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MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[127]Editorischer Bericht

I. Zur Entstehung
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[127] Im Folgenden werden die in der Einleitung, oben, S. 6–22 und 75–126, ausführlich dargestellten biographischen und werkgeschichtlichen Entstehungskontexte der Musik-Studie und der geplanten Kultur-Soziologie chronologisch zusammengefaßt. Für die Details und bibliographischen Nachweise sei, wenn nicht gesondert vermerkt, auf die Einleitung verwiesen.

Die überlieferten Schriften und Briefe Max Webers enthalten keine exakten Angaben zur Entstehungszeit der Studie über die Musik. Gleichwohl sind Eingrenzungen möglich. In den Jahren 1909 bis 1911 arbeitet sich Weber in die Materie ein. Zunächst beschäftigt er sich, wie seinem Diskussionsbeitrag zu Werner Sombarts Vortrag „Technik und Kultur“ auf dem Ersten Deutschen Soziologentag im Oktober 1910 in Frankfurt a.Μ. zu entnehmen ist, mit instrumentaltechnischen Fragen innerhalb des „sehr schwierigen“ Problems der „Abhängigkeit der Entwicklung einer Kunst von ihren technischen Mitteln.“
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Weber, Verhandlungen 1910 (Sombart), S. 99.
In dieselbe Zeit datiert Marianne Weber die „Erkenntnis der Besonderheit des okzidentalen Rationalismus“, die ihr Mann „auch und gerade in der Musik – dieser scheinbar am reinsten aus dem Gefühl quellenden Kunst“ – macht und die ihn motiviert, „nun auch eine Soziologie der Kunst“ zu planen; als „ersten Versuch“ dazu unternimmt er „die Untersuchung der Musik auf ihre rationalen und soziologischen Grundlagen etwa um 1910“.
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Weber, Marianne, Lebensbild, S. 349, dies., Vorwort zur zweiten Auflage, in: WuG2, S. VIII.
Auch die Kunstreisen, die das Ehepaar Weber im Sommer 1911 nach München und Paris unternimmt, stehen offenbar in direktem Zusammenhang mit der Musik-Studie: „Weber ist öfter ungeduldig, denn er will alles sehen, sich alles zueignen – die französische Musik, denn er bedenkt seine musik-soziologische Abhandlung, die moderne Malerei und Plastik, denn er will ja irgendwann eine alle Künste umfassende Soziologie schreiben.“
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Weber, Marianne, Lebensbild, S. 507. Verstärkt nutzt Weber ab 1910 auch seine zahlreichen Berlin-Aufenthalte zu Konzert-Besuchen und Kunst-Aktivitäten, insbesondere zu Jahresbeginn 1911.
Biographisch bedingt wählt Weber im [128]Rahmen dieser geplanten „Soziologie der Cultur-Inhalte“ als erstes die Musik: seit seiner Jugend hat Weber hier ein besonderes Interesse, und die Spezialkenntnisse, die er sich im Laufe der Jahre angeeignet hat, sind hier überdurchschnittlich groß, wenn auch in Umfang und Tiefe schwer abzuschätzen. Besondere Bedeutung kommt dabei der engen Freundschaft mit der Schweizer Pianistin Mina Tobler zu, die er im Juni 1909 kennenlernt, ferner der Bekanntschaft mit den Künstlern und Komponisten Conrad Ansorge und Paul von Klenau.
In der ersten Jahreshälfte 1912 sind die Vorbereitungen zur Niederschrift der Studie weitgehend abgeschlossen. Vor Freunden, Schülern und Kollegen hält Weber mehrere musiktheoretische Vorträge im Salon seiner Heidelberger Wohnung. Am 12. Mai 1912 schreibt Marianne Weber ihrer Schwiegermutter Helene Weber: „Am vorigen Sonntag war hier bei uns der Eranos – Du weißt das wissenschaftl[iche] Kränzchen mit den alten Herren. Max hat 2$\mathrm{\sfrac{1}{2}}$ Stunden wie ein Wasserfall über die schwierigsten musiktheoretischen Dinge u. ihre Zusammenhänge mit wirtschaftlichen u. soziologischen Dingen geredet. Die Leute ersoffen fast in seiner Fülle u. ich mußte schließlich sie u. den wartenden Spargel durch einen Machtspruch erlösen.“
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[128] Brief Marianne Webers an Helene Weber vom 12. Mai 1912 (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446).
Karl Loewenstein berichtet, gestützt auf Tagebuchnotizen, von seinem Antrittsbesuch im Juni 1912, bei dem Weber dem ungläubig Lauschenden mehr als zwei Stunden lang „die Quadern einer Musiksoziologie“ aufbaut: „Er arbeitete darüber und hatte offenbar das Bedürfnis, darüber zu sprechen.“
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Loewenstein, Erinnerungen, S. 28 f.; ders., Materialien (wie oben, S. 33, Anm. 120), S. 49.
Paul Honigsheim, ein weiterer studentischer und musikkundiger Bewunderer Max Webers, erinnert sich an zahlreiche Gespräche in der Ziegelhäuser Landstraße, in denen man, „wie sooft, auf musiktheoretische Dinge zu sprechen gekommen“ war.
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Honigsheim, Heidelberg, S. 188. Zu Honigsheims offenbar ausdauernden Gesprächen mit Weber siehe dessen Briefe an Marianne Weber vom 11. März und 28. Mai 1910 (MWG II/6, S. 427 und 543).
Unter den Zuhörern vermag außer Loewenstein und Honigsheim sowie Ernst Bloch, der über Georg von Lukács’ Vermittlung Weber kennenlernt und in den Vorkriegsjahren seine musikphilosophische Erstlingsschrift „Geist der Utopie“ in Angriff nimmt, kaum jemand Webers Ausführungen zu folgen. Eduard Baumgarten überliefert den ratlosen Eindruck des Heidelberger Theologen Hans von Schubert: „Keiner von uns konnte die Einladung entziffern: ,Soziologie der Musen‘?? Was fällt ihm ein! Er setzte sich zu unserer maßlosen Überraschung ans Klavier, demonstrierte Stücke der Harmonielehre [129]und kam von da aus zu den unerwartetsten Dingen. Etwas Unerhörteres, sagten wir hinterher, hat er noch nicht gemacht. Wir waren alle vollständig perplex und benommen. Verstanden habe ich fast nichts. Die wenigsten von uns wußten, was eine Terz war.“
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[129] Baumgarten, Werk (wie oben, S. 11, Anm. 36), S. 483, Anm.
