[1]Einleitung
Die 1921, ein Jahr nach dem Tod ihres Verfassers unter dem Titel „Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik“ veröffentlichte, 1912 provisorisch fixierte Musik-Studie fristet ein Schattendasein unter den Schriften Max Webers. Dies, obwohl Weber an zentralen Passagen seines Œuvres auf ihre Ergebnisse verweist, so in der „Einleitung“, „Zwischenbetrachtung“ und „Vorbemerkung“ der religionssoziologischen Abhandlungen, in der „Herrschafts“- und „Religionssoziologie“ von „Wirtschaft und Gesellschaft“, im „Kategorien“-Aufsatz sowie in der Abhandlung zum „Sinn der ,Wertfreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften“ und seiner Rede „Wissenschaft als Beruf“. Die musiktheoretischen, -historischen, -ethnologischen und tonphysikalischen Kenntnisse, die zum Verständnis der Schrift vonnöten sind, sind selbst im außergewöhnlich weiten Horizont des Juristen, Nationalökonomen, Historikers und Sozialwissenschaftlers „exotisches“ Terrain; nicht zuletzt ihre Fachfremdheit hat eine angemessene Würdigung der Schrift verhindert. Dies gilt nicht minder für ihren fragmentarischen Charakter und ihre bislang unglückliche editorische und fragliche werkgeschichtliche Einordnung in das überlieferte Gesamtwerk.
Die Studie ist der erste Teil einer geplanten, jedoch nicht weiter ausgeführten Kultursoziologie, einer „Soziologie der Cultur-Inhalte“, in der Weber auf den Gebieten der verschiedenen Künste, der Architektur, Literatur und eben auch der Musik die Besonderheit der modernen europäischen Kultur respektive des okzidentalen Rationalismus in universalhistorischem Vergleich darzulegen sucht – in Parallele und Abgrenzung zu seinen in „Wirtschaft und Gesellschaft“ thematisierten, unter derselben universalhistorischen Fragestellung stehenden Untersuchung der „Formen“ sozialen Handelns in den Bereichen Wirtschaft, Herrschaft, Religion und Recht. Bei seinem kultursoziologischen Plan wendet sich Weber zunächst – ab 1910 – der Musik zu. Dies hat biographische und wissenschaftshistorische Gründe. Die Herkunft aus einer bürgerlichen, mit Musik wohlvertrauten Familie, die persönliche Musikalität, der Umgang mit Komponisten und Musikern, insbesondere die enge Freundschaft mit der Pianistin Mina Tobler, ferner die erste Blüte der neuen Disziplin der Vergleichenden Musikwissenschaft (Musikethnologie) sowie die werkübergreifende Leitfrage nach den Entstehungsbedingungen des modernen europäischen Bürgertums, seiner spezifisch rationalen Lebensführung und seinen universalhistorisch einzigarti[2]gen kulturellen Manifestationen: unter diesen Vorzeichen entsteht die Musik-Studie in den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg.
I. Max Webers musikalischer Horizont
1. Musik im kulturellen Haushalt der bürgerlichen Gesellschaft
Max Weber wächst in einer bürgerlichen Familie und Umgebung auf, in der Musik zum selbstverständlichen kulturellen Haushalt gehört. Unter Musik ist dabei in erster Linie die klassisch-romantische Tradition von Mozart, Haydn und Beethoven bis Brahms, Liszt und Wagner zu verstehen. Webers Generationsgenossen Richard Strauss und Gustav Mahler sind um die Jahrhundertwende umstritten und gelten als Spitze des musikalischen „Fortschritts“; der 1896 verstorbene Anton Bruckner wird gegen Ende seines Lebens außerhalb Wiens und Österreichs erst langsam bekannt. Diese Musikkultur ist im deutschsprachigen Bürgertum eine gänzlich „deutsche“, unter Einschluß der Wiener Tradition, deren Kern – Haydn, Mozart, Beethoven – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer stärker zur „Wiener Klassik“ als Pendant der „Weimarer Klassik“ stilisiert wird. Die Vorstellung, daß die deutsche Musikkultur die in der Kulturwelt herrschende und daß nichts dieser deutschen Musik vergleichbar sei, ist Allgemeingut der Gebildeten in den deutschsprachigen Ländern. Paul Bekkers Diktum von der „Weltgeltung der deutschen Musik“,
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Guido Adlers Hymne auf das „deutsche Grundwesen“ der „von allen Kulturnationen in der ganzen musikalischen Welt als Inbegriff tonkünstlerischer Vollendung anerkannt[en]“ Wiener Klassik[2] Bekker, Paul, Die Weltgeltung der deutschen Musik. – Berlin: Schuster & Löffler 1920. Der 1882 in Berlin geborene Bekker ist nach seiner Tätigkeit als Geiger im Berliner Philharmonischen Orchester von 1911 bis 1925 erster Musikkritiker der Frankfurter Zeitung und als solcher maßgeblich an der musikalischen Meinungsbildung in Deutschland beteiligt. Charakteristisch für die analoge Einschätzung im vorausgehenden Jahrhundert ist Franz Brendel, Geschichte der Musik in Italien, Deutschland und Frankreich, 6. Aufl., hg. von Franz Stade. – Leipzig: F. C. Schilde 1878, S. 514 f., der „Kunstwerke im deutschen Sinne, wenigstens auf dem Gebiete der Instrumentalmusik […] das Höchste innerhalb dieser Sphäre“ nennt.
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oder auch Marianne Webers deutsch-nationale Emphase über Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ Adler, Guido, Die Wiener klassische Schule, in: ders. (Hg.), Handbuch der Musikgeschichte. – Frankfurt a. M.: Frankfurter Verlagsanstalt 1924, S. 694 f.
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spiegeln diese Haltung beispielhaft wider. Andere nationale Musikkulturen spielen aus dieser Perspektive eine untergeordnete Rolle, auch wenn um 1900 die [3]französische (mit Claude Debussy als Protagonisten der Moderne) und die russische allmählich intensiver und breiter rezipiert werden. Weber, Marianne, Lebensbild, S. 506. Ihr Mann setzt hier durchaus andere Akzente. Näheres dazu unten, S. 30 f.
Das bürgerliche Verständnis der Musikkultur und ihrer Entwicklungen speist sich aus dem eigenen Musizieren, dem Konzertbesuch und dem informierten geselligen Gespräch, in das auch die Auseinandersetzung mit dem Musikjournalismus einfließt, dessen Bedeutung ebenfalls seit etwa 1900 erheblich wächst. Im Mittelpunkt der häuslichen Musikpflege steht, schon seit dem mittleren 18. Jahrhundert, das Tasteninstrument, in Webers Epoche das Klavier, das „bürgerliche ,Möbel‘“, als das er es, Oscar Bie folgend, apostrophiert.
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Dazu tritt das Musizieren von Kammermusik, vor allem im häuslichen Streichquartett, aber auch in Kombination von Klavier- und Streich-, viel seltener Blasinstrumenten. Schließlich gibt es in wohlhabenden Häusern, die Repräsentationspflichten oder -bedürfnisse haben, Hauskonzerte mit professionellen Ensembles. Das Klavier ist, auch noch in Webers Zeit, ein Instrument der Damen. Es ist wichtig als Begleitinstrument für den Liedgesang, der wiederum vor allem den weiblichen Familienmitgliedern obliegt, vor allem den Töchtern, begleitet von hoffnungsvollen Junggesellen. Besonders intensiv ist die Liedkultur um 1900; die Popularität und reiche Produktion der Kompositionsgattung Lied bis an die Schwelle zur Neuen Musik (so bei Hugo Wolf) hat hier eine ihrer Wurzeln. Schließlich ist, worauf Weber im Schlußabschnitt seiner Studie zur Musik hinweist,[3] Siehe unten, S. 280.
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das Klavier unentbehrlich als das einzige Instrument, über das man die großen Werke der Orchestermusik und der Oper, im Klavierauszug, im häuslichen Kreis kennenlernen kann. Siehe dazu unten, S. 277 f.
2. Musik im kulturellen Haushalt der Vorfahren
Musikalität und musikalische Interessen werden Max Weber gewissermaßen in die Wiege gelegt. Die musisch-kulturell interessierte Lebensführung seiner Vorfahren mütterlicherseits legt hierfür den Grundstein. Unter seinen deutsch-englisch-hugenottischen Vorfahren, die den begüterten, in Frankfurt, London und Manchester ansässigen Handelsfamilien Souchay und Benecke entstammen, besitzt sein Urgroßvater Carl Cornelius Souchay (1768–1838) ein besonderes Faible für Musik. Er hat, so erzählt seine Tochter Henriette Benecke, ein Klavier im Comptoir stehen und lebt „lange zurückgezogen von Geschäften, hauptsächlich der Musik, die er leidenschaftlich liebte und selbst, aber mit wenig Erfolg, viel betrieb“.
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[4]Dessen Enkelin Cäcilie (Cécile) Jeanrenaud heiratet am 28. März 1837 den seit 1835 in Leipzig als Leiter des Gewandhausorchesters tätigen Felix Mendelssohn Bartholdy. Max Weber erwähnt die Verbindung in einem Brief vom 14. April 1920 aus München im Zusammenhang mit Antisemitismus-Vorwürfen. Benecke, Henriette, Alte Geschichten. – Heidelberg: A. H. Avenarius 1866 (zunächst anonym erschienen), S. 53 (hinfort: Alte Geschichten). Zu diesem Zeugnis und den folgenden Musikalien aus der älteren Familiengeschichte Webers siehe Roth, Guen[4]ther, Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte 1800–1950, mit Briefen und Dokumenten. – Tübingen: Mohr Siebeck 2001 (hinfort: Roth, Familiengeschichte), hier S. 63 und 114. Carl Cornelius Souchays Frau Helene, geb. Schunck, führt in Frankfurt einen weithin bekannten musisch-literarischen Salon, in dem u. a. Goethe und die Brentanos häufig zu Gast sind.
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Der Komponist wohnt während seiner gefeierten Konzerttourneen als Dirigent und Pianist in England bei den Verwandten, insbesondere in der Villa Benecke auf Denmark Hill im Londoner Ruskin Park, wo er u. a. die „Lieder im Freien zu singen“ op. 48 und 59 komponiert und sie Webers Großtante Henriette Benecke widmet. „Fast mein ganzer Umgang ist jüdisch, eine Kusine meiner Mutter war Felix Mendelssohns Frau – ich denke ich bin unverdächtig, ,Antisemit‘ zu sein. Hier gelte auch ich als ,Jude‘ (Zuschriften von Offizieren an mich!)“ (Brief Max Webers an Carl Petersen vom 14. April 1920, Privatbesitz; MWG II/10; zitiert in: Roth, Familiengeschichte, S. 472).
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Wie eng seine Beziehung zu Webers Urgroßvater ist, zeigt die Begebenheit, wonach der Komponist an Carl Cornelius Souchays Sterbeabend am 27. Mai 1838 diesem „einige Stunden seine Lieblingskompositionen von Mozart, Heiden [sic], Beethoven zu seiner grossen Freude über die Musik und über den liebenswürdigen Mann seiner schönen Cécile“ spielt. Siehe dazu den Brief Mendelssohns an Karl Klingemann vom 12. Juni 1843, in: Klingemann (Jr.), Karl, Felix Mendelssohn Bartholdys Briefwechsel mit Legationsrat Karl Klingemann in London. – Essen: Bädeker 1909, S. 282.
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So der Sohn Eduard Souchay in seinen „Familienerinnerungen“ (Manuskript, Stadtarchiv Frankfurt, Bl. 195), zitiert nach Roth, Familiengeschichte, S. 116 f.
Henriette Benecke wie auch ihre Schwester Emilie Fallenstein, Webers Großmutter, sind leidenschaftliche Musikliebhaberinnen; ausführlich berichten sie von regelmäßigen, qualitativ hochstehenden Kammermusik-Konzerten im Hause Benecke auf Denmark Hill. So erwähnt Henriette die Musik als „größte Lebensfreude“ ihres Mannes Friedrich Wilhelm Benecke: „Er veranstaltete in unserem Haus wirklich die vollendet schönsten Konzerte, zu denen er oft zehn bis zwölf gute Künstler vereinigte. Kein Preis war ihm zu hoch für diese Freude, und das Musizieren mit seinen Töchtern und mit seinem Sohne war sein schönster Genuß. […] Mendelssohn Bartholdy, [Joseph] Joachim und [Ernst] Pauer gehörten zu seinen intimsten Freunden.“
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Emilie erinnert sich an ihren zweiten Englandaufenthalt 1827: [5]„Wie oft habe ich den ,Don Juan‘ dort [im Hause Benecke] ganz en famille vortragen hören, Herr Benecke Bass, Wilhelm Tenor, Mathilde Sopran, Henriette Alt. Fritz Schlemmer […] accompagnierte und sang auch mit, wo es nötig war, ich hörte zu und war im dritten Himmel, denn Kammermusik war und ist meine Leidenschaft“. Alte Geschichten (wie oben, S. 3, Anm. 6), S. 115 f, zitiert in: Roth, Familiengeschichte, S. 142. Ernst Pauer ist Lehrer am Londoner Royal College of Music und Leiter des Deutschen Männergesangvereins; den gefeierten Geiger, Komponisten und Brahms-Freund Joseph Joachim hat Max Weber noch selbst gehört, siehe dazu unten, S. 11.
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Welchen Wert – auch materiellen – man im Hause Benecke der Musik beimißt, zeigt nicht zuletzt Wilhelm Beneckes Geschenk einer Stradivari aus dem Jahre 1694 an seinen Sohn Charley.[5] Anonym [Emilie Souchay Fallenstein], Erinnerungsblätter an meine Kindheit und Jugend. Für meine Kinder aufgezeichnet in den Winterabenden 1872–1875. – Stuttgart: Guttenberg (Privatdruck) 1882, S. 155, zitiert in: Roth, Familiengeschichte, S. 141 f. Gemeint ist Mozarts „Don Giovanni“, ferner die Sänger Levin Anton Wilhelm Benecke, dessen Sohn Friedrich Wilhelm und dessen Schwester Mathilde. Im Mai 1819 kommt Louise Reichardt, die Tochter des Komponisten Johann Friedrich Reichardt, für ein halbes Jahr als Gast in das Haus Benecke und übernimmt hier den Singunterricht der beiden Töchter Emilie und Mathilde. Fritz Schlemmer, ein Cousin Emilies, zunächst Tutor der Rothschild-Söhne in London, dann Privatier in Frankfurt a.M., lernt Felix Mendelssohn in Neapel kennen und vermittelt die Beziehung zwischen dem Komponisten und Cécile; in Leipzig verkehrt er häufig bei den Mendelssohns und macht hier die Bekanntschaft Robert Schumanns. Er selbst gilt seinerzeit als ausgewiesener, auch von Hermann von Helmholtz zu Rate gezogener Fachmann in Sachen Orgelbau und -spiel, siehe dazu den Kirchlichen Anzeiger für die evangelisch-lutherischen Gemeinden, Jg. 9, 1890, S. 358 f., anläßlich seines Todes am 23. September 1890.
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Siehe dazu Roth, Familiengeschichte, S. 143.
In Webers Erfurter und (ab 1869) Charlottenburger Elternhaus nehmen musikalische Darbietungen ebenfalls einen hohen, wenn auch nicht derart exponierten Stellenwert ein wie in den Häusern Souchay und Benecke. Während der Vater keine musischen Neigungen zeigt, pflegt die Mutter Helene, geb. Fallenstein, schon aufgrund ihrer Verwandtschaft mit der Cousine engen Kontakt zur Komponistenfamilie Mendelssohn in Berlin. Als Jugendliche erfährt sie eine intensive Musikerziehung durch Victoria Gervinus. Die in Helenes Heidelberger Elternhaus wohnende Gesangs- und Klavierlehrerin übersetzt und ediert zusammen mit ihrem Gatten, dem Literarhistoriker Georg Gottfried Gervinus, italienische Händel-Opern;
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der [6]Tochter des Hauses vermacht sie in diesem Zusammenhang ein wertvolles Geschenk. Weber, Marianne, Lebensbild, S. 21, bemerkt dazu: „Oben im Hause wohnte Gervinus, Fallensteins Freund und nach dessen Tod väterlicher Freund und Lehrer der Töchter, den sie schwärmerisch verehrten. Auch dessen Gattin gehörte zu den Persönlichkeiten, die den Schwestern [Ida, Henriette, Helene und Emilie] als höheres Wesen galt. Das kinderlose Ehepaar zog besonders Helene nahe an sich heran. Die ,Tante‘ bildete sie musikalisch, der ,Onkel‘ führte die Mädchen in das Verständnis der Antike ein.“ Victoria Gervinus ediert bei Breitkopf & Härtel im Klavierauszug mit deutscher Übersetzung Händels „Floridante“, ihr Gatte u. a. „Rhadamist“, „Sosarme“ und „Orlando“. 1892, ein Jahr vor ihrem Tod, gibt Victoria Gervinus eine siebenbändige „Sammlung von Gesängen aus Händels Opern und Oratorien“ sowie das Lehrbuch „Naturgemäße Ausbildung in Gesang und Klavierspiel“ (beides Leipzig: Breitkopf & Härtel) her[6]aus. Mit den Opern-Ausgaben sowie mit dem Werk „Händel und Shakespeare. Zur Ästhetik der Tonkunst“. – Leipzig: W. Engelmann 1868, der Gründung einer Deutschen Händel-Gesellschaft (1856) und der Errichtung des Händel-Denkmals in Halle (1859) propagiert das Ehepaar im Verbund mit Friedrich Chrysander, Moritz Hauptmann und Siegfried Dehn eine nicht nur philologisch, sondern auch nationalliberal-patriotisch motivierte deutsche Händel-Renaissance.
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Vermutlich hat Victoria Gervinus ihr eine Händel-Partitur geschenkt. Dies legt ein Brief nahe, den Max Weber am 4. Dezember 1919 (GStA Berlin, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 23, Bl. 51–54; MWG II/10) aus München an seine Schwester Clara Mommsen, die nach dem Tod der Mutter die Erbschaft regelt, richtet: „Den ,Händel‘ – die Mutter wußte nie recht, wie sie darüber verfügen sollte – müssen wir wohl zu einem Auktionator geben. Er ist, obwohl 1 Band fehlt, immerhin recht wertvoll.“ Fraglich ist, ob es sich um eine Originalhandschrift oder eine frühe Ausgabe gehandelt hat.
3. Max Webers Musikalität und praktisch-musikalische Bildung
Ihre musische Ausbildung vermittelt Helene den Kindern weiter. Von ihrem Ältesten, dem etwa zehnjährigen Max, erzählt sie, er übe frühmorgens und nachmittags eine halbe Stunde Klavier, „was er seit kurzem bei einem hiesigen Lehrer angefangen hat und mit Leidenschaft betreibt, seine Finger sind geläufig und sein Gehör scheint gut“.
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Weniger Erfolg hat sie damit, den Heranwachsenden im Rahmen ihrer betont christlichen Erziehungsbemühungen zum sonntäglichen Choralsingen anzuhalten. Zitiert in: Weber, Marianne, Lebensbild, S. 43. Zu Maxens Übezeiten siehe ebd., S. 36 f.
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Wenn Weber dreißig Jahre später in seiner Musik-Studie beklagt, daß „manche Choräle, deren rein diatonische Intonation aus dem 15. Jahrhundert bekannt ist, […] nach 500 Jahren heute […] mit einer fast bis zur Unkenntlichmachung gehenden chromatischen Alteration gesungen [werden], welche nun offizieller Dauerbesitz geworden ist“, So klagt sie am 10. August 1885 ihrer Schwester Emilie (NixI) Benecke (zitiert nach Roth, Familiengeschichte, S. 510): „Max jun. und auch Alfred können sich nicht mehr zur Kirche freiwillig entschliessen […] Das Choralsingen vor dem Frühstück habe ich angefangen schon Jahre her, um den Kindern meine lieben alten Choräle, die mir so oft schon geholfen, auch recht ins Herz zu prägen, und dann, um überhaupt so ein Sonntagsgefühl zu geben.“
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so dürfte diese Erkenntnis auch auf den pädagogischen Choraleifer seiner Mutter zurückzuführen sein. Unten, S. 240. In Webers Schrift „Die Protestantische Ethik und der ,Geist‘ des Kapitalismus“, finden „Luthers und Paul Gerhards Choräle“ ebenfalls Erwähnung (Weber, PE I, S. 52).
