisierte.
10
Riesebrodt, Martin, Robert Ranulph Marett (1866–1943) in: Michaels, Axel (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft. – München: C. H. Beck 1997, S. 171–184, bes. S. 183 f.
Konzeptionen wie das melanesische „mana“ brächten die Erfahrung des Übernatürlichen im Unterschied zum Natürlichen, des Anomalen im Unterschied zum Normalen zum Ausdruck. Eine solche existentielle Beziehung zur Welt sei der Ort der Deutung von Erscheinungen wie Traum und Trance, Krankheit und Tod. Mit diesem sog. „Präanimismus“ oder „Animatismus“
11
Eine andere Bezeichnung war „Dynamismus“.
wollte Marett die Religionsforscher von dem Zwang befreien, für die explosionsartig zunehmenden Gegenstände der Religionsgeschichte immer neue Schubladen („pigeon-holes“)
12
Marett, Threshold of Religion (wie oben, Anm. 8), S. 3.
anzulegen.
Robert Ranulph Marett ließ seinem aufsehenerregenden Aufsatz drei weitere folgen, die ganz ähnlich wie der erste als Prüfung vorliegender Klassifikationen und als Vorschläge neuer „experimenteller Formeln“ angelegt wa[46]ren. Es sei falsch, so Marett in dem Aufsatz „From Spell to Prayer“ aus dem Jahre 1904,
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[46] Marett, Robert Ranulph, From Spell to Prayer, in: Folk-Lore, vol. 15, 1904, S. 132–165 (wiederabgedruckt in: Marett, Threshold of Religion (wie oben, S. 45, Anm. 8), S. 29–72).
Magie als eine systematische Verkehrung von Zeichen und Bezeichnetem zu deuten: daß der Primitive glaube, die Vernichtung des Bildes seines Feindes bewirke automatisch dessen Vernichtung. Marett distanzierte sich von dieser typisch britischen Erklärung von Magie. Er widersprach vor allem James George Frazer, der ein magisches Weltbild der Religion vorangehen ließ. Religion sei aus der Erkenntnis des Versagens der Magie entstanden. Dieser Sicht hielt Marett entgegen, daß die Eingeborenen ohne Kenntnis der Gesetze der Kausalität nicht überleben könnten und sehr wohl das Symbol vom Symbolisierten zu unterscheiden wüßten. Marett lenkte den Blick von der Theorie auf die Praxis der Magie. In ihr kämen regelmäßig Zaubersprüche vor. Das weise darauf hin, daß der Magie Praktizierende mit einem Spruch an einen persönlichen Träger übernatürlicher Kraft appelliere. Die Wirksamkeit der eigenen Handlung beruhe nicht auf der Annahme unpersönlicher Gesetze, sondern persönlicher Mächte, und ähnele in dieser Hinsicht dem Gebet. Die Vorstellung einer Entwicklung von Magie zu Religion sei unhaltbar. Es ist unschwer zu erkennen, daß Weber dieser Auffassung folgte, nicht der von Frazer oder Tylor. Ähnlich argumentierte Marett im Blick auf „tabu“. Maretts Aufsatz „Is Taboo a Negative Magic?“ aus dem Jahre 1907
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Marett, Robert Ranulph, Is Taboo a Negative Magie?, in: ders., Rivers, William Halse R. und Thomas, Northcote Whitridge (Hg.), Anthropological Essays presented to Edward Burnett Tylor. – Oxford: Clarendon Press 1907, S. 219–234 (wiederabgedruckt in: Marett, Threshold of Religion (wie oben, S. 45, Anm. 8), S. 73–98).
stellte eine andere Behauptung von Frazer in Frage: daß die Vermeidung bestimmter Berührungen den Zweck habe, einen unerwünschten Transfer von Eigenschaften von einer Person zu einer anderen zu vermeiden. James George Frazer nahm auch hier ein Gesetz der falschen Anwendung der Verbindung von Idee und Sache in Anspruch. Robert Ranulph Marett wies demgegenüber darauf hin, daß eine solche Denkform nicht erklären könne, warum mit dem „tabu“ das Gefühl des Übernatürlichen und Mysteriösen verbunden sei. Und wie wolle man gar die schweren Sanktionen, die mit seiner Übertretung einher gingen, erklären? Maretts Neudeutung setzte hier an: Wer ein „tabu“ verletze, werde deshalb als Verbrecher behandelt, weil er eine übernatürliche Macht angreife. Die schwere Strafe könne aus einem Gesetz der Sympathie nicht erklärt werden. Unter Bezug auf drei große Tabus primitiver Gesellschaften, das der Frau, des Fremden, und des Herrschers, zeigte Marett, daß es sich nicht um die Anwendung einer magischen Denkform handelt, sondern um die Furcht von einer mysteriösen Macht. „Tabu“ ist ein negatives „mana“.
[47]In seinem Vortrag „The Conception of Mana“ vor dem Dritten Internationalen Kongreß für Religionsgeschichte in Oxford im September 1908
15
[47] Marett, Robert Ranulph, The Conception of Mana, in: Transactions of the 3rd International Congress of the History of Religions, vol. I. – Oxford: Clarendon Press 1908, S. 46–57 (wiederabgedruckt in: Marett, Threshold of Religion (wie oben, S. 45, Anm. 8), S. 99–121).
bündelte Marett seine diversen Kritiken und Neuansätze zu einer umfassenden Theorie der elementaren Religion. Der melanesische „mana“-Begriff rückte dabei ins Zentrum. In der Wahl eines indigenen Wortes sah er die Chance, den dunklen Kräften elementarer Religionen näher zu kommen. Denn dieses Wort sei das Ergebnis einer ersten noch ganz rudimentären Reflexion. Wenn es der vergleichenden Religionswissenschaft gelänge, die Bedeutung eines solchen Wortes zu explizieren, könne es eine grundlegende wissenschaftliche Kategorie werden. Aus der ethnograpischen Literatur der Südsee wußte Marett, daß „mana“ eine spezifische Erfahrung und Gewahrwerdung der Welt und des Lebens darstellt. „Mana“ sei der positive Modus des Übernatürlichen, dessen negativer Modus „tabu“ sei. Beide Termini drückten eine Beziehung existentieller Art zum Übernatürlichen aus, eine Beziehung, die rein faktischer Natur sei, bar jeder Moral. Marett verglich sie mit der Elektrizität, die an verschiedenen Objekten haften und sowohl Nutzen wie Schaden bringen könne. Die „tabu-mana Formel“ sei besser als der Animismus geeignet, eine minimale Definition der elementaren Religion abzugeben. Auch wenn der persönliche Gottesglaube im Laufe der Geschichte immer mehr die Überhand bekommen habe, sei es ihm jedoch nie gelungen, diese ältere Konzeption von Religion ganz zu verdrängen. Eine Version dieses Aufsatzes veröffentlichte Marett 1909 im deutschen „Archiv für Religionswissenschaft“.
16
Marett, Robert Ranulph, The tabu-mana Formula as a Minimum Definition of Religion, in: Archiv für Religionswissenschaft, Band 12, 1909, S. 186–194.
In dem Beitrag „A Sociological View of Comparative Religion“
17
Wiederabgedruckt in: Marett, Threshold of Religion (wie oben, S. 45, Anm. 8), S. 122–144.
nahm Marett 1908 die Auseinandersetzung mit Émile Durkheim auf. Britische Ethnologen hätten die vergleichende Religionswissenschaft als Zweig der Psychologie behandelt. Die Gegenposition hätten Schulen eingenommen, die Religionen aus objektiven Bedingungen erklärten. Die Schule von Émile Durkheim habe beide Perspektiven verbunden, weshalb die Britische Schule von ihr lernen könne. Zwar seien die Durkheimianer zu weit gegangen, als sie das Subjekt ganz in den objektiven Ordnungen aufgehen ließen. Jedoch müsse die vergleichende Religionswissenschaft zum Zweig einer Sozialpsychologie werden, da Religion wesentlich eine Angelegenheit der Gesellschaft, nicht des Individuums sei.
[48]Als Robert Ranulph Marett seine Aufsätze 1909 zu „The Threshold of Religion“
18
[48] Marett, Threshold of Religion (wie oben, S. 45, Anm. 8).
zusammenstellte, ging er in seinem Vorwort auf Kritiker an seinen Arbeiten wie Wilhelm Wundt ein, um seine Position zu präzisieren. Ihm sei es nicht um eine neue Ursprungstheorie von Religion gegangen, sondern um einen Religionsbegriff, der Religion als einen zusammenhängenden Komplex von Denken, Emotion und Handeln auffasse. Gegen James George Frazer behauptete er, Religion und Magie seien aus einem gemeinsamen „Plasma“ entstanden. An anderer Stelle sprach er von „Theoplasma oder Gott-Material“. Doch Marett mußte sich nicht nur mit Kritik auseinandersetzen. Er notierte auch, daß seine Erkenntnisse von anderen bestätigt worden seien, so 1902 von John Napoleon Brinton Hewitt in dem Aufsatz „Orenda and a Definition of Religion“
19
Hewitt, John Napoleon Brinton, Orenda and a Definition of Religion, in: The American Anthropologist, New Series, vol. 4, 1902, S. 33–46.
oder von Henri Hubert und Marcel Mauss, die in ihrem „Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie“ aus dem Jahre 1902/03
20
Hubert, Henri und Mauss, Marcel, Esquisse d'une théorie générale de la magie, in: L’Année Sociologique, 7. Jg., 1902–1903, S. 1–146.
im melanesischen „mana“ ein Grundphänomen erkannt hatten, aus dem heraus sich Magie und Religion bildeten. In seiner späteren Biographie bemerkte er dazu, die Durkheim-Schule in Frankreich und er selbst in England hätten, ohne voneinander zu wissen, auf denselben Vogel geschossen. Zwar habe ihr Schuß, wie er selbstironisch feststellte, ein größeres Kaliber gehabt, er jedoch habe als erster geschossen.
21
Marett, Jerseyman (wie oben, S. 45, Anm. 7), S. 161.
Marett hatte mit seiner Religionstheorie den Nerv der Zeit berührt. Nicht nur daß er der vergleichenden Religionswissenschaft einen Weg aus einer Sackgasse gewiesen hat. Damals lösten Naturwissenschaftler die sichtbare Welt in Wellen, Strahlen und Ströme auf. Der Röntgen-Schock ließ Evidenzen und Sicherheiten schwinden. Der damit einhergehende naturwissenschaftliche Paradigmenwechsel ließ auch Religionswissenschaftler nicht unbeeindruckt.
22
Vgl. Gladigow, Burkhard, Naturwissenschaftliche Modellvorstellungen in der Religionswissenschaft zwischen den beiden Weltkriegen, in: Kippenberg, Hans G. und Luchesi, Brigitte (Hg.), Religionswissenschaft und Kulturkritik. – Marburg: diagonal-Verlag 1991, S. 177–192.