Am 5. August 1912 schreibt Weber den für die Entstehung der Musik-Studie zentralen, wenngleich auch nicht eindeutigen Brief, in welchem er seiner Schwester Lili ankündigt: „ich werde über Musikgeschichte wohl etwas schreiben. D.h. nur: über gewisse soziale Bedingungen, aus denen sich erklärt, daß nur wir eine ,harmonische‘ Musik haben, obwohl andre Culturkreise ein viel feineres Gehör und viel mehr intensive Musik-Cultur aufweisen. Merkwürdig! – das ist ein Werk des Mönchtums, wie sich zeigen wird.“
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MWG II/7, S. 638 f.
Fraglich bleibt, ob Weber hier die unmittelbare Niederschrift der Studie in ihrer überlieferten Gestalt, also mit tonsystematisch-rationalem und instrumentaltechnischem Abschnitt, ankündigt oder aber diejenige eines dritten, geplanten, jedoch nicht mehr zu Stande gekommenen „sozialen“ bzw. „soziologischen“ Teiles. Träfe letzteres zu, dann ist nicht auszuschließen, daß Weber die beiden anderen (überlieferten) Abschnitte bereits vor Abfassung des Briefes fixiert hat.
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Zur Grob-Gliederung der Studie siehe unten, S. 87 f. und 99 f.
Die Tatsache allerdings, daß das spezifisch okzidentale Mönchtum auch für den ersten, rationalen Teil, eine bedeutende Rolle spielt – als Trägerschicht der mittelalterlichen Musiktheorie und Notenschrift –, macht eine eindeutige Zurechnung der einzelnen Teile zu jenem Brief und damit die exakte Datierung der (real fixierten) Studie unmöglich. Gleichviel, ob in den Monaten vor oder nach der Abfassung des August-Briefes: 1912 ist das Jahr der intensivsten musiktheoretischen Auseinandersetzungen Webers. Noch einmal unterstreicht dies der im Oktober in Berlin stattfindende zweite Soziologentag, auf dem Weber seinen Kollegen einen gerafften universalgeschichtlichen Überblick über Tonsysteme und Instrumentenbau gibt.
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Siehe dazu die Einleitung, oben, S. 94 f. und 99 f.
Mit ihm will er Vererbungstheorien auf kulturellem, insbesondere künstlerisch-musischem Terrain abwehren; statt dessen plädiert er für „teils rational[e], teils technisch[e], teils soziologisch[e]“ Erklärungen – mithin für diejenige Trias, die die Musik-Studie, die real fixierte und auch weiter geplante, strukturiert.
Spätestens im Frühjahr 1913 legt Weber das Manuskript provisorisch fixiert zur Seite. Dies geht aus der Absage einer Einladung Karl Loewensteins an Weber, in München vor dem Sozialwissenschaftlichen Verein einen musiksoziologischen Vortrag zu halten, hervor. Am 9. August 1913 [130]antwortet Weber: „Über ,Musiksoziologie‘ werde ich kaum sprechen, das ist Alles zurückgestellt.“
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[130] Webers undatierte Karte trägt den Poststempel vom 9. August 1913 (MWG II/8, S. 302). Vergeblich erinnert Loewenstein, wie seinen Briefen vom 21. Dezember 1913 und 8. März 1914 (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446) zu entnehmen ist, Weber in den kommenden Monaten an diesen Vortrag.
Marianne Weber wiederum erinnert sich: „[…] als dieser Teil [die Musik-Studie] provisorisch fixiert ist, zwingt er sich zu den begonnenen und zugesagten Schriften zurück“ – gemeint sind die ersten Beiträge zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“, die er „etwa um 1913“ fertig stellt,
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Weber, Marianne, Lebensbild, S. 349 f.
sowie die religions-, herrschafts- und rechtssoziologischen Abschnitte zum „Grundriß der Sozialökonomik“, die thematisch zahlreiche Parallelen zur Musik-Studie aufweisen und die Weber bis hin zum Kriegsausbruch intensiv beschäftigen.
Weber plant eine Weiterführung der Studie, und zum Teil ist diese auch erfolgt, wenngleich nicht systematisch, sondern nur sporadisch. Theodor Kroyers Hinweis auf „winzige, flüchtig hingeworfene und in die ältere Maschinenschrift hineingestopfte Zusätze“
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Siehe dazu den Abdruck von Kroyers Einführung, unten, S. 142. Weber hat, wie Marianne Weber ihrer Schwiegermutter Anfang 1913 berichtet, „täglich eine Tippmamsell“ (Brief vom 17. Februar 1913, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Diese hat wohl auch die „Maschinenschrift“ der Musik-Studie erstellt – vermutlich zur Jahreswende 1912/13, während der Weber, so Marianne (Briefe vom 25. Januar und 17. Februar 1913; ebd.) „letzthin recht schreibfleißig“ gewesen sei und „so intensiv wie lange nicht“ gearbeitet habe.
weist darauf ebenso wie eine ihrer wenigen konkreteren Literaturangaben, die dem 1913 erschienenen ersten Band von Johannes Wolfs Handbuch der Notationskunde gilt: „Auf die Einzelheiten der vielverschlungenen Entwicklung dieser, für die okzidentale Musik fundamentalen, jetzt in dem Werk von J[ohannes] Wolf eingehend analysierten Vorgänge braucht hier nicht näher eingegangen zu werden.“
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Unten, S. 236.
Auch sprechen etliche interne Verweise auf „später vorzunehmende“ Analysen für eine geplante Fortführung, wie auch Webers direkt auf die Studie bezogene Anmerkung in dem 1913 publizierten „Kategorien“-Aufsatz: „Die Art[,] wie die Relation zwischen dem Richtigkeitstypus eines Verhaltens und dem empirischen Verhalten ,wirkt‘ und wie dies Entwicklungsmoment sich zu den soziologischen Einflüssen z. B. in einer konkreten Kunstentwicklung verhält, hoffe ich gelegentlich an einem Beispiel (Musikgeschichte) zu erläutern.“ Demselben methodologischen Kontext ist die Passage des „Werturteils“-Gutachten vom Sommer diesen Jahres gewidmet, die zum ersten Mal das „fatale“ pythagoreische Komma außerhalb der Musik-Studie erwähnt. Ein weiteres Mal – ebenfalls 1913 – taucht es in der „Einleitung“ zur „Wirtschaftsethik der Weitreligionen“ auf, wo es die [131]Verwandtschaft tonsystematischer und religiöser Rationalisierung-Tendenzen illustriert.
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[131] Zu den Musik-Bezügen der 1913 veröffentlichten bezw. verfaßten Schriften siehe die Einleitung, oben, S. 104–113.
Schließlich stellt Weber im Brief vom 30. Dezember 1913 seinem Verleger Paul Siebeck jenen – laut Marianne Weber schon „um 1910“ erstmals erwogenen – Plan einer „alle Künste umfassende Soziologie“ in Aussicht.