[7]Von den Fertigkeiten des Jugendlichen am Klavier wird nirgends berichtet.
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Dies legt die Vermutung nahe, daß Weber sich nicht in höhere Regionen der Klavierliteratur gewagt hat – im Unterschied etwa zu seinem Straßburger Onkel Hermann und seinem Vetter Otto Baumgarten, die beide den Kanon der Klavierliteratur von Bach über Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Schumann und Chopin bis zu Brahms beherrschen.[7] Die mit Briefen aus dem zwölften Lebensjahr einsetzende erste Edition der Jugendbriefe Webers, hg. von Marianne Weber. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) o. J. [1936] (hinfort: Weber, Jugendbriefe), zeigt künstlerische Interessen nur für Architektur und Plastik, siehe dazu die Briefe vom 11. August und 29. Dezember 1878, S. 6 und 17. [[MWG II/1]]
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Fraglich bleibt auch, ob Weber an den geselligen Sonntagnachmittagen bei den verwandten und befreundeten Familien Baumgarten, Benecke, Frensdorff und Hausrath in Straßburg, Heidelberg und Göttingen am Klavier mitwirkt; bei diesen familiären Treffen, an denen er vor allem während seiner Militärzeit zugegen ist, wird üblicherweise Literatur rezitiert und auch gesungen, wobei insbesondere seine Cousine Emmy Baumgarten hervortritt, die „mit ihrer prachtvollen Stimme“ ein „Wagnerkonzert“ bestreitet. Der Theologe Otto Baumgarten, mit dem sich der sechs Jahre jüngere Max Weber seit seiner Heidelberger Studentenzeit intensiv austauscht (vgl. Weber, Marianne, Lebensbild, S. 71), erzählt in: Meine Lebensgeschichte. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1929, S. 32 f., von der fundierten musikalischen und ästhetischen Ausbildung, die er als Untersekundaner in Karlsruhe in der Pension eines preußischen Oberstleutnants genossen hat; zu den Einschränkungen seines auf „strengstem Klassizismus“ beruhenden Klavierrepertoires bemerkt er: „Als ich später Schumann, Schubert und Chopin in mein Repertoire einfügte – Mendelssohns ,Lieder ohne Worte‘ durfte ich unbeanstandet früh spielen, da der Komponist zu der weiteren Familie gehörte –, war es zuerst dem Vater ein Anstoß. Aber den Kummer, Richard Wagner oder Liszt zu spielen oder nur im Theater oder Konzert zu hören, hätte ich Vater nicht angetan.“
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Daß Weber später bei Vorträgen über seine musikhistorischen Themen vor Freunden und Kollegen harmonische Phänomene am Klavier demonstriert, Siehe Weber, Jugendbriefe (wie oben, Anm. 18), S. 66, 80 und 101. Die Gepflogenheit, in familiär-verwandtschaftlichem Kreis Shakespeare-Komödien in verteilten Rollen, mitunter auch in Kostümen, zu rezitieren, verbindet den 16jährigen Felix Mendelssohn (im Elternhaus der Leipziger Straße in Berlin) mit dem 18jährigen Max Weber (bei den Verwandten in Straßburg), vgl. ebd., S. 67, sowie Felix Mendelssohn Bartholdy in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, hg. von Hans Christoph Worbs. – Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989, S. 21.
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darf allerdings angesichts seines mindestens zwei- oder dreijährigen Unterrichts nicht weiter überraschen. Aus dem Schweigen der Quellen zu den musikalisch-praktischen Fähigkeiten des Heranwachsenden darf gleichwohl nicht gefolgert werden, Weber sei – wie der 30jährige selbst ironisch [8]meint Siehe dazu unten, S. 128 f.
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– „musikunverständig“ gewesen; das Gegenteil ist der Fall, wie Webers eigenen Zeugnissen, aber auch Erinnerungen von Zeitzeugen zu entnehmen ist. So bekundet Paul Honigsheim, einer von Webers späteren musikkundigen Heidelberger Schülern, daß der verehrte Lehrer „mit jeder Faser seines Herzens“ Musikkenner und -liebhaber gewesen, „Musik und Freundschaft mit Musikern […] unablässig eine der konstitutiven Komponenten des Hauses Weber geblieben“ sei.[8] Im Brief vom 20. Juli 1894 aus Berlin, in dem er seiner Frau von einem Besuch der Sammlung historischer Tasteninstrumente in der Bauakademie berichtet, siehe dazu unten, S. 9, Anm. 28.
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Webers Schwester Clara attestiert dem 28jährigen Berliner Dozenten: „Welchen Genuss hatte er von der Musik! Alle Wagneropern hat er mich kennen gelehrt, und nur durch sein feines Verständnis, seine Auffassungskraft, sind sie mir das geworden, was sie mir sind. Mit seinem fabelhaften musikalischen Gehör und Gedächtnis erfaßte er die Motive, und ich gedenke noch mit Freude unsrer Opernabende, wenn wir Hand in Hand, er immer alles nachpfeifend, durch den Tiergarten nach Hause gingen.“ Honigsheim, Paul, Der Max-Weber-Kreis in Heidelberg, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie, Jg. 5, Heft 3, 1926, S. 282; ders., Marianne Weber 80 Jahre, in: KZfSS, Jg. 3, 1950/51, S. 133.
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Zitiert in: Weber, Marianne, Lebensbild, S. 178.
Das offenbar überdurchschnittlich gut ausgestattete Gehör und musikalische Gedächtnis ermöglichen Weber einerseits, die Vorzüge hochdifferenzierter Musikkulturen jenseits der okzidentalen wahrzunehmen sowie die Verluste an Differenzierung, die der Siegeszug des genuin bürgerlichen Klaviers dem europäischen Hörer eingebracht hat, einzuklagen; so teilt er am 5. August 1912 seiner Schwester Lili die zentrale universalhistorische Entdeckung mit, „daß nur wir eine ,harmonische‘ Musik haben, obwohl andre Culturkreise ein viel feineres Gehör und viel mehr intensive Musik-Cultur aufweisen“;
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„unsere exklusive Erziehung zur modernen harmonischen Musik wird ganz wesentlich von ihm [dem Klavier] getragen. Auch nach ihrer negativen Seite insofern, als die Gewöhnung an die Temperierung unserem Ohr – dem Ohr des rezipierenden Publikums – sicherlich in melodischer Hinsicht einen Teil jener Feinheit genommen hat, welche dem melodiösen Raffinement der antiken Musikkultur das entscheidende Gepräge gab“; auch die Schulung der Sänger erfolgt „heute […] fast durchweg am Klavier […]. Es ist klar, daß dadurch ein so feines Hören, wie bei der Schulung mittels Instrumenten in reiner Stimmung nicht erzielt werden kann“; Ursache ist „das im letzten Grunde harmoniefremde ,Distanzprinzip‘, welches objektiv der Einteilung der Intervalle unserer Ta[9]steninstrumente zugrunde liegt", und das „ungemein abstumpfend auf die Feinheit des Gehörs wirkt“ – trotz der „Deutung der Töne je nach der harmonischen Provenienz“, die „ja vor allem auch unser musikalisches ,Gehör‘ [beherrscht], welches die auf den Instrumenten enharmonisch identifizierten Töne je nach ihrer akkordlichen Bedeutung verschieden zu empfinden, ja geradezu subjektiv verschieden zu ,hören‘ weiß“. MWG II/7, S. 639. Näheres zu diesem zentralen Brief unten, S. 129, sowie zur entsprechenden Passage in der Musik-Studie unten, S. 232.
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[9] Siehe unten, S. 278 f. und 252 f.
Andererseits ist Weber im privaten Musik-Erleben in der Lage, den kennerhaften und wiederum, nicht zuletzt in der rationalen Argumentation überdurchschnittlichen Vergleich von Interpretationen im Konzertsaal oder in der Oper vorzunehmen; das geht einher mit großer Abhängigkeit des künstlerischen Erlebnisses von der Qualität der Aufführung. Ein aufschlußreiches Beispiel ist der Brief vom 5. November 1919 an Mina Tobler, in dem Weber einen Münchner Klavierabend des Busoni-Schülers Michael von Zadora beurteilt: von Zadora spielte den Trauermarsch in Chopins b-Moll-Sonate op. 35 einerseits „ganz unsentimental (darin sympathisch)“, aber andererseits „sehr subjektiv rhythmisiert“.
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Hier spielen auch eine offenbar ziemlich breite Repertoirekenntnis und die durch die Arbeit an der Musik-Studie verstärkten musikhistorischen und instrumentaltechnischen Interessen hinein, so bei der entschiedenen Kritik an Busonis spät-romantisch aufgeladener Klavier-Bearbeitung von Bachs Chaconne aus der d-Moll-Partita für Violine solo BWV 1004 in der Interpretation von Zadoras, von der Weber gesteht, „ganz und gar ,bestochen‘ zu sein […]. Nur – dieser Bach? – Das war kein Bach. Ungeheures Toben drunten im Baß, – wo soll das damals – in das Clavichord! gekommen sein? Es war ,großartig‘ in seiner Art – aber kein Bach“. Privatbesitz; MWG II/10.
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In der Musik-Studie wiederum erinnert Weber ohne persönliche Wertung an die „notorische Schwierigkeit für das moderne, an Akkorden orientierte Empfinden – auch und gerade von schaffenden Künstlern –, Palestrina und Bach dem musikalischen Sinne [10]nach so zu interpretieren, wie sie selbst und ihre Zeit es taten“. Ebd. Zum (frühen, gebundenen) Clavichord, das kein lautes Spiel ermöglicht, siehe unten, S. 271 f., sowie das Glossar, unten, S. 304 f. Weber lernt die historischen Tasteninstrumente bereits 1894 in Berlin kennen – ein Jahr, nachdem die dortige Königliche Sammlung alter Instrumente eröffnet worden ist –, vgl. den Brief vom 20. Juli 1894 an seine Frau: „Mittwoch Mittag schleppte mich [der Agrarhistoriker August] Meitzen in die Bauakademie und wir ließen uns in der dortigen Sammlung von alten und neuen Musikinstrumenten von einem musikhistorischen Kollegen anderthalb Stunden demonstrieren; es ist das älteste bekannte Klavicembalo aus dem 16/17. Jahrhundert da und die Instrumente fast aller bekannten Komponisten von Bach bis Mendelssohn und Liszt. Die Differenzen in der Klangfarbe etc., die er uns an den Stücken derselben als Grund ihrer Eigenart vordemonstrierte, waren selbst einem so musikunverständigen Individuum wie mir gänzlich einleuchtend und ich sagte ihm dass ich mit Dir seinerzeit hinkommen wolle, um es noch einmal uns vormachen zu lassen …“ (GStA Berlin, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 30, Band 1, Bl. 49–50; MWG II/2).
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Allerdings überwiegt dieses historische Wissen und Gewissen nicht immer den ästhetischen Eindruck. Im Brief vom 3. Januar 1920 an Mina Tobler über eine Münchner Aufführung von Bachs Weihnachtsoratorium zeigt sich Weber enttäuscht nicht nur über die pietistischen Züge des Werkes, sondern auch über eine historisierend-schlanke Besetzung, die vermutlich auf den Einfluß des Münchner bzw. Heidelberger Ordinarius für Musikwissenschaft Theodor Kroyer, der nach Webers Tod die Musik-Studie herausgibt, zurückgeht;[10] Siehe unten, S. 215.
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sie weckt Erinnerungen an den spätromantisch-pathetischen Aufführungsstil Philipp Wolfrums aus Heidelberger Zeiten: „Musik: neulich im Weihnachtsoratorium von Bach, – hiesiger Bachverein, Cembalo, kleines Orchester. Nicht zu vergleichen mit Wolfrums Leistungen, das muß man wirklich sagen. Der Saal (Odeon) auch wohl zu groß. Dann: zu viel (die 3 ersten ,Kantaten‘), was sehr monoton und pedantisch wirkte […]. Alles mag mit durch die mangelhafte Besetzung bedingt gewesen sein, eine eigene Stimmungslosigkeit herrschte sehr bald […]“. Kroyer und Weber lernen sich auch persönlich kennen; siehe dazu unten, S. 133.
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Brief Webers an Mina Tobler vom 3. Januar 1920 (Privatbesitz; MWG II/10).
Wie ausgeprägt Webers Fähigkeit des Vergleichs von Interpretationen ist, – woraus sein durchgehendes Insistieren auf eine „möglichst gute Aufführung“ resultiert –, zeigt auch sein professioneller Kommentar einer „Tristan“-Aufführung im August 1919 aus München: „Isolde spielte gut (die M[orena]) – nur war die Stimme gegen das Orchester zu schwach. Tristan wurde nicht auf der vollen Höhe und im letzten Akt quälend naturalistisch gespielt: diesmal war der dritte Akt ,lang‘, weil strapazant und unversöhnend, der sonst lang wirkende zweite durch sehr gutes Spiel nicht im Mindesten ermüdend. Das Orchester war, schien mir, absolut erstklassig.“
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Von einer „Meistersinger“-Darbietung im Dezember 1915 im Charlottenburger Opernhaus berichtet er seiner Frau: „Die Meistersinger waren natürlich nicht zu vergleichen mit dem, was wir damals im Prinzregententheater erlebt haben. Aber alle Achtung! Die Leistung war recht gut. Das Orchester wuchs in seine Aufgabe hinein. Das Arrangement der Massenszenen ließ zu wünschen übrig und für den sehr großen Raum reichten nicht immer die Stimmen. Besonders bei dem ,Wachet auf‘ … Allein in der schönsten Partie – in der Werkstatt von Hans Sachs – war dieser durchaus auf der Höhe.“ Brief Webers an Mina Tobler vom 16. August 1919 (Privatbesitz; MWG II/10).
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Hat Weber hingegen wie z. B. im August [11]1912 in München Gelegenheit, Wagners „Tristan“ und Mozarts „Così fan tutte“ in überragenden Aufführungen zu hören, so weiß er diese Werke als „wirklich ,Ewiges‘“ zu würdigen. Brief vom 8. Dezember 1915 aus Charlottenburg an Marianne Weber (GStA Berlin, Rep. 92, Nl. Max Weber, Nr. 30, Band 2, Bl. 64–65; MWG II/9).
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Konsequenterweise bemüht er sich denn auch, Konzerte mit führenden Pianisten, Orchestern und Dirigenten der Zeit zu hören.[11] So im Brief an seine Mutter vom 14. August 1912, MWG II/7, S. 644.
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Seine Vorlieben wiederum für bestimmte Kammermusik-Interpretationen überliefert Paul Honigsheim: „Als Berliner Student und Dozent genoß er […] die klassische Zeit der deutschen Kammermusik; er kam gern auf das Joachimquartett zu sprechen […]. Max Weber war durchaus nicht ausschließlich auf die Bewunderung des einen großen Mannes gleichwie einer Primadonna eingestellt, sondern interessierte sich nicht minder für den zweiten Geiger De Ahna, den er sehr schätzte. Auch das Klinglerquartett ergriff ihn sehr. Innerhalb seiner repräsentierten die beiden Brüder Klingler […] am stärksten die Joachimkontinuität, und zwar sowohl in der Spielweise wie auch in der Programmzusammenstellung […]. Analog verhielt es sich mit dem Wiener Roséquartett […]. Jedenfalls aber hat Weber dieser und anderer Kammermusiker Beethoven- und Brahms-Spiel als ihm adäquate Musik empfunden“. Näheres unten, S. 22.
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Honigsheim, Paul, Erinnerungen an Max Weber in Heidelberg, in: Max Weber zum Gedächtnis. Materialien und Dokumente zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit, hg. von René König und Johannes Winckelmann (KZfSS Sonderheft 7), 2. Aufl. – Köln, Opladen: Westdeutscher Verlag 1985, S. 161–271 (hinfort: Honigsheim, Heidelberg), hier S. 243. Mit der „Joachimkontinuität“ spielt Honigsheim darauf an, daß nach dem Tod Joseph Joachims im Sommer 1907 das Klingler-Quartett die berühmten Quartettabende in der Berliner Singakademie übernimmt. Allerdings war – entgegen Honigsheims Angabe – nur Karl Klingler nach Joachims Tod Mitglied des Joachim-Quartetts. (Überdies sind Honigsheims Datierungen – wie hier zu sehen – mitunter fraglich, denn Webers Berliner Zeit liegt 1907 bereits 14 Jahre zurück). Auch in Heidelberg pflegt Weber, so Honigsheim, ebd., die kammermusikalische Vorliebe: „seit 1912 hat er mehrere Male seine Sonntagnachmittage um eine Stunde verschoben, um Kammermusikkonzerte zu hören, die damals dort zu jener Zeit stattfanden.“
Besonders deutlich zeigt sich Webers Musikalität in seiner erstaunlichen Bemerkung zur „Tristan“-Partitur, an die sich der Neffe Eduard Baumgarten erinnert – eine Bemerkung, die von der Umsetzung musikalischer Einsichten in das eigene Denken und Schreiben zeugt: „solche Schrifttechnik müßte mir zur Verfügung stehen, dann könnte ich endlich, wie ich sollte, vieles getrennt nebeneinander und doch gleichzeitig sagen.“
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Marianne [12]Weber stützt die Baumgartensche Erinnerung, wenn sie über Webers Arbeitsweise schreibt: „Geraten die Massen in Fluß, so strömt ihm aus den Vorratskammern seines Geistes so viel herzu, daß es sich oft nicht ohne weiteres in ein durchsichtiges Satzgefüge zwingen läßt. […] Welche Schranke des diskursiven Denkens, daß es nicht gestattet, mehrere zusammengehörige Gedankenreihen gleichzeitig auszusprechen! So muß denn vieles hastig in lange Schachtelsätze gepackt und was dort nicht Platz findet, in Fußnoten untergebracht werden.“ Baumgarten, Eduard (Hg.), Max Weber. Werk und Person, Dokumente, ausgewählt und kommentiert. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1964 (hinfort: Baumgarten, Werk), S. 482 f., Anm. Der musikkundige Baumgarten spricht, ebd., von „großen Partituren“, die Weber bei Mina Tobler „zum ersten Mal“ gesehen habe. Die Pianistin selbst schenkt Weber 1914 einen „Meistersinger“-Klavierauszug, siehe dazu unten, S. 31.
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Die Erfahrung, daß Musik gleichzeitig Verschiedenes sagen kann, führt ins Zentrum der Eigenart dieser Kunst, und sie führt weit über die konventionelle Perzeption hinaus, als Einsicht in Wesentliches wie als Resultat strukturanalytischen Hörens. [12] Weber, Marianne, Lebensbild, S. 322.
Daß Weber zu diesem Hören in der Lage ist, offenbart sein Kommentar zu Richard Strauss’ „Salome“, die er im Januar 1911 unter der Leitung des Komponisten in Berlin hört: „Daß so etwas musikalisch überhaupt gemacht werden kann, ist doch eine große Sache, wennschon die Tonmalerei fast bis ins Kleinliche geht. Aber es ist genial und keineswegs unverständlich, Einiges direkt sehr schön, die Behandlung der Blasinstrumente vielfach wundervoll.“
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Deutlich wird hier Webers genauer Blick für die Möglichkeiten der avanciertesten zeitgenössischen Orchestersprache, aber auch für deren ästhetische Fallgruben („wennschon die Tonmalerei …“), ferner eine für den nicht-professionellen Hörer ungewöhnliche Fähigkeit, strukturell und gleichsam technisch zu hören („die Behandlung der Blasinstrumente…“). Dies reflektiert schon Webers besonderes Interesse für die Entwicklung der Orchesterinstrumente als Moment technischer Rationalisierung seit seinen Ausführungen auf dem Ersten Deutschen Soziologentag 1910, darüber hinaus seine auch in anderen Kontexten bezeugte Wahrnehmung von Klangfarben-Differenzen. Brief Webers vom 24. Januar 1911 aus Charlottenburg an Marianne Weber (MWG II/7, S. 60), dort auch die beiden nachfolgenden Zitate.