Religiöses Gemeinschaftshandeln statt Totemismus

Trotz seines Interesses an Religion als Gemeinschaftshandeln konzipierte Weber die soziale Funktion „primitiver Religion“ nicht – wie in der zeitgenössischen britischen und französischen Anthropologie üblich – als Totemis[49]mus. Der schottische Rechtshistoriker John Ferguson MacLennan (1827–1881) hatte die Bezeichnung „Totemismus“ 1869/70 geprägt. Bis dahin hatten die Informationen über die primitiven Religionen, als „Fetischismus“ charakterisiert, im Blick auf die dazugehörigen Sozialordnungen in der Luft gehangen. Erst durch MacLennan erhielten sie einen Ort im sozialen Leben der primitiven Völker. „Totemismus war Fetischismus, dem jedoch eine soziologische Verankerung in der […] Urgesellschaft gegeben wurde“, beschrieb Adam Kuper diesen Schritt.
23
[49] Kuper, Adam, The Invention of Primitive Society. Transformations of an Illusion. – London und New York: Routledge 1988, S. 82 (Übersetzung Hans G. Kippenberg).
Diese Konzeption des Totemismus hatte anfangs einen durchschlagenden Erfolg. Erst allmählich meldeten sich Zweifler zu Wort, was Weber nicht entgangen war. Sein Studium des Phänomens hatte ihn davon überzeugt, dieser Konzeption besser nicht mehr zu folgen. „Der Glaube an die einst universelle Geltung und erst recht die Ableitung fast aller sozialen Gemeinschaften und der gesamten Religion aus dem Totemismus, ist als eine gewaltige Übertreibung heute wohl durchweg aufgegeben“.
24
Unten im Text, S. 170.
Im Blick auf eine Verbrüderung durch kultische Tischgemeinschaft hielt Weber jedoch durchaus an einem zentralen Element des Totemismus fest.
25
Vgl. unten im Text, S. 169.
Nur daß Weber gerade im Ende dieser rituellen Tischgemeinschaft (dem Tag von Antiochia) den Beginn der westlichen Religionsgeschichte sah.
Weber setzte nicht mit dem Totemismus ein, sondern mit dem Typus des Gemeinschaftshandelns. Wie in anderen Fällen von Gemeinschaftshandeln, könne ein Verständnis „auch hier nur von den subjektiven Erlebnissen, Vorstellungen, Zwecken des Einzelnen – vom ‚Sinn' – aus gewonnen werden“.
26
Unten im Text, S. 121.
Max Weber griff an dieser Stelle die Vorarbeit auf, die der Präanimismus geleistet hatte. Religiöses Handeln hat seinen Ort in der Beziehung des Subjektes zur Welt, ist also diesseitig. Weber schreibt dieser Handlung eine hohe Erwartung zu, die er in ein biblisches Zitat kleidet: „auf daß es dir wohl gehe und du lange lebst auf Erden“ (Epheser 6, 2 f.). Der religiös oder magisch Handelnde rechne mit „außeralltäglichen Kräften“, die an Objekten oder Personen „hafteten“ – eine Ausdrucksweise, die ihre philosophische Verankerung in der Wertphilosophie Heinrich Rickerts nicht verbirgt. Die außeralltäglichen Kräfte mit Namen „mana“, „orenda“ und „maga“, wolle er – so Weber im Stile einer Begriffsfestsetzung – ein für allemal „Charisma“ nen[50]nen.
27
[50] Vgl. unten im Text, S. 122. Das Auftauchen dieses zentralen Begriffes aus Webers Herrschaftslehre in der Religionsanalyse ist nicht ohne Schwierigkeiten. Denn wenn Charisma gleichgesetzt wird mit einer Vorstellung „außeralltäglicher Kräfte“, die an Dingen und Personen haften, kann es nicht mehr ein Synonym für eine Revolutionierung einer traditionalen Ordnung „von innen heraus“ sein, wie in der sog. „Herrschaftssoziologie“ (WuG1, S. 758; MWG I/22-4). Vgl. hierzu Riesebrodt, Martin, Charisma, in: Kippenberg, Hans G. und Riesebrodt, Martin (Hg.), Webers „Religionssystematik“. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), voraussichtliches Erscheinungsjahr 2001.
Weber brauchte diese Vereinheitlichung. Nur sie machte es ihm möglich, Zauberer, Priester, Propheten als persönliche Träger außeralltäglicher Kraft in Beziehung zu einander zu setzen und eine Korrelation herzustellen zwischen ihnen und den jeweils anderen Erwartungen der Gläubiger.
Weber ordnete Magie ganz in der Linie von Robert Ranulph Marett in den Präanimismus ein: als den Typus einer Sinndeutung des alltäglichen Handelns, die mit außeralltäglichen Kräften rechnete. Für Weber hatte diese Sinndeutung um sich gegriffen und die gesamte Auffassung von Welt bestimmt: „Immer mehr Dinge und Vorgänge attrahieren außer der ihnen wirklich oder vermeintlich innewohnenden realen Wirksamkeit noch ‚Bedeutsamkeiten‘, und durch bedeutsames Tun sucht man reale Wirkungen zu erzielen. […] Alle Kreise menschlicher Tätigkeit werden in diesen symbolistischen Zauberkreis hineingerissen.“ „[…] eine Flutwelle symbolischen Handelns begräbt den urwüchsigen Naturalismus unter sich“.
28
Unten im Text, S. 129.
Terminologisch bewegte Weber sich hierbei auch auf der Bahn von Hermann Oldenberg. Dieser hatte vom vedischen Opfer geschrieben: „Was beim Opfer dem Auge erscheint, ist nicht nur, was es ist oder zu sein scheint, sondern es ist noch ein zweites, das es bedeutet“.
29
Oldenberg, Hermann, Buddha. Sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde. – Berlin: Wilhelm Hertz (Bessersche Buchhandlung) 1881, S. 21. Oldenberg hatte übrigens mit seinem anderen Klassiker (Die Religion des Veda. – Berlin: Wilhelm Hertz (Bessersche Buchhandlung) 1894) Frazer in der Annahme bestärkt, daß Magie eine der Religion vorausgehende Denkform gewesen sei. Vgl. Frazer, James George, The Golden Bough. A Study in Magic and Religion, Part I: The Magic Art and the Evolution of Kings, vol. 1, 3. Aufl. – London: MacMillan & Co. Ltd. 1911, S. 224 f., Anm. 2.

Die Macht des Rausches.
Die Aufnahme einer Konzeption von Erwin Rohde

Die charismatische Begabung des Zauberers lag für Weber überraschender Weise vor allem in der „Ekstase“. Bei der Beschreibung der entsprechenden Sozialform schloß er sich dem 1898 verstorbenen Heidelberger klassischen Philologen Erwin Rohde (1845–1898) an. Rohde hatte sich in seinem Monumentalwerk „Psyche. Seelenglaube und Unsterblichkeitsglau[51]be der Griechen“
30
[51] Rohde, Erwin, Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube bei den Griechen, 2. Aufl. – Freiburg i. Br., Leipzig und Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1898.
kritisch mit Edward Burnett Tylors Konzeption des primitiven Seelenglaubens auseinandergesetzt. Die griechische Religion habe zwar einen Seelenglauben gekannt, wie die Schriften Homers zeigten. Jedoch hielt Rohde es für unmöglich, daß die griechische primitive Seelenkonzeption aus sich heraus zu einer Entwicklung imstande gewesen wäre, an deren Ende die metaphysische Identität der Seele gestanden hätte, wie Tylor in „Primitive Culture“ annahm.
31
„The soul, as recognized in the philosophy of the lower races, may be defined as an ethereal surviving being, conceptions of which preceded and led up to the more transcendental theory of the immaterial and immortal soul, which forms part of the theology of higher nations“. (Tylor, Edward Burnett, Primitive Culture. Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Art and Custom, Vol. 2. – London: Murray 1871, S. 110).
Die griechische Seelenkonzeption habe eines Anstoßes von außen bedurft. Dieser sei in Gestalt des Dionysoskultes gekommen.
32
Vgl. Rohde, Psyche II, S. 2 f.
Dionysos sei ein Fremdling aus Thrakien gewesen und habe der griechischen Religiosität einen bahnbrechenden Anstoß gegeben: den Unsterblichkeitsglauben. Denn nur Ekstasen hätten einen Glauben an die unsterbliche Seele hervorbringen können. In diesem „Aufregungskult“ seien Gott und Mensch miteinander verschmolzen. Wenn Weber – was häufig geschieht – von „Ekstase“, „Orgie“ oder „Rausch“ spricht, folgt er im allgemeinen Rohdes Charakterisierungen. Besonders deutlich wird dies, wenn er schreibt, die Vorstellung von der „Seele“ als eines vom Körper verschiedenen Wesens sei im Zusammenhang mit Orgien entstanden.
33
Vgl. unten im Text, S. 125.
Bei Rohde hatte Weber außerdem noch gelesen, daß der thrakische Begeisterungskult die „Kundgebung eines religiösen Triebes [sei], der über die ganze Erde hin überall und immer wieder, auf allen Stufen der Culturentwicklung, hervorbricht“.
34
Rohde, Psyche II, S. 23.
Weber ist Rohde darin gefolgt. Wie ein roter Faden zieht sich durch Webers Konstruktion von Religionsgeschichte die Macht von Rausch und Orgie. Sie kommt vor bei den indischen Religionen,
35
Vgl. unten im Text, S. 315; dazu auch MWG I/20, S. 221 f.
beim Zarathustrismus,
36
Vgl. unten im Text, S. 184, S. 221 f. und S. 313.
beim Griechentum,
37
Vgl. unten im Text, S. 181, S. 185 und S. 336.
beim Römertum
38
Vgl. unten im Text, S. 337.
und beim Judentum.
39
Vgl. unten im Text, S. 222 und S. 313.
Damit fällt auf den Topos der Magie noch einmal ein Licht. Magie wird nicht durch bessere Naturerkenntnis, sondern durch Prophetie überwunden.
[52]Genauso universal wie die Erscheinung von Rauschkult waren nämlich Propheten, denen es gelang, Rauschkult und Zauber zu überwinden und eine Systematisierung von Lebensführung durchzusetzen. „Die Propheten einer ethischen Erlösung bedürfen aber des orgiastischen Rausches nicht nur nicht, – er steht der systematischen ethischen Lebensführung, die sie verlangen, geradezu im Wege“.
40
[52] Unten im Text, S. 313.
Weber war nicht der einzige, der so argumentierte, wie ein Blick auf Werner Sombart zeigt. Dieser hatte den Rationalismus einen Grundzug jüdischer Religion genannt und hinzugefügt, sie kenne „nicht den Zustand des Rausches, in dem sich der Gläubige mit der Gottheit vereinigt: also den Zustand, den alle anderen Religionen als den höchsten und heiligsten preisen“.
41
Sombart, Juden und Wirtschaftsleben, S. 243.
Systematisierung von Lebensführung setzte eine Überwindung der Hochschätzung von Ekstase voraus. Allerdings nahm Weber kein vollkommenes Verschwinden der Erscheinung an. Er wußte um moderne Surrogate, wie die soteriologischen Orgien der Heilsarmee
42
Vgl. unten im Text, S. 246.
und sah den prophetischen Kampf gegen Ekstase, Rausch und Orgie als Kapitel eines immer noch andauernden Sublimierungsprozesses an. „Mit zunehmender Rationalisierung wird das Ziel der religiösen Heilsmethodik daher immer mehr die Herabstimmung des durch die Orgie erreichten akuten Rauschs in einen chronisch und vor allem bewußt besessenen Habitus. Die Entwicklung ist dabei auch durch die Art der Konzeption des ‚Göttlichen‘ bedingt“.
43
Unten im Text, S. 313.
Auch die anfänglich sexuelle Orgie konnte auf diese Weise sublimiert werden. Durch die Spannung, die die religiöse Ethik auch in die Beziehung zur Sexualität bringt, können mehrere Sinndeutungen von Sexualität entstehen: Sexualität kann legitimiert werden als eheliches Geschlechtsleben
44
Vgl. unten im Text, S. 406–408.
oder zur Erotik sublimiert werden.
45
Vgl. unten im Text, S. 409.
Weber brachte auf diese Weise selbst noch die erotische Bewegung seiner Tage mit einer inneren Logik der Religionsgeschichte in Zusammenhang.
46
Vgl. Schwentker, Wolfgang, Leidenschaft als Lebensform. Erotik und Moral bei Max Weber und im Kreis um Otto Gross, in: Mommsen, Wolfgang J. und Schwentker, Wolfgang (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988, S. 661–681.

[53]Die Idee eines sinnvoll geordneten Kosmos

Um sein Studium fortschreitender Systematisierung von religiösem Gemeinschaftshandelns umzusetzen, stützte Weber sich auf Hermann Useners Studie „Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung“.
47
[53] Unten im Text, S. 126 benennt Weber „Useners ‚Augenblicksgötter‘“. Gemeint ist die Studie: Usener, Hermann, Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung. – Bonn: Friedrich Cohen 1896.
Usener lenkte – gegen den Strom einer Schleiermacher-Renaissance schwimmend, die dem direkten Erleben einen Vorrang vor dem indirekten Ausdruck einräumte – den Blick auf Götternamen als Mittel der Repräsentation des Heiligen: „Wir suchen eine geschichte der vorstellungen, welche die vorzeit von den dingen außer und in uns sich bildete“.
48
Usener, Götternamen, S. 330. Ähnliches bereits im Vorwort, ebd., S. V.
Dieser Zugang traf auf Webers Interesse, das ja den unterschiedlichen Konzeptionalisierungen außeralltäglicher Kräfte galt. Auch aus Webers Sicht verdankten die Götter sich einem Akt der Rationalisierung, nicht der Intuition. Jedes Gemeinschaftshandeln benötigt einen Spezialgott, wenn – wie Weber erläutert – „die Vergesellschaftung dauernd verbürgt sein soll“.
49
Unten im Text, S. 140.
Wo immer Verbände auf mehr beruhen als der willkürlichen Macht eines einzelnen Gewalthabers, haben sie Götter nötig, die die Rechtsordnung garantieren. Es ist dieser Sachverhalt, der zur Einrichtung eines regelmäßigen Kultusbetriebes führt.
50
Vgl. unten im Text, S. 158.
Der Priester steht im Dienst eines vergesellschafteten Verbandes. Dabei folgte Weber nicht den negativen Auffassungen von Priestertum, wie sie in seiner Zeit von protestantischen Theologen vertreten wurden.
51
Vgl. Lang, Bernhard, Prophet, Priester, Virtuose, in: Kippenberg. Hans G. und Riesebrodt, Martin (Hg.), Webers „Religionssystematik“. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), voraussichtliches Erscheinungsjahr 2001.
Wie für Julius Wellhausen, wäre auch für Weber die Prophetie ohne das Priestertum untergegangen.
Das Priestertum war, wie schon der Magier, mit dem Problem des Mißerfolges konfrontiert. Wie sollen die Priester den Mitgliedern des Verbandes, für den sie amtieren, Mißerfolge kultischen Handelns erklären? Laut Weber müßten sie entweder die selbständige Existenz böser Mächte postulieren oder aber Mißerfolge auf die Götter abschieben. Beides würde das Prestige der Götter wie der Priester beeinträchtigen. So blieb ihnen kaum etwas anderes übrig, als die Gläubigen selber für schuldig an ihrem Unglück zu erklären. Es ist diese Lösung des Dilemmas, die eine neue Entwicklung einleitet. Erst wenn Götter Hüter der Rechtsordnung und selber in ihrem Handeln an sie gebunden sind, kann sich das Handeln der Gläubigen an der Idee [54]„eines dauernd sinnvoll geordneten Kosmos“ orientieren. Frömmigkeit wird sublimiert zu „Lebensführung“.
52
[54] Vgl. unten im Text, S. 165 und 175.
Damit tritt die religiöse Ethik neben die Magie und neben den Kult, die ihrerseits durchaus weiterbestanden. Weber operierte nicht mit der suggestiven Idee einer geschlossenen Gemeinschaft oder einer Gesellschaft, die nur eine Religion kennen. Statt dessen lenkt er den Blick auf die Ausdifferenzierung von drei Typen von religiösem Gemeinschaftshandeln. Sie ist die Voraussetzung dafür, daß Stände, Schichten und Klassen jeweils andere praktische religiöse Orientierungen haben konnten.