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Brief Webers an Paul Siebeck vom 30. Dezember 1913, MWG II/8, S. 450 (siehe dazu die Einleitung, oben, S. 76), sowie Weber, Marianne, Lebensbild, S. 347 und 507 (Zitat).
Auch in den Kriegsjahren verebbt Webers musikwissenschaftliches Interesse nicht. Zunächst – vermutlich 1916 – begutachtet er den musiktheoretischen Abschnitt des Blochschen Manuskriptes zum „Geist der Utopie“.
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Siehe dazu die Einleitung, oben, S. 15 f.
Sodann berichtet Marianne Weber von den Aktivitäten ihres Mannes im Sommerurlaub 1917 bei Verwandten in Oerlinghausen: „Ab und an dringen sie ihm auch für den erweiterten Kreis einen Vortrag ab, etwa über die indischen Kasten oder die jüdischen Propheten oder die soziologischen Grundlagen der Musik.“
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Weber, Marianne, Lebensbild, S. 607.
Im selben Jahr erscheint Webers „Wertfreiheits“-Abhandlung als erweiterte Umarbeitung des „Werturteils“-Gutachtens von 1913. Erweitert ist sie vor allem um Kunst- und Musikthemen, die – die Ausführungen des Frankfurter Soziologentages aufgreifend – der „wertfreien“ bzw. spezifisch „wertbezogenen“ Analyse der „technischen Ausdrucksmittel“ eines „Kunstwollens“ gelten und auf diese Art eine rein „empirische Musik-“ bzw. „Kunstgeschichte“ begründen. Als solche gibt sich hier die 1912 fixierte Musik-Studie zu erkennen. Weber faßt ihre Ergebnisse zusammen, stellt aber auch neue Themen und Gesichtspunkte vor, die über die Studie hinausgehen und stärker soziologisch bzw. sozialpsychologisch als rationalisierungstheoretisch ausgerichtet sind.
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Weber, Wertfreiheit, bes. S. 67–70 und S. 79 f. Siehe dazu die Einleitung, oben, S. 121 f.
Vermutlich dieser weiterreichenden Passagen halber erkundigt sich Karl Loewenstein im Januar 1918 bei Weber: „Ist es wahr, was hier gerüchteweise verlautet, daß Ihre Musiksoziologie fertig ist?“
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Brief Loewensteins an Max Weber vom 30. Januar 1918 aus München (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Eine Antwort Webers ist nicht überliefert.
Nach seiner Übersiedlung nach München, wo er Lujo Brentanos Lehrstuhl übernimmt, beschäftigt sich Weber erneut mit dem Manuskript von 1912. Am 23. Juli 1919 schreibt er seiner Frau nach Heidelberg: „Bringe mir doch die schwarze Mappe mit, in der die Musik-Soziologie steckt. (Eine Akten-Mappe mit Notizen und – teilweise – ausgeschriebener Darstellung […]). Ich will dann, wenn Du da bist, die Sache mal im Seminar [132]vortragen und Du kannst dann zuhören, wenn Du willst, ja?“
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[132] Brief Max Webers an Marianne Weber vom 23. Juli 1919 (ebd., MWG II/10). Marianne Weber gibt den Brief leicht abgeändert im Lebensbild ihres Mannes, S. 677, wieder.
Zwei Wochen später schreibt Weber an Mina Tobler den für das weitere Schicksal der Musik-Studie aufschlußreichen Brief: „Grad hab ich das ,Musik-Soziologie‘-Manuskript wieder in die Hand bekommen und Ihrer gedenken müssen: es ist damals liegen geblieben, wohl durch den Krieg, und schwer finde ich die Möglichkeit der Fortsetzung, da so viel Neues erschienen ist an Literatur, und die Arbeit jetzt nicht mehr so dringlich ist: das entscheidende Problem ist inzwischen sicher von Anderen aufgeworfen worden. Aber der Gegenstand ist schön und interessiert mich doch wieder sehr, – nur erfordert er den ganzen Menschen und den habe ich jetzt nicht mehr: für nichts mehr, übrig. Denn das ,Dozieren‘-Müssen wird alles verschlingen.“
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Brief Webers an Mina Tobler vom 10. August 1919 (Privatbesitz; MWG II/10). Webers Ansicht, das Manuskript sei „wohl durch den Krieg“ liegen geblieben, relativiert seine Mitteilung vom August 1913 an Loewenstein: „Über ,Musiksoziologie‘ werde ich kaum sprechen, das ist Alles zurückgestellt“, siehe dazu oben, S. 129 f.
Wiederum eine Woche später trägt Weber das Manuskript im Seminar vor: „Mittwoch: ,Musiksoziologie‘, nach den alten liegen gebliebenen Notizen. Fast konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen: ,unter Leitung einer Freundin‘ sei diese damalige Arbeit getan worden, – aber dann fand ich es zu indiskret. Verstanden hat die Sache schwerlich jemand, vielleicht Loewenstein […].“
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Brief Webers an Mina Tobler vom 16. August 1919 (Privatbesitz; MWG II/10).
Dieser bestätigt Webers Skepsis: kurz nach dessen Tod erinnert er sich: „Ich habe ihn [Weber] im letzten Sommer (1919), manches Jahr später, die gleichen Dinge wieder [wie bereits im Juni 1912] in einer Seminarsitzung in München vortragen hören und wohl auch damals nicht, obwohl in seiner geistigen Schulung um vieles vorgeschritten, die Kühnheit ganz begriffen, mit der das stärkste Gefühlsphänomen des menschlichen Wesens, die Musik, hier mit den rationalen Mitteln einer ordnenden historischen und soziologischen Begriffsbildung erfaßt werden sollte; ein dunkler Schatten lag an diesem Nachmittag über meinem atemlosen Bemühen, seine Gedankengänge aufzufassen und sie in mir zu verwurzeln, weil es mich wie eine Ahnung beschlich, daß diese weitgespannte Problemkette, die von den mythologischen Fürstenhöfen der griechischen Frühzeit bis zu den Zellen irischer und byzantinischer Mönche, von den siamesischen Musikinstrumenten über päpstliche Musikdekrete bis zu den Ganztonskalen der Modernen führte, von ihm, der spontan, nach dem Einfall, produzierte, nicht fixiert werden könnte, so sehr bedrängte ihn die Fülle der Gesichte [sic].“
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Loewenstein, Materialien (wie oben, S. 33, Anm. 120), S. 49.