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Die Ambivalenz des orchestertechnischen Fortschritts zeigt sich auch in den ungewöhnlich differenzierten Bemerkungen zu Strauss’ symphonischen Dichtungen „Don Quixote“ und „Tod und Verklärung“, die er ebenfalls im Januar 1911, gespielt vom Berliner [13]Philharmonischen Orchester, hört. Jene – von Strauss selbst dirigiert – ist „ein tolles Ding voll Geist u. fabelhafter Tonmalerei, aber wohl ohne ,Ewigkeitswerth‘“, diese „sehr schön, nicht überall tief, aber doch mit fabelhaften musikalischen Mitteln (im innerlichen Sinn)“. Zu Webers Ausführungen des Soziologentages siehe unten, S. 83 f. Bezeugt ist Webers Klangfarben-Differenzierung seit seinem Besuch der Berliner Sammlung von historischen Tasteninstrumenten (siehe oben, Anm. 28) sowie durch seinen Kommentar zu Schuberts Oktett in einer Version mit Flöte: „[…] wie schön doch die Leute damals die Flöte zu verwenden wußten, ganz diskret, aber wohlthuend in ihrer Reinheit gegenüber dem scharfen Näseln der Violine.“ (Brief Webers vom 20. Januar 1911 an Marianne Weber, MWG II/7, S. 51). Vermutlich ist bei der von Weber besuchten Aufführung des Oktetts in der Berliner Singakademie die üblicherweise verwendete Klarinette durch die Flöte ersetzt worden – nur ihre Stimme ist technisch durch eine Flöte zu spielen.
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[13] Briefe Webers an seine Frau vom 21. und 27. Januar 1911 aus Charlottenburg (MWG II/7, S. 57 und 64).
Schließlich besitzt Weber ein scharfes Ohr auch für Originalität – eine gleichermaßen werkimmanente und musikhistorische Urteilskraft. 1918 schreibt er aus Wien, Paul von Klenaus Oper „Sulamith“ sei „schön ohne Zweifel, nur doch – Epigonenarbeit musikalisch“.
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Und Richard Wagners Schaffen gegenüber macht er „vieles Unechte und Gemachte“ geltend, „Parsifal“ ist ihm ein Werk, „welches nicht mehr die volle Künstlerkraft Wagner’s verkörpert“. Brief Webers an seine Frau vom 24. April 1918 (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446; MWG II/10). Der stilistisch an Debussy und Richard Strauss angelehnte „Opernakt in sechs Bildern nach Worten der heiligen Schrift (übersetzt von Herder)“ wird am 16. November 1913 am Münchner Nationaltheater unter Bruno Walter uraufgeführt. Es ist die einzige Opern-Uraufführung, die Walter in seinen ersten Jahren als Leiter der München Hofoper 1913–16 dirigiert; am 15. November 1915 leitet er im Odeon die Uraufführung von Klenaus 6 Orchesterliedern „Gespräche mit dem Tod“ nach Texten Rudolf G. Bindings mit der Altistin Luise Willer, siehe dazu: Jugendstil-Musik? Münchner Musikleben 1890–1918. Bayerische Staatsbibliothek, Ausstellung 19. Mai – 31. Juli 1987, Katalog hg. von Robert Münster und Helmut Hell. – Wiesbaden: Reichert 1987 (hinfort: Jugendstil-Musik), S. 244. 1918 wird in Mannheim von Klenaus zweite Oper „Kjartan und Gudrun“ unter Wilhelm Furtwängler uraufgeführt.
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Daß Weber hier Minderheitenvoten abgibt, kümmert ihn nicht, das eigenständige Empfinden ist ihm offensichtlich das wichtigste. So konstatiert er bei jener Wiener „Sulamith“-Aufführung gleich nach seinem „Epigonen“-Verdikt: „Großer Erfolg!“ Umgekehrt verhält es sich bei der Berliner „Salome“: „Das Publikum verließ zertrümmert u. wie auf einer schlechten That ertappt schweigend das Lokal. 6 Leute und ich klappten Beifall.“ Briefe Webers an seine Schwester Lili und seine Mutter vom 5. und 14. August 1912 (MWG II/7, S. 638 und 643). Näheres zu von Klenau und Webers Wagner-Bild unten, S. 20 f. und 27–31.
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Beim Wagnerschen „Bühnenweihfestspiel“ schließlich ist ihm die Vermischung von gottesdienstlichem Gral-Ritus und Opernbühne zuwider: „die Anmaßung, daß man dies als ein religiöses ,Erlebnis‘ empfangen und auf sich wirken lassen solle, lehnt man natürlich ab. Das ist einfach lächerlich“. Karte Webers an seine Frau vom 24. Januar 1911, MWG II/7, S. 60.
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Solche Aversion kann nicht verwundern bei einem Religionssoziologen, der derart pointiert die idealtypische Kontrastierung der Lebenssphären herausarbeitet und hämisch die zeitgenössische religiös-mystische, von Antirationalismus und Antiintellektualismus getragene [14]„Erlebnis“-Sucht des „Austern-schnäuzigen Publikums in den behaglichen Sesseln“ anprangert. Brief Webers vom 14. August 1912 an die Mutter (MWG II/7, S. 643).
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[14] Zu den „Lebenssphären“ siehe die „Zwischenbetrachtung“ zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ (MWG I/19, S. 483 ff.), zur Kritik der „Grundparolen, die man aus allem Empfinden unserer religiös gestimmten oder nach religiösem Erlebnis strebenden Jugend heraushört”, siehe „Wissenschaft als Beruf“ (MWG I/17, S. 92). In seinem Brief an Marianne Weber vom 27. Januar 1911 aus Berlin übt Weber an dem am 3. Januar uraufgeführten, mystisch verbrämten Jugendstil-Drama „Lanzelot“ von Eduard Stucken Kritik in einer Weise, die an seinen „Parsifal“-Kommentar erinnert: „2. Akt Anfang: Ein zerwühltes double-bed à la Mittelalter, der Ritter am Fenster in der Morgensonne, ruft seine Geliebte (die Frau König Artus’ (,Tintagel‘)) sich die Morgensonne mit ihm anzusehen, – aus dem Bett krabbelt im langen Hemd ein blondes Mädchen u. erklärt: sie sei ja nicht die, die er gemeint habe zu küssen, – sie ist ihm von treuen Händen statt der Königin untergeschoben, liebt ihn als die ,eigentliche‘ mit ,himml[ischer]‘ Liebe u.s.w. Das nennt R[einhardt] (und der Verfasser: Stucken) ein ,Mysterium‘! Und das Austern-schnäuzige Publikum sitzt in den behaglichen Sesseln u. denkt an Kempinsky – die Damen heulten.“ (MWG II/7, S. 63).
4. Musik im kulturellen Haushalt Max und Marianne Webers
Max Webers passiver Musikkonsum ist beträchtlich, im Privaten wie im Öffentlichen. In der Heidelberger Ziegelhäuser Landstraße führt das Ehepaar die Souchay’sche Tradition der qualitätvollen Hausmusik fort, und zwar an den ab 1911 arrangierten sonntäglichen „jours“, bei denen sich regelmäßig Verwandte, Freunde, Kollegen und Künstler versammeln.
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Nicht ohne Bosheit erinnert sich Hermann Glockner daran, daß Marianne Weber an den Treffen „wie Frau Cosima im Hause Wahnfried“ präsidiere. Weber, Marianne, Lebensbild, S. 371–373, führt die zahlreichen Personen „aus dem Zwischenreich von Wissenschaft und Kunst“ auf, die regelmäßig an den Jours den Gastgebern „die Seltsamkeiten des jeweils Modernsten“ der verschiedenen Künste nahebringen.
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Musikalität ist, wie Paul Honigsheim überliefert, eine Eigenschaft, die Weber bei Kollegen und Schülern schätzt, etwa bei dem Botaniker Otto Klebs oder dem Orientalisten Carl Bezold, von dem er – wohl recht ironisch – sagt: „Er ist derart musikalisch, daß er gelegentlich vor Ergriffenheit sein eigenes Spiel unterbrechen muß“. Glockner, Hermann, Heidelberger Bilderbuch. Erinnerungen. – Bonn: Bouvier 1969, S. 59, gibt mit diesem Seitenhieb die Eindrücke wieder, die das Ehepaar Gertrud und Karl Jaspers von den Weber-Jours hatte.
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Unter den Kollegen im engeren Sinn nennt Weber Heinrich Rickert und Georg Simmel große Musikliebhaber. Mit Rickert diskutiert er über Kompositionen von Klenaus, mit Simmel besucht er in Berlin Konzerte und rezipiert für seine Musik-Studie dessen [15]„Psychologische und ethnologische Studien über Musik“. Zitiert in: Honigsheim, Heidelberg, S. 243.
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Seine Schüler Paul Honigsheim und Karl Loewenstein sind nicht nur Ansprechpartner für die Musik-Studie – wobei Weber etwas resignierend konstatiert: „Verstanden hat die Sache schwerlich Jemand, vielleicht Loewenstein. Der ist, scheint es, etwas weniger ,verkrumpelt‘ [?], obwohl noch immer ,kompliziert‘ genug“;[15] Im Brief vom 22. Januar 1911 aus Charlottenburg an seine Frau schreibt Max Weber: „Gestern waren Simmels auch im Beethoven-Saale der Philharmonie […] u. ihm ging die Musik sichtbar in Spiralen durch den Leib. Er ist offenbar sehr musikalisch […]“ (MWG II/7, S. 58). Simmel, Studien, S. 286, vermerkt dazu (mit Verweis auf „naturwüchsige“ Musikpraktiken): „Noch heute, wenn ein Musikstück uns erregt, singen wir halb oder ganz unbewußt mit, oder bewegen wenigstens Hände oder Füße in seinem Rhythmus“.
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beide sind auch Zeugen von Webers musikalischen Vorlieben sowie Ratgeber in Sachen aktuelles Konzertleben aus der Heidelberger Region, aus Berlin, München und auch Paris. Brief Webers vom 16. August 1919 aus München, in dem er Mina Tobler von seinem Versuch berichtet, die Musik-Studie im Seminar vorzustellen, siehe dazu den Editorischen Bericht, unten, S. 132.
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Honigsheim erinnert sich überdies an Webers Disput mit dem jungen Ernst Bloch, der im Sommer 1912 auf Vermittlung Georg Lukács’ in den Heidelberger Kreis kommt: „Man war nämlich, wie sooft, auf musiktheoretische Dinge zu sprechen gekommen. Bloch stellte dabei allgemeine Behauptungen auf, die ,ins Metaphysische transzendierten‘; Weber hielt ihm Fakten aus der Musik asiatischer Völker vor, die ihm ja restlos vertraut waren, aber Bloch ließ sich nicht beeindrucken“ – mit der Konsequenz, daß Weber „direkt ungehalten wurde über die Art, mit der sich Bloch über Fakten […] hinwegsetzte“, und sich „heftig erregte: […] ,Der Mann kann wissenschaftlich nicht ernst genommen werden‘.“ Honigsheim arbeitet für Webers Paris-Reise im Sommer 1911 „gewissermaßen einen musikalischen Reiseführer“ aus (Honigsheim, Heidelberg, S. 243 f.). In seinem Brief vom 28. November 1912 an Weber aus Berlin bedauert Karl Loewenstein (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446), daß „die Sonntagnachmittage hier weit weniger anregend verlaufen wie bei Ihnen in Heidelberg.“ Für den Januar 1914 lädt er Weber nach München ein aus Anlaß eines Gastspiels des Pariser Capet-Quartetts, das Beethoven „trotz […] romantischer Auffassung so stilrein und formbewußt wie gegenwärtig kein anderes Quartett“ spielt – „eine günstige Fügung, die allein eine Reise nach München lohnte“, so Loewenstein in einem Brief vom 21. Dezember 1913 an Max Weber (ebd.). Zu weiteren Konzertvorschlägen siehe die Karten Webers vom 9. August und 29. Dezember 1913 an Loewenstein (MWG II/8, S. 302 und 444), sowie den Brief Loewensteins vom 8. März 1914 an Weber (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446).
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Um so erstaunlicher erscheint das (bislang nicht veri[16]fizierbare) Lob, das Weber – vermutlich 1916 in einem Brief an Bloch – dessen 1918 veröffentlichter musikphilosophischer Erstlingsschrift „Geist der Utopie“ spendet: „Aufs Höchste zu loben“, so zitiert Bloch 1923 Webers Expertise, „ist die sehr umfassende Stoffbeherrschung. Vollkommen richtig ist das Urteil über Beethoven, über die Kammermusik; das ganze Buch enthält überhaupt eine Fülle der sachlich wichtigsten und richtigsten Einzelbemerkungen; und so bin ich dem Verfasser für zahlreiche Hinweise aufrichtig dankbar.“ Honigsheim, Heidelberg, S. 188. Im Brief Webers an Sophie Rickert, geschrieben Mitte November 1912 (MWG II/7, S. 761 f.), sowie in Marianne Webers Zeilen vom 7. Dezember 1912 an ihre Schwiegermutter (zitiert in: ebd., S. 762, Anm. 3) finden sich Beschreibungen des „entschieden ein wenig verrückt“ auftretenden Musikphilosophen.
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[16] Bloch, Ernst, Durch die Wüste. Kritische Essays. – Berlin: Paul Cassirer 1923, S. 58. Webers Gutachten stammt vermutlich aus einem Empfehlungsschreiben an den Verlag Duncker & Humblot oder aus einem Brief an Bloch von 1916, wie dessen Schreiben vom 16. August 1916 an Georg Lukács zu entnehmen ist (in welchem Bloch von jenem, 1923 geäußerten Stolz auf Webers Lob sehr weit entfernt ist): „Hier schicke ich Dir die Kritik der Musik (die übrigens jetzt ,Philo[sophie] der Musik‘ heißt und noch einen großen Passus (rein musiktechnisch) über Tristan und Parsifal, über die Frage der Operndichtung […] und vor allem über den zentralen Ortsbegriff in der Musik (anschließend an Rhythmus) dazu erhalten hat), also die Kritik von Weber. Sie ist erstaunlich in ihrer Fähigkeit, das Unwesentliche zu tadeln oder zu loben (und das andere abzulehnen oder nicht zu sehen). Nur muß ich Dich fragen: wie kann ein solcher Mann, der doch von meinen Kräften, von meinem ganzen Spezificum so wenig eine Ahnung hat, daß ich, wenn mein Name nicht ausdrücklich genannt wäre, gar nicht wüßte, daß diese Kritik über meine ,Musik‘ geht, wie kann dieser Mann mit Dir auch geistig so intim stehen? […] Bitte gib mir die Kritik wieder zurück“ (zitiert in: Bloch, Ernst, Briefe 1903–1975, Band 1, hg. von Karola Bloch u. a.. – Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 168 f.; runde Klammern vom Autor). Näheres dazu bei Karádi, Éva, Ernst Bloch und Georg Lukács im Max Weber-Kreis, in: Max Weber und seine Zeitgenossen, hg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schwentker. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1988, S. 682–702 (hinfort: Karádi, Weber-Kreis), hier S. 688. Zu Divergenzen und Übereinstimmungen in Blochs musikphilosophischem Erstlingswerk und Webers empirisch fundierter Musikstudie siehe Braun, Christoph, Max Webers „Musiksoziologie“. – Laaber: Laaber-Verlag 1992 (hinfort: Braun, Musiksoziologie), S. 111 f.
Auch bei Kollegen besucht Weber Hausmusikkonzerte. Während seiner Professur im Sommer 1918 in Wien, wo er „Theater und Oper […] sehr nahe“ hat,
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ist er mehrfach bei dem Staats- und Völkerrechtslehrer Edmund Bernatzik (1854–1919) zu Gast, wo u. a. ein „wundervolles Schubert-Quintett […] glänzend gespielt“ wird. So Weber im Brief vom 22. April 1918 an seine Mutter aus der Pension in der Wiener Skoda-Gasse, in der er damals lebte (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446; MWG II/9).
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Da entweder das anspruchsvolle „Forellenquintett“ oder das noch anspruchsvollere Streichquintett in Frage kommen, handelt es sich wohl um ein Konzert mit professionellen Ausführenden. Brief Webers an seine Frau vom 5. Juni 1918; fünf Wochen später ist er bei Bernatzik erneut Gast „zur Musik“, so der Brief vom 12. Juli 1918 (ebd., MWG II/10).
Die intensivsten musikalischen Eindrücke im privaten Kreis empfängt Weber von Mina Tobler, einer 1880 in Zürich geborenen, ab 1905 in Hei[17]delberg als Klavierlehrerin tätigen Pianistin, die er im Juni 1909 kennenlernt.
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Bis zu seinem Tod verbindet beide eine enge Freundschaft, wie die von Marianne Weber und Else Jaffé nach Webers Tod verfügte Widmung des zweiten Bandes seiner Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie bezeugt.[17] Weber, Marianne, Lebensbild, S. 372, beschreibt den „jüngeren Nachwuchs, der allmählich einen neuen Kreis bildet“; zu ihm „gehört schon länger der Philosoph Emil Lask, Rickerts Schüler und naher Freund […]. Er führt die Musikerin Mina Tobler ins Haus, die den Gefährten sowohl durch die künstlerische Eigenart ihres Welterlebens wie durch ihre edle Kunst einen neuen Klang zuträgt und sie in langjähriger Freundschaft menschlich und musikalisch bereichert.“ Die Editoren danken Μ. Rainer Lepsius, Heidelberg, für die Einsicht in das Manuskript von: Mina Tobler, die Freundin Max Webers, in: Meurer, Bärbel (Hg.), Marianne Weber. Beiträge zu Werk und Person. – Tübingen: Mohr Siebeck 2004, S. 77–89.
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Im Juli 1911 kauft Weber ein Klavier, so daß die Pianistin fortan auch in der Ziegelhäuser Landstraße spielen kann. „Mina Tobler zugeeignet“, in: GARS Il, S. V; vgl. dazu auch den Editorischen Bericht, in: MWG I/20, S. 43.
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In den darauffolgenden Monaten wird das Webersche Haus „immer mehr“, wie Marianne Weber sich ausdrückt, „Tobelchens ,Heimat‘. […] Das Zusammensein mit ihr ist eine Freude und sie ist ja auch Maxens Freundin. Er besucht sie ziemlich regelmäßig zu musikalischen Stunden.“ Das Instrument ist ein Geburtstagsgeschenk für Marianne Weber; Max Weber schreibt am 26. Juli 1911 (MWG II/7, S. 253) seiner Schwester Lili, daß er „heimlich zu Mariannes Geburtstag ein sehr schön[es] Steinway-Pianino durch FrI. Tobler’s (die sie kennt) Vermittlung gekauft habe u. M[arianne] damit überraschen werde.“ Am 10. August 1911
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schreibt Marianne Weber (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446) ihrer Schwiegermutter: „Es zieht die steifen Finger wohl zu den Tasten, aber mir ist doch so als sei dies Klavier eigentlich für Tobelchen da u. als hätten wir nun ein Stück von ihr ins Haus genommen. Ich freue mich darauf wenn sie die Seele des zierlichen Dings aufweckt.“ Marianne Webers älteres Klavier war Ende 1906 an Robert Michels verkauft worden, siehe dazu die Briefe Max Webers an Michels vom 27. November bis 5. Dezember 1906 und vom 11. Januar 1907 (MWG II/5, S. 183–195 und 210). Marianne Weber, Lebensbild, S. 480, hört ihren Mann im Sommer 1911 „auf dem neuen Klavier, das seit kurzem angeschafft ist“, Melodien spielen. In MWG-Druckfassung irrtümlich: 1919; Korrektur in MWG digital.
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Webers Schlüsselerlebnis ist offenbar ein wesentlich von Mina Tobler gestalteter Liederabend im März 1911: „Die kleine Tobler begleitete glänzend, dazwischen spielte sie Mozart (Rondo A moll) und Chopin (Cis), besonders letzteres wundervoll, auch physisch so anmutig und resolut-kräftig zugleich, daß es eine Freude [18]war.“ So Marianne Weber in den Briefen vom 19. Januar und 3. August 1912 an ihre Schwiegermutter (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446). Im Brief vom 19. August 1912 schreibt sie: „Ich freue mich, daß Max in ihr [Mina Tobler] wieder eine ihn erfrischende Freundin gefunden hat – u. in musikalischer Hinsicht, überhaupt in künstlerischer hat sie ihm ja auch etwas eignes zu bieten“ (ebd.).