Prophetie als Stufe in der Religionsgeschichte

Aus der Literatur, die Weber zur Geschichte der Religionen durcharbeitete, drängte sich ihm geradezu die Idee von Entwicklung und Stufen der Religionen auf.
53
Guenther Roth hat die ansprechende Idee geäußert, daß Webers Aufnahme von Entwicklungs- und Stufentheorien im Zusammenhang damit zu sehen ist, daß er sich „eng an die systematische Handbuch- und Lehrbuchtradition“ hielt. Roth, Guenther, Politische Herrschaft und persönliche Freiheit. Heidelberger Max Weber-Vorlesungen 1983. – Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 290 f.
Schon bevor Marett das ethnologische Entwicklungsmodell von Edward Burnett Tylor revidierte, hatte der holländische Religionswissenschaftler Cornelis Petrus Tiele (1830–1902) eine Klassifikation von Religionen vorgenommen, die nicht mehr an der Leine von Tylors Zivilisationsgeschichte lief, sondern internen religiösen Kriterien folgte und die große Verbreitung gefunden hatte.
54
Diese Beobachtung stammt aus einer der feinsten und klügsten Würdigungen Tieles, aus der Feder von Pierre Daniël Chantepie de la Saussaye, Portretten en Kritieken. – Haarlem: de Erven F. Bohn 1909, S. 82–120, Zitat: S. 115.
Tiele, Fachmann auf dem Gebiet der antiken vorderasiatischen Religionen, war einer der Begründer der wissenschaftlichen Religionsforschung.
55
Tiele war 1877 auf den neu errichteten Lehrstuhl für Religionsgeschichte an der Universität Leiden berufen worden.
In einem frühen holländischen Aufsatz aus dem Jahre 1874,
56
Tiele, Cornelis Petrus, Over de wetten der ontwikkeling van den godsdienst, in: Theologisch Tijdschrift, vol. 8, 1874, S. 225–262.
dessen Titel übersetzt „Über die Gesetze der Entwicklung der Religion“ lautet, hatte Tiele den typischen Verlauf der Religionsentwicklung beschrieben: „Man sieht die Religion sich dadurch entwickeln, daß sie ihre Anhängerschaft erweitert, ihr Gebiet ausbreitet, nacheinander die Ketten sprengt, die sie an Familie, Stamm, Volk, zum Schluß sogar an den Staat fesselten. Mit der mehr äußerlichen Entwicklung geht eine innere einher, [55]oder besser: sie ist nicht anderes als die Folge der inneren“.
57
[55] Ebd., S. 234 (deutsche Übersetzung von Hans G. Kippenberg). Die Weltreligionen sind aus den Religionsgemeinschaften von Volksreligionen hervorgegangen.
Für die Entwicklung von einer Stufe zur anderen – Familien-, Stamm-, Volks- und Weltreligion – gäbe es „Gesetze“. Eines dieser Gesetze formulierte Tiele 1886 wie folgt: „Je weiter die Geschichte fortschreitet, um so unabhängiger wird Religion von Sprache und Nationalität“.
58
Tiele, Cornelis Petrus, Religions, in: The Encyclopedia Britannica, vol. 20, 9th edition. – Edinburgh: Adam and Charles Black 1896, S. 358–371, S. 365 (Übersetzung aus dem Englischen; hinfort: Tiele, Religions).
In seinen Gifford Lectures 1896 und 1898,
59
Tiele, Cornelis Petrus, Elements of the Science of Religion, Part I: Morphological. Gifford Lectures 1896. – Edinburgh, London: William Blackwood & Sons 1897. Ders., dass., Part II: Ontological. Gifford Lectures 1898. – Edinburgh, London: William Blackwood & Sons 1899.
die in Deutschland unter dem Titel: „Einleitung in die Religionswissenschaft“ erschienen,
60
Tiele, Cornelis Petrus, Einleitung in die Religionswissenschaft. Gifford-Vorlesungen, gehalten an der Universität zu Edinburgh, hg. von Georg Gehrich, Band 1: Morphologie. – Gotha: Perthes 1899 (hinfort: Tiele, Morphologie). Ders., dass., Band 2: Ontologie. – Gotha: Perthes 1901 (hinfort: Tiele, Ontologie).
hat Tiele seine Theorie einer religiösen Entwicklung weiter konsolidiert. Das Schema von „Stufen“
61
Vgl. Tiele, Morphologie, S. 52–77 („Stufen der Entwicklung – Die niedrigsten Naturreligionen“).
und „Richtungen“
62
Vgl. ebd., S. 129–156 („Die Richtungen der Entwicklung“).
der „Entwicklung“
63
Vgl. ebd., S. 26–51 („Begriff der Entwicklung der Religion“).
beherrschte seine Rekonstruktion der Existenzformen (morphai) der Religionen. Die Naturreligionen hätten ihren Ursprung in der Deutung von Naturerscheinungen als beseelter mächtiger Wesen.
64
Vgl. ebd., S. 61 f.
Zauber und Magie dominierten die Verehrung.
65
Vgl. ebd., S. 70–72.
Eine weitere Gruppe von Religionen gehe auf Propheten zurück, die sich gegen die Magie gewandt und eine ethische Religion verkündet hätten. Die Ablösung der einen Religion durch die andere sei nicht bruchlos geschehen. „Wenn aber ethische Religionen die Stelle von Naturreligionen einnehmen, dann ist dies in der Regel die Folge einer Revolution, wenigstens einer beabsichtigten Reformation“.
66
Ebd., S. 56.
Diese „ethischen Religionen“, die zum Monotheismus tendierten, entwickelten sich dann entweder zu partikularistischen Nationalreligionen oder zu universalistischen Weltreligionen (Buddhismus, Christentum, Islam).
67
Vgl. Tiele, Religions (wie oben, Anm. 58), S. 369.
Vieles spricht dafür, daß Weber das Werk von Cornelis Petrus Tiele gekannt und benutzt hat. Gottfried Küenzlen kam am Ende seiner Untersuchung von Webers religionssoziologischen Quellen zu dem Schluß, es sei [56]„deutlich, daß Weber in zentralen, ebenso wie in eher nebensächlichen Sachverhalten aus dem Material der von Tiele begründeten Richtung der Religionswissenschaft geschöpft, in manchen ihrer Begriffe gedacht und geschrieben hat“.
68
[56] Küenzlen, Gottfried, Die Religionssoziologie Max Webers. Eine Darstellung ihrer Entwicklung (Sozialwissenschaftliche Abhandlungen der Görres-Gesellschaft, Band 6). – Berlin: Duncker & Humblot 1980, S. 73 (hinfort: Küenzlen, Religionssoziologie Max Webers). Zur sachlichen Beziehung zwischen Tiele und Weber vgl. auch Kippenberg, Hans G., One of the Mightiest Motors in the History of Mankind. C. P. Tiele’s Impact on the German „Religionswissenschaft“, in: Platvoet, Jan (Hg.), Modern Society and the Science of Religion. – Leiden: E. J. Brill 2001.
Zentrale Deutungselemente Max Webers entsprechen tatsächlich so sehr dem Modell von Tiele, daß vieles für diese These spricht. Zum Beispiel, daß „überall auf der Erde sehr ähnliche Stufen der Magie“ überwunden und die Religionen zu einer Metaphysik und religiösen Ethik fortentwickelt worden seien.
69
Vgl. unten im Text, S. 160.
Oder wenn Weber von einer „Stufe der ethischen Religiosität“ neben der magischen spricht.
70
Vgl. unten im Text, S. 404.
Ethische Prophetie könne magische und rituelle Normen durchbrechen und „tiefgreifende – akute oder allmähliche – Revolutionen […] der Alltagsordnung des Lebens und insbesondere der Wirtschaft nach sich ziehen“.
71
Unten im Text, S. 368.
Das Konzept von Entwicklung, terminologisch dominant in Webers Darstellung, könnte von Tiele stammen. Gleiches darf man von der Annahme, Religion habe eine eigengesetzliche Entwicklung durchlaufen, vermuten.
Die Vorstellung von der epochalen Bedeutung der Propheten, die in die Welt von Rausch und Opferkult eine Bresche schlugen und eine systematische Lebensführung propagierten, kam allerdings nicht nur bei Cornelis Petrus Tiele vor. Unabhängig von ihm vertraten deutsche Historiker die Auffassung – für die Karl Jaspers später die Bezeichnung „Achsenzeit“ prägte – daß die Prophetie nicht auf Israel beschränkt war, sondern auch andere Kulturen nachhaltig geprägt habe.
72
Vgl. Lang, Bernhard, Prophet, Priester, Virtuose, in: Kippenberg, Hans Gerhard und Riesebrodt, Martin (Hg.), Webers „Religionssystematik“. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), voraussichtliches Erscheinungsjahr 2001.
Schlägt man z. B. Wilhelm Boussets „Wesen der Religion“
73
Bousset, Wilhelm, Das Wesen der Religion, 3. Aufl. – Halle: Gebauer-Schwetschke 1906.
auf, trifft man auf die Auffassung, das „prophetische Zeitalter“ habe vom 8. bis zum 6. Jahrhundert vor Christus in Israel, in Griechenland, in Indien (Buddha), in Iran, in China (Konfuzius) zu gewaltigen Umbrüchen geführt. Damals seien in allen diesen Kulturen große Persönlichkeiten aufgetreten und hätten sich im Namen einer höheren Macht gegen die Verbindlichkeit der Tradition aufgelehnt. Sie hätten „eine einheit[57]liche, in sich abgeschlossene Überzeugung vom Inhalt und Wesen des Lebens“ verkündet. Verbunden mit dieser neuen „Religion als eines innerlich-einheitlichen Lebensganzen“ sei die Befreiung von äußerer Sitte und nationalem Kult gewesen.
74
[57] Vgl. ebd., S. 82–103 (Kapitel „Propheten und prophetische Religionen“).

Richtungen in der Religionsgeschichte: Transformation einer philologischen Entdeckung