[133]Der letzte biographische Hinweis stammt vom Februar 1920. Weber lädt den seit den gemeinsamen Heidelberger Jahren hochgeschätzten Romanisten Karl Vossler zu einem Kolloquium über die Grundfrage seiner Musik-Studie ein: „Wir haben (,wir‘: [Karl] Rot[h]enbücher, [Melchior] Palyi, Cosack, [Carl?] Landauer, [Christian] Janentzky, [Moritz] Geiger, [Ernst] v. Aster, [Carl] Schmitt, Clausing, gelegentlich [Theodor] Kroyer) hier eine Art ,Eranos‘, in dem alle 14 Tage Jemand von uns spricht und dann – ev. mehrere Mal nacheinander diskutiert wird. […] Nächsten Samstag soll ein musiksoziologisches Thema behandelt werden (Entstehung der Akkordharmonik u. Polyphonie grade im Abendlande, warum?) u. ich werde die Besprechung einleiten.“
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[133] Brief Webers an Karl Vossler vom 21. Februar 1920 (BSB München, NI. Karl Vossler, Ana 350, 12; MWG II/10).
Vier Monate später ist Max Weber tot. Der hier apostrophierte Theodor Kroyer hilft Marianne Weber bei der Durchsicht des Manuskripts der Musik-Studie und übernimmt deren Herausgabe.
Neben den Briefen, den privaten und Seminar-Vorträgen ist den Schriften, die Weber 1919/20 verfaßt bzw. überarbeitet, sein anhaltendes musiktheoretisches Interesse zu entnehmen. Eine für die Fragestellung der Entstehung der modernen okzidentalen Wissenschaft in Gestalt des „rationalen Experiments“ nicht unwichtige inhaltliche Ergänzung ist der Bezug auf die „experimentellen“ Klavierinstrumente des 16. Jahrhunderts in der Konfuzianismus-Studie innerhalb der Arbeiten zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“. Er findet sich noch nicht in deren erster Fassung, die „etwa um 1913“ fertig ist und 1915 im AfSSp erscheint, wohl aber in der Überarbeitungshandschrift, die Weber spätestens im Winter 1919/20 und Frühjahr 1920 schreibt, und zwar in einer Formulierung, die wie eine Kurzfassung des Wortlauts in der Musik-Studie wirkt.
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Siehe dazu oben, S. 117 f., sowie MWG I/19, S. 343 mit Anm. p; zur Datierung ebd., S. 61.
Noch lapidarer erwähnt Weber die musikalisch-künstlerischen Renaissance-Experimente im Vortrag „Wissenschaft als Beruf“, den er 1917 hält, der aber erst 1919 umgearbeitet erscheint.
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Weber, Wissenschaft als Beruf, MWG I/17, S. 90 und 66 (zur Entstehung). Ob der Hinweis schon in der Vortragsfassung von 1917 stand, läßt sich nicht mehr ermitteln. In der „Wertfreiheits“-Abhandlung von 1917 ist im relativ breit ausgeführten musikhistorischen Abschnitt S. 70 f. davon nicht die Rede.
Schließlich faßt die „Vorbemerkung“ zu den „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“, deren ersten Band Weber im Winter 1919/20 für den Druck vorbereitet, die Musik-Studie noch ein weiteres und letztes Mal zusammen – unter dem Aspekt der Erkenntnis der „besondere[n] Eigenart des okzidentalen und, innerhalb dieses, des modernen okzidentalen, Rationalismus“.
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Weber, Vorbemerkung, in: GARS I, S. 12 (MWG I/18).
Wie der „Wertfreiheits“-Aufsatz von 1917 führt auch die [134]„Vorbemerkung“ Fakten an, die die Musik-Studie noch nicht kennt. Auch die Passagen zu den „Culturinhalten“ Baukunst, Plastik und Malerei sind erweitert, insbesondere um die spezifisch okzidentale „Stil“-Bildung. Darüber hinaus betrachtet Weber alle okzidentalen Kulturerscheinungen erstmals unter dem Blickwinkel ihrer explizit universell gültigen „Entwicklungsrichtung“. Indizien für ein erneutes und weiterführendes Interesse Webers an der „Soziologie der Cultur-Inhalte“ nach dem Krieg existieren also genügend; doch weder für ihre konkrete Inangriffnahme noch für die Fortführung und Einarbeitung ihres ersten Teils, der Musik-Studie, bleibt ihm noch die Zeit.
Nicht befriedigend zu klären sind das kompositorische und chronologische Entstehungs-Verhältnis der beiden überlieferten Teile der Musik-Studie und die Umstände, die Marianne Weber und Theodor Kroyer bewogen haben, entsprechend ihrer Titelwahl „Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik“ den sogenannten „rationalen“ zum ersten und den sogenannten „soziologischen Grundlagen“-Abschnitt zum zweiten Teil der Studie zu erklären. Formal unterscheiden sich beide Teile in Gewichtung und Aufbau. Der erste hat etwa den fünffachen Umfang des zweiten. Jener weist trotz provisorischer Passagen und einiger uneingelöster Verweise eine in sich geschlossene Gestalt und Argumentation auf, wobei Anfang und Ende systematisch aufeinander Bezug nehmen, indem jener ouvertürenartig die „Grundtatsachen aller Musikrationalisierung“ im Sinne von ,Grundproblemen‘ vorstellt und das letzte Viertel (des „rationalen“ Teils) universalhistorisch verschiedene, mehr oder minder rationale „Lösungen“ des Problems diskutiert, von denen Weber die spezifisch okzidentale „gleichschwebende Temperatur“ als rationale Lösung schlechthin hervorhebt. Beide, Anfang und Ende, umschließen einen historischen Abschnitt, der den (universalhistorischen) Idealtypen mehrstimmiger Musik sowie den Entwicklungsbedingungen der spezifisch okzidentalen, d. h. polyphonen und akkordharmonischen, Musik gelten. Hierbei räumt Weber wiederum dem vom mittelalterlichen Mönchtum getragenen „rationalen Notenschriftsystem“ den größten Raum ein.
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[134] Siehe den Beginn des ersten Teils, unten, S. 145, des zweiten Teils, unten, S. 253, und den historischen Mittelabschnitt des ersten Teils, unten, S. 211–241.
Der von den Erstherausgebern so genannte „soziologische“ Teil hat demgegenüber – en gros – die Gestalt eines komprimierten Faktenkompendiums, das Analysen zur technischen Entwicklung von Streich- und Tasteninstrumenten, angereichert mit Anmerkungen zu Trägerschichten und sozialökonomischen Entstehungsbedingungen, aneinanderreiht. Auch [135]scheint der zweite Teil zumindest argumentativ unabgeschlossener.
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[135] Er kennt nur einen einzigen Rückverweis, zudem am Ende, während der „rationale“ Abschnitt zahlreiche eingelöste Vor- und Rückbezüge aufweist. Siehe dazu sowie zu den folgenden Verweisen auf den Frankfurter Soziologentag und die „Vorbemerkung“ die Einleitung, oben, S. 120, 86 f. und 124 f.