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Im Frühjahr 1912 sprechen Max Weber und Mina Tobler nahezu täglich über Musik.[18] Karte Webers vom 7. März 1911 an seine Frau (MWG II/7, S. 130). Vermutlich handelt es sich, wie den editorischen Kommentaren, ebd., S. 130, Anm. 1 und 2, zu entnehmen ist, um ein Hauskonzert, das Mina Tobler am 6. März gegeben hat, ferner um die Vertonung des Gedichtes „Immer wieder“ von Richard Dehmel aus Conrad Ansorges 1909 veröffentlichten „Sieben Gesänge“ op. 11. Näheres zu dem dem George-Kreis nahestehenden, mit Richard Dehmel und Gerhart Hauptmann befreundeten Ansorge unten, S. 32 f.
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Beide besuchen am 24. Februar eine Aufführung der Bach’schen Johannes-Passion, mit den „jour“-Gästen wird tags darauf „nur von Musik, speziell Bach“ gesprochen; Dies berichtet Weber seiner auf Reisen befindlichen Frau, siehe dazu MWG II/7, S. 438, 487 und 539.
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und wenig später geht Weber „noch einmal zur Tobler für die Schumann-Sonate“, am folgenden Tag tauscht er sich mit ihr über Werk und Interpretation aus. Karte Max Webers an seine Frau vom 26. Februar 1912, MWG II/7, S. 436. In einer Karte vom 27. Februar 1912 an seine Frau zitiert Weber, ebd., S. 438, eine Textpassage aus der Passion. Ebd., S. 442, das nachfolgende Zitat.
Mit ihrer Hilfe vertieft Weber seine Literatur-Kenntnisse: neben reinen Klavierkompositionen und Liedern – die Pianistin begleitet nicht nur, sie komponiert auch eigene Lieder
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– lernt er in Klavier-Auszügen und Partituren Opern und Orchesterwerke kennen. Für den Sommer 1912 lädt er sie mit seiner Frau zu einer gemeinsamen Reise nach Bayreuth und München ein, um Wagner- und Mozart-Opern zu besuchen. Im Brief vom 4. Mai 1913 (MWG II/8, S. 224) erzählt Weber seiner Frau, Mina habe „ihre Liedchen“ gesungen und arbeite „an einem neuen […]“. Im Brief vom 5. November 1919 fragt er die Freundin: „Was machen Deine Lieder? Erhalte ich sie wohl? Und druckst Du sie? Die Schwester bat ich, das zu erzwingen. Denn sie sind es wert, meine ich." (Privatbesitz; MWG II/10).
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Vor allem die Münchener „Tristan“-Aufführung begeistert die Drei, wobei die „befreundete Musikseele“ mit dem Klavier-Auszug „das Verständnis des Werkes meisterlich vorbereitet“. Seiner Mutter kündigt er am 20. Juni, seiner Schwester Lili am 5. August 1912 die Bayreuther und Münchener Opernpläne an: „Ich möchte den großen Hexenmeister gern, in Begleitung einer uns sehr befreundeten Pianistin (FrI. Tobler) nochmal in möglichst guter Aufführung kennen lernen […]“ (MWG II/7, S. 570 und Zitat: S. 638). Mit dem „Hexenmeister“ ist Richard Wagner gemeint, siehe dazu unten, S. 27.
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Sieben Jahre später, im August 1919, besuchen die Webers erneut in München eine „Tristan“-Aufführung; der Freundin schreibt Max Weber seine Erinnerungen an das gemeinsame Erlebnis von 1912: „Am Dienstag: Tristan. Daß ich den so ,verstehe‘, ist Ihr Werk. […] Alles in allem aber: ohne Sie doch eine seltsam wirkende Veranstaltung, etwas gespenstisch, wie eine andre Welt. Aber ich konnte an Vieles, sehr Vieles, in Dankbarkeit und Freude denken und Andres kam lebendig und [19]schön und war da.“ Weber, Marianne, Lebensbild, S. 509 f.
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Und einige Tage später, nach dem Besuch einer Aufführung von Heinrich Marschners Oper „Hans Heiling“: „Du kennst ihn? – war recht erfreulich. […] Gern hätte ich da zuweilen Deine lenkende Hand gespürt, durch die ich so Vieles verstehen lernte.“[19] Brief Webers an Mina Tobler vom 16. August 1919 (Privatbesitz; MWG II/10). Sechs Tage zuvor schreibt er ihr: „Marianne möchte Dienstag in den ,Tristan‘ und es mag geschehen. Ich fürchte: ohne Freude. Denn von Anderem abgesehen ist die Regie offenbar jetzt nicht mehr Das, was sie s. Z. war. – Vieles wird wach werden, was nun dem ,gelebten‘ Besitz angehört und dadurch erfreut, aber was doch nicht das Blut der Gegenwart hat.“ (ebd.) Bereits als „junges Ehepaar“ haben die Webers, so Weber, Marianne, Lebensbild, S. 509, den „Tristan“ in Berlin gehört, „aber mit tauben Ohren […]. Inzwischen [1912] war ihre künstlerische Aufnahmefähigkeit allseitig entwickelt“ – nicht zuletzt durch Mina Tobler
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. In MWG-Druckfassung folgt hier: (Privatbesitz; MWG II/10); der Hinweis gehört in die nachfolgende Anmerkung; Korrektur in MWG digital.
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Brief Webers vom 27. August 1919 aus München an Mina Tobler (Privatbesitz; MWG II/10)
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. Beleg in MWG digital aus vorangehender Anmerkung hier inseriert.
Das Notenstudium mit der Pianistin findet auch in der Musik-Studie seinen Niederschlag. Die persönlichen Erfahrungen objektiviert Weber hier zu Erkenntnissen über die fundamentale Stellung des Klaviers in der bürgerlichen Musikkultur: „Orchesterwerke sind überhaupt nur in Klavierübertragungen der Hausmusik zugänglich zu machen […]. Auf der Universalität seiner Verwertbarkeit für die häusliche Aneignung fast aller Schätze der Musikliteratur, auf der unermeßlichen Fülle seiner eigenen Literatur und endlich auf seiner Eigenart als universelles Begleit- und Schulungsinstrument beruht seine heutige unerschütterliche Stellung“.
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Darüber hinaus motiviert die Pianistin Weber grundsätzlich bei der Abfassung der Studie. Am 16. August 1919 berichtet Weber ihr aus München von einem Kolloquium, in dem er aus der Musik-Studie vorträgt; „Mittwoch: ,Musiksoziologie‘, nach den alten liegen gebliebenen Notizen. Fast konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen: ,unter Leitung einer Freundin‘ sei diese damalige Arbeit getan worden, – aber dann fand ich es zu indiskret.“ Vgl. unten, S. 277 f.
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Wenn wohl auch nicht bei der detaillierten Beweisführung zur universalhistorischen Rationalisierung von Tonsystemen, so dürfte Mina Tobler doch zumindest unmittelbar illustrierend mitgewirkt haben bei Webers Verweisen auf die Klavierkomponisten Domenico Scarlatti, Bach-Vater und -Sohn Carl Philipp Emanuel, Beethoven, Chopin und Liszt, ferner bei seinen Überlegungen zur gleichschwebend temperierten (Klavier-)Stimmung sowie zum Klavier als Träger der modernen europäischen Musikkultur – als „selbstverständlich“ gewordenem „bürgerlichen ,Möbel‘“. Brief Webers an Mina Tobler vom 16. August 1919 (Privatbesitz; MWG II/10). Am 10. August schreibt er ihr: „Grad habe ich das ,Musik-Soziologie‘-Manuskript wieder in die Hand bekommen und Ihrer gedenken müssen: es ist damals liegen geblieben […]“ (ebd.).
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Siehe dazu unten, S. 274–280 und 248–252.
[20]Weitere Musiker und Komponisten zählen zu Webers Bekannten- und Freundeskreis. In Robert Siebeck, dem Sohn von Webers Verleger Paul Siebeck, trifft Weber einen Geiger, mit dem er sich 1912 austauscht – er „hat mir viel erzählt, was mich interessierte“ –, vermutlich über Bau und Spielweise der Violine, Themen, die im Instrumentalteil der Musik-Studie eine wichtige Rolle spielen.
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Über Mina Tobler lernt er Conrad Ansorge kennen. Der 1862 im schlesischen Buchwald geborene Weimarer Schüler Franz Liszts ist ab 1898 in Berlin als Lehrer am Konservatorium Klindworth-Scharwenka tätig. Er betreut Mina Tobler in ihrem letzten Studienjahr 1904/05 und bleibt ihr danach bis zu seinem Tod 1930 eng verbunden.[20] Am 13. und 14. September 1912 schreibt Weber seiner Frau: „Es war nett bei Siebecks. Mit dem einen Sohn (Musiker) hübsche Gespräche!“ (MWG II/7, S. 663); „[…] der Musikanten-Sohn […] hat mir viel erzählt, was mich interessierte.“ (ebd., S. 664). Zum Violinrekurs siehe unten, S. 253–262.
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Weber schätzt neben den Liedkompositionen das „musikalisch“-tiefsinnige Klavierspiel des international als „Metaphysiker“ und „sensiblen Virtuosen“ gefeierten Interpreten Liszts, Beethovens, Schuberts und Schumanns. Vgl. dazu Webers Briefe vom 14. und 16. September 1912 an seine Frau, MWG II/7, S. 665 und 670.
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Aus München schreibt Weber an Mina Tobler am 27. August 1919: „Im Winter werde ich ja sehr asketisch leben müssen […]. Aber Ansorge werde ich doch jedenfalls hören, – vielleicht als Einziges diesmal.“ (Privatbesitz; MWG II/10). Er vergleicht Ansorges Kunst mit derjenigen Michael von Zadoras: „Grade jetzt war ich im ersten Konzert hier, gestern v. Zadora spielte Bach, Chopin, Liszt. Ich lege das Programm bei. Ein fabelhaftes Virtuosen-Können […]. ,Musikalisch‘ ist Ansorge mehr, das ist klar.“ (Brief an Mina Tobler vom 5. November 1919 aus München; ebd.). Zum Charakteristikum des „Metaphysikers“ Ansorge – „an Intelligenz und Selbständigkeit einer unserer Edelsten“ – siehe Bie, Oscar, Das Klavier, 3. Aufl. – Berlin: Paul Cassirer 1921, S. 282, sowie Laux, Karl, Artikel Ansorge, Conrad, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, hg. von Friedrich Blume, Band 1. – Kassel und Basel: Bärenreiter-Verlag 1949 (hinfort: MGG 1), Sp. 509; zum „Typus des sensiblen Virtuosen, dessen vom Publikum wie Weihehandlungen verehrte Interpretationen […] nicht auf äußere Brillanz, sondern auf die Darstellung der musikalischen Substanz konzentriert“ sind, siehe Wolfgang Rathert und Dietmar Schenk (Hg.), Pianisten in Berlin. Klavierspiel und Klavierausbildung seit dem 19. Jahrhundert, mit Beiträgen von Linde Großmann und Heidrun Rodewald (HdK-Archiv Band 3). – Berlin: Hochschule der Künste (Presse- und Informationsstelle) 1999, S. 47.
Intensiver noch ist der Kontakt zu dem dänischen, 1883 in Kopenhagen geborenen, u. a. bei Max Bruch in Berlin und Ludwig Thuille in München ausgebildeten Komponisten und Dirigenten Paul August von Klenau. Seit seiner Berufung zum Kapellmeister der städtischen Oper Freiburg im Breisgau im Jahr 1907 gehört von Klenau zum Bekanntenkreis Heinrich und Sophie Rickerts. Ende 1910 machen diese ihn mit Max und Marianne [21]Weber bekannt.
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Über die Jahre hinweg verfolgt Weber von Klenaus künstlerisches Schaffen. Am 26. November 1910 schreibt er dem Komponisten – mit Blick auf dessen kurz zuvor in Straßburg uraufgeführte Symphonie: „Wir haben, mit Rickerts speziell, über Ihre Composition noch viel gesprochen. Ich bin nun sehr begierig auf Ihre Aufnahme in Berlin.“[21] Der erste Kontakt zwischen Weber und von Klenau kommt in den Novembertagen 1910 zustande, nachdem von Klenau sich als Anhänger Stefan Georges durch einen Artikel Rudolf Borchardts in den Süddeutschen Monatsheften gegen George und dessen Kreis, insbesondere gegen Friedrich Gundolf, persönlich verunglimpft fühlt und Weber – vermutlich auf Anraten Rickerts – um einen scharfen öffentlichen Protest gegen Borchardt bittet, siehe dazu die Briefe Webers an von Klenau und den editorischen Kommentar in: MWG II/6, S. 691 ff.
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Am 1. Februar 1911 besuchen sie in Mannheim einen vom Komponisten am Klavier mitgestalteten Kammermusik-Abend, bei dem dessen Klavierquintett in b-Moll und Streichquartett in e-Moll zu hören sind. MWG II/6, S. 696. Näheres dazu unten, S. 34 f.
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Die Kontakte reißen auch in den folgenden Jahren nicht ab; Anläßlich des Mannheimers Konzerts am 1. Februar 1911 erkundigt sich von Klenau am 20. November 1910 bei Max und Marianne Weber, ob er und seine Frau Anne Marie sie in Heidelberg besuchen könnten; nachdem sich die Paare in Freiburg bereits kennengelernt haben, lädt Weber am 21. November den Komponisten zum Gegenbesuch ein (MWG II/6, S. 692 mit den editorischen Anmerkungen). Am 22. und 27. Januar 1911 erkundigt sich Weber während seines Berliner Aufenthalts bei seiner Frau in Heidelberg nach der Konzert-Ankündigung („vielleicht auch lädst Du FrI. Tobler ein?“, MWG II/7, S. 58 und – Zitat – S. 63). Am 6. Februar dankt Weber von Klenau schließlich für den „schönen Abend“ in Mannheim; den angekündigten Besuch in Heidelberg muß dieser allerdings verschieben, vgl. die Briefe Webers an Heinrich Rickert, nach dem 1. Februar 1911, und an von Klenau vom 6. Februar 1911 (ebd., S. 77 und 85).
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Marianne Weber berichtet 1914 von einer Freiburger Aufführung der „Sulamith“, Während seiner Erholungsreise an die französische Riviera im März 1912 fragt Weber brieflich seine Frau: „Schrieb ich Dir, daß Klenau uns zum 15ten (ungefähr) besuchen möchte? Er schrieb zwei sehr herzliche Briefe, die ich dieser Tage schicke“ (MWG II/7, S. 489).
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Max Weber hört im April 1918 während seines Intermezzos in Wien die Oper in Anwesenheit des Komponisten. Marianne Weber schreibt am 28. März 1914 ihrem Mann (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446), während sie bei Rickerts in Freiburg weilt: „Denke, gestern wurde hier Klenau’s Sulamith aufgeführt. […] Klenau will sich hier für eine Zeit lang zum Kapellmeister machen lassen.“ Nach Anstellungen in Stuttgart und Frankfurt kehrt von Klenau 1914 als erster Kapellmeister nach Freiburg zurück. (Der 1. Weltkrieg führt ihn vorübergehend wieder nach Dänemark, bevor er 1922 in Wien Dirigent der Konzerthaus-Gesellschaft wird. Die letzten sechs Jahre seines Lebens (1940–46) verbringt er in seiner Geburtsstadt.)
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Siehe dazu oben, S. 13. In der Woche vor der Aufführung ist er mit dem Komponisten „einen Abend beisammen, Dienstag ist seine Symphonie [sic]“ – gemeint ist wohl „Sulamith“ (Brief Webers an seine Frau vom 19. April 1918, Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446; MWG II/9).
[22]Schon allein die Kontakte zu Mina Tobler, Conrad Ansorge und Paul von Klenau zeigen, daß Webers Teilnahme am öffentlichen Musikleben intensiv ist. Wenn nicht in Heidelberg selbst – wie etwa die Johannes-Passion unter Philipp Wolfrum –, so besucht man Opern und Konzerte in Mannheim, wo von 1909 bis 1914 Artur Bodanzky als Erster Kapellmeister wirkt. Honigsheim berichtet von häufigen Fahrten „nach Mannheim in die Oper. Sie verfügte über glänzende Sänger, die nicht nur Stimmen, sondern auch musikalische Kultur besaßen […]. Zusammengehalten wurden sie nicht zuletzt durch den Dirigenten Bodansky [sic], der damals auch Mahler und Schönberg herausbrachte.“
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Fraglich bleibt allerdings, ob und in welche Konzerte – neben jenem Klenauschen Kammermusik-Abend vom 1. Februar 1911 – die Webers nach Mannheim fahren. Zu den Konzert-Höhepunkten Webers zählen Veranstaltungen in Berlin und München im Januar bzw. September 1911 und August 1912, wo vor allem Werke von Strauss, Wagner, Mozart und Jacques Offenbach gegeben werden, sowie die Konzerte auf der Paris-Reise im September 1911, ferner – wenn auch insgesamt als Enttäuschung wahrgenommen – der Besuch der Bayreuther Festspiele im August 1912, schließlich im Frühjahr 1918 die Opernbesuche in Wien. Hier wie auch in Berlin erlebt Weber in der Hofoper und der Philharmonie Richard Strauss – „der ,große Richard‘“[22] Honigsheim, Heidelberg, S. 185.
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– als Dirigenten eigener Werke („Salome“, „Elektra“, „Don Quixote“), bei den Münchener Mozart- und Wagner-Festspielen im Residenz- und Prinzregententheater Bruno Walter (mit einer „unerhört glänzende[n] Darbietung“ von Mozarts „Così fan tutte“) und Ferdinand Löwe (mit Beethoven- und Brahms-Symphonien), in Straßburg Hans Pfitzner (mit einer Klenau-Symphonie) und in Heidelberg Philipp Wolfrum als überregional bekannten Bach-Interpreten. So Weber an seine Frau im Brief vom 19. April 1918 (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446; MWG II/9). Vielleicht spielt Weber mit den Anführungszeichen auf die seinerzeit großes öffentliches und juristisches Aufsehen erregende Satire an, die Edgar Istel, Münchener Musikkritiker und Komponist, 1909 in der Faschingsnummer der Zeitschrift „Die Musik“ (Jg. 8, Heft 10) unter dem Titel „Die 144. Kakophonikerversammlung in Bierheim. Ein Reformkasperlspiel in drei Erhebungen von Mephistopheles“ anläßlich des Münchener Tonkünstlerfestes von 1908 veröffentlicht. Istel persifliert die „Mitglieder einer kakophonischen Gesellschaft mit behafteter Beschränkung zum Zwecke gegenseitiger Ruhmversicherung“ und nennt als deren „Herrscher“ „S[eine] M[ajestät] Richard II.“ – Richard Strauss nach Richard I. Wagner (zitiert und mit Erläuterungen versehen in: Jugendstil-Musik (wie oben, S. 13, Anm. 41), S. 92–111).
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Siehe dazu Webers Briefe vom 24. und 27. Januar 1911, 26. Februar 1912, 1. und 23. März 1912 an seine Frau, vom 15. September 1911, 20. Juni 1912 und 14. August 1912 an seine Mutter, vom 5. August 1912 an seine Schwester Lili und vom 11. August 1912 an Karl Loewenstein, MWG II/7, S. 60, 64, 275, 436, 441, 487, 570, 638, 640 [23](Zitat), 643; an Webers Münchener Eindrücke von 1912 erinnert Loewenstein, Karl, Persönliche Erinnerungen an Max Weber, in: Max Weber, Gedächtnisschrift der Ludwig-Maximilians-Universität München zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages 1964, hg. von Karl Engisch, Bernhard Pfister und Johannes Winckelmann. – Berlin: Duncker & Humblot 1966, S. 27–38 (hinfort: Loewenstein, Erinnerungen), hier S. 31: „Wir hörten zusammen eine jener glorreichen Mozart-Aufführungen im Residenztheater, Così fan tutte in der Besetzung mit der [Maria] Ivogün und [Karl] Erb und unter der Stabführung von Bruno Walter.“ Zu Philipp Wolfrum siehe das Literaturverzeichnis, unten, S. 368, sowie Malsch, Karl, Die Heidelberger Bachvereins-Jubelfeier vom 23.–25. Oktober 1910, in: Zeitschr. der Internat. Musikges., Jg. 12, 1910/11, S. 51–53.