Weber stellte sich mit noch einer anderen Deutung in eine Wissenschaftstradition, die entscheidend von Cornelis Petrus Tiele geprägt worden war: mit seiner Auffassung, die indische und chinesische Vorstellung einer übergöttlichen unpersönlichen rationalen Weltordnung sei fundamental verschieden von der vorderasiatischen Konzeption eines überweltlichen persönlichen Gottes.
75
Vgl. unten im Text, S. 190.
Man muß sich für diese Deutung in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts zurückbegeben. Als sich damals die Sonnenmythologie Friedrich Max Müllers allmählich, wie Richard Μ. Dorson den Sachverhalt ironisch beschrieb, „verfinsterte“,
76
Vgl. Dorson, Richard Μ., The Eclipse of Solar Mythology, in: Sebeok, Thomas Albert (Hg.), Myth. A Symposium. – Bloomington und London: Indiana University Press 1971, S. 25–63 (Nachdruck von 1955).
entging eine Entdeckung Müllers diesem Schicksal. Müller hatte mittels der vergleichenden Philologie die frühgeschichtlichen Religionen zu rekonstruieren begonnen und sie dazu entsprechend den Sprachfamilien in u. a. „arische“ und „semitische Religionen“ eingeteilt.
77
Vgl. Olender, Maurice, Die Sprachen des Paradieses. Religion, Philologie und Rassentheorie im 19. Jahrhundert. – Frankfurt a.M.: Campus 1995. (Die Seiten 113–126 beschäftigen sich mit Müller).
Durch Vergleiche zwischen den beiden Sprachfamilien wie auch ihrer einzelnen Glieder wollte er Einblicke in Ursprung und Art der Gotteskonzeptionen erhalten. Seine Befunde faszinierten die Menschen damals in ganz Europa über alle Maßen. In der Frühgeschichte der arischen Sprachen fand er etwas, was er für die wichtigste Entdeckung des 19. Jahrhunderts im Blick auf die Frühgeschichte der Menschheit hielt: nämlich die Gleichung: Zeus pater (griech.) = Jupiter (lat.) = Dyaus pitar (skt.) = Tyr (altnorwegisch).
78
Müller, Friedrich Max, The Lesson of „Jupiter“, in: The Nineteenth Century. A Monthly Review, vol. 18, 1885, S. 626–650, Zitat: S. 626.
Alle diese Namen würden auf eine gemeinsame ältere [58]Form dyau pitar zurückgehen, die wörtlich übersetzt heißt: „o Vater Himmel“. In den Hibbert Lectures über den Ursprung und die Entwicklung der indoeuropäischen Religion
79
Müller, Friedrich Max, Lectures on the Origin and Growth of Religion as illustrated by the Religions of India. Delivered in the Chapter House, Westminster Abbey, in April, May and June 1878. – London: Longmans, Green, Williams and Norgate 1878.
schrieb Müller dazu: „Diese Namen sind nicht bloß Namen, sie sind Zaubersprüche, welche die ältesten Väter des Arischen Geschlechts uns so nahe bringen, als sähen wir sie von Angesicht zu Angesicht, wie sie Tausende von Jahren vor Homer und vor den Dichtern des Veda ein unsichtbares Wesen mit ein und demselben Namen anriefen, einem Namen so geistig und erhaben, wie ihr damaliges Wörterbuch ihn nur liefern konnte, dem Namen für Himmel und für Licht“.
80
[58] Nur kurze Zeit später erschien die deutsche Übersetzung: Müller, [Friedrich] Max, Vorlesungen über den Ursprung und die Entwickelung der Religion. Mit besonderer Rücksicht auf die Religionen des Alten Indiens. – Straßburg: Karl J. Trübner 1880, Zitat: S. 154.
„In diesen Worten liegt das älteste menschliche Gebet, die älteste Poesie“.
81
Ebd., S. 156.
Friedrich Max Müller verglich diesen Befund mit der semitischen Religion. Was ergab er? Das hervorstechende Merkmal der arischen Religion sei, „um es mit einem Worte zu sagen, eine Verehrung Gottes in der Natur, eine Erkenntniss des Göttlichen, wie es hinter dem prächtigen Schleier der Natur waltet, nicht wie es sich, verhüllt im Schleier des Allerheiligsten, im menschlichen Herz offenbart“.
82
Müller, Friedrich Max, Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft. – Straßburg: Karl J. Trübner 1874, S. 142. (Deutsche Übersetzung von: Ders., Introduction to the Science of Religion. Four Lectures delivered at the Royal Institution with two Essays on false Analogies and the Philosophy of Mythology. – London: Longmans, Green, and Co. 1873).
„Eine Verehrung Gottes in der Geschichte“ möchte er dagegen das hervorstechende Merkmal aller semitischen Religionen nennen. „Sie glaubten alle an einen Gott, der das Schicksal der Einzelnen, der Stämme und Völker in seinen Händen hielt, und kümmerten sich viel weniger um Gott, als den Beherrscher der Natur“.
83
Ebd., S. 140 f.
Soweit die Entdeckung Friedrich Max Müllers, die wie jede echte Entdeckung auch die Züge einer Erfindung trug.
Cornelis Petrus Tiele setzte sich mit dem Werk von Müller in seinem Artikel „Religions“ in der Encyclopedia Britannica auseinander
84
Vgl. Tiele, Religions (wie oben, S. 55, Anm. 58).
– in der selben Enzyklopädie, in der ein scharfer Verriß der Mythentheorien Friedrich Max Müllers aus der Feder von Andrew Lang erschienen war.
85
Vgl. Lang, Andrew, Mythology, in: The Encyclopedia Britannica, vol. 17, 9th edition. – Edinburgh: Adam and Charles Black 1884, S. 135–158.
Was Tiele unter dem Lemma „Religions“ schrieb, führte zu einer anderen Beurteilung. Nach eingehender Prüfung hielt Tiele die Auffassung Müllers für richtig, daß Arier und Semiten unterschiedliche Basiskonzeptionen (in seinen Worten „reli[59]gious root-ideas or principles“) für das Verhältnis der Götter zur Welt ausgebildet hätten, von Tiele als „theanthropisch“ bzw. „theokratisch“ bezeichnet. Im Fall der Arier offenbare sich das Göttliche in Natur und Mensch, im Fall der Semiten stehe die Gottheit Natur und Mensch als absoluter Herrscher gegenüber. Jedoch sah Tiele darin keine zwei voneinander unabhängige Ursprünge von Religionen. Es waren für ihn zwei unterschiedliche Entwicklungsrichtungen, die sich überdies nicht ausschlossen, sondern ergänzten. In den Gifford Lectures hat Tiele später seine Neuinterpretation dargelegt.
86
[59] Tiele, Morphologie (wie oben, S. 55, Anm. 60), S. 129–156 („Die Richtungen der Entwicklung“).
Die vergleichende Sprachwissenschaft habe zwar gezeigt, daß den beiden Sprachfamilien auch zwei eng verwandte Religionsgruppen entsprochen hätten, jedoch sei es falsch, dies einfach auf die Religionswissenschaft zu übertragen. Man finde in jeder Religion beide Richtungen.
87
Vgl. ebd., S. 132.
Alle Religionen seien notwendigerweise sowohl theanthropisch als auch theokratisch.
88
Vgl. ebd., S. 134.
Auf diesem Wege löste Tiele die beiden Richtungen aus ihren Fundierungen in Sprache. An deren Stelle setzte er ein genuines religiöses Erleben: „Aus zwei unentbehrlichen Elementen setzt sich der religiöse Gedanke zusammen, die wir kurzweg nennen können: das Unendliche in uns und über uns, oder in der Sprache der Religion: Gottes Souveränität und des Menschen Verwandtschaft mit Gott. Nun wird, wir wie sahen, auch bei einseitiger Pflege des einen Prinzips das andere niemals völlig vernachlässigt“.
89
Ebd., S. 154.
Aus dieser Passage wird deutlich, daß für Cornelis Petrus Tiele das wissenschaftliche Studium der Religionsgeschichte der Auftakt zur Erkenntnis der wahren Natur der Religion (im Singular) sein sollte.
90
Es ist erwähnenswert, wie Tiele die drei Weltreligionen zu einem einzigen theologischen System vereinte. „If religion really is the synthesis of dependence and liberty, we might say that Islam represents the former, Buddhism the latter element only, while Christianity does full justice to both of them. Christianity, the pure and unalloyed at least, has fused dependence and liberty, the divine and the human, religion and ethics into an indivisible unity“ (Tiele, Religions (wie oben, S. 55, Anm. 58), S. 369).
So begreift man auch, warum seine Darstellung von der historischen „Außenseite“ zur theologischen „Innenseite“ ging, von der Morphologie zur Ontologie.
91
Gut beschrieben von Molendijk, Arie Leendert, Tiele on Religion, in: Numen, Band 46, 1999, S. 237–268, bes. S. 246 f.
Die Suche nach der wahren Religion führte ihn zum Christentum, denn im „Christentum erreicht dieses Zusammenfließen der beiden großen Entwicklungsströme seine Vollendung“.
92
Tiele, Ontologie (wie oben, S. 55, Anm. 60), S. 179.
Ein Vergleich mit Buddhismus und Islam dient der Untermauerung, daß allein das Christentum die beiden Gegensätze vereint und daher [60]die vielseitigste aller Religionen ist.
93
[60] Vgl. ebd., S. 180.
Hinter den grundverschiedenen praktischen Weltverhältnissen taucht eine universale Instanz religiösen Erlebens auf.
Weber hat die von Cornelis Petrus Tiele revidierte Version der zwei grundsätzlich verschiedenen Gotteskonzeptionen (hier ein persönlicher, fordernder Schöpfergott, dort ein unpersönliches, nur kontemplativ zugängliches Wesen) aufgenommen und umgebildet: „Es ist nun der historisch entscheidende Unterschied der vorwiegend morgenländischen und asiatischen, gegenüber den vorwiegend okzidentalen Arten der Erlösungsreligiosität, daß die ersteren wesentlich in Kontemplation, die letzteren in Askese ausmünden“.
94
Unten im Text, S. 332.
Die Differenz zwischen diesen beiden Weltverhältnissen habe über die Geschichte ganzer Kulturen entschieden und bis heute verschiedene Pfade der Entwicklung vorgezeichnet. In Indien würde selbst eine rein asketische Heilsmethodik in eine kontemplative Mystik umschlagen, im Okzident mystische Religiosität ebenso regelhaft in Aktivismus.
95
Vgl. unten im Text, S. 333.
Die Gründe für die Vormacht der beiden Konzeptionen lägen in einer Reihe von äußeren Umständen, die Weber im einzelnen nennt: daß asiatische Religionen Intellektuellenreligionen waren; daß im Abendland die Gottesbeziehung verrechtlicht wurde; daß die Römer Ekstase und Tanz ablehnten; daß die Kirche bürokratisch organisiert war. Allerdings meinte Weber, Anzeichen dafür zu sehen, daß die kontemplative Option auch im Abendland an Macht gewinnt.

Webers Umbau von C. P. Tieles Konzept der „Weltreligionen“

Cornelis Petrus Tiele rechnete mit „universalen Weltreligionen“ als einer eigenen Stufe oberhalb der ethischen Religionen. Tiele hatte dieses Konzept selber schon vorgefunden und seinem Entwicklungsgesetz entsprechend neu bestimmt. „The term ,world religions‘ might still be retained for practical use, to distinguish the three religions [Buddhismus, Christentum, Islam] which have found their way to different races and peoples and all of which profess the intention to conquer the world, from such communities as are generally limited to a single race or nation, and, where they have extended farther, have done so only in the train of, and in connexion with, a superior civilization“.
1
Tiele, Religions (wie oben, S. 55, Anm. 58), S. 368 f.
Dieses Szenario einer Universalisierung von Religionen ergab sich aus Tieles sog. „Entwicklungsgesetz“. Im Laufe ihrer Geschichte ten[61]dierten Religionen dazu, sich von allen sprachlichen, ethnischen, sozialen Fesseln zu lösen. Dabei hatte Tiele in puncto Islam allerdings Zweifel. Wenigstens heißt es in den Gifford Lectures über den Islam, er sei „viel partikularistischer als der Buddhismus oder das Christentum“.
2
[61] Tiele, Ontologie (wie oben, S. 55, Anm. 60), S. 109.
Tieles Entwicklungsgesetz faßte die Universalisierung von Religionen als vollständige Entbettung aus allen sprachlichen, sozialen und kulturellen Ordnungen auf. Da er darin ein Kriterium für Rangordnungen zwischen den Religionen sah, ist der Vorwurf einer kolonialen Perspektive nicht unangebracht.
3
„Blunt imperialistic language“, kommentierte Smith, Religion (wie oben, S. 35, Anm. 54), S. 279.
Eine ähnliche, aber anders begründete Auffassung zum Islam vertrat Max Weber. Der Islam habe in seiner Frühzeit die Glaubensfremden nur unterwerfen, nicht aber bekehren wollen, weshalb er auf einen Universalismus bewußt verzichtet habe.
4
Vgl. unten im Text, S. 390 f. und S. 398.
Dabei fußte Weber allerdings nicht auf Cornelis Petrus Tiele, sondern auf Ignaz Goldzihers Rekonstruktion der islamischen Geschichte, wonach anfängliche Ansätze zur Weltablehnung von den kriegerischen Schichten, die ihn trugen, abgeschnürt worden seien.
Mitten in Max Webers Erörterung von „Stände, Klassen und Religion“
5
Unten im Text, Abschnitt 7, S. 218–290.
findet sich eine rigide Zuordnung von „Weltreligionen“ zu sozialen Schichten bzw. Klassen. Sie paßt nun überhaupt nicht mehr zu Tieles Entwicklungsgesetz. „Will man die Schichten, welche Träger und Propagatoren der sog. Weltreligionen waren, schlagwörtlich zusammenfassen, so sind dies für den Konfuzianismus der weltordnende Bürokrat, für den Hinduismus der weltordnende Magier, für den Buddhismus der weltdurchwandernde Bettelmönch, für den Islam der weltunterwerfende Krieger, für das Judentum der wandernde Händler, für das Christentum aber der wandernde Handwerksbursche, sie alle nicht als Exponenten ihres Berufes oder materieller ‚Klasseninteressen‘, sondern als ideologische Träger einer solchen Ethik oder Erlösungslehre, die sich besonders leicht mit ihrer sozialen Lage vermählte“.
6
Unten im Text, S. 282 f.
Es ist nicht zu übersehen, daß Weber die Bezeichnung „Weltreligionen“ aufgreift, aber sich sofort von ihr wieder distanziert. Wenn man bedenkt, daß für Tiele genuine Weltreligionen sich gerade von jeder Fessel gelöst haben, dann mußte Webers Auffassung, daß die Leistungen der Weltreligionen schichtbezogen waren, sie als Weltreligionen in Tieles Sinne disqualifizieren. Denn eine derartige Zurechnung von Ideen zu Interessen isoliert die Idee kognitiv und ihren Gültigkeitsanspruch sozial,
7
Im Anschluß an Lepsius, Μ. Rainer, Interessen, Ideen und Institutionen. – Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, S. 35 f.
Restriktio[62]nen, die aus Tieles Sicht mit Weltreligionen gerade unvereinbar waren. In seiner Einleitung zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ hat Weber die Bezeichnung „Weltreligionen“ ebenfalls benutzt, sie aber auch dort ihrer Implikationen beraubt und „wertfrei“ als „Systeme der Lebensreglementierung verstanden, welche besonders große Mengen von Bekennern um sich zu scharen gewußt haben: die konfuzianische, hinduistische, buddhistische, christliche, islamitische religiöse Ethik“.
8
[62] MWG I/19, S. 83.
Dazu kommt das Judentum.
9
MWG I/19, S. 84.
Religion ist für Weber ein konstitutives Prinzip von Handlungen, getragen von spezifischen sozialen Schichten. Sie ist sicher nicht ein ästhetisches Erleben des Unendlichen im Endlichen, das sich in seiner Entwicklung immer reiner herausbildet, wie dies bei Tiele der Fall ist. Es ist gerade die Bindung von Religion an soziale Schichten, die deren Leistung begründet, damit zugleich aber in ihrem Geltungsbereich beschränkt. Religiöses Gemeinschaftshandeln – so Weber – ist ein Verhalten zu Objekten, das durch Sinn spezifiziert wird. Das aber heißt, daß jede normierte Lebensführung analytisch in zwei Komponenten zerfällt: in praktische ökonomische Zwänge und in Sinndeutung. Es waren die praktischen Zwänge der verschiedenen sozialen Klassen (Bauern, Krieger, Beamte, bürgerliche Schichten, Sklaven, Proletarier) sowie ihrer sozialen Lagen (negativ oder positiv privilegiert), die Gegenstand religiöser Legitimation waren.
10
Vgl. unten im Text, S. 253 f.
Dies war es, was „Religionen den verschiedenen sozialen Schichten ‚leisten‘ mußten“.
11
Unten im Text, S. 253.
Eine besondere Stellung hatten bürgerliche Schichten, die Handwerk und Gewerbe betrieben und die kraft ihrer beruflichen Spezialisierung rational handeln mußten. Für sie bestand ein größerer Spielraum bei der Wahl von Religion als bei anderen. „Die Determiniertheit der Religiosität durch diese allgemeinen Bedingungen der Handwerker- und Kleinbürgerexistenz ist in keiner Weise eine eindeutige“.
12
Unten im Text, S. 243.
Diese Offenheit wurde dadurch noch verstärkt, daß diese Schichten weder wie die positiv Privilegierten von der Religion eine Legitimierung ihres Glücks noch wie die negativ Privilegierten eine zukünftige Vergeltung erwarteten.
13
Vgl. unten im Text, S. 253 f.
Nur in der okzidentalen Stadt gelang es dieser Schicht jedoch, den Schritt zu einer rationalen Gemeindereligiosität zu tun. Weber ist an diesem Punkt viel gelegen. Dies zeigt seine Auseinandersetzung mit Nietzsches Ressentimentthese und Freuds Verdrängungsschema. Weber muß darauf bestehen, daß es neben dem Wunsch nach Erlösung aus äußerer Not noch eine ganz andere Quelle des Erlösungsbedürfnisses gibt: „den Intellektualismus rein als solchen, spezi[63]ell die metaphysischen Bedürfnisse des Geistes, welcher über ethische und religiöse Fragen zu grübeln nicht durch materielle Not gedrängt wird, sondern durch die eigene innere Nötigung, die Welt als einen sinnvollen Kosmos erfassen und zu ihr Stellung nehmen zu können“.
14
[63] Unten im Text, S. 265.