Ob dies auch thematisch gilt, ist fraglich: einerseits lassen Webers Anmerkungen über historische Trompeten im Werk Beethovens und Berlioz’ auf dem Frankfurter Soziologentag vermuten, daß der Instrumentalteil der Studie, der den Binnenrauminstrumenten Violine, Orgel und Klavier vorbehalten ist, mit den Blasinstrumenten fortgeführt werden sollte; andererseits nennt die zusammenfassende „Vorbemerkung“ zu den „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“ nur jene drei Instrumente und charakterisiert sie als „Grundinstrumente“ der spezifisch okzidentalen Musik. Auch muß die Frage offen bleiben, ob Weber seine von Honigsheim überlieferten statistischen Interessen an der inneren und äußeren Situation von gegenwärtigen Berufsmusikern in die Studie einfügen wollte und wieweit diese überhaupt gediehen sind.
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Siehe dazu die Einleitung, oben, S. 114 f.
Unbesehen der Fortführungsfrage sind Gemeinsamkeiten beider Abschnitte im Klavier als „manifester“, modern-okzidentaler Lösung des universalhistorischen Stimmungs- bzw. Temperierungsproblems und in der Frage der (akkord-)harmonischen Verwendbarkeit der analysierten Instrumente zu erkennen. Ansonsten nimmt keiner der beiden explizit Bezug auf den anderen. Gegenüber den Erstherausgebern, die beide Teile nahtlos aneinander reihten, betonen die MWG-Editoren mit einem größeren Absatz deren Trennung.
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Unten, S. 253.
Der unterschiedliche Charakter beider Teile läßt eine unterschiedliche Entstehung vermuten, wenn auch nicht beweisen. Die geringere innere wie äußere Abgeschlossenheit des zweiten Abschnittes legt die These nahe, daß dieser nach dem ersten geschrieben wurde. Webers Diskussionsbeitrag auf dem Frankfurter Soziologentag spricht wiederum für die gegenteilige Annahme, belegt er doch bereits für 1910 Webers detailliertes Faktenwissen der Instrumententechnik und -geschichte. Für eine spätere Abfassung des ersten Teils sprechen auch die Erinnerungen Marianne Webers, Loewensteins und anderer Heidelberger Kollegen, die vornehmlich den „entlegendsten Gebiete[n] der Völkerkunde und […] den schwierigsten Untersuchungen der Tonarithmetik und Symbolik“
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Weber, Marianne, Lebensbild, S. 349.
gelten, also den Analysen des ersten Teils, die Weber 1912 vor ihnen ausbreitet. Vor allem die universalhistorisch vergleichenden Abschnitte scheinen in diesem Jahr fixiert worden zu sein, wie der musikethnologisch resümierende Rekurs auf dem Berliner Soziologentag nahelegt. Hier erwähnt Weber [136]auch dasjenige Instrument, das mehrfach im ersten Teil der Studie genannt wird, den Dudelsack.
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[136] Weber, Verhandlungen 1912, S. 190. Siehe dazu die Einleitung, oben, S. 99, mit Anm. 87.
Vor allem widmet er in diesem Jahr seine Aufmerksamkeit Themen des mittleren Abschnittes des „rationalen Grundlagen“-Teils, der den historischen Entwicklungsbedingungen der spezifisch okzidentalen Mehrstimmigkeit gilt. Dies zeigt die in der zweiten Jahreshälfte 1912 mehrfach brieflich sowie auf dem Berliner Soziologentag und in den WuG-Abhandlungen erwähnte „Entdeckung“ des Trägers der „harmonischen Musik“: das mittelalterliche Mönchtum. Die abschließenden Passagen dieses historischen Abschnitts wiederum stammen, worauf der Literaturhinweis zu Johannes Wolfs Werk verweist, vermutlich aus dem Frühjahr 1913.
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Allerdings kann der Wolf-Rekurs auch einer jener handschriftlichen Zusätze sein, die Weber laut Theodor Kroyer nachträglich in das Typoskript eingefügt hat.
Trotz der Indizien, die für eine chronologische Umkehrung sprechen, behalten die MWG-Editoren die tradierte Reihenfolge von erstem und zweitem Teil bei, nicht zuletzt der inhaltlichen Gewichtung und der Richtlinie der „Vorbemerkung“ halber, in der Weber rückblickend die Reihenfolge von „rationalem“ und „instrumentaltechnischem“ Abschnitt der Musik-Studie bestätigt, wenn er zunächst die Charakteristika der „rationalen harmonischen Musik“ und dann „als Mittel zu dem alle unsre Grundinstrumente“ nennt.

II. Zur Überlieferung und Edition

Ein Manuskript ist nicht überliefert. Die Edition folgt dem postumen Erstdruck: Weber, Max, Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik. Mit einer Einleitung von Theodor Kroyer. – München: Drei Masken Verlag 1921 (A).
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Alle weiteren Editionen bleiben unberücksichtigt. Dazu zählen die Veröffentlichungen als „Anhang“ in der zweiten bis vierten Auflage von „Wirtschaft und Gesellschaft“ (1925 bis 1956). Anläßlich der fünften Auflage von „Wirtschaft und Gesellschaft“ wird die Studie wieder aus dem Konvolut entfernt und 1972 kommentarlos als Taschenbuch-Separatausgabe veröffentlicht (Weber, Max, Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik (UTB 122). – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1972). 1958 erscheint die amerikanische Ausgabe: Weber, Max, The Rational and Social Foundations of Music, translated and edited by Don Martindale, Johannes Riedel and Gertrude Neuwirth. – Illinois: Southern Illinois University Press 1958.
Die kurze Einführung Theodor Kroyers wird im Anhang zum Editorischen Bericht, unten, S. 140–143, wiedergegeben.
Das Editionsschicksal der Fragment gebliebenen Musik-Studie ist mit demjenigen des größten Torso verknüpft, den Weber hinterlassen hat: mit den postum veröffentlichten „Grundriß“-Beiträgen zu „Wirtschaft und Gesellschaft“ von 1911–1914. Ebenso wie dieses Konvolut ist – mit Ausnah[137]me der „Rechtssoziologie“ und kleinerer Werkfragmente
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[137] Weber, Max, Recht §§ 1–7 (Deponat Max Weber, BSB München, Ana 446; MWG I/22-3); ders., Die Wirtschaft und die Ordnungen (ebd., MWG I/22-3); ders., Teilmanuskript zu „Staat und Hierokratie“ (ebd., MWG I/22-4), und ders., Fragment einer Manuskriptseite zu „Religiöse Gemeinschaften“, Abschnitt 7, MWG I/22-2, S. 449 f.
– das Manuskript der Musik-Studie vermutlich seit dem Zweiten Weltkrieg, wie Johannes Winckelmann zur vierten Auflage von „Wirtschaft und Gesellschaft“ im Sommer 1955 anmerkt, „unauffindbar und vielleicht als verloren zu betrachten“.