[23]5. Musikalische Bildung und Musikgeschmack
Weit intensiver als in der konventionellen bürgerlichen Musikrezeption üblich werden in der Ziegelhäuser Landstraße die Konzerterlebnisse diskutiert und brieflich mitunter ausführlich kommentiert. Dabei unterscheidet sich Webers Aneignung der bürgerlichen Musikkultur au fond nicht von der seiner Zeitgenossen, geht aber in einigen charakteristischen Zügen über sie hinaus. Weber hört intensiv, aber auch im Kontext der zeittypischen Vorurteile – abzulesen an der geringen Einschätzung Haydns, der Stilisierung Mozarts zum apollinischen Götterjüngling und der des späten Beethoven zum einsamen Titanen sowie der eingeschränkten Wagnerverehrung. Allerdings ist zu nuancieren, die musikalische „Werteskala“ zu unterscheiden vom Gebrauch, den Weber von seiner musikalischen Bildung im wissenschaftlichen Schaffen macht. Er selbst trennt deutlich: einerseits ist Haydns Symphonie B-Dur (wohl eines der beiden Werke in dieser Tonart aus der Reihe der Londoner Symphonien, Nr. 98 oder 102), die er im Januar 1911 in Berlin unter der Leitung von Richard Strauss hört, nach dessen „Don Quixote“ „Erholung“, ebenso ein Haydnsches Streichquartett in Es-Dur, dargeboten vom Klingler-Quartett zwei Tage zuvor, das „erholend“ wirkt nach Brahms’ „anspannendem“ c-Moll-Quartett, und auch die frühen Cellosonaten Beethovens, die noch „dem unbefangenen Coloraturfrohen Künstler der Haydn’schen Schule“ angehören.
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Andererseits betont er, daß Haydns Arbeitsbedingungen und die Struktur des ihm zur Verfügung stehenden Orchesters nur durch Haydns Genie fruchtbar werden und zur Schöpfung der klassischen Symphonie führen konnten – historisch-soziologische Rekonstruktion gegen modernes ästhetisches Urteil: „Bedingungen soziologischen, zum Teil ökonomischen Charakters ermöglichten die Entwicklung des Haydnschen Orchesters. Aber der ihm zugrunde liegende Gedanke ist sein persönlichstes Eigentum und nicht etwa technisch motiviert.“ Briefe Max Webers vom 20., 21. und 22. Januar 1911 an seine Frau, MWG II/7, S. 51, 57, 58.
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So Weber im Diskussionsbeitrag zu Werner Sombarts Vortrag „Technik und Kultur“, in: Weber, Verhandlungen 1910 (Sombart), S. 100, siehe dazu unten, S. 86.
[24]In der Beurteilung Beethovens mischt sich Zeittypisches mit eher Ungewöhnlichem. Zeittypisch ist die Allgemeinvorstellung vom vereinsamten, der Welt entrückten Genie, das die tiefsten Geheimnisse der menschlichen Existenz ausspricht. Ungewöhnlich ist dagegen die mehrfach, wenn auch nicht von Weber selbst bezeugte Vorliebe für die späten Streichquartette Beethovens, die auch noch zu Webers Zeit in weiten Kreisen als unverständlich gelten. Die Erinnerungen Karl Loewensteins
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betreffen vordergründig das professionelle Interesse Webers an den griechischen Tonarten – gemeint ist wohl deren Einfluß auf den lydischen „Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit“ aus dem a-Moll-Quartett op. 132; passend dazu lädt Loewenstein Weber für den 22. Januar 1914 nach München ein, um dort das Pariser Capet-Quartett zu hören, das „Beethoven trotz […] romantischer Auffassung so stilrein und formbewußt wie gegenwärtig kein anderes Quartett“ interpretiert.[24] Loewenstein, Erinnerungen, S. 29: „Ich erinnere mich auch noch, wie er mir den Einfluß erklärte, den die griechischen Tonarten, die lydische, die phrygische und die äolische, hatten. Nachher, wenn immer ich in einem der letzten der wunderbaren Quartettsätze von Beethoven die lydische Tonart hörte, dachte ich an diese erste Offenbarung, die mir Max Weber gegeben hatte.“
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Im Bericht Webers über eine zyklische Aufführung der fünf Cellosonaten Beethovens durch den französischen Pianisten Eduard Joseph Risler – er führt als einer der ersten auch sämtliche Klaviersonaten Beethovens zyklisch auf – und den belgischen Cellisten Jean Gérardy am 21. Januar 1911 in Berlin Brief Loewensteins an Weber vom 21. Dezember 1913 (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446).
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mischen sich konventionelles und persönliches Urteil: „Opus 5 und dann Opus 102, der ganze Beethoven lag dazwischen von dem unbefangenen Coloratur-frohen Künstler der Haydn’schen Schule an bis zu dem einsam am Felsen lehnenden tiefen leidenschaftlichen und beherrschten Menschen, der aller Herrlichkeit der Welt die tiefe klangvolle ernste Stimme entgegensetzt: ,Ja es ist schön, ich weiß was dran ist, – aber auch was nicht dran ist.‘“ Beethoven als Titan und stolz-einsamer Heroe: Den Mythos vom Künstler-Übermenschen haben Nietzsche Brief Webers an seine Frau vom 22. Januar 1911, MWG II/7, S. 58 f.
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sowie der von Weber hochgeschätzte Max Klinger in seinem 1901 vollendeten Leipziger Beethoven-Denkmal mitgeprägt. Der „Halbgott, der es erträgt, unter so schrecklichen Bedingungen“ der „Vereinsamung“ und „Verzweiflung an der Wahrheit“ zu leben – „siegreich zu leben; und wenn ihr seine einsamen Gesänge hören wollt, so hört Beethoven’s Musik“: Nietzsche, Friedrich, Unzeitgemässe Betrachtungen, Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 355.
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Klingers Monument wurde erstmals in der unter dem Leitgedanken zeitgemäßer Tempelkunst stehenden XIV. Ausstellung der Wiener Secession vom April bis Juni 1902 als deren Mittelpunkt präsentiert. Danach kehrte es nach Leipzig zurück. Siehe [25]dazu sowie zum Beethoven-Bild der Jahrhundertwende: Mythos Beethoven. Eine Ausstellung des Vereins Beethoven-Haus Bonn, Ausstellungskatalog, hg. von Rainer Cadenbach. – Laaber: Laaber Verlag 1986, S. 13–33, ferner Eggebrecht, Hans-Heinrich, Zur Geschichte der Beethovenrezeption. Beethoven 1970, in: Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Jg. 1972, Nr. 3. – Mainz: Verlag der Akademie, und Wiesbaden: Franz Steiner 1972.
[25]Dem Heroismus des Klingerschen monumentalen Thron- bzw. Altarreliefs folgt Marianne Weber, wenn sie von der „Andacht einer gottesdienstähnlichen Handlung“ spricht, in die das Ehepaar „bei den Meisterwerken von Bach, Beethoven, Liszt“ versinkt.
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In dieser höchsten Wertschätzung fällt die Aversion gegen Bachs Weihnachtsoratorium – verglichen mit Händels „Messias“ und Liszts „Christus“-Oratorium – aus dem zeitüblichen Geschmacksmuster. So schreibt Weber in jenem Brief vom 3. Januar 1920 an Mina Tobler aus München, in dem er dezidiert zu einer historisierenden Interpretation des Weihnachtsoratoriums Stellung bezieht: Weber, Marianne, Lebensbild, S. 509. Gemeint sind wohl die Bachschen Passionen, die h-Moll-Messe, Beethovens Missa Solemnis und Neunte Symphonie sowie – explizit, s. u. – Liszts „Christus“-Oratorium.
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„[…] die Arien machten mich, ich gestehe es auf die Gefahr Ihrer Ungnade, höchst ungeduldig (zuletzt), und ich konnte nicht zugeben, daß der religiöse Gehalt etwa mit Liszt’s Christus auf gleichem Niveau stehe: ein lutherisch-pietistisches Plätschern, verglichen auch mit den Passionen: ,lch folge Dir gleichfalls…‘ (unvergeßlich, wissen Sie noch?)[.] Alles mag mit durch die mangelhafte Besetzung bedingt gewesen sein […]. Aber irgendwie kann dies Werk nicht ein Höhepunkt Bachs sein (mir fielen die Händel’schen Messias-Partien ein, das Pastorale, das Halleluja u.s.w. – in diesem Fall empfand ich für ihn).“ Privatbesitz (MWG II/10).
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Daß Weber Liszts Schaffen nicht durchweg schätzt, bekundet er im Brief an Mina Tobler vom 5. November 1919 (siehe dazu oben, S. 9) mit Bezug auf das ihn begeisternde Zadora-Konzert: „Liszt natürlich […] blendend“, aber „die ,Vogelpredigt‘ mag ich nicht: ,Künstelei‘“. Ansonsten weiß er natürlich um die überragende musikhistorische Bedeutung Liszts für die Klaviermusik, siehe unten, S. 278, und hält, so Honigsheim, Heidelberg, S. 244, auch von dessen symphonischen Tondichtungen „sehr viel“. Siehe dazu auch den Brief Max Webers an seine Frau vom 27. Januar 1911, MWG II/7, S. 64.
Bei Webers Mozart- und Wagner-Rezeption kommt eine andere Nuancierung ins Spiel: in beiden Fällen geht es um die Oper, und in beiden Fällen ist zwischen der Beurteilung des Sujets und der Beurteilung der Musik zu unterscheiden. Bei Mozart entwickelt Weber eine Art Leitmotiv: die Musik – gehört als schlackenlos reine, apollinische – „adelt“ den Stoff. Dies gilt nicht nur – wie üblicherweise – für „Così fan tutte“, sondern sogar für „Le Nozze di Figaro“: Erstere „hier im Residenztheater, war ein Eintauchen [26]in reiner Schönheit […], trotz des frivolen Sujets“: „Gestern im ,Figaro‘ mit der Mutter. Die sich wieder so rein freuen konnte! Es ist doch wahr: diese Musik adelt dies heikle und teilweise burleske Thema so, daß Alles hinweggeläutert wird und nur der ,Reigen‘ bleibt, jenseits allen Inhalts. Sonst könnte die Mutter – und die Großmutter, deren dünnes Kinderstimmchen die Cherubin-Lieder sang – nicht dies so genießen und alle ,erotische‘ Musik so ablehnen.“
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Auch diese Mozart-Diskrepanz ist zeittypisch, prominent schon durch Richard Wagner und Friedrich Nietzsche vertreten.[26] Briefe Webers vom 14. August 1912 aus München an die Mutter (MWG II/7, S. 643) (erstes Zitat) und vom 11. Dezember 1915 aus Charlottenburg an seine Frau (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446; MWG II/9). vgl. auch Weber, Marianne. Lebensbild, S. 505. In der Wiener Hofoper besucht Weber im April 1918 Mozarts „Entführung aus dem Serail“, vgl. seine Briefe vom 14. und 22. des Monats an Marianne Weber und die Mutter (ebd., MWG II/10).
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Mit ebensolchem Zwiespalt erlebt Weber Richard Strauss’ „Salome“, die er in Berlin im Januar 1911 unter der Leitung des Komponisten hört: „Das Sujet ist eben durch Wilde nur ins Ekelhafte gezerrt“, während die Vertonung „doch eine große Sache“, ja „genial“ ist. Wagner, Richard, Gesammelte Schriften, hg. von Julius Kapp, Band 11: Oper und Drama (1851/68). – Leipzig: Hesse & Becker o. J. [1914], S. 36 f., vertritt die zeittypische, jedoch nicht haltbare Ansicht, wonach „von Mozart […] als Opernkomponist nichts charakteristischer [ist] als die unbesorgte Wahllosigkeit, mit der er sich an seine Arbeiten machte […]. Bald reichte ihm nur ein pedantisch langweiliger oder ein frivol aufgeweckter Operntextmacher seine Arien, Duetten und Ensemblestücke zur Komposition dar, die er dann […] so in Musik setzte, daß sie immer den entsprechendsten Ausdruck erhielten, dessen sie nach ihrem Inhalte irgend fähig waren.“ Nietzsche, Friedrich, Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, zweiter Band (1886), KSA 2, S. 501 und 620, ders., Mörgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile (1881/87), KSA 3, S. 193, betont zum einen den „heiteren, sonnigen, zärtlichen, leichtsinnigen Geist Mozarts“, zum anderen in dessen Opern die „Jovialität biederer Gesellen, bei der Herz und Geist ein Wenig fürlieb nehmen müssen“. Ebenso Ziegler, Leopold, Die Tyrannis des Gesamtkunstwerks, in: Logos, Band 1, 1910/11, S. 371–404 (hinfort: Ziegler, Tyrannis), hier S. 380.
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Siehe dazu den Brief Webers vom 24. Januar 1911 an seine Frau, MWG II/7, S. 60; Näheres zu Strauss siehe oben, S. 22. Die Dresdner Uraufführung am 9. Dezember 1905 mit Emmy Destinn als Salome wird gleichermaßen frenetisch gefeiert wie empört ausgepfiffen. Während Gustav Mahler, der als Hofoperndirektor das Werk in Wien uraufführen will – was ihm jedoch von der Zensurbehörde „aus religiösen und sittlichen Gründen“ untersagt wird –, im Brief vom 26. Oktober 1905 an den Leiter der Dresdner Hofoper, Ernst von Schuch, „entzückt“ ist von „diesem Meisterwerk“ (zitiert in: Gustav Mahler. Leben und Werk in Zeugnissen der Zeit, hg. von Herta und Kurt Blaukopf. – Stuttgart: Gerd Hatje 1994, S. 182 f.), entrüstet sich Henry Thode über die „Entweihung der Musik als Schilderung der Perversität“ seines Kollegen (Strauss erhält 1903 die Ehrendoktorwürde der Universität Heidelberg), zitiert in: Richard Strauss in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, hg. von Walter Deppisch. – Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1968, S. 92.
[27]Ambivalenz kennzeichnet auch Webers Wagner-Rezeption. Im Brief vom 5. August 1912 an seine Schwester Lili, in dem Weber auch die Musik-Studie ankündigt, heißt es zu seinen Wagner-Reise-Plänen nach „Bayreuth und dann München (Tristan u. Isolde etc)“: „Ich möchte den großen Hexenmeister gern, in Begleitung einer uns sehr befreundeten Pianistin (Frl. Tobler) nochmal in möglichst guter Aufführung kennen lernen, da ich ein sehr zwiespältiges Verhältnis zu ihm habe. Neben großer Bewunderung des Könnens tiefe Aversion gegen vieles Unechte und Gemachte. Nun möchte ich sehen: was für mich überwiegt.“
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Zur ästhetischen Ambivalenz tritt aber wieder die unterschiedliche und unterschiedlich gewichtete Rezeption von Text und Musik, die zu einer in ihrer Zeit ganz exzeptionellen Bewertung der Werke führt: schroffe Ablehnung des „Parsifal“, weitgehendes Desinteresse am „Ring des Nibelungen“ und Konzentration auf „Die Meistersinger von Nürnberg“ und „Tristan und Isolde“. Die Ablehnung des „Parsifal“ als „Bühnenweihfestspiel“ – dessen religiöse Ambitionen sind Weber lächerliche „Anmaßung“[27] MWG II/7, S. 638. Ähnlich im zwiespältigen Tonfall beschreibt Thomas Mann 1911 seine von „viel Wagnerkritik, viel instinktive[m], wenn auch stumme[m] Mißtrauen“ geprägte „Auseinandersetzung mit Wagner“, der ihm unzeitgemäßes „neunzehntes Jahrhundert durch und durch [ist], ja, er ist der repräsentative deutsche Künstler dieser Epoche […]. Aber noch immer, wenn unverhofft ein Klang, eine beziehungsvolle Wendung aus Wagners Werk mein Ohr trifft, erschrecke ich vor Freude, eine Art Heim- und Jugendweh kommt mich an, und wieder, wie einstmals, unterliegt mein Geist dem alten klugen und sinnigen, sehnsüchtigen und abgefeimten Zauber“ (in: Der Merker, Jg. 2, Juli 1911, S. 23).
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– ist offenkundig von Nietzsche inspiriert und hier wie dort eine Konsequenz der Überzeugung, daß das Zeitalter der Religion zu Ende ist; Brief Max Webers an seine Mutter vom 14. August 1912, MWG II/7, S. 643, siehe dazu oben, S. 13. Weber, Marianne, Lebensbild, S. 509, nennt „Bayreuth und Parsifal“ eine „Enttäuschung. Spiel blieb Spiel. Manches in der Musik mutete als leere Süße oder als unreinliches Gemisch von Sinnlichkeit und christlicher Symbolik an“. Honigsheim, Heidelberg, S. 246 f., klingt noch „deutlich in den Ohren, wie er [Weber] zustimmend das Urteil des Botanikers Klebs wiederholte […]: ,Wenn einer als Eunuch auf die Welt gekommen ist, dann ist es kein Wunder, wenn ihm nichts passiert.‘ Dabei hatte er natürlich die Blumenmädchenszene in Klingsors Garten im zweiten Akt im Sinn.“
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ungewöhnlicher ist schon die so dezi[28]dierte Ablehnung aus künstlerischen Gründen: „Der ,Parzifal‘ ist ein Werk, welches nicht mehr die volle Künstlerkraft Wagner’s verkörpert.“ Siehe dazu Nietzsches sarkastische Lyrik gegen den „Weg nach Rom“, das „Sich-selbst-Entfleischen“, „Priester-Händespreitzen“, „Bimbambaumeln“, „Nonnen-Äugeln, Ave-Glocken-Bimmeln, dies ganze falsch verzückte Himmel-Überhimmeln“ des „letzten Wagner“, in: Nietzsche, Friedrich, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886), KSA 5, S. 204, oder seine Weber-ähnliche Verhöhnung des Titelhelden als „ach, so unmännliche ,Einfalt vom Lande‘“, als „Naturburschen“, den der „morsch gewordene“ Wagner „hülflos und zerbrochen, vor dem christlichen Kreuze nieder[sinkend]“ in einem „Katholicismus des Gefühls“ geschaffen habe, in: ders., Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887), KSA 5, S. 341, ders., Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, S. 372 und 351.
97a
Schließlich ist Weber – wie auch Nietzsche – die „panerotische“ Komponente in Wagners Schaffen, insbesondere im „Parsifal“ zuwider.[28] So Weber im Brief an die Mutter vom 14. Auqust 1912 aus München, MWG II/7, S. 643.
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„Dagegen“ – so Weber im selben Brief vom 14. August 1912 an die Mutter – „war gestern der ,Tristan‘ etwas ganz Großes, wie man es nur sehr selten hat, von großer menschlicher Wahrheit – es fehlt eben hier all das über- und außermenschliche Beiwerk – und unerhörter musikalischer Schönheit. Es ist, mit den ,Meistersingern‘, die wir voriges Jahr hier hörten, das einzige wirklich ,Ewige‘, was Wagner geschaffen hat.“ Honigsheim, Heidelberg, S. 247, erinnert daran, daß Weber neben dem pseudoreligiösen und nationalistischen Wagnerkult auch den „wagnerischen Panerotismus“ „gehaßt“ habe, „von dem er in Gundolfs und meiner Gegenwart erklärte, er wolle einmal etwas dagegen schreiben.“ Malvida von Meysenbug gegenüber bekennt Nietzsche in einem Brief vom 20. Oktober 1888 (Nietzsche, Friedrich, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari unter Mitarbeit von Helga Anania-Heß, Band 8. – München: dtv und Berlin, New York: Walter de Gruyter 1984, S. 459) seinen „tiefsten Haß gegen die ekelhafte Sexualität der Wagnerischen Musik“.
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Der Seitenhieb gegen das „über- und außermusikalische Beiwerk“ zielt natürlich nicht nur auf den „Parsifal“, sondern auch auf den „Ring des Nibelungen“, dem Weber überwiegend skeptisch gegenübersteht. Während er für eine (von Honigsheim zur Sprache gebrachte) Deutung des macht- und geldgierigen Nibelungenherrschers Alberich als Repräsentanten des Kapitalismus „nur noch ein Achselzucken“ übrig hat, Brief Webers an die Mutter vom 14. August 1912, MWG II/7, S. 643 f. Weber hat Honigsheim, so Honigsheim, Heidelberg, S. 246, „sogar nahegelegt, die Klage des Königs Marke am Ende des zweiten Aktes einzustudieren und an einem seiner Sonntage bei ihm zu singen“.