Intellektuellenreligiosität

Nichts geringeres als das „Schicksal der Religionen“
15
Unten im Text, S. 266.
hing von den Wegen ab, die der Intellektualismus einschlug. Webers Ausgangspunkt, wonach es keine Evidenz von Religion geben kann, führte ihn nicht nur zur Theodizee als kodifizierter Erkenntnis, daß in dieser Welt Sinnerwartungen zerbrechen, sondern auch zur Figur des Intellektuellen. Weber griff eine damals junge Bezeichnung auf.
16
Vgl. Bering, Dietz, Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes. – Frankfurt a.M., Berlin und Wien: Ullstein 1982.
Das Wort „intellectuels“ war in Frankreich in Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre aufgekommen und von Beginn an ambivalent. In den Augen ihrer Gegner waren die Befürworter einer Neueröffnung des Verfahrens gegen den zu Unrecht verurteilten jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus, die ihre Forderung am 14. Januar 1898 in einem Manifest der Intellektuellen („protestation des intellectuels“) vorgetragen hatten, „abstrakt, antinational, jüdisch, dekadent und inkompetent“. Die so Bezeichneten machten sich jedoch das Wort zu eigen und erhoben als Intellektuelle die Forderung, nur der Vernunft verpflichtet, sich politisch einzumischen und für das republikanisch-demokratische Ideal des Rechtsstaates eintreten zu dürfen. Sie sahen in dem Schimpfwort ein Identifikationsangebot. „Ideologische Polysemie“ nennt Dietz Bering den Sachverhalt.
17
Ebd., S. 32–67. Eine ähnliche Ambivalenz zeichnete übrigens auch das ein wenig ältere polnische und russische „Intelligentsia“ aus.
Über Zeitungsberichte gelangte die Bezeichnung bald nach Deutschland. Daß dabei die Polysemie ganz verloren gegangen und Intellektueller zum reinen Schimpfwort geworden sei, wie Bering meint,
18
Vgl. ebd., S. 68–93.
ist allerdings unzutreffend.
19
Vgl. Hübinger, Gangolf, Die Intellektuellen im wilhelminischen Deutschland, in: Hübinger, Gangolf und Mommsen, Wolfgang J. (Hg.), Intellektuelle im deutschen Kaiserreich. – Frankfurt a.M.: Fischer 1993, S. 198–210, S. 200.
Max Weber jedenfalls schloß sich der negativen Bewertung des „Intellektuellen“ nicht an. In gewissem Sinne war er selber „ein politischer Intellektueller im Deutschen Kaiserreich“.
20
Vgl. Mommsen, Wolfgang J., Max Weber. Ein politischer Intellektueller im Deutschen Kaiserreich, in: Hübinger, Gangolf und Mommsen, Wolfgang J. (Hg.), Intellektuelle im deutschen Kaiserreich. – Frankfurt a.M.: Fischer 1993, S. 33–61.
Heidelberg war eine Stadt, in der Intellek[64]tuelle, die anderswo verfolgt wurden, leben konnten, wie Paul Honigsheim berichtete – ein wenig idealisierend allerdings, denn auch hier standen ihnen studentische Korporationen und Bürger nur zu oft ablehnend gegenüber.
21
[64] Honigsheim, Erinnerungen an Max Weber (wie oben, S. 23, Anm. 92), S. 161.
Manche von diesen Intellektuellen zog es Sonntagnachmittags ins Haus Webers, um zu diskutieren. Zu den regelmäßigen oder unregelmäßigen Teilnehmern dieses Kreises gehörten Georg Lukács und Ernst Bloch.
22
Vgl. dazu Karádi, Éva, Ernst Bloch und Georg Lukács im Max Weber-Kreis, in: Mommsen, Wolfgang J. und Schwentker, Wolfgang (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988, S. 682–702.
Es war ein Widerhall der Diskussionen in diesem Kreis, daß Weber zwischen dem Intellektualismus und den Religionen eine Verbindung herstellte. Brücke war das Sinn-Problem. Paul Honigsheim wußte sich zu erinnern, Tolstoi und Dostojewskij seien bei den Gesprächen im Weberhaus „man möchte fast sagen, leibhaftig präsent“ gewesen.
23
Honigsheim, Erinnerungen an Max Weber, S. 240.
Hartmann Tyrell hat überzeugend nachgewiesen, daß die Verknüpfung der Theodizee-Thematik mit der Sinn-Frage aus diesen Quellen stammt.
24
Vgl. Tyrell, Hartmann, Intellektuellenreligiosität, „Sinn“-Semantik, Brüderlichkeitsethik – Max Weber im Verhältnis zu Tolstoi und Dostojewski, in: Sterbling, Anton und Zipprian, Heinz (Hg.), Max Weber und Osteuropa. – Hamburg: Kramer 1997, S. 25–58.
Schon zuvor hatte Edith Hanke die Bedeutung von Tolstoi für die deutsche Kulturdiskussion zur damaligen Zeit aufgearbeitet.
25
Vgl. Hanke, Edith, Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoi als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Band 38). – Tübingen: Niemeyer 1993. Dazu auch: Dies., Das „spezifisch intellektualistische Erlösungsbedürfnis“. Oder: Warum Intellektuelle Tolstoi lasen, in: Hübinger, Gangolf und Mommsen, Wolfgang J. (Hg.), Intellektuelle im deutschen Kaiserreich. – Frankfurt a.M.: Fischer 1993, S. 158–171. Dies., Erlösungsreligion, „Sinn“-Frage und Theodizee, in: Kippenberg, Hans G. und Riesebrodt, Martin (Hg.), Webers „Religionssystematik“. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), voraussichtliches Erscheinungsjahr 2001.
Typisch hierfür ist etwa dieses Detail: Als Max Weber in seiner Rede „Wissenschaft als Beruf“ darauf zu sprechen kam, daß Wissenschaft keine Sinnfragen zu lösen imstande sei, läßt er Tolstoi in aller Namen die Frage stellen: „Was sollen wir denn tun?“.
26
MWG I/17, S. 95 und S. 103.
Bei aller Sympathie hat Weber den Intellektuellen seiner Zeit jedoch keine echte religiöse Erneuerung zugetraut.
27
Vgl. unten im Text, S. 289 f. Siehe hierzu auch: Ulbricht, Justus H., Wider das „Katzenjammergefühl der Entwurzelung“. Intellektuellen-Religion im Eugen Diederichs Verlag, in: Buchhandelsgeschichte 1996/Teilband B Bbl. Nr. 76 (Aufsätze, Rezensionen und Berichte zur Geschichte des Buchwesens, hg. von der Historischen Kommission des Börsenvereins), S. 111–120.
Das heißt aber nicht, daß er sie für ohne jeden Einfluß hielt. Weil der Einzelne unweigerlich mit dem „Sinn“-Defi[65]zit der Welt konfrontiert wird, bleibt er mit seinen sozialen Handlungen auf eine der Lösungen dieses Sinn-Problems angewiesen, ob ihm dies nun bewußt ist oder nicht. Nur sie vermag in einer irrationalen Welt die Objektivität subjektiven Sinns zu garantieren. Das heißt aber auch, daß für Weber diese Lösungen ihren Ort im handelnden und reflektierenden Subjekt hatten: „Je mehr der Intellektualismus den Glauben an die Magie zurückdrängt, und so die Vorgänge der Welt ‚entzaubert‘ werden, ihren magischen Sinngehalt verlieren, nur noch ‚sind‘ und ,geschehen‘, aber nichts mehr ‚bedeuten‘, desto dringlicher erwächst die Forderung an die Welt und ‚Lebensführung‘ je als Ganzes, daß sie bedeutungshaft und ‚sinnvoll‘ geordnet seien“.
28
[65] Unten im Text, S. 273.
Was die Intellektuellen der Gegenwart betrifft, so diagnostizierte Weber unterschiedliche Haltungen zur Religion in England, Frankreich, Deutschland und Rußland, wobei er angelsächsischen Deismus, romanische Kirchenfeindschaft, deutsche unpolitische Metaphysik und russische revolutionäre Gesinnung nennt. Dieselbe Schicht konnte vollkommen entgegengesetzte Haltungen zur Religion entwickeln, wie ein Vergleich des Pariaintellektualismus zeigt, der in Deutschland eine antireligiöse Wendung nahm, dagegen in den angelsächsischen Gebieten einen sektiererischen Charakter hatte.
29
Vgl. unten im Text, S. 273–290.
Weber konnte einer Bestandsaufnahme zeitgenössischer intellektualistischer Tendenzen diese religionsgeschichtliche Einordnung folgen lassen: „Alle diese dem apolitischen Intellektualismus gleich zugänglichen Tendenzen nun können auch als religiöse Erlösungslehren auftreten und haben dies gelegentlich auch getan. Der spezifisch weltflüchtige Charakter der Intellektuellenreligiosität hat auch hier eine seiner Wurzeln“.
30
Unten im Text, S. 273 f.
Es ist überaus charakteristisch für Weber, daß die großen religionshistorischen Richtungen auch noch die gegenwärtigen Optionen subjektiver Lebensführung beherrschen.
31
Vgl. Schluchter, Religion und Lebensführung II, S. 78 f.