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Winckelmann, Johannes, Vorwort zur vierten Auflage, in: WuG4, S. Xl–XVIl, hier S. XIV.
Marianne Weber findet das mit den handschriftlichen Zusätzen versehene Typoskript der Musik-Studie bei den Textkonvoluten von WuG in ihrer Wohnung in der Münchener Seestraße 3c. Zwei Wochen nach Webers Tod schreibt sie an den Tübinger Verleger Paul Siebeck: „Ich habe heute schon einen Teil der Manuskripte meines Mannes zur Soziologie zur Durchprüfung an einen jungen Gelehrten Dr. Palyi hier gegeben. […] Es ist offenbar druckfertig vorhanden: Religionssoziologie, Rechtssoziologie, dann Formen der Gesellschaft […] – ferner Formen der Herrschaft […] u. ein großes Konvolut: Formen der Stadt, u. schließlich ein höchst interessanter Abschnitt über Musiksoziologie.“
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Brief Marianne Webers an Paul Siebeck vom 30. Juni 1920 (VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446).
Doch diese erste Sichtung der Manuskripte täuscht: weder das WuG-Konvolut noch das Musik-Typoskript liegen „druckfertig“ vor, wie Marianne Weber später einräumt: „Große Teile [von WuG] lagen unfertig da, einige davon mitten im Satz abgebrochen. Ihre Reihenfolge konnte nur vermutet werden.“
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Weber, Marianne, Lebenserinnerungen. – Bremen: J. Storm 1948 (hinfort: Weber, Marianne, Lebenserinnerungen), S. 123.
Im Dezember 1920 macht sie die Söhne des Verlegers erneut auf die Musik-Studie aufmerksam: „Im Schreibtisch liegt ein äußerst wertvolles Manuskript über ,Die soziologischen Bedingungen der Musik‘. Es soll vor anderweitiger Verwendung auf Prof. Lederers Wunsch in ein künftiges Archiv-Heft“ aufgenommen werden.
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Brief Marianne Webers an Werner Siebeck vom 26. Dezember 1920 (VA Mohr/Siebeck, Deponat BSB München, Ana 446). Emil Lederer wird vom Verlag Mohr-Siebeck nach Webers Tod als Generalredaktor des „Grundrisses der Sozialökonomik“ eingesetzt.
Kurze Zeit später existieren bereits „anderweitige“ Pläne. Marianne Weber und der Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) sind, wie Oskar Siebeck im März 1921 ausführt, „dahin übereingekommen, daß außer den ,Politischen Schriften‘ Max Webers zunächst auch die ,Soziologie der Musik‘ im Drei-Masken-Verlag erscheinen soll, während alle wissenschaftlichen Abhand[138]lungen bei uns herauskommen sollen.“
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[138] Brief Oskar Siebecks an Marianne Weber vom 23. März 1921 (ebd.).
Über die Druckfahnen schreibt Marianne Weber im Frühjahr 1921 an Else Jaffé: „Ich korrigiere jetzt nebeneinander die Soziologie [gemeint ist WuG] und die musiksoziologische Abhandlung, da muß jedes Wort mit dem Manuskript verglichen werden.“
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Weber, Marianne, Lebenserinnerungen (wie oben, Anm. 41), S. 129.
Bei dieser diffizilen Arbeit hilft ihr der seit 1902 in München, von 1920 bis 1923 in Heidelberg lehrende Musikhistoriker Theodor Kroyer, der in München an Webers vierzehntägigem Kolloquium teilgenommen und dabei auch die Musik-Studie kennengelernt hat. Als Erstherausgeber betont er in seiner „Einführung“ zur Editionsarbeit seine „liebe Not mit der Handschrift, die das Unreine eines durch tausend Einschachtelungen erweiterten und verbesserten, verstrichenen und verklebten Entwurfs ist“, und deren „Hieroglyphen“ selbst Marianne Weber nicht vollständig entschlüsseln konnte, so daß „nur noch die Sinnmutung“ übrigblieb.
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Kroyer, Einführung, unten, S. 142 f. Vermutlich hat Karl Loewenstein bei der Drucklegung der Studie – ebenso wie bei „Wirtschaft und Gesellschaft“ – mitgeholfen, vgl. Weber, Marianne, Lebenserinnerungen (wie oben, Anm. 41), S. 123. Wie den textkritischen Apparaten der hier vorgelegten Edition zu entnehmen ist, haben die Erstherausgeber dann doch nicht „alle Unebenheiten“, wie Kroyer, (Einführung, unten, S. 143), meint, „beseitigt“. Analoges gilt für die von Johannes Winckelmann und dem Tübinger Musikhistoriker und Kroyer-Schüler Walter Gerstenberg besorgte Veröffentlichung als „Anhang“ in der vierten Auflage von „Wirtschaft und Gesellschaft“ aus dem Jahre 1956, zu der Winckelmann im Vorwort bemerkt: „Der musiksoziologische Anhang wurde mit der Erstausgabe der Einzelschrift aus dem Jahre 1921 verglichen, wobei sich auch diese als nicht voll zuverlässig erwies. Mannigfache Mängel des Textes der Untersuchung Max Webers zur Rationalität und Soziologie der Musik konnten behoben werden.“ (WuG4, S. XIV).
Im Sommer 1921 erscheint die Musik-Studie im Münchener Drei Masken Verlag.
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Laut Verlagsvertrag zwischen Marianne Weber und dem Drei Masken Verlag vom 20. April 1921 (Privatbesitz, Kopie Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München) beträgt die erste Auflage „mindestens 1500 Exemplare“. Als Arbeitstitel diente laut Vertrag „Zur Musik-Soziologie“. Am 24. April 1924 inseriert der Drei Masken Verlag im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel die zweite, unveränderte Auflage der Musik-Studie.
Den tradierten Titel der Studie: „Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik“ haben die Herausgeber der Neuedition ersetzt. Zum einen ist er nicht autoreigen; zum anderen ignoriert er in seinem „soziologischen“ Anspruch Webers zentralen brieflichen Hinweis vom August 1912, „über Musikgeschichte wohl etwas zu schreiben, d. h. nur: über gewisse soziale Bedingungen […]“.
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Brief Webers an Lili Schäfer vom 5. August 1912, MWG II/7, S. 638 f.
Webers Ansinnen war schon terminologisch kein „musiksoziologisches“, sondern ein „musikhistorisches“, das – [139]der Definition im „Wertfreiheits“-Aufsatz folgend – den „,Fortschritt‘ der technischen Ausdrucksmittel“ zur Verwirklichung eines Kunstwollens thematisiert.