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schätzt er Wagner „als Dichter des Tragischen sowie der Unentrinnbarkeit und des Aufsichnehmenmüssens des [29]schicksalhaft einem Aufgeladenen und Aufgegebenen“. Honigsheim, Heidelberg, S. 247. Vermutlich lehnt sich Honigsheim hier an George Bernhard Shaws 1898 publizierte, 1908 auf deutsch (Berlin: S. Fischer Verlag) erschienene Ring-Interpretation „The Perfect Wagnerite. A Commentary on the Niblung’s Ring“ an, in der Alberich zum Plutokraten erklärt und Nibelheim nach Klondyke verlagert wird. Ähnlich auch Oswald Spenglers Diktum zu Wagners Dichtung „Siegfrieds Tod“ von 1848 (der Vorform der „Götterdämmerung“): „Siegfried als sozialethischer Revolutionär, der Fafnirhort als Symbol des Kapitalismus“, vgl. Spengler, Oswald, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 2., neubearbeitete Aufl. – München: C. H. Beck 1923, S. 477. Zu Wagners eigener Interpretation des Zentralsymbols des Ringes als „Börsenportefeuille“ siehe Borchmeyer, Dieter, Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen. – Frankfurt a.M. und Leipzig: Insel 2002, S. 278.
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So bewegt ihn im „Ring“ – von einigen „schönen Stellen“ im „Siegfried“ abgesehen[29] Honigsheim, Heidelberg, S. 247.
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– zutiefst (nur) die Todesverkündigung aus der „Walküre“ als Ikone heroisch-tragischer Lebensführung. Im November 1918 hört Weber in Frankfurt am Main „einen Akt im ,Siegfried‘“: „Das wirkt jetzt doch recht seltsam, obwohl grad die schönen Stellen (Wald-Einsamkeit) doch wohl bleiben werden“, so Weber im Brief vom 26. November 1918 an seine Frau (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446; MWG II/10).
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In der 1919/20 erstellten Überarbeitung der Protestantismus-Abhandlung vergleicht Weber, Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: GARS I, S. 17–206 (MWG I/18), hier S. 98, die Todeseinstellungen des Puritaners Bunyan mit derjenigen Machiavellis und Wagners Siegmund aus der „Walküre“: Die „qualvolle Angst“ des Puritaners „vor dem Tode und dem Nachher“ ist „weltweit entfernt von jenem Geist stolzer Diesseitigkeit, dem Macchiavelli […] Ausdruck gibt […] und, freilich, noch weiter entfernt von Empfindungen, wie sie Richard Wagner Siegmund vor dem Todesgefecht in den Mund legt: ,Grüße mir Wotan, grüße mir Wallhall [sic] … Doch von Wallhall’s spröden Wonnen sprich du wahrlich mir nicht‘“. In der ersten Fassung von 1904/05 (Weber, PE II, S. 1–110) fehlt der Wagner-Bezug noch. Vermutlich resultiert er aus einem Besuch einer Aufführung der „Walküre“ Ostern 1920 in München – Webers letzter Opernbesuch –, den Weber, Marianne, Lebensbild, S. 700, kommentiert: „Die Walküre war ein großer Eindruck, obwohl ihr Sinn nicht ganz aus den Fesseln der Reflektion [sic] zu künstlerischer Gestalt befreit ist. Weber liebt besonders Siegfrieds [sic] seelisches Ringen mit der Todverkünderin […].“ Gemeint ist die vierte Szene des zweiten Aufzuges, in welcher Brünnhilde Siegmund verkündet, daß Wotan seinen Tod beschlossen und sie geschickt habe, ihn nach verlorenem Kampf mit Hunding nach Walhall, dem Heldenhimmel, zu bringen – jedoch, so Marianne Weber, ebd., „ohne die Geliebte. Und der [Siegmund] dann antwortet: ,Von Walhalls spröden Wonnen sprich Du mir wahrlich nicht‘.“
Daß Weber Wagners Schaffen kulturbedeutsam erscheint,
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verwundert nicht angesichts der eigenen Wertschätzungen, vor allem aber der kulturellen Übermacht, die der Komponist zu Webers Lebzeiten – in den Vorkriegsjahren erlebt die Wagner-Rezeption ihren ersten enthusiastischen Höhepunkt – erreicht hat. Vgl. Weber, Roscher und Knies I, S. 8, Fn. [2].
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Seine Bevorzugung der beiden tatsächlich einzigen nicht bzw. nur in der (unvertonten) Vorgeschichte mythologisch fundierten Werke des späten Wagner zeigt darüber hinaus die tieferen Gründe: sie scheinen Weber exemplarische Verkörperungen von Grenzsituationen zu sein, die für sein Bild des Menschen in der entzauberten Welt [30]zentral sind. So kommt im Erlebnis des „Tristan“ die Idee der innerweltlichen Erlösung ins Spiel – in Marianne Webers Worten: „Zwingend war […] die künstlerische Wahrheit und Größe des Tristan […]. So wurden sie [die Gefährten] ganz in seine Ekstase hineingerissen. Sie empfanden dies Kunstwerk als höchste Verklärung des Irdischen“ Zu den nicht selten grotesken Auswüchsen des Wagnerianismus siehe etwa die Ouellensammlung von Karl Heinrich Höfele (Hg.), Geist und Gesellschaft der Bismarckzeit. – Göttingen u. a.: Musterschmidt 1967, S. 423–432; ferner Hartmut Zelinsky (Hg.), Richard Wagner. Ein deutsches Thema. Eine Dokumentation zur Wirkungsgeschichte Richard Wagners 1876–1976, 3., korrigierte Aufl. – Berlin, Wien: Medusa 1983, S. 35–155. Prototypisch für die Omnipräsenz des Wagnerschen Werkes in Webers Gegenwart spricht Ziegler, Tyrannis (wie oben, S. 26, Anm. 93), S. 372, von Bayreuths kultureller „Universalmonarchie“.
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– Empfindungen, die Weber in seine 1916 publizierte „Zwischenbetrachtung“ mit ihrer idealtypischen Kontrastierung von ästhetischer Lebenssphäre und christlicher Brüderlichkeitsethik einfließen läßt: „Die Kunst“ und „gerade die Musik, die ,innerlichste‘ der Künste“ ist „Mittel der Ekstase“ und übernimmt als solches „die Funktion einer, gleichviel wie gedeuteten, innerweltlichen Erlösung: vom Alltag und, vor allem, auch von dem zunehmenden Druck des theoretischen und praktischen Rationalismus.“[30] Weber, Marianne, Lebensbild, S. 509 f.
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Und in den „Meistersingern“ erscheint Max Weber – hier im Gegensatz zu Marianne, die das Werk, ganz zeittypisch, von dessen Schlußapotheose der „heil’ge[n] deutsche[n] Kunst“ her versteht und als „Tempel des Deutschtums“ feiert Weber, Zwischenbetrachtung, MWG I/19, S. 499–501. Ähnlich emphatisch wie Weber nennt Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872/86), KSA 1, S. 1341 f., ders., Unzeitgemäße Betrachtungen, Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth (1876), KSA 1, S. 479, ders., Ecce homo. Wie man wird, was man ist (1888/89), KSA 6, S. 325, den „Tristan“ das „eigentliche opus metaphysicum aller Kunst“ mit „mystischen Dimensionen“, eine „narkotische Kunst“, einen „Musikorgiasmus“. Zur spätromantischen Musik als machtvollem „Gegentraum“ gegen den Geist des Zeitalters, „gegen Wissenschaft und Industrie“ siehe Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1866–1918, Band 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, 3., durchgesehene Aufl. – München: C. H. Beck 1993 (hinfort: Nipperdey, Geschichte), S. 746.
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– die „innere Würde“ des Hans Sachs als das entscheidende Moment, die „Werkstatt von Hans Sachs“ als die „schönste Partie“. „Erhebung“, so Weber, Marianne, Lebensbild, S. 506, findet das Ehepaar „durch die hohe adlige Kunst der ,Meistersinger‘. Hier fühlten sie sich in einem Tempel des Deutschtums. Kein anderes Land hat ja die Welt mit solcher sinnbeseelten Musik bedacht und derart vermocht, die Eigenart tiefster Gemütsschätze einer besonderen Nation zu offenbaren und zugleich der ganzen Kulturwelt verständlich zu sein.“ Die gemeinsame Paris-Reise 1911 resümiert sie, ebd., S. 508: „Hohe moderne Kunst fanden sie doch auch in Paris nur in den Werken R[ichard] Wagners und anderer deutscher Meister geboten.“
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Was konkret gemeint ist, läßt sich kaum bestimmen – der Fliedermonolog und das anschließende Gespräch Sachs-Eva im zweiten oder der Wahnmonolog im dritten Akt; am ehesten wohl eine „idealtypische“ Zusammenschau beider Szenen und daraus entwickelt ein Bild des philosophierenden Schusters als Repräsentant des heroisch-pessimistischen „Typus Mensch“, der, wie Weber am Schluß seiner Rede „Wissenschaft als Beruf“ [31]den sinnsuchenden Studenten entgegenhält, der „,Forderung des Tages‘ gerecht“ wird – „menschlich sowohl wie beruflich“. Siehe dazu Honigsheim, Heidelberg, S. 246, sowie Webers Brief an seine Frau vom 8. Dezember 1915, vgl. oben, S. 10.
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Eigenartig berührt sich dies mit der Rezension von Hans Vaihingers „Die Philosophie des Als ob“ von 1911 durch den jungen Carl Schmitt, der 1920 in München an den Colloquien teilnehmen wird, in denen Max Weber seine Musik-Studie vorstellt.[31] Weber, Wissenschaft als Beruf, MWG I/17, S. 111.
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Schmitt sieht Vaihingers Grundgedanken, „daß fast alle unsere Erkenntnisbegriffe Betrachtungen ,Als ob‘ und daß solche Fiktionen auch in der praktischen Philosophie unentbehrlich sind“, in Sachs’ Wahnmonolog mit der „Tiefe intuitiver Erkenntnis“ vertont, und zwar ganz konkret nicht nur in Sachs’ Worten, sondern auch in der musikalischen Diktion: „das einleitende Thema ist ein beispielloser Fall, wo der Eindruck einer philosophischen Erwägung, die ,aufgefaßte Idee‘ in 4 Intervalle gefaßt wird, wie ein Gedanke die ihm nothwendige künstlerische Gestalt annimmt und musikalischen Ausdruck findet. Die Voraussetzung dafür war, daß diese Erkenntnis die Stimmung ernster Resignation bei einem reifen Manne hervorruft. Es ist nicht gleichgültig, wer erklärt, daß alles Wahn sei […]. Die moralische Wichtigkeit dessen, der eine solche Einsicht erfährt, ist das Entscheidende.“ Siehe dazu den Editorischen Bericht, unten, S. 133.
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Das ist nun seinerseits von erstaunlicher „Tiefe intuitiver Erkenntnis“ und vermag im übrigen ein musikalisches Licht sozusagen auch auf die private Beziehung zu werfen, die Weber wie auch Mina Tobler mit den „Meistersingern“ verbindet: Mina Tobler schenkt Weber 1914 einen Klavierauszug, aus dem Weber wiederum in Anspielung auf „Johannistag“, den Geburtstag Mina Toblers, Notenzitate in die Gegengabe – Gottfried Kellers „Der Grüne Heinrich“ – überträgt. Schmitt, Carl, Richard Wagner und eine neue „Lehre vom Wahn“, in: Bayreuther Blätter, Jg. 35, 1912, S. 239–241. Detailliert beschreibt Schmitt, ebd., S. 241, die Parallelität von realem Bühnengeschehen, philosophischer Reflexion und musikalischer Entwicklung im „Wahnmonolog“, als dessen „Schluss“ sich ihm „die schönste und erhabenste Philosophie des ,Als ob‘ für das praktische Handeln“ ergibt: „die Erkenntnis der Nützlichkeit und Verwendbarkeit des Wahns, seiner praktischen Unumgänglichkeit; die Erkenntnis, dass es Werke gibt, ,die selten vor gemeinen Dingen, und nie ohn’ ein’gen Wahn gelingen‘.“
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Max Webers Klavierauszug (Wagner, Richard, Die Meistersinger von Nürnberg, hg. von Karl Klindworth. – Mainz: B. Schott’s Söhne 1914) trägt die Notiz „30. Mai 1914“ mit der Handschrift Mina Toblers (Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München). Weber schenkt Mina Tobler, wie einer freundlichen Mitteilung von Dietmut Schnetz
N
und Tilman Evers, der Großnichte und dem Großneffen Mina Toblers zu entnehmen ist, zu ihrem 34. Geburtstag am 24. Juni 1914 zur Erinnerung an die gemeinsame Lektüre eine zweibändige Ausgabe des „Grünen Heinrich“ mit Widmung „Der ,Judit‘“ (so nennt Weber – auch später noch in Briefen an sie, etwa vom 16. August 1919 (Privatbesitz; MWG II/10) – die Pianistin in Anlehnung an Heinrichs ehemalige Geliebte Judith). Beide Titelblätter versieht Weber ferner mit zwei Notenzitaten aus den „Meistersingern“ [32]und jeweils darunter gesetztem Datum „24. VI. 14“. Mit den Zitaten und dem Datum erinnert Weber an den „Johannistag“, Mina Toblers Geburtstag: das erste entstammt dem Chor der Lehrbuben {Beginn zweiter Akt: „Johannistag! Johannistag! Blumen und Bänder, soviel man mag!“), das zweite – ähnlich im Motiv-Aufbau – dem Ende von Sachs’ Wahnmonolog (dritter Akt, erste Szene auf die Zeile „Der Flieder war’s – Johannisnacht. –“). In MWG-Druckfassung irrtümlich: Schnätz; Korrektur in MWG digital.
[32]Zu den zeitgenössischen, insbesondere zu den im engeren Sinne „modernen“ Komponisten äußert sich Weber – sieht man von Richard Strauss ab – nur spärlich. Explizit schätzt er César Franck – wie überhaupt neuere französische Musik.
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Über Mina Tobler lernt er Conrad Ansorges, vom späten Liszt beeinflußte Lied-Kompositionen kennen; am 6. März 1911 hört er in jenem von Mina Tobler begleiteten, vermutlich von Oskar Noë, einem mit der Pianistin befreundeten Sänger gestalteten Liederabend einige Exemplare: „Die Musik gestern war wundervoll – speziell die beiden Lieder von Ansorge (eines besonders: Composition eines an sich unbedeutenden Dehmel’schen Gedichts) standen wie eine monumentale Größe zwischen den (schönen und interessanten, aber gepreßten und etwas gezerrten) Hugo Wolff’schen [sic] Sachen. Die kleine Tobler begleitete glänzend“. „César Franck ist unbedingt ein großer Kerl, das sah man auch an den paar Sachen in Paris, er steht ja auch auf Beethoven’s Schultern. Diese Orgelsache hätte ich auch gern gehört“, so Weber in einem Brief vom 23. März 1912 an seine Frau (MWG II/7, S. 487). Detaillierte musikhistorische Kenntnis auf französischem Terrain zeigt Weber auch bei der Berlioz’schen Orchestrierungskunst, siehe dazu unten, S. 86.
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Ansorge gilt vielen Zeitgenossen als bedeutender, neben Strauss prominentester Liedkomponist, der sich intensiv mit der deutschen fin-de-siècle-Lyrik auseinandersetzt und deren Entwicklung auf den Expressionismus hin begleitet. Karte Max Webers an seine Frau vom 7. März 1911, MWG II/7, S. 130.
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Herwarth Walden, Gründer der expressionistischen Zeitschrift „Der Sturm“, ist Ansorges Klavierschüler, und Stefan George, Detlef von Liliencron und vor allem Richard Dehmel gehören zum persönlichen Umgang des Komponisten. Dehmel hält ihn – mit deutlicher Spitze gegen Richard Strauss – für den einzigen, der seine Gedichte angemessen vertonen könnte. In München etwa setzt sich Felix Mottl, seit Oktober 1904 Direktor der Königlichen Akademie der Tonkunst, für Ansorge als Liedkomponist ein, vgl. dazu Jugendstil-Musik (wie oben, S. 13, Anm. 41), S. 87 f.
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Tatsächlich sind Ansorges häufig sehr kurze, versponnene und durch ungewöhnlich reiche Harmonik an der [33]Grenze der Tonalität fesselnde, dabei oft rigoros durchkonstruierte Lieder von hohem Reiz. Er urteilt über ihn: „Kein zweiter hat den lyrischen Klängen jener Tage so die Musik gefunden wie Ansorge“, siehe Dehmel, Richard, Dichtungen, Briefe, Dokumente, hg. von Paul Johannes Schindler. – Hamburg: Hoffmann und Campe 1963, S. 267. Dehmel und Weber nehmen im übrigen beide an der von Eugen Diederichs organisierten Tagung auf der Burg Lauenstein im Herbst 1917 „zum Austausch über Sinn und Aufgabe unserer Zeit“ teil, vgl. Weber, Marianne, Lebensbild, S. 608.
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[33] Siehe dazu Schmierer, Elisabeth, Konrad Ansorge. Ein Liedkomponist der Jahrhundertwende, in: Musik als Text. Bericht über den Internationalen Kongreß der Gesellschaft für Musikforschung Freiburg im Breisgau 1993. – Kassel u. a.: Bärenreiter 1999, S. 418–424; dies., Artikel „Ansorge“ in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart – Allgemeine Enzyklopädie der Musik, 2., neubearbeitete Ausgabe, hg. von Ludwig Finscher, Personenteil, Band 1. – Kassel, Stuttgart u. a.: Bärenreiter/Metzler 1999, Sp. 762–764.
Inwieweit Weber über Ansorge hinaus die in der Musik-Studie
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sogenannten „modernsten Entwicklungen der Musik, welche praktisch sich mehrfach in der Richtung einer Zersetzung der Tonalität bewegen“, kennengelernt bzw. selbst gehört hat, ist fraglich. Daß er sich für die „Ganztonskalen der Modernen“, insbesondere für Debussy, interessiert, Siehe unten, S. 252.
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gehört primär zur Arbeit an der Musik-Studie und sagt über persönliche Hörerfahrungen zunächst wenig aus. Ähnlich steht es mit eventuellen Schönberg-Kenntnissen. Daß Weber dessen frühe Werke gehört hat, ist unwahrscheinlich. Zwar berichtet Honigsheim Loewenstein, Karl, Persönliche Erinnerungen an Max Weber, in: Max Weber zum Gedächtnis. Materialien zur Bewertung von Werk und Persönlichkeit, hg. von René König und Johannes Winckelmann. – Köln, Opladen: Westdeutscher Verlag 1963, S. 48–52 (hinfort: Loewenstein, Materialien), S. 49, erzählt davon, daß Weber im August 1919 in einer Seminarsitzung in München in einem Vortrag über seine Musik-Studie (siehe dazu den Editorischen Bericht, unten, S. 132) diese Skalen angeführt habe. In seiner Musik-Studie, unten, S. 150, spricht Weber von den „vielumstrittenen ,alterierten Tonleitern‘“. Die Ganztonskalen sind ein zentrales Ausdrucksmittel Debussys, mit dem Weber im übrigen einige markante künstlerische und musikanalytische Interessen gemein hat, so insbesondere an der südostasiatischen Gamelan-Musik und an Hermann von Helmholtz’ Grundlagenwerk über die „Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik“, siehe dazu unten, S. 38 f., sowie Braun, Musiksoziologie (wie oben, S. 16, Anm. 53), S. 35.
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vom Interesse der Heidelberger Gelehrtenavantgarde an den in Mannheim des öfteren aufgeführten „neueren Komponisten wie Schoenberg“, ferner von Webers Vorliebe für das Wiener Rosé-Quartett, das in den Vorkriegsjahren mehrfach Werke (ur-)aufführt, und zwar meist gegen ein tobendes Publikum; Honigsheim, Heidelberg, S. 243 f.