[66]Hermann Siebecks Konzept der „Erlösungsreligionen“

Der Begriff der „Erlösung“ scheint so allgemein und vage, daß man von ihm keine spezifische Konstruktionsleitung von Religionsgeschichte erwartet. Doch täuscht der Eindruck. Um sich davon zu überzeugen, muß man einen Blick in Hermann Siebecks „Lehrbuch der Religionsphilosophie“
32
[66] Siebeck, Hermann, Lehrbuch der Religionsphilosophie (Sammlung theologischer Lehrbücher). – Freiburg i. Br. und Leipzig: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1893 (hinfort: Siebeck, Lehrbuch der Religionsphilosophie). Gottfried Küenzlen hat in seiner bei Friedrich H. Tenbruck entstandenen Dissertation ganz richtig auf die inhaltliche Verwandtschaft von Hermann Siebecks Konzeption von Religion mit der von Weber hingewiesen. Unzutreffend ist jedoch Küenzlens Aussage, Siebeck gehöre zu der von Tiele begründeten Richtung der Religionswissenschaft. (Küenzlen, Religionssoziologie Max Webers (wie oben, S. 56, Anm. 68), S. 65–76).
aus dem Jahre 1893 werfen, das Weber wahrscheinlich für seine Analyse ausgewertet hat. Anders als der Titel erwarten läßt, liest sich das Lehrbuch wie eine systematische Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft.
Wie Cornelis Petrus Tiele teilte auch Hermann Siebeck (1842–1921) Religionen nach dem Schema der drei Stufen ein. Allerdings beschrieb er ihren „genetisch-kausalen Zusammenhang“ anders. Er sah in ihnen eine Entfaltung von Inhalten des religiösen Bewußtseins: der Überzeugung vom Dasein Gottes und der Tatsächlichkeit des äußeren Übels bzw. des inneren Bösen.
33
Vgl. Siebeck, Lehrbuch der Religionsphilosophie, S. 45.
Dementsprechend sahen Siebecks Typen von Religionen anders aus als Tieles. „Naturreligionen“ rechneten mit Göttern als Rettern von äußerem Übel. Einen Begriff von „Welt“ besaßen sie noch nicht.
34
Vgl. ebd., S. 48 f.
„Moralitätsreligionen“ vertrauten auf Götter als Garanten der natürlichen und der moralischen Ordnung. Ihnen sei das „Bedürfniss, die Welt als Kosmos zu begreifen“,
35
Ebd., S. 189.
eigen. Hermann Siebeck hielt sie jedoch für Übergangsgebilde,
36
Vgl. ebd., S. 71.
die notwendigerweise prophetischen „Erlösungsreligionen“ weichen müßten, die die Welt wegen der Macht des Bösen in ihr verneinten. Die Vorstellung Gottes diente auf dieser Stufe der Verneinung der Welt.
37
Vgl. ebd., S. 49.
Jetzt erst würde sich der Einzelne von der sozialen Gemeinschaft lösen und der Welt als individuelle eigenständige Person gegenübertreten können.
38
Vgl. ebd., S. 102 f.
Weber hat sich diese Konstruktion in wesentlichen Zügen zu eigen gemacht. Manchmal stimmt er bis in haarfeine Konzeptionen hinein mit ihr überein. So, wenn es bei ihm heißt, daß erst mit dem Priestertum die Idee „eines [67]dauernd sinnvoll geordneten Kosmos“
39
[67] Unten im Text, S. 165.
gekommen sei, oder daß für Propheten ein Zusammenstoß der Forderung nach einer systematischen Lebensführung mit den Realitäten der Welt essentiell war.
40
Vgl. unten im Text, S. 193.
Wirklich deutlich aber wird diese Gemeinsamkeit erst, wenn man noch einmal auf Cornelis Petrus Tiele schaut.
Siebecks Konstruktion von Religionsgeschichte ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Besonders erwähnenswert sind in unserem Zusammenhang kritische Einwände Tieles, die angesichts der Behauptung Gottfried Küenzlens, Weber habe in zentralen wie nebensächlichen Sachverhalten aus Tiele und der von ihm begründeten Richtung der Religionswissenschaft geschöpft, nicht nur überraschen müssen, sondern auch vor Fehlinterpretation Webers bewahren können.
41
Vgl. Küenzlen, Religionssoziologie Max Webers (wie oben, S. 56, Anm. 68), S. 73 f.
Cornelis Petrus Tiete hat sich in seinen Gifford Lectures kritisch bis ablehnend mit Hermann Siebecks Auffassung auseinander gesetzt. Zwar stimmten die ersten beiden Kategorien Siebecks mit seiner eigenen Einteilung überein, da er ebenfalls Naturreligionen von ethischen Religionen unterscheide. Jedoch müsse er Erlösungsreligion als eine distinkte Klasse von Religionen ablehnen. Fasse man Erlösung allgemein als Befreiung von Übel auf, träfe sie auf alle Religionen zu und sei als Klasse zu groß. Im strengen Sinne weltablehnende Religionen aber seien nur Buddhismus und das paulinische Christentum, was die Klasse zu klein werden lasse.
42
Vgl. Tiele, Morphologie (wie oben, S. 55, Anm. 60), S. 58 f.
In seiner Auseinandersetzung mit Siebeck machte Tiete überdies eine Bemerkung, die erkennen läßt, daß er die deutschen religionsphilosophischen Voraussetzungen gekannt und durchschaut hat: „Übrigens hängt seine [Siebecks] ganze Klassifikation aufs engste mit seiner Auffassung der Religion als Weltverneinung zusammen, welche nur auf eine Art von Religionen anwendbar ist, und der ich im allgemeinen nicht beizupflichten vermag“.
43
Ebd., S. 56, wiederholt auf S. 238.
Max Weber hat das kritische Urteil Tieles über Hermann Siebeck nicht geteilt. Es ist unschwer zu erklären, warum Siebecks Ansatz für Webers Fragestellung leistungsfähiger war als der Tieles. Tieles Entwicklungsgesetz siedelte die Weltreligionen als selbständige Größen jenseits der Handlungsebene in einer amorphen religiösen Erfahrung an. Es bot keinen Ansatzpunkt, Religion als Faktor zu erkennen, der praktische Alltagsbeziehungen durch Sinngebung reguliert und unterschiedliche Prinzipien subjektiver Lebensführung konstituiert. Wahlverwandtschaften oder Adäquanzbeziehungen zwischen Religionen und nicht-religiösen Handlungsabläufen lagen au[68]ßerhalb seiner Reichweite. Siebecks Konzeption eröffnete da ganz andere Möglichkeiten. Vor allem: für Siebeck generierten historische Religionen subjektive Religiosität. Hermann Siebeck gehörte zu jenen, die Immanuel Kants Auffassung von den historischen Religionen als nur äußeren „Vehikeln“ der reinen Religion
44
[68] Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten (Original von 1797) und ders., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Original von 1793). Theorie-Werkausgabe, Band 8. – Frankfurt a. Μ.: Suhrkamp 1968, S. 785.
ablehnten. Siebeck sah zwischen dem Subjektiven der Religion (religiöse Gedanken, Gefühle, Stimmungen und Ahnungen) und dem Objektiven (überlieferte Lehren, Dogmen, Gebote und Verbote, Verheißungen und Handlungen) eine Wechselbeziehung. Wie die objektive Seite ihren Wert nur durch „stetige Bezugnahme auf den Geist oder das Subjektive“ erhalte, so könne sich der subjektive Bewußtseinsinhalt nur durch Objektivation behaupten.
45
Siebeck, Lehrbuch der Religionsphilosophie (wie oben, S. 66, Anm. 32), S. 264.
Durch die historischen Erlösungsreligionen würden zwei unterschiedliche subjektive Prinzipien begründet, die verschiedene kulturelle Wirklichkeiten konstituieren. Diese Aufwertung von Kants äußeren „Vehikeln“ der reinen Religion zu entgegengesetzten Verwirklichungen des religiösen Geistes ging letztlich auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel zurück.

Konstruktionen von Religionstypen in „Religion in Geschichte und Gegenwart“ (RGG1)

Mit Cornelis Petrus Tiele und Hermann Siebeck, mit „Weltreligionen“ und „Erlösungsreligionen“, trafen zwei Konzeptionen religiöser Eigengesetzlichkeit aufeinander, für die es beide in der Erstauflage von der „Religion in Geschichte und Gegenwart“
46
Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch in gemeinverständlicher Darstellung, in fünf Bänden. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1909–1913. Band 1 (1909) wurde von Friedrich Michael Schiele herausgegeben, Band 2 (1910), Band 3 (1912), Band 4 (1913) sowie Band 5 (1913) von Schiele und Leopold Zscharnack. Beide waren Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule.
Beispiele gibt. Theophil Steinmann, Autor des Artikels „Stufenfolge der Religionen“, folgte im wesentlichen Tiele. Steinmann zufolge „türmen“ sich über den Naturreligionen und den auf sie folgenden Kultur- oder Moralitätsreligionen die „Weltreligionen“. „Deren äußerlich in die Augen springendes Merkmal ist die Lösung von einem bestimmten Volkstum und seinen besonderen Kulturverhältnissen“. Beim Übergang zur dritten Stufe vollziehe sich „eine Unterordnung des Volkstums unter die menschheitliche Kulturleistung. […] Diese Verselbständigung der [69]Religion geht meist Hand in Hand mit der entsprechenden Verselbständigung der Sittlichkeit.“
47
[69] Steinmann, Theophil, Stufenfolge der Religionen, in: RGG1, Band 5, 1913, Sp. 973-978, Zitate: Sp. 977.
Cajus Fabricius, der Verfasser des sehr umfangreichen Artikels „Typen der Religion“, entfaltete die Grundformen anders, mehr im Sinne von Hermann Siebeck. Ausgehend von dem Material der Religionsgeschichte beschränkt sich Fabricius streng erfahrungswissenschaftlich auf die „Beziehungen zwischen Frömmigkeit und Weltleben“. Dabei identifiziert er drei Grundtypen, in der der Fromme sich zur Welt stellt: weltförmig, weltflüchtig, weltüberwindend. Sittlichkeit gehöre ganz dem ersten Typus an, Askese und Mystik hingegen dem zweiten. Sie sind von Buddhismus und Christentum hervorgebracht worden. Nur dem Christentum aber sei es gelungen, ein aktives Verhältnis zur abgelehnten Welt zu begründen und damit die Welt zu überwinden.
48
Fabricius, Cajus, Typen der Religion, in: RGG1, Band 5, 1913, Sp, 1401–1419.
Ernst Troeltsch hat in seinem Artikel „Erlösung: II. Dogmatik“ in der RGG1
49
Troeltsch, Ernst, Erlösung: II, Dogmatisch, in: RGG1, Band 2, 1910, Sp. 481–488 (hinfort: Troeltsch, Erlösung).
in geraffter Form skizziert, wie es über das Konzept der „Erlösung“ möglich ist, durch einen Religionsvergleich normatives Wissen zu erzeugen. Troeltsch, der Systematiker unter den Religionsgeschichtlern,
50
Vgl. Graf, Friedrich Wilhelm, Der „Systematiker“ der „Kleinen Göttinger Fakultät“. Ernst Troeltschs Promotionsthesen und ihr Göttinger Kontext, in: Renz, Horst und Graf, Friedrich Wilhelm (Hg.), Untersuchungen zur Biographie und Werkgeschichte (Troeltsch-Studien, Band 1). – Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1982, S. 235–290.
hatte sich wie kaum ein anderer den Problemen gestellt, die sich aus der historischen Betrachtungsweise des Christentums ergaben. Wenn das Christentum wie alle anderen Religionen eine durch und durch historische Erscheinung sei, könne es für normatives Wissen gar keine andere Quelle mehr geben als die Religionsgeschichte selbst.
51
Vgl. Troeltsch, Ernst, Christenthum und Religionsgeschichte. – Berlin: Georg Reimer 1897, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1913, S. 328–363.
Die Geschichte, so hatte er in seinem bekannten Vortrag über „Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte“
52
Gehalten auf der Versammlung der Freunde der Christlichen Welt zu Mühlacker am 3. Oktober 1901.
dargelegt, zeige durchgehend die „Tendenz“, daß Religionen von ihrer natürlichen Gebundenheit an Natur, Ort und Gesellschaft unabhängig würden. Je weiter die Geschichte voranschreite, desto mehr würden sie mit der natürlichen und der sozialen Welt brechen. Dabei würden sie auch die Menschen von der vorgefundenen Wirklichkeit unabhängig und zu autono[70]men Individuen machen. Am konsequentesten geschehe dies in den Erlösungsreligionen.
53
[70] Vgl. Troeltsch, Ernst, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, hg. von Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler (Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe, Band 5). – Berlin und New York: Walter de Gruyter 1998, S. 193.
In diesem RGG1-Beitrag hat Troeltsch seine Konstruktion von Religionsgeschichte mit einem Religionsvergleich verbunden. „Alle Religionsgebiete, denen es vergönnt ist, einen tiefen und reichen ethisch-religiösen Gehalt auszuleben, münden in irgendeiner Weise in den E[rlösung]sglauben aus. Je stärker und einheitlicher die Gottheit emporsteigt zum Inbegriff alles Guten und Vollkommenen und zum Inbegriff aller wahren und ewigen Realität, um so mehr steigert sich der Abstand des Menschen und die Sehnsucht nach Überwindung dieses Abstandes, um so deutlicher tritt auch das Hemmende, zwischen Gott und Mensch Stehende, heraus als Welt, sei es nun daß die Welt zum Prinzip des Scheins und des Irrtums, sei es, daß sie zu dem der Vergänglichkeit und des Leidens, oder daß sie zu dem der Sünde und Gottentfremdung wird“.
54
Troeltsch, Erlösung (wie oben, S. 69, Anm. 49), Sp. 481 f.
Als Beispiele nannte Troeltsch neben dem Christentum den Hinduismus, den Parsismus, die griechische Religion, die „dunkle gnostisch-synkretistische vorderasiatische Religionsbewegung“ und die israelitische Religion. Nur der Islam und das sich gegen das Christentum abschließende Judentum seien ohne Erlösungsgedanken und in ihrem Wesen moralistisch geblieben.
Man beachte, wie Troeltsch Judentum und Islam vom Christentum abrückte, und zwar mit Blick auf das konstitutive Element der Moderne: die Autonomie der Person. Nur dem Christentum sei es möglich gewesen, den Abstand, der zwischen Gott und Welt bestehe, so zu vertiefen, daß die freie Persönlichkeit eine reale Macht werden konnte. Dies sei eine besondere und einzigartige Leistung des Christentums, zu der das Judentum (so wird stillschweigend unterstellt) nicht imstande gewesen sei. Aber auch die andere große lebende Erlösungsreligion, der Buddhismus, habe dies nicht vermocht. Er habe nämlich Gott nicht als Urgrund aller persönlichen Freiheitswerte betrachtet, sondern als einen Bereich des Unpersönlichen, vor dem sich die Idee der Persönlichkeit als Irrtum und falscher Schein erweise. Die beiden Erlösungsreligionen Christentum und Buddhismus haben aus der Sicht von Troeltsch – in diesem Punkte Hegel verpflichtet – zwei konträre Konzeptionen von menschlicher Identität hervorgebracht.
55
Vgl. ebd., Sp. 482 f.