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[139] Siehe dazu oben, S. 121. Webers explizite Hervorhebung der „Musikgeschichte“ wird von Marianne Weber im Vorwort zur zweiten Auflage von „Wirtschaft und Gesellschaft“ (WuG2, S. VIII) ignoriert. Sie zitiert hier verkürzt den Brief vom August 1912: „Während der Beschäftigung mit diesem spröden Stoff bemerkte er [Weber] darüber 1912 brieflich: Ich werde wohl über gewisse soziale Bedingungen der Musik schreiben, aus denen sich erklärt […]“.
Zudem scheint sein Plan, „nur über gewisse“ soziale Bedingungen zu schreiben, ein sehr viel bescheidenerer gewesen zu sein als „die soziologischen Grundlagen der Musik“ darzulegen. Berücksichtigt man schließlich, daß Weber diesen Plan nicht mehr bzw. nur in marginalen Ansätzen verwirklicht hat, so geht der Titel auch inhaltlich an der Studie vorbei, so daß nur dessen „rationale Grundlagen“-Bestimmung zutreffend bliebe, spiegelt sie doch Webers kritische Rezeption des Helmholtz’schen epochalen tonphysikalischen und hörphysiologischen „Grundlagen“-Werkes wider.
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Siehe dazu oben die Einleitung, S. 41, Anm. 15. Ob Marianne Weber und Theodor Kroyer bei ihrer Titelwahl an den Untertitel von Helmholtz’ Grundlagen-Werk gedacht haben, ist allerdings unwahrscheinlich.
Dem überlieferten Inhalt der Studie folgend müßte ihr Titel lauten: „Rationale und (instrumental-)technische Grundlagen der Musik“. Dies könnte sich zudem auf jene Trias der „teils rational[en], teils technisch[en], teils soziologisch[en]“ Argumentationsebene stützen, die Weber auf dem Berliner Soziologentag 1912 als einzig empirische und somit maßgebliche im Kontext kultursoziologischer Fragen vorstellt.
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Weber, Verhandlungen 1912, S. 190. Siehe dazu die Einleitung, oben, S. 98 f.
Doch auch diese – inhaltlich gerechtfertigte – Titelwahl muß entfallen, da sie keine im engeren Sinne autoreigene ist. Autoreigen ist nur die Bezeichnung „Musik-Soziologie“. Sie gibt das Manuskript inhaltlich zwar nur ungenügend wieder, und auch Weber hat sie vermutlich nur als provisorischen Arbeitstitel verstanden, gleichwohl benutzt er sie über die Jahre hinweg in Briefen an seine Frau, Mina Tobler und Karl Loewenstein.
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Siehe dazu oben, S. 131 f. Gestützt wird die Wahl durch die (allerdings wiederum nicht autoreigene, weil postume) Formulierung des § 1 des Verlagsvertrages zwischen Marianne Weber und dem Drei Masken Verlag vom April 1921 (Privatbesitz; Kopie Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München): „Frau Marianne Weber übergibt dem Verlag aus dem Nachlaß Max Webers dessen Arbeit ,Zur Musik-Soziologie‘“.
Schließlich bringt sie den autoreigenen Plan der Vervollständigung der Musik-Studie im Sinne jener Berliner Argumentationstrias zum Ausdruck. Nicht zuletzt findet sich im Erstdruck auf dem Vorsatzblatt und dem Rücken der Aufdruck: „Weber. Soziologie der Musik“. Die einzelnen Bögen tragen jeweils unten auf ihrer ersten Seite (S. 17, 33, 49, 65, 81) den klein gedruckten Hinweis: „Weber, Musiksoziologie“.

[140]Anhang zum Editorischen Bericht

[V][Theodor Kroyer:] Zur Einführung
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[140] Aus: Weber, Max, Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik. Mit einer Einleitung von Theodor Kroyer. – München: Drei Masken Verlag 1921, S. V–VIII.

Der Musiker weiß, daß er mit den Tönen, wie sie die Natur ihm darbietet, nicht harmonisieren kann. Erst als Mittelwerte, als „gleichschwebend temperierte“ Oktavzwölftel kann er sie brauchen. Er pflegt aber zu vergessen, daß der menschliche Geist um diese einfältige Formel gerungen hat, daß sie die späte, auf dem steinigen Acker der Musica speculativa gewonnene Frucht vielfältiger Versuche ist – nicht aller Weisheit letzter Schluß freilich, sondern ein Aushilfsmittel am Ende wie am Anfang, immer noch ein Problem, ein Rätsel, worin ein ganzer Knäuel forschender Gedanken die uralte Frage nach dem Wesen der Musik umkreist. Heute wird mancher vielleicht unlieb daran erinnert. Mag auch die „wohltemperierte“ Oktave die Entwicklung unserer Musik fast schicksalhaft bestimmt haben, – ihr zweihundertjähriges Reich ist nicht mehr unbestritten. Stehen wir nicht, wie die Zeitgenossen des Erzchromatikers Don Vicentino, auch heute vor der Wahl „Zwölfton- oder Viertelton-Musik“? Hofft nicht der jüngste Fortschritt auf die Wiedergeburt der absoluten Melodie im linearen Kontrapunkt? Und die „äußerste Linke“ gar: träumt sie nicht, wie die Renaissance, von den antiken Klanggeschlechtern, von den Wundern eines futuristischen Organums mit natürlichen und rationalisierten Intervallen?
Das dieser Geistesrichtung zugrunde liegende Problem gewinnt durch seine Verästelungen ins Ethnographische und Psychologische und Musikgeschichtliche an Bedeutung. In der Geschichte der Tonmessung liegt ein ungeheures Arbeitsfeld vor uns, das nur von den verschiedensten Wissenschaften bebaut werden kann. Darüber haben schon die vor dreißig Jahren erschienen Studien von A[lexander J.] Ellis (On the musical scales of various nations) keinen Zweifel gelassen. Inzwischen ist mit dieser Erfahrung die Zahl der Forscher gewachsen. Land, Gevaert, Villoteau, Hipkins, Helmholtz, Adler, Riemann, Stumpf und seine Schule sind dem [VI]Problem nähergekommen. Aber die ganze Fülle der Beziehungen zu einander ist noch unerkannt.