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im sonntäg[34]lichen Treffen in Webers Haus komme dies jedoch, so Honigsheim, nicht zur Sprache, und ein Erlebnis eines solchen Skandals wäre sicherlich kommentiert worden. Arnold Josef Rosé, Konzertmeister an der Wiener Hofoper und Schwager Gustav Mahlers, gründet 19jährig 1882 zusammen mit seinem Bruder, dem Cellisten Eduard Rosé, dem Geiger Julius Egghard und dem Bratschisten Anton Loh das berühmte Ensemble, dem Brahms, Pfitzner und insbesondere der mit Rosé befreundete Arnold Schönberg Uraufführungen ihrer Werke anvertrauen; von Schönberg gelangen zur Uraufführung „Verklärte Nacht“ am 18. März 1902, das erste Streichquartett in d-Moll am 5. Februar 1907, die erste Kammersymphonie drei Tage später und das zweite Streichquartett in fis-Moll Ende 1908, von Schönbergs Schüler Anton von Webern 1910 die 5 Sätze op. 5 für Streichquartett.
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Wenn auch nicht als praktische Hörerfahrung, so hat Weber vermutlich doch von diesen „modernsten“ Werken gewußt. Möglicherweise hat Ernst Bloch Weber über Schönbergs 1911 publizierte „Harmonielehre“ oder auch über dessen Kompositionen der Vorkriegszeit informiert; Analoges gilt für die Schönberg betreffenden Artikel in der von Weber stark rezipierten Zeitschrift der Internationalen Musikgesellschaft.[34] Ende 1908 wird z. B. die von lautem Lachen gestörte, vom Rosé-Quartett und der Hofopernsängerin Maria Gutheil-Schoder bestrittene Wiener Uraufführung von Schönbergs zweitem Streichquartett vor geladenen Gästen wiederholt. Schönberg läßt auf die Eintrittskarten des Privatkonzertes den Vermerk drucken, daß ihr Besitz „nur zu ruhigem Zuhören, nicht aber zu Meinungsäußerungen wie Applaus oder Zischen“ berechtige (Schönberg, Arnold, Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, hg. von Eberhard Freitag. – Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1973, S. 44 f.). In den folgenden Jahren verlegt Schönberg Proben und Aufführungen seiner und seiner Schüler Werke zunehmend in Privatkonzerte. Zu den tumultuösen Publikumsreaktionen auf die Rosé-Darbietungen siehe auch die London Notes, in: Zeitschr. der Internat. Musikges., Jg. 15, 1913/14, S. 131.
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Vor allem aber kommt dem befreundeten Dirigenten und Komponisten von Klenau, einem Schwager des Schönberg-Schülers Alban Berg, hier eine Bedeutung zu. Dessen Schaffen nähert sich um 1918 für eine kürzere Zeit der Schönberg’schen Atonalität an. Mit ihr setzt sich von Klenau 1918 auch theoretisch auseinander. Hermann Wetzel bespricht in: Zeitschr. der Internat. Musikges., Jg. 14, 1912/13, S. 29–31, auf höchst abfällige Art Schönbergs „Harmonielehre“; eine fundierte Einführung in Schönbergs Kompositionen bis 1911 (und einen Hinweis auf die „Harmonielehre“) gibt dagegen der Schönberg-Schüler Egon Wellesz, in: Zeitschr. der Internat. Musikges., Jg. 12, 1910/11, S. 342–348.
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Daß Weber davon Kenntnis hat, ist naheliegend, Klenau, Paul von, Arnold Schönberg, in: Musik. Tidsskrift for Tonekunst, Jg. 2, Oktober 1918, S. 129–131. Von Klenau nennt Schönberg in diesem Artikel (der Produkt der Kriegsjahre ist, die von Klenau nach seiner Freiburger Kapellmeisterstelle in Dänemark zubringt) „et Problem“, vor dem man nicht die Augen verschließen dürfe, sondern mit dem man sich offen auseinandersetzen müsse. Kritisch (und ästhetisch eher traditionsverhaftet) stellt er allerdings auch die Frage, ob nicht mit Schönbergs Atonalität der Theorie eine Übermacht über das musikalische Empfinden eingeräumt werde. (Die Editoren danken dem Gewandhauschordirektor Morten Schuldt-Jensen für die Übersetzungshilfe).
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die Frage der persönlichen Hörerfahrung jedoch auch damit nicht zu klären. Vermutlich ist der Artikel bei Webers Treffen mit von Klenau im April 1918 in Wien zur Sprache gekommen, siehe dazu oben, S. 21, Anm. 78.
Von Klenaus früheres, zunächst an Bruckner, dann an Richard Strauss geschultes Schaffen ist dagegen explizit Erfahrungs- und Gesprächsstoff Webers. Die von Hans Pfitzner geleitete, von Max und Marianne Weber [35]besuchte Uraufführung seiner dritten Symphonie in f-Moll am 9. November 1910 in Straßburg diskutiert er mit Rickert.
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Die ausführliche Rezension des Werkes durch Gustav Altmann in der Zeitschrift „Die Musik“[35] Siehe den Brief Webers vom 26. November 1910 an von Klenau, MWG II/6, S. 696 mit editorischer Anmerkung 4.
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kann einen Fingerzeig geben, worum es in diesem Gespräch über das bald wieder in Vergessenheit geratene Stück gegangen ist: die Verbindung der traditionellen vier Sätze mit einem Chorfinale (Te Deum) stellt das Werk in die Tradition der monumentalen Bekenntnis- und Weltanschauungssymphonie in der Nachfolge von Beethovens Neunter Symphonie, die in dieser Zeit vor allem im Werk Gustav Mahlers kulminiert. Jg. 10, Band 37, 1910/11, S. 318 f.
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Daß Webers Reaktion darauf eher gemischt ist, kann man vermuten: es ist auffallend, daß im Gesichtskreis eines musikalisch so interessierten Menschen Mahler gar nicht auftaucht, zumal Weber mehrfach die Gelegenheit offenbar nicht ergreift, Werke Mahlers in Heidelberg, Mannheim und Straßburg, auch unter der Leitung des Komponisten, zu hören. Daneben mag – vielleicht – für von Klenau auch Bruckners (als Notlösung akzeptierter) Plan eine Rolle gespielt haben, seine unvollendet gebliebene Neunte Symphonie mit dem bereits 1881 konzipierten Te Deum als viertem Satz abzuschließen.
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Gleichwohl wird die hypertrophe und virtuose Orchesterbehandlung von Klenaus den aufmerksamen Hörer, der schon beim Soziologentag 1910 besonderes und weniger ästhetisches als – im Sinne der entstehenden Musik-Studie – professionelles Interesse am modernen Orchester und seiner Behandlung bei Strauss gezeigt hat, gefesselt haben. In Heidelberg dirigiert Mahler selbst 1904 seine dritte, ein Jahr später in Straßburg seine fünfte Symphonie; hier führt Pfitzner 1908 die zweite auf. In Mannheim sind 1904 die dritte Symphonie, 1910 die „Lieder aus des Knaben Wunderhorn“, 1911 (unter Bodanzky) weitere Orchesterlieder sowie die zweite Symphonie zu hören, siehe dazu Stefan, Paul, Gustav Mahler. Eine Studie über Persönlichkeit und Werk. – München: Piper 1912, S. 151–154.
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Ebensowenig wie zu Mahler äußert sich Weber zu Hans Pfitzner, Max Reger oder auch zu Giuseppe Verdi. Dies bedeutet jedoch keine Unkenntnis, wie aus den Briefen Loewensteins an Weber zu schließen ist, in denen nicht zufällig Webers wichtigste musikalische (Gegenwarts-)Autoritäten als Vergleich herangezogen werden: „Tristan“ und Richard Strauss’ Orchestrierungskunst. Demgegenüber macht Edgar Istel, Zeitschr. der Internat. Musikges., Jg. 9, 1907/08, S. 354, in seiner Kritik zur 44. Tonkünstlerversammlung des Allgemeinen Deutschen Musikvereins (München, 30. Mai bis 5. Juni 1908) gegenüber der hier uraufgeführten ersten Symphonie von Klenaus geltend, daß die „riesenhafte[n] orchestrale[n] Mittel in keinem Verhältnis zu dem recht geringfügigen Gedankeninhalt stehen“ und das Werk „noch nicht einmal durch technisch einwandfreie Arbeit entschädigt“.
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Schließlich spricht [36]Weber noch von „zwei ganz moderne[n] Russen“, deren Werke er während seiner Konzertwoche in Berlin mit den Philharmonikern im Januar 1911 hört. Loewenstein schreibt Weber am 21. Dezember 1913 aus München (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446): „Ich hörte letztlich auch Pfitzners [36],Armen Heinrich‘, den ein 23 Jähriger geschrieben hat und der vielleicht das einzige Opernwerk seit Wagner ist, das sich an Tiefe und Leidenschaft dem Tristan annähert, ohne ihn allerdings zu erreichen, was ja unmöglich ist. Bruno Walter hat es sich [im übrigen] nicht nehmen lassen das Verdi-Jubiläum mit einigen sehr guten Aufführungen, dabei das schöne Requiem, zu feiern.“ Weber bedankt sich im Brief vom 29. Dezember „für Ihre interessanten musikalischen Mitteilungen“ (MWG II/8, S. 444); Analoges gilt bereits für die Karte vom 9. August 1913, in der er einen offenbar von Loewenstein zuvor genannten, „mir noch ganz unbekannten Componisten“ anspricht (ebd., S. 302). Am 8. März 1914 erzählt Loewenstein Weber von der Münchener Erstaufführung der aufwendig instrumentierten Klopstock’schen „Frühlingsfeier“ von Karl Prohaska (1869–1927), wobei ihm „wieder zum Bewußtsein“ kam, „wie stark wir unter der Instrumentationstechnik von Richard Strauß stehen“ (Bestand Max Weber-Schäfer, Deponat BSB München, Ana 446).
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Es handelt sich jedoch nicht, wie man meinen könnte, um „revolutionäre“ Werke Skrjabins oder des jungen Strawinskij, sondern – dem Programmheft zufolge Im Brief an Marianne Weber vom 27. Januar 1911, MWG II/7, S. 64.
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– um die beiden „harmloseren“, spätromantischen Tondichtungen „Der verzauberte See“ von Anatolij Ljadov (1855–1914) und „Die Schwarze“ des Ukrainers Aleksandr Nikolaevič Vinogradskij (1855–1912). Siehe dazu die editorischen Anmerkungen, ebd.
II. Max Weber und die Musikwissenschaft
Max Weber rezipiert das musikwissenschaftliche Schrifttum seiner Zeit in ungewöhnlichem Umfang. Seine Musik-Studie ist das imponierende Produkt dieser Rezeption, ein – wie der Erstherausgeber Theodor Kroyer anmerkt
1
– „Meisterstück der Synthese“ von musikpsychologischer, -ethnologischer, -historischer und -theoretischer Fachliteratur. Kroyer, Theodor, Zur Einführung, unten, S. 143.
Dabei kommt Max Weber zugute, daß er seine Arbeit zu einem Zeitpunkt konzipiert, zu dem das als akademische Disziplin noch junge Fach der Musikwissenschaft den ersten Höhepunkt seiner Entwicklung erreicht. Dies gilt vor allem für Deutschland und Österreich, in denen es sich besonders intensiv und extensiv entfaltet und institutionalisiert, aber auch in Frankreich und den angelsächsischen Ländern. Begünstigt wird diese Entwicklung durch sehr unterschiedliche Faktoren. Der institutionellen Etablierung des Faches, das heißt seiner Aufnahme als (prinzipiell, wenn auch nicht immer und nicht sofort) gleichberechtigtes Mitglied in die Philosophischen Fakultäten und in außeruniversitäre Forschungsinstitutionen, kommen Aufschwung und Ausbau der Wissenschaften vor allem im Deut[37]schen Reich und speziell in Preußen zugute – eine Expansion, die von einem weitgehenden Konsens von Politik, Wissenschaft und gebildeter Bevölkerung über die Notwendigkeit eines umfassenden und möglichst in der Welt führenden Systems der Wissenschaften getragen wird. Für die Teildisziplinen des Faches kommen spezifische Faktoren hinzu. Die experimentelle Tonsystematik und Musikpsychologie profitieren vom Aufschwung der psychologischen Disziplinen insgesamt. Die Einrichtung des Psychologischen Forschungslaboratoriums an der Universität Leipzig durch Wilhelm Wundt 1879 setzt hier den ersten Akzent. Nach ihrem Muster entstehen Laboratorien an der Johns Hopkins University in Baltimore 1883 und an der Sorbonne in Paris 1889. Die Musikethnologie, die in kürzester Zeit einen erstaunlichen Aufschwung nimmt, kann auf einem sprunghaft wachsenden Interesse an nicht-europäischen Kulturen aufbauen. Dies schließt in den Kolonialstaaten England, Frankreich und Deutschland dezidiert nationale und hegemoniale Motivationen ein, während es in den USA in der Erforschung der Indianerkulturen und – zögerlicher – der Kulturen der afro-amerikanischen Unterschicht auch auf der Rationalisierung eines schlechten Gewissens basiert. Die Musikgeschichtsschreibung schließlich entfaltet sich vor allem in Deutschland und Österreich in einer Fülle von Systementwürfen, Gesamtdarstellungen und Detailstudien. Hier wirken die Tradition der im Gymnasium beheimateten Klassischen Bildung (im bedeutenden Aufschwung der Forschungen zur Musik des Klassischen Altertums), das wachsende Geschichtsinteresse des gebildeten Bürgertums, die weitverbreitete Überzeugung von der Führungsrolle der „deutschen“ Musik (worunter vor allem Wiener Klassik und deutsche Romantik verstanden werden, aber noch weitgehend ohne die chauvinistische Verengung, die infolge der politischen Katastrophe 1918 einsetzt) und nicht zuletzt die Rolle dieser Musik im öffentlichen und privaten Musikleben zusammen.
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[37] Charakteristisch für das Selbstbewußtsein der sich etablierenden Musikwissenschaft ist die Art, wie die Redaktion der Zeitschr. der Internat. Musikges. 1908 Webers Kollegen, den Leipziger Nationalökonom Franz Eulenburg, zurechtweist, der, so der Vorwurf, in einem Zeitungsartikel zur Hochschulverfassung „Chinesisch und Musikwissenschaft“ als „untergeordnete Fächer“ auf die gleiche Stufe gestellt und damit ignoriert habe, „daß die deutsche und überhaupt die Musik nicht nur einen der höchsten Ruhmeskränze der europäischen Kultur ausmacht, sondern sie im Leben gerade der deutschen Nation eine tiefe, oft sogar eine entscheidende Rolle spielte, und daß eine Disziplin, die sich mit der Musik in einer Weise befaßt, die andern Disziplinen an Ernst nichts nachgibt, […] seit einem Menschenalter einen ungeahnten Aufschwung genommen hat“, in: Zeitschr. der Internat. Musikges., Jg. 9, 1907/08, S. 318 f. Zur führenden, wesentlich vom Bildungsbürgertum getragenen Rolle der Deutschen „als ein Volk, dessen Weltruhm im 19. Jahrhundert neben der Musik auf der Wissenschaft beruht“ siehe Nipperdey, Geschichte (wie oben, S. 30, Anm. 107), S. 602, sowie oben, S. 2.
[38]1. Akustik und Tonpsychologie
Für den ausgearbeiteten Teil der Weberschen Studie über Musik, wie er uns vorliegt, sind die Ergebnisse der musikpsychologischen und musikethnologischen Forschung wichtiger als die der musikhistorischen. Während Webers Interesse an der Wahrnehmungspsychologie Wilhelm Wundts im Zusammenhang mit dieser Arbeit gering ist,
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werden die Arbeiten zur Tonpsychologie von Hermann von Helmholtz und Carl Stumpf für ihn zentral – mit gutem Grund, denn die Werke der beiden Wissenschaftler sind recht eigentlich Gründungsdokumente der Musikpsychologie und, nicht weniger wichtig, der Musikethnologie im deutschsprachigen Bereich. Helmholtz’ „Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik“ aus dem Jahre 1863[38] Sie ist niedergelegt in: Wundt, Wilhelm, Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung. – Leipzig und Heidelberg: Carl Winter 1862; ders., Grundzüge der physiologischen Psychologie, Band 2, 5., völlig umgearbeitete Aufl. – Leipzig: Wilhelm Engelmann 1902 (1. Aufl. 1874); innerhalb des zwölften Kapitels „Intensive Gehörvorstellungen“ stellt Wundt, ebd., S. 392–439, in Auseinandersetzung u. a. mit Hermann von Helmholtz, Carl Stumpf und Hugo Riemann (siehe dazu im Anschluß) Grundlagen der Akustik und Intervallehre vor. Im methodologischen Kontext des Begriffes des „Schöpferischen“ und des Kausalverhältnisses von Teil und Ganzem übt Weber Kritik an Wundt, siehe dazu Weber, Roscher und Knies II, S. 100–110 (= 1334–1344), ferner Ay, Karl-Ludwig, Nähe und Kritik. Max Webers Auseinandersetzung mit dem „Geist“ von Leipzig, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte, Band 70, 1999 (hinfort: Ay, Leipzig), S. 152–156.
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– die systematische und weithin beachtete, u. a. von Ernst Mach kommentierte Zusammenfassung von seit 1850 veröffentlichten Aufsätzen Weber benutzt, wie aus seiner Angabe unten, S. 164 – der einzigen konkreten Literaturangabe in der Musik-Studie – hervorgeht, die dritte Auflage: Helmholtz, Tonempfindungen. Zu Helmholtz’ überragenden Forschungsleistungen siehe die populäre wissenschaftliche Biographie von Koenigsberger, Leo, Hermann von Helmholtz, Gekürzte Volksausgabe. – Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn 1911, ferner: Universalgenie Helmholtz. Rückblick nach 100 Jahren, hg. von Lorenz Krüger. – Berlin: Akademie Verlag 1994.
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– ist die Grundlegung der [39]modernen Akustik und Hörphysiologie auf der Basis des physikalischen und physiologischen Experiments und der rational kontrollierten Beobachtung. Fundamentale Erklärungen wie die von Konsonanz und Dissonanz aus periodischen und aperiodischen Schwingungen, der Ober- und Kombinationstöne sowie der sogenannten Schwebungen sind ihr zu verdanken und die auf ihnen aufbauende Unterscheidung von Tonverwandtschaft und Tonnachbarschaft sowie von „akzidentiellen“ und „essentiellen“ Tonleitern auch für Webers Studie von erheblicher Bedeutung. Dazu zählen die Abhandlungen „Über Kombinationstöne“ (1856), „Über die physiologischen Ursachen der musikalischen Harmonie“ (1857), „Über die physikalische Ursache der Harmonie und Disharmonie“ (1859), „Über Luftschwingungen in den Röhren mit offenen Enden“ (1859), „Über Klangfarben" (1860); „Über musikalische Temperatur“ (1860), „Über die arabisch-persische Tonleiter“ (1862) und „Zur Theorie der Zungenpfeifen“ (1862). Die „Tonempfindungen“ erscheinen bis 1913 in sechs Auflagen, die französische Fassung, hg. von G. Guérault, 1868, die englische, hg. von Alexander J. Ellis, 1875. Zu den zeitgenössischen Bestrebungen, das Werk einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, zählen z. B. Mach, Ernst, Einleitung in die Helmholtz’sche Musiktheorie. Populär für Musiker. – Graz: Leuschner und Lubensky 1866; Tyndall, John, Der Schall. Acht Vorlesungen, gehalten in der Royal Institution von Großbritannien, autorisierte deutsche Ausgabe, hg. von Hermann von Helmholtz und Georg Wiedemann. – Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn 1869, S. 337–360, [39]sowie Auerbach, Felix, Hermann Helmholtz und die wissenschaftlichen Grundlagen der Musik, in: Nord und Süd, Jg. 19, 1881, S. 217–244.
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Im Schlußkapitel seiner Tonempfindungen, S. 562–565, schreibt Helmholtz den Obertönen eine fundamentale Rolle als physiologisch-physikalische Grundlage der Musik zu, da diese „Klänge, deren höhere Partialtöne Schwingungszahlen haben, welche ganze Multipla sind von der Schwingungszahl des […] Grundtones“ – in erster Linie Oktave und Quinte – melodisch wie harmonisch „in allen bekannten Musiksystemen“ eindeutig bevorzugte sind. (Zu den Termini siehe das Glossar, unten, S. 314, 329 f. und 336).