[71]Max Webers Konzept der Kulturreligionen

Was besagt es, daß Weber sich nicht mit dem Begriff der „Erlösungsreligionen“ begnügte, sondern darüber hinaus noch den Begriff der „Kulturreligionen“ benötigte? Der Begriff „Kulturreligionen“ kommt in der „Einteilung des Gesamtwerkes“ des GdS von 1914
56
[71] Vgl. den Editorischen Bericht, unten, S. 86.
als „Kulturreligionen und Wirtschaftsgesinnung“ vor und kehrt als Überschrift zu Abschnitt 12 wieder: „Die Kulturreligionen und die ,Welt‘“. Darüber hinaus verwendete Weber ihn in einem Brief an Werner Sombart vom 2. Dezember 1913, in dem er von den „Aufsätzen über die Culturreligionen“ sprach, die nach „Wirtschaft und Gesellschaft“ erscheinen sollten.
57
Brief Max Webers an Werner Sombart, GStA Berlin, Rep. 92, Nl. Werner Sombart, Nr. 4k, Bl. 3–4 (MWG II/8).
Auch kommt er später in Zusammenhang mit den Aufsätzen zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ vor, allerdings ohne erkennbare besondere Bedeutung.
58
Es kommt vor in Webers „Vorbemerkung“ (GARS I, S. 15; MWG I/18) und in Weber, Judentum I (S. 55 in der Fußnote; MWG I/21). Im Text „Religiöse Gemeinschaften“ taucht es nicht auf, außer in der Überschrift zu Abschnitt 12, unten, S. 414.
Wolfgang Schluchter hat eine These vorgetragen, die ein guter Ausgangspunkt für eine Klärung des Begriffes darstellt: Jede ethische Religion sei Kulturreligion, nicht aber jede Kulturreligion auch schon Erlösungs- oder Weltreligion, so daß „nicht die Unterscheidung in Weltreligion und Kulturreligion, wohl aber die in Erlösungsreligion und Kulturreligion systematisch von Bedeutung“
59
Schluchter, Religion und Lebensführung II, S. 26 f.
sei. Bei einem Blick auf die damalige Religionswissenschaft scheint der Sachverhalt anders zu liegen. Antipoden sind „Weltreligionen“ im Sinne von Cornelis Petrus Tiele und „Erlösungsreligionen“ im Sinne Hermann Siebecks, wobei Weber aus systematischen Gründen überwiegend Siebeck folgte. Die Frage stellt sich, welchen Erkenntnisgewinn der Begriff der Kulturreligion zusätzlich zu dem der Erlösungsreligion brachte.
Ein erneuter Blick auf Hermann Siebecks „Lehrbuch der Religionsphilosophie“
60
Siebeck, Lehrbuch der Religionsphilosophie (wie oben, S. 66, Anm. 32).
gibt darauf eine Antwort. Siebeck richtete sich in diesem Handbuch vom ersten Moment an auf das Verhältnis von Religion und Kultur. „Die Stellung der Religion im Kulturleben“ lautet der Titel des ersten Abschnitts, dem dann ein untergeordnetes Kapitel „Bejahung und Verneinung des Weltlichen“ folgt. Schon der allererste Satz lohnt, zitiert zu werden, ähnelt ihm doch Webers Eröffnung: „Als Ausgangspunkt einer religionsphilosophischen Untersuchung, die über Begriff, Inhalt, Entwickelung und Wahrheit ihres Gegenstandes nichts voraussetzen, sondern alles erst im Verlaufe ih[72]rer Erörterungen bestimmen will, kann füglich nichts anderes dienen als der Hinweis auf die Thatsächlichkeit der Religion“. Religion, so erklärt Siebeck seinen Zugriff, sei etwas Bekanntes: ein Kulturfaktor neben den anderen „Sprache und Sitte, Moral und Recht, Familie und Staat, Schule und Erziehung, Kunst und Technik, Wissenschaft und Praxis“.
61
[72] Ebd., S. 1.
Im Unterschied zu den anderen Gebieten nehme dieser Faktor jedoch „zu dem Gesamtwert der Kultur eine kritische, und hierdurch für sich selbst im Kreise jener eine problematische Stellung“
62
Ebd., S. 3.
ein. Religion helfe zwar zusammen mit den anderen, die Welt auszubilden. Jedoch nähme sie allein das Recht für sich in Anspruch, die Endgültigkeit des Irdischen zu verneinen und über die Welt als ganze ein ablehnendes Urteil zu fällen. „Es gewinnt den Anschein, daß in die Einheitlichkeit des Kulturlebens durch das Vorhandensein der Religion ein Zwiespalt kommt, der ohne sie nicht vorhanden wäre“.
63
Ebd., S. 5.
Die „Differenzierung zwischen der Religion und anderweitigen Bethätigungen des geistigen Lebens“ beende diesen Zwiespalt nicht. Der Widerstreit zwischen einer „Autarkie des Weltlebens“ und den Ansprüchen der Religion bestimme auch den „historischen Entwicklungsgang der Religion“. Im Verlaufe seiner Darlegung führt Siebeck dann noch die wichtige Unterscheidung zwischen „Weltflucht“ und „Weltüberwindung“ ein: „Der Unterschied ferner von der Erlösungs-Religion des Buddhismus liegt in der Verschiedenheit des Begriffs der Weltüberwindung. Für die christliche Weltanschauung sind Weltüberwindung und Weltflucht verschiedene Dinge“.
64
Ebd., S. 145 f.
Die eine Form von Weltablehnung, nämlich die Weltflucht, sei für die indischen Religionen, die zweite, Weltüberwindung, für das Christentum typisch.
65
Vgl. ebd., S. 122 f. und S. 146.
Was Wilhelm Windelband als religiösen Fanatismus abtat,
66
Windelband spricht von „transzendentem Egoismus“, Windelband, Das Heilige (wie oben, S. 28, Anm. 24), S. 438.
bestimmte Hermann Siebeck als einen Entwicklungsfaktor, darin später von Max Weber gefolgt.

Zusammenfassung

Uns liegt ein Arbeitstext Webers vor, der noch weit von seiner Fertigstellung entfernt war. Dies ist jedoch nicht nur ein Nachteil. Um so leichter können wir beobachten, wie Weber in der Religionsentwicklung ein Grundelement der menschlichen Kulturgeschichte frei legte. Es war dies eine Konsequenz seiner Auffassung von sozialem Handeln. Für Weber ergab sich die Ratio[73]nalität des Handelns nicht wie von selbst aus einer richtigen Auffassung von der Welt und ihren Gesetzen. Ein subjektiv rationales Handeln braucht seiner Ansicht nach auch gar nicht auf richtigen Annahmen zu beruhen. Das heißt aber nicht, daß rationales Handeln in rein persönlichen Interessenabwägungen seinen Ursprung hätte. Der Sinn, den das soziale Handeln hat, kann ihm nicht von dem Einzelnen beigelegt werden. Sinndeutungen dürfen daher auch keineswegs mit persönlichen Motiven verwechselt werden. Weber zufolge befindet sich der Handelnde mit ihnen, ob gewollt oder nicht, in der Domäne der Religionen.
Religionen konnten für Weber auf keine andere Berechtigung verweisen als auf die Erfahrung der Sinnwidrigkeit und Heillosigkeit der Welt. Daß Religionen aus einem irrationalen religiösen Erleben hervorgingen und darin ihre Evidenz fänden, wie von Lebensphilosophen behauptet, lehnte Weber entschieden ab. Weber sah sie aus einem unerfüllbaren Verlangen nach Heil hervorgehen. Sein Interesse galt den möglichen Typen der Verarbeitung dieses Grundproblems allen menschlichen Lebens. Dabei hatte Weber einen wuchtigen Partner in der damaligen Religionswissenschaft, welche die historischen Religionen als äußere Vermittlungen von inneren Sachverhalten rekonstruierte. Hegels Revision von Kants Kategorien des Verstandes hatte die Voraussetzung für diese Deutung geschaffen. Hatte Immanuel Kant die reinen Kategorien des Denkens unabhängig von den Dingen an sich bestimmt, so waren für Georg Wilhelm Friedrich Hegel Denken und Sein immer schon gegenständlich vermittelt. In seinem Kielsog begriffen deutsche Religionsphilosophen und -historiker die historischen Religionen als Modi theoretischer Weltbilder und praktischer Weltverhältnisse. Daß Weber bei seiner Suche nach den für subjektives Handeln konstitutiven Sinngebungen in der Religionswissenschaft fündig wurde, war daher kein Zufall. Die historischen Studien zu den großen Religionen brachten ihm die gewünschte Klarheit über die Vielfalt der Konstruktionen theoretischer und praktischer Beziehungen der Menschen zur Welt.
Die damals noch frischen Studien zur Magie, zum priesterlichen Kult und zur prophetischen Ethik deutete Weber als Typen von Weltverhältnissen. Weber fügte den vorliegenden Erkenntnissen zwei weitere Elemente hinzu. Da war erstens das religiöse Gemeinschaftshandeln. In einer Welt der Zauberer bestand dies in wiederkehrendem gemeinschaftlichem Rausch und Orgie. Priester standen dem Opferkult eines politischen Verbandes vor und propagierten die Vorstellung eines geordneten Kosmos. Die Anhänger der Propheten schließlich erwarteten Heil überhaupt nicht mehr von der Welt, sondern nur von der Lebensführung. Es waren enttäuschte Heilserwartungen, die den Glauben erst an die Zauberer, dann an die Priester untergruben, bis Propheten die bittere Botschaft eines heillosen Kosmos verbreiteten. Weber verknüpfte diese „Stufen“ nicht wie Religionswissenschaftler [74]über ein Entwicklungsgesetz, wonach Religionen zunehmend von Familie, Stamm, Nation und Staat unabhängig würden. Magie und priesterlicher Kult galten ihm als bleibende Größen der Religionsgeschichte, die bis heute Leistungen für beispielsweise naturabhängige Schichten wie Bauern (so Magie) oder politische Verbände (so Kult) erbringen. Das vorgefundene Stufenmodell mit den universalen Weltreligionen an der Spitze wich einem Schichtenmodell, das die Geltung von Religionen an ihre Leistungen für die verschiedenen sozialen Klassen knüpfte. Es gibt keine Gesellschaft mit nur einer Religion. Jede Gesellschaft kennt entsprechend ihrer inneren sozialen Architektur ganz verschiedene Religionen. Auch wenn bei Weber der Begriff der „Weltreligion“ noch begegnet: das vorausgesetzte Entwicklungsgesetz hatte er aufgegeben.
Weber zufolge ließ die Religionsgeschichte erkennen, daß die prophetische Aufwertung von Lebensführung ebenso gut in mystischer Kontemplation wie in innerweltlicher religiöser Ethik münden konnte. Er nahm an, daß die Religionen des Ostens und des Westens zwei konträre Lösungen der Entzweiung von Leben und Sinn kodifiziert hätten: dort eine weltflüchtige passive Versenkung in die Ursubstanz, hier eine weltüberwindende aktive Lebensführung. Beide Prinzipien sind dadurch, daß sie im sozialen Handeln der Menschen effektiv werden, an der Erzeugung komplexer, jedoch grundverschiedener entgegengesetzter kultureller Wirklichkeiten beteiligt. Weber machte die Religionen ursächlich für die ganz unterschiedliche Entwicklung der Kultur im Orient und im Abendland verantwortlich. Religionen sind keine frei verfügbaren Überzeugungen. Man kann sie aber auch nicht aus den materiellen Verhältnissen herleiten, wie der Materialismus es behauptete. Gesellschaftliche Klassen sind quasi gezwungen, Religionen zur Bestimmung ihres Weltverhältnisses zu wählen. Dadurch werden sie zu einer gesellschaftlichen Ordnungsmacht.
Es ist diese Konstruktion von Religionsgeschichte, die dem Abschnitt „Religiöse Gemeinschaften“ eine Schlüsselrolle sowohl in der Behandlung der „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ wie bei der Bestimmung der Beziehung der Wirtschaft zu den gesellschaftlichen Ordnungen und Mächten zukommen läßt. Religionen begründen theoretische und praktische Weltverhältnisse. Weber hat es nicht anders gesehen als Ernst Troeltsch: „Geistige Mächte können herrschen, auch wenn man sie bestreitet“.
67
[74] Troeltsch, Ernst, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. – München und Berlin: R. Oldenbourg 1911, S. 22.