Hier greift Max Webers Buch ein. Ihm kommt es darauf an, diese Fülle in den weiten Interessenkreis der Soziologie einzuspannen und die Zusammenhänge nun einmal von der Rundschau eines Gedankens aus zu [141]betrachten. Er sucht die Gesetze der Rationalisierung auf, im historisch Gegebenen und in der Gegenwart, er geht die Wege des Ethnographen zu den Naturvölkern und prüft die Möglichkeit eines Rückschlusses auf die Verhältnisse der Antike und des Mittelalters. Jetzt zeigt sich, wie fruchtbar die kürzlich von Guido Adler versuchte Deutung des „Heterophonie“-Begriffs ist: daß gewisse Mehrstimmigkeits-Erscheinungen der Primitiven in den geschichtlichen Denkmälern der abendländischen Musik ihre Parallelen haben, selbst wenn sie nicht überall erkennen ließen, wo die Überlieferung aufhört und der europäische Einfluß beginnt. Das erste Ergebnis ist die Unterscheidung zweier Musikwelten, die sich unversöhnlich gegenüberstehen: des Distanzprinzips und der Akkordauffassung. In diesem Gegensatz liegt auch der Schlüssel zu den verschütteten Quellen der abendländischen Polyphonie. Das wird in folgenden Gedankengängen klar: Alle primitive Musik ist erst als Zweck gedacht, kultisch oder heilkundlich. Dann, mit der Erhebung zum ästhetischen Bedürfnis, beginnt die Rationalisierung, die Oktavteilung in irrationale Distanzen, die nun wieder am Instrument gemessen und verdeutlicht werden. In der Instrumentalmusik entwickeln sich weiter die eigentlichen Rationlisierungskünste; auf den Saiten und Rohren sucht man die Töne nachzustimmmen, wie man sie hört oder improvisiert, oder man erprobt umgekehrt Distanzen, die man dann einlernt und überliefert. Dabei hat wohl auch das Symmetriegefühl, das sich im orientalischen Ornament, wie in der Intervallteilung, in den Oktavreihen, im Tetrachord und Hexachord deutlich ausspricht, eine wichtige Rolle gespielt. Den Sieg des im Grund also harmoniefremden Distanzprinzips im Orient entscheidet die irrationale Terz, die durch den altarabischen Dudelsack in das über ganz Vorderasien verbreitete (arabische) Tonsystem gekommen ist. Sie ist die Ursache der „melodischen“ Musikentwicklung des Orients. Nun drängt sich die Frage auf, warum gerade das Abendland zur akkordischen Rationalisierung, [VII]zur Diatonik und Harmonik gelangte, da doch auch hier der Dudelsack nicht unbekannt war? Da wird auf uralte Transpositions-Versuche bei einzelnen Völkern hingewiesen, die schließlich zur Temperierung führen mußten. Denn „Temperierung“ ist „das einzige Mittel, Melodien auf jeder Tonhöhe ohne Umstimmung des Instruments zu wiederholen“. Temperatur ist die Vorbedingung der Quint und Terz, der mittelalterlichen „Konkordanz“. „Auf dem akkordisch rationalisierten Tonmaterial baut sich die einheitliche Bezüglichkeit der Diatonik auf.“
2
[141] Als Zitat in Webers (überliefertem) Text nicht nachgewiesen.
Hier entschleiert sich das Geheimnis der modernen Harmonie. Auch die geschichtliche Sendung des altklassischen Acappella-Gesangs – das möchte ich meinen engeren Fachgenossen [142]einschärfen – ist in diesem Gegensatz zwischen morgen- und abendländischer Tonauffassung begründet. Freilich bleibt noch ein ungelöster Rest: warum der in altenglischen Berichten überlieferte nordische Terzengesang so durchaus einzigartig ist? Die Völkerkunde weiß kein Seitenstück zu diesem Weltwunder, das uns um so mehr in Verlegenheit setzt, als Mehrstimmigkeit noch nicht Harmonie bedingt. Max Weber mutmaßt mit Adler und Riemann im Discantus „Heterophonie“. Das heißt: Auch aus dem Organum wäre nichts geworden, wenn nicht andere Kräfte mitgewirkt hätten. Aber welche es sind, das läßt uns die Temperierung nicht erraten. Sehr fein sagt Weber, daß auch die moderne Notenschrift eine der spezifischen Bedingungen der polyphonen Musikentwicklung und für sie grundlegender gewesen sei als die Sprachschrift für die Literatur.
Den Reigen der Darstellung schließt ein soziologischer Rundgang durch die Instrumentenkunde, mit neuen Gedanken über die Instrumente als Ware, unter dem Einfluß der Industrie und des Handels, unter den Wirkungen des Klimas, der Haus- und Straßenkultur – Gedanken, bei denen wir überrascht aufhorchen. Dabei fällt auch ein Wort gegen die Herausforderungen futuristischer Dissonanzenprasser. Der Gefallen an irrationaler Musik kann wohl auf Gewöhnung beruhen. Das Ohr läßt sich erziehen. Gewiß. Aber es muß doch seine natürlichen Grenzen in der temperierten Oktave haben. Immer strebt es nach Einstimmung der Terz in den Akkord. In der Geschichte der Tonmessung sind Irrationalität und Distonalität meistens Erzeugnisse der Gelehr[VIII]ten- und Höflingskunst, intellektualistisches Barock, Virtuosenübermut, eine Erscheinung, die fast stets von Verfall begleitet ist. Das wollen wir uns merken!
Alle Wünsche wird dieses Buch nicht erfüllen. Nur zu oft steht Meinung gegen Meinung. So läßt der Ursprung der Polyphonie auch andere Deutungen zu. Die Sätze über den Kontrapunkt und den Kanon, über die Imitation, über das Lydische, den Tritonus, das Parallelen-Verbot, über die Stellung der Quart u. a. sind anfechtbar. Auch die Tonpsychologie wird da und dort ihre Randstriche machen. Das liegt aber in der Natur der Sache. Ich habe nur das glatt Unrichtige, sonst nichts daran geändert, sowenig, wie an der äußeren Form: es ist ein Ganzes, das wir dankbar hinnehmen müssen. Daß ein so vielerfahrener und scharfsinniger Mann, wie Max Weber, auch die Musik in seinen Gedankenkreis einbezogen hat, soll uns eine gute Vorbedeutung sein. Der schwesterliche Bund der Wissenschaften erhält in ihm eine neue Stärkung.
Die Herausgeber hatten ihre liebe Not mit der Handschrift, die das Unreine eines durch tausend Einschachtelungen erweiterten und verbesserten, verstrichenen und verklebten Entwurfs ist. Die winzigen, flüchtig hingeworfenen und in die ältere Maschinenschrift hineingestopften Zusätze widerstanden nicht selten dem bewaffneten Auge und ließen sich erst [143]durch mühsame Schriftenvergleiche entziffern. Oft genügten auch sie nicht mehr, und es blieb nur noch die Sinnmutung. Frau Marianne Weber hat sich zunächst um die Auflösung dieser Hieroglyphen bemüht. Der weiteren sorgfältigen Nachlese gelang es dann, alle Unebenheiten zu beseitigen und dieses widerborstige Meisterstück der Synthese doch noch für die Nachwelt zu retten.
Heidelberg, im Juli 1921. Theodor Kroyer.