Auch wenn sie den größten Raum seiner „Theorie der Musik“ einnehmen, so versteht Helmholtz die naturwissenschaftlichen Untersuchungen und Fakten nicht als monokausales Erklärungsprinzip, sondern – wie der Untertitel sagt – nur als „Grundlage“, als Bedingung, die wohl notwendig, aber nicht hinreichend ist, die „elementaren Regeln der musikalischen Composition“ zu begründen. Dem physiologisch-physikalisch Naturgegebenen ist das historisch sich wandelnde ästhetische (Stil-)Prinzip an die Seite zu stellen: „Ob ein Zusammenklang mehr oder weniger rauh ist als ein anderer, hängt nur von der anatomischen Structur des Ohres, nicht von psychologischen Motiven ab. Wie viel Rauhigkeit aber der Hörer als Mittel des musikalischen Ausdrucks zu ertragen geneigt ist, hängt von Geschmack und Gewöhnung ab; daher die Grenze zwischen Consonanzen und Dissonanzen sich [historisch] vielfältig geändert hat. Ebenso sind die Tonleitern, Tonarten und deren Modulationen mannigfachem Wechsel unterworfen gewesen, nicht bloss bei ungebildeten und rohen Völkern, sondern selbst in denjenigen Perioden der Weltgeschichte und bei denjenigen Nationen, wo die höchsten Blüthen menschlicher Bildung zum Aufbruch kamen“.
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So formuliert Helmholtz den Satz, „der unseren musikalischen Theoretikern und Historikern“, insbesondere den scheinbar bzw. dilettantisch naturwissenschaftlich argumentierenden, „noch immer nicht genügend gegenwärtig ist, dass das System der Tonleitern, der Tonarten und deren Harmoniegewebe nicht bloss auf unveränderlichen Naturgesetzen beruht, sondern dass es zum Theil auch die Consequenz ästhetischer [40]Principien ist, die mit fortschreitender Entwickelung der Menschheit einem Wechsel unterworfen gewesen sind und ferner noch sein werden“ . Helmholtz, Tonempfindungen, S. 370.
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[40] Ebd.
Die Anerkennung dieser ästhetischen Prinzipien bedeutet nicht Willkür in der Wahl jener „Elemente musikalischer Technik“, „im Gegentheil“ – so Helmholtz’ für Webers Konzept zentrale Feststellung – „die Regeln eines jeden Kunststils bilden ein wohl zusammenhängendes System“, das „zwar von den Künstlern nicht aus bewusster Absicht und Consequenz entwickelt [wird], sondern mehr durch herumtastende Versuche und durch das Spiel der Phantasie […]. Aber die Wissenschaft kann die Motive doch zu ermitteln suchen, seien sie nun psychologischer oder technischer Art, die bei diesem Verfahren der Künstler wirksam gewesen sind. Der wissenschaftlichen Aesthetik werden hierbei die psychologischen Motive zur Untersuchung zufallen; der Naturwissenschaft die technischen.“
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Letztere hat naturgemäß der Physiologe und Physiker Helmholtz zuerst im Blick; sie sind ihm die „natürlichen Gesetze der Thätigkeit unseres Ohres“, die „Bausteine, welche der Kunsttrieb des Menschen benutzt hat, um das Gebäude unseres musikalischen Systemes aufzuführen“. Ebd., S. 371.
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Ebd., S. 568.
Dieselben Bausteine jenes „wohl zusammenhängende[n] System[s]‘‘ der „Elemente musikalischer Technik“ thematisiert Weber in seiner Musik-Studie, allerdings nicht mehr (nur) unter tonphysikalischen, sondern unter universalhistorischen, d. h. vor allem musikethnologischen Gesichtspunkten. In ihrer provisorisch überlieferten Fassung widmet sich die Studie explizit und nahezu ausschließlich den „technischen Ausdrucksmitteln“, welche „ein bestimmtes Kunstwollen für eine fest gegebene Absicht verwendet“ bzw. verwenden konnte und kann.
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Zu diesen Mitteln künstlerischen Ausdrucksstrebens zählt Weber in erster Linie – auf der elementaren rationalisierungstheoretischen Ebene – die Tonsystematik und die verschiedenartige Abmessung (Stimmung) von Intervallen, wobei die pythagoreische und die „neutrale“ als distanzmäßig-melodische im hellenischen bzw. außereuropäischen Kontext der harmonisch-„natürlichen“ und (un-)gleichschwebend-temperierten auf der Seite der europäischen mittelalterlichen Polyphonie bzw. modernen Akkordharmonik gegenübergestellt wird. Weber, Wertfreiheit, S. 69 f..
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Neben Helmholtz hat ihm hier Max Planck Pate gestanden, der 1893 zu bedenken gibt, „daß jeder Fortschritt und jede Verfeinerung in den Leistungen einer Kunst nach allen unseren Erfahrungen aufs engste verbunden ist mit [41]der Vermehrung und Vervollkommnung ihrer technischen Ausdrucksmittel“; damit aber „erhellt sowohl für den schaffenden als auch für den reproducierenden Künstler die Wichtigkeit der Aufgabe, sich der Existenz und des Wirkungsbereiches dieser Ausdrucksmittel, zu denen die Musik in vorderster Linie die Stimmung zählt, bewußt zu werden.“ Zu den Einzelheiten siehe das Glossar, unten, S. 299 ff., sowie Braun, Musiksoziologie (wie oben, S. 16, Anm. 53), S. 169–190.
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Als Ergebnis seiner universalhistorischen „Stimmungs“-Analysen hält Weber für den modern-europäischen Kontext fest: „Rationalisierung der Musik […] durch harmonische Teilung (der Quinte). Im Mittelpunkt steht also das Problem der Entstehung der Terz in deren harmonischer Sinndeutung: als Glied des Dreiklangs […].“[41] Planck, Max, Die natürliche Stimmung in der modernen Vokalmusik, in Vierteljahresschr. für Musikwiss., Jg. 9, 1893, S. 420.
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Bei der Feststellung solcher (und weiterer) technischer Ausdrucksmittel künstlerischen Wollens bewegt er sich – expressis verbis – auf dem Boden einer „rein empirische[n] Kunst- [bzw. Musik-]geschichte“. Weber, Wertfreiheit, S. 70.
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In diesem Sinn ist Webers „rationale Grundlagen“-Studie die Fortführung (bzw. Korrektur) des Helmholtz’schen physikalisch-physiologischen „Grundlagen“-Werkes mit ethnologischen bzw. universalhistorischen Mitteln. Ebd. Näheres dazu unten, S. 84 f. und 121 f.
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Zu Webers Kritik an der Rolle, die Helmholtz der Obertonreihe zuschreibt, siehe unten, S. 151, 161 und 178 f. Der Titel der Erstherausgeber „Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik“ ist in dieser Hinsicht: der Verwendung des „Grundlagen“-Begriffes im Sinne jener Helmholtz’schen Bescheidenheit sinnvoll (näheres dazu im Editorischen Bericht, unten, S. 138). Daß Weber auch das „Kunstwollen“ – jene von Helmholtz aufgeführten „psychologischen“ bzw. ästhetischen Motive – in einer (geplanten) Fortführung der Studie hat thematisieren wollen, darf vermutet werden, siehe dazu unten, S. 86 f. und 123.
Neben Helmholtz’ Grundlagen-Werk treten andere Darlegungen tonphysikalischer Tatsachen in die zweite Reihe; gleichwohl besitzen diese in Webers Horizont zumindest punktuell einen ebenso hohen Stellenwert. Das gilt vor allem für diejenigen Autoren, die den mehr oder minder „rationellen Aufbau unseres Tonsystems“ in seiner „Logik“, aber auch in seinen „Irrationalitäten“ darlegen, von Ernst Florens Friedrich Chladni angefangen über Moritz Hauptmann und Heinrich Bellermann bis zu Otto Bähr und den – in anderen Kontexten maßgeblichen – Carl Stumpf und Hugo Riemann.
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Im übrigen greift Weber auch auf allgemein zugängliche Nachschlagewerke zurück, wie unter anderem an der Verwendung des (veralteten) Begriffs des „ditonische[n] Komma“ zu sehen ist. Siehe dazu das Verzeichnis der von Weber zitierten (bzw. herangezogenen) Literatur, unten, S. 354 ff.
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Schließlich ist auch ein philosophisches Hauptwerk durchaus relevant für Webers ton[42]physikalische Überlegungen: Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“ verdankt Weber sein grundlegend dualistisches Verständnis von Musik, sowohl die „innerlichste der Künste“ als auch ein „Mittel“ zu sein, „rationale und irrationale Zahlenverhältnisse […] zu einer ganz unmittelbaren und simultanen sinnlichen Erkenntniß zu bringen“. Unten, S. 145.
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Jenem emphatischen Attribut ist die prominente religionssoziologische „Zwischenbetrachtung“ verpflichtet, dem Rationalen und seinen „Widersprüchen“ die Musik-Studie, die nicht zufälligerweise mit arithmetischen Intervalldarstellungen beginnt.[42] Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung, hg. von Arthur und Angelika Hübscher, Band 1 (Zürcher Ausgabe, Band 1). – Zürich: Diogenes 1977, S. 322 und 330, Band 2 (Zürcher Ausgabe, Band 4), S. 528 und 530 (hinfort: Schopenhauer, Wille). Wie für Weber – zu Beginn seiner Musik-Studie, unten, S. 148 f. – ist für Schopenhauer, ebd., Band 1, S. 333 f., mit Verweis auf „Chladni’s Akustik“ ein „vollkommen reines harmonisches System der Töne […] schon arithmetisch unmöglich“, vielmehr nur „durch Temperatur“ darstellbar. Darüber hinaus zeigen sich musiktheoretische Verwandtschaften zwischen Schopenhauer und Weber im Rekurs auf die Obertöne, die beiden „Grundackorde“ des dissonanten Septimenakkordes und des harmonischen Dreiklangs, „als auf welche alle vorkommenden Ackorde zurückzuführen sind“, und auf die akkordfremden „Vorhalts“-Töne (ebd., Band 2, S. 530 und 536 f.).
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Siehe unten, S. 145. Näheres zum Weberschen Dualismus hier in der Einleitung, S. 100 f.
2. Musikethnologie
Die wesentlichen universalhistorischen Erkenntnismittel, die Webers „Grundlagen“-Werk vom Helmholtz’schen unterscheidet, erhält jenes von Carl Stumpf und der „Stumpfschen Schule“. Stumpf ist bahnbrechend nicht nur als Forscher, sondern auch und vor allem als Wissenschafts-Organisator und eigentlicher Begründer der Musikethnologie im deutschsprachigen Raum, daneben einflußreich als Lehrer so bedeutender Schüler wie Otto Abraham, Max Wertheimer, Curt Sachs, Robert Lachmann und vor allem Erich Moritz von Hornbostel. Gegenüber Helmholtz’ physikalisch-physiologischen Untersuchungen stellt Stumpf die erlebten – psychischen – Tonempfindungen in den Mittelpunkt seiner „Tonpsychologie“.
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Während einige seiner Grundannahmen der Kritik von Generationsgenossen (Hugo Riemann) und Schülern (Hornbostel) nicht standgehalten haben, Stumpf, Carl, Tonpsychologie, 2 Bände. – Leipzig: Hirzel 1883/1890.
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entfalten seine musikethnologischen Studien und organisatorischen [43]Erfolge die größte, bis heute andauernde Wirkung. Zentrale Unterstützung erfährt Stumpf dabei vom 1877 von Thomas Alva Edison erfundenen Phonographen, den er zur Aufzeichnung nicht-europäischer Musiken verwendet. Die Tonkonservierung, insbesondere die galvanoplastische Umwandlung der vergänglichen Wachswalze (beim Phonographen) und der Wachsplatte (beim Grammophon) in dauerhafte Metallmatrizen, ermöglicht eine unbegrenzte Archivierung und damit die Möglichkeit, die Aufnahmen beliebig oft abzuhören und zu analysieren. Vgl. etwa jeweils mit Kritik an Helmholtz und Stumpf: Riemann, Hugo, Ideen zu einer „Lehre von den Tonvorstellungen“, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters für 1914/15, Jg. 21/22, 1916, S. 1–26 (hinfort: Riemann, Tonvorstellungen); Hornbostel, [43]Erich Moritz von, Psychologie der Gehörserscheinungen, in: Handbuch der normalen und pathologischen Physiologie, hg. von Albrecht Bethe, Band 11: Receptionsorgane I. – Berlin: Springer 1926, S. 701–730; ferner: Hohenemser, Richard, Zur Theorie der Tonbeziehungen, in; Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Band 26, 1901, S. 61–104.
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Damit ist die Musikethnologie von den Unsicherheiten befreit, die bei der Aufzeichnung nach dem Gehör durch das unbewußte „Zurechthören“ der Aufzeichnenden (auf die vertraute eigene, europäische Musik hin) fast unvermeidlich sind. Zu Aufbau und Funktion siehe das Glossar, unten, S. 333.
Während Stumpf 1886 noch vom Ideal „gleichsam phonographischer Nachbildungen des Gehörten“ spricht,
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ist der ständig verbesserte Phonograph zwei Jahre später käuflich erhältlich und so ausgereift, daß er in der ethnologischen (nicht nur musikethnologischen) Feldarbeit eingesetzt werden kann. 1892 berichtet Stumpf von „wirklichen Phonographien“, die Walter Fewkes „zuerst bei dem Stamme der Passamaquoddy (Maine), dann 1890 bei dem der Zuñi-Indianer (Neu-Mexiko)“ aufgenommen und die Benjamin Ives Gilman 1891 „abgewalzt und in Noten gesetzt“ sowie analysiert hat. Stumpf, Bellakula, S. 424.
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In den 1890er Jahren entsteht vor allem in den USA eine große Zahl von Musik-Aufnahmen; sie veranlassen Stumpf 1911 in seinem auch für Weber grundlegenden Werk „Die Anfänge der Musik“, bei seinem Überblick über die „wesentlichsten neueren Beiträge zur Kenntnis exotischer Musik“ zu unterscheiden zwischen solchen, die „vor der phonographischen Ära“ und „auf Grund phonographischer Aufnahmen“ veröffentlicht worden sind. Stumpf, Carl, Phonographirte Indianermelodien, in: Vierteljahresschr. für Musikwiss., Jg. 8, 1892, S. 127.
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Kurz darauf notiert auch Weber seine Erleichterung über diese Entwicklung in der Musikstudie: „Die streng empirische Er[44]kenntnis der primitiven Musik […] gelangt erst jetzt auf der Basis der Phonogramme zu einer exakten Grundlage“. Stumpf, Anfänge, S. 64 f. Zu den wichtigsten frühen, phonographisch kontrollierten Arbeiten zählen neben Gilman, Benjamin Ives, Zuñi Melodies, in: Journal of American Archaeology and Ethnology, Vol. 1, 1891, ders., Chinese Music; Boas, Franz, Songs of the KwakiutI Indians, in: Internationales Archiv für Ethnographie, Jg. 9, 1896; Fletcher, Alice Cunningham, The Hako, a Pawnee Ceremony, in: Bureau of American Ethnology, 22. Report, 1903.
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[44] Unten, S. 179. Dies gilt allerdings nur unter Vorbehalt der „Intonationsfehler-Spielräume von bis zu einem halben Ton“, die „für ein und denselben Ton angenommen werden“ müssen. Zu den vorphonographischen Abhandlungen zählt auch Simmels mehrfach auf Helmholtz rekurrierende Musik-Studie (Simmel, Studien), siehe dazu im Anschluß.
Stumpf selbst arbeitet erstmals mit dem Apparat im September 1900, als in Berlin eine Theatertruppe aus Bangkok gastiert, bestehend aus singenden und tanzenden Frauen und Ranats (Bambus-Holzstäbe), Kongs (Glockenharmonica), Flöten, Pauken und Tsching (Becken) spielenden Männern. Im selben Jahr beginnt er mit Hilfe seiner Schüler Hornbostel und Abraham Edison-Walzen mit „exotischer“ Musik zu sammeln; 1902 gründet er das Berliner Phonogrammarchiv, das dem von ihm seit 1893 geleiteten Seminar für experimentelle Psychologie (seit 1900 Psychologisches Institut) der Universität Berlin angegliedert wird.
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Sein Ziel ist es, „eine Sammlung von musikalischen Phonogrammen von allen Völkern der Erde [zu schaffen], die vergleichende Studien auf den Gebieten der Musikwissenschaft, Ethnologie, Anthropologie, Völkerpsychologie und Ästhetik“ ermöglicht. Heute in der Musikethnologischen Abteilung des Museums für Völkerkunde Preußischer Kulturbesitz. Siehe dazu im Überblick: Das Berliner Phonogramm-Archiv 1900–2000. Sammlungen der traditionellen Musik der Welt, hg. von Artur Simon. – Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung 2000 (hinfort: Simon, Archiv). Bereits 1899 ist an der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien durch den Physiologen Sygmund von Exner die Gründung eines Phonogrammarchivs vorangegangen, das aber erst 1901 die Arbeit aufnimmt; 1900 folgen entsprechende Gründungen durch die Société d’Anthropologie in Paris und 1902 durch die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg.
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Schon bald überläßt Stumpf seinen beiden Assistenten den Ausbau des Archivs. Hornbostel wird schnell dessen treibende Kraft; 1904 versieht er das Reisegepäck von Missionaren und Forschungsreisenden (den bedeutendsten Quellen des Archivs) mit einer detaillierten „Anleitung zur Handhabung des Phonographen“ und ausführlichem Fragebogen zu Aufnahmedaten. Hornbostel, Erich Moritz von, Geschichte des Phonogramm-Archivs der Staatlich-akademischen Hochschule für Musik in Berlin, in: Jahresbericht der Staatlich-akademischen Hochschule für Musik in Berlin, 1925–27, S. 50.
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1908 umfaßt das Archiv bereits rund 1000 [45]Walzen und Platten, bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges wächst der Bestand auf rund 9000 an, die meisten Aufnahmen stammen aus deutschen Kolonien. Im Krieg schließlich kommen, unter Leitung Georg Schünemanns, Gesänge von Kriegsgefangenen hinzu. Hornbostel, Erich Moritz von, Über die Bedeutung des Phonographen für die vergleichende Musikwissenschaft. Mit Beilage „Anleitung zur Handhabung des Phonographen für Forschungsreisende und Missionare“, in: Zeitschrift für Ethnologie, Jg. 36, 1904, S. 222–236. Stumpf, Phonogrammarchiv, Sp. 230, zählt die Arten auf, wie die Phonographen-Walzen und Grammophon-Platten gewonnen werden: „erstlich durch eigene Aufnahmen bei gelegentlichen Vorführungen exotischer Gäste in der deutschen Reichshauptstadt; zweitens durch die Forschungsreisenden, von denen eine große Anzahl unsererseits mit Apparaten und Anweisungen versehen wurden; drittens [45]durch den Austausch von Kopien mit auswärtigen Sammlungen; viertens durch Schenkungen der großen phonographischen Gesellschaften, die zu geschäftlichen Zwecken technisch sehr vollkommene Aufnahmen auch in den fernsten Weltteilen herstellen lassen (Deutsche Grammophon-, Favorit-, Beka-Record-Gesellschaft).“ Zur Gruppe der ersteren zählen auch die Aufnahmen, die auf den Kolonial- und Weltausstellungen, insbesondere in Paris 1900 und der von Weber besuchten in St. Louis 1904, gemacht werden, vgl. dazu Hornbostel, Vergleichende Musikwissenschaft, S. 87. In die dritte Rubrik fallen im übrigen auch die Kontakte, die Béla Bartók und Albert Schweitzer mit Stumpf und dem Berliner Archiv in den Vorkriegsjahren pflegen, siehe dazu Simon, Archiv, S. 53 f.
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Siehe dazu die Einführung der ein Jahr nach der Weberschen Studie erschienenen „Sammelbände für Vergleichende Musikwissenschaft“, hg. von Carl Stumpf und Erich Moritz von Hornbostel, Band 1. – München: Drei Masken Verlag 1922 (hinfort: Sammelbände), ferner „Vom tönenden Wirbel menschlichen Tuns“. Erich Μ. von Hornbostel als Gestaltpsychologe, Archivar und Musikwissenschaftler. Studien und Dokumente, hg. von Sebastian Klotz. – Berlin-Milow: Schibri-Verlag 1998; Hornbostel, Erich Moritz von, Tonart und Ethos. Aufsätze zur Musikethnologie und Musikpsychologie, hg. von Christian Kaden und Erich Stockmann. – Leipzig: Philipp Reclam 1986, Vorwort (hinfort: Kaden, Vorwort