[75]Anhang zur Einleitung

Max Webers Literatur

Max Weber bezieht sich in seinem Text implizit oder explizit auf religionswissenschaftliche Literatur. Da er selten Autoren nennt und Texte nicht wörtlich zitiert, sind an dieser Stelle Publikationen, in denen die entsprechenden Aussagen vorkommen und die Weber mit einiger Wahrscheinlichkeit gekannt hat, zusammengestellt. Autoren, die Weber namentlich nennt, sind mit * gekennzeichnet und im „Verzeichnis der von Max Weber zitierten Literatur“, unten, S. 505–507, aufgeführt.

Allgemeine Religionsgeschichte, Religionsphilosophie und Religionswissenschaft

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Bühler, Georg, The Laws of Manu (The Sacred Books of the East, vol. 25). – Oxford: Clarendon Press 1886.
Hopkins, Edward Washburn, The Social and Military Position of the Ruling Caste in Ancient India, as represented by the Sanskrit Epic, in: Journal of the American Oriental Society, vol. 13, 1889, S. 57–376.
Lehmann, Edvard, Die Inder, in: Chantepie de la Saussaye, Pierre Daniël (Hg.), Lehrbuch der Religionsgeschichte, Band 2, 3., vollständig neu bearbeitete Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1905, S. 4–161.
[79]*Müller, [Friedrich] Max, Vorlesungen über den Ursprung und die Entwickelung der Religion. Mit besonderer Rücksicht auf die Religionen des Alten Indiens. – Straßburg: Karl J. Trübner 1880. (Müller, Vorlesungen über den Ursprung)
Oldenberg, Hermann, Die indische Religion, in: Die orientalischen Religionen (Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hg. von Paul Hinneberg, Teil 1, Abt. 3, 1). – Berlin und Leipzig: B. G. Teubner 1906, S. 51–86.
*–, Die Religion des Veda. – Berlin: Wilhelm Hertz (Bessersche Buchhandlung) 1894. (Oldenberg, Religion des Veda)
Wilson, Horace Hayman, Essays and Lectures Chiefly on the Religion of the Hindus, Collected and Edited by Reinhold Rost, vol. 1: A Sketch of the Religious Sects of the Hindus. – London: Trübner & Co. 1861.

Islam

Goldziher, Ignaz, Vorlesungen über den Islam. – Heidelberg: Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung 1910.
Hammer-Purgstall, Joseph von, Geschichte des Osmanischen Reiches, Band 4: Vom Regierungsantritte Murad des Dritten bis zur zweyten Entthronung Mustafa’s I. 1574–1623. – Pest: C. A. Hartleben 1829.
Wellhausen, Julius, Das arabische Reich und sein Sturz. – Berlin: Georg Reimer 1902.

Judentum

Baentsch, Bruno, Altorientalischer und israelitischer Monotheismus. Ein Wort zur Revision der entwicklungsgeschichtlichen Auffassung der israelitischen Religionsgeschichte. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1906.
*Bousset, Wilhelm, Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter, 2. Aufl. – Berlin: Reuther und Reichard 1906. (Bousset, Religion des Judentums)
Duhm, Bernhard, Kurzer Hand-Commentar zum Alten Testament, hg. von Karl Marti, Abteilung XIV: Die Psalmen. – Freiburg i. Br., Leipzig und Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1899.
–, dass., Abteilung XVI: Das Buch Hiob. – Freiburg i. Br., Leipzig und Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1897.
Graetz, Heinrich, Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, 1. Band. – Leipzig: Oskar Leiner o. J.
[80]*Guttmann, Julius, Die Juden und das Wirtschaftsleben, in: AfSSp, Band 36, Heft 1, 1913, S. 149–212. (Guttmann, Juden und Wirtschaftsleben)
Hehn, Johannes, Die biblische und die babylonische Gottesidee. Die israelitische Gottesauffassung im Lichte der altorientalischen Religionsgeschichte. – Leipzig: J. C. Hinrichs 1913.
Kautzsch, Emil Friedrich, Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, 2. Band: Die Pseudepigraphen des Alten Testaments. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1900.
Lehmann-Haupt, C. F., Israel. Seine Entwicklung im Rahmen der Weltgeschichte. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1911.
*Meinhold, Johannes, Jesus und das Alte Testament. Ein zweites ernstes Wort an die evangelischen Christen. – Freiburg i. Br., Leipzig: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1896. (Meinhold, Jesus und das Alte Testament)
*–, Die Weisheit Israels in Spruch, Sage und Dichtung. – Leipzig: Quelle & Meyer 1908. (Meinhold, Weisheit Israels)
Merx, Adalbert, Die Bücher Moses und Josua. Eine Einführung für Laien (Religionsgeschichtliche Volksbücher für die deutsche christliche Gegenwart, II. Reihe, 3 I.–II., hg. von Friedrich Michael Schiele). – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1907.
Meyer, Eduard, Die Israeliten und ihre Nachbarstämme. Alttestamentliche Untersuchungen. – Halle: Max Niemeyer 1906.
Smith, William Robertson, Die Religion der Semiten. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1899.
*Sombart, Werner, Die Juden und das Wirtschaftsleben. – Leipzig: Duncker & Humblot 1911. (Sombart, Juden und Wirtschaftsleben)
Stade, Bernhard, Geschichte des Volkes Israel, Band 1 (Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen, hg. von Wilhelm Oncken, 1. Hauptabtheilung, 6. Theil). – Berlin: G. Grote 1887.
Wellhausen, J[ulius], Prolegomena zur Geschichte Israels, 3. Aufl. – Berlin: Georg Reimer 1886.
Wünsche, August, Der Babylonische Talmud in seinen Haggadischen Bestandtheilen, 1. Halbband. – Leipzig: Otto Schulze 1886.
–, dass., 2. Halbband, 2. Abtheilung. – Leipzig: Otto Schulze 1888.

[81]Konfuzianismus und Taoismus

Chantepie de la Saussaye, Pierre Daniël, Die Chinesen, in: ders. (Hg.), Lehrbuch der Religionsgeschichte, Band 1. – Freiburg i. Br.: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1887, S. 232–261.
*Dvořák, Rudolf, Chinas Religionen. Erster Teil: Confucius und seine Lehre (Darstellungen aus dem Gebiete der nichtchristlichen Religionsgeschichte, 12. Band). – Münster: Aschendorff 1895. (Dvorak, Chinas Religionen)
de Groot, Johann Jakob Maria, Die Religionen der Chinesen, in: Die orientalischen Religionen (Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hg. von Paul Hinneberg, Teil 1, Abt. 3, 1). – Berlin, Leipzig: B. G. Teubner 1906, S. 162–193.
–, The Religious System of China. Its Ancient Forms, Evolution, History and Present Aspects, Manners, Customs and Social Institutions Connected therewith, Vol. II, Book I: Disposal of the Dead, Part III: The Grave (First Half). – Leyden: Brill o. J. [1892].
Grube, Wilhelm, Religion und Kultus der Chinesen. – Leipzig: Rudolf Haupt 1910.
Legge, James, The Chinese Classics, vol. 1: Confucian Analects, the Great Learning, and the Doctrine of the Mean, 2. Aufl. – Oxford: University Press 1892.
–, The Chinese Classics, vol. 3, Part 1: The Shoo King or The Book of Historical Documents (2 parts). – Oxford: University Press o.J.
Müller, Friedrich Max (Hg.), The Sacred Books of the East, vol. 39: The Sacred Books of China. The Texts of Tāoism, translated by James Legge, Part 1: The Tāo Teh King. The Writings of Kwang-[t]ze. Books I–XVII. – o.O.: Clarendon Press 1891.

Antike und Hellenismus

Bachofen, Johann Jakob, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, 2. unveränderte Aufl. – Basel: Benno Schwabe 1897.
Bousset, Wilhelm, Hauptprobleme der Gnosis (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und des Neuen Testaments, 10. Heft). – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1907.
Burckhardt, Jakob, Griechische Kulturgeschichte, hg. von Jakob Oeri, Band 1, 2. Aufl. – Berlin, Stuttgart: W. Spemann o. J. [1898].
Cumont, Franz, Die Mysterien des Mithra. Ein Beitrag zur Religionsgeschichte der römischen Kaiserzeit, autorisierte Ausgabe von Georg Gehrich. – Leipzig: B. G. Teubner 1903.
Dieterich, Albrecht, Mutter Erde. Ein Versuch über Volksreligion. – Leipzig: B. G. Teubner 1905.
[82]Gibbon, Edward, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire. Edited in seven volumes. – London: Methuen & Co. 1897–1900.
Jeremias, Friedrich, Semitische Völker in Vorderasien, in: Chantepie de la Saussaye, Pierre Daniël (Hg.), Lehrbuch der Religionsgeschichte, Band 1, 3., vollständig neu bearbeitete Aufl. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1905, S. 246–383.
Meyer, Eduard, Geschichte des Altertums, Band 1, 1: Einleitung, Elemente der Anthropologie, 2. Aufl. – Stuttgart, Berlin: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger 1907.
–, Geschichte des Alterthums, Band 3: Das Perserreich und die Griechen, 1. Hälfte: Bis zu den Friedensschlüssen von 448 und 446 v. Chr., 1. Aufl. – Stuttgart: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger 1901.
Mommsen, Theodor, Römisches Staatsrecht, Band 1, 3. Aufl. – Leipzig: S. Hirzel 1887.
Otto, Walter, Priester und Tempel im hellenistischen Ägypten. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Hellenismus, Band 1. – Leipzig, Berlin: B. G. Teubner 1905.
–, dass., Band 2. – Leipzig, Berlin: B. G. Teubner 1908.
Otto, Walter Friedrich, Religio und Superstitio, in: Archiv für Religionswissenschaft, Band 12, Heft 4, 1909, S. 533–554 und dass., Band 14, Heft 3/4, 1911, S. 406–422.
Pöhlmann, Robert von, Geschichte der sozialen Frage und des Sozialismus in der antiken Welt, Band 2, 2. Aufl. – München: C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung Oskar Beck 1912.
*Rohde, Erwin, Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube bei den Griechen, 2 Bände, 2. Aufl. – Freiburg i. Br., Leipzig und Tübingen: J.C.B Mohr (Paul Siebeck) 1898. (Rohde, Psyche I und II)
Usener, Hermann, Das Weihnachtsfest, Kap. I bis III, 2. Aufl. (Religionsgeschichtliche Untersuchungen, 1. Teil). – Bonn: Friedrich Cohen 1911.
Wide, Sam, Chthonische und himmlische Götter, in: Archiv für Religionswissenschaft, Band 10, 1907, S. 257–268.
Wissowa, Georg, Religion und Kultus der Römer, 2. Aufl. – München: C. H. Beck 1912.

Stammesreligionen

Breysig, Kurt, Die Geschichte der Menschheit, Band 1: Die Amerikaner des Nordwestens und des Nordens. – Berlin: Georg Bondi 1907.
Codrington, Robert Henry, The Melanesians, Studies in their Anthropology and Folk-Lore. – Oxford: Clarendon Press 1891.
Goldenweiser, Alexander A., Totemism, an Analytical Study, in: The Journal of American Folk-Lore, vol. 23, 1910, S. 179–293.
[83]Hewitt, John Napoleon Brinton, Orenda and a Definition of Religion, in: The American Anthropologist, New Series, vol, 4, 1902, S. 33–46.
MacLennan, John Ferguson, The Worship of Animals and Plants, in: The FortnightIy Review, vol. 6, 1869, S. 407–427, und vol. 7, 1870, S. 194–216.
Morgan, Lewis Henri, Die Urgesellschaft. Untersuchungen über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation. – Stuttgart: J.H.W. Dietz 1891. (Engl. Original: Ancient Society. – New York: Gordon Press 1877).
Schurtz, Heinrich, Altersklassen und Männerbünde. Eine Darstellung der Grundformen der Gesellschaft. – Berlin: Georg Reimer 1902.
Spencer, Baldwin und Gillen, Francis James, The Native Tribes of Central Australia. – London: Macmillan and Co. Ltd. 1899.
Tylor, Edward Burnett, Primitive Culture. Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Art and Custom, two volumes. – London: Murray 1871.

Zarathustrismus

*Bartholomae, Christian, Altiranisches Wörterbuch. – Straßburg: Karl J. Trübner 1904. (Bartholomae, Altiranisches Wörterbuch)
*–, Die Gatha’s des Awesta. Zarathustras Verspredigten. – Straßburg: Karl J. Trübner 1905. (Bartholomae, Gatha’s des Awesta)
Wolff, Fritz, Avesta. Die Heiligen Bücher der Parsen, übersetzt auf der Grundlage von Bartholomae’s altiranischem Wörterbuch. – Straßburg: Karl J. Trübner 1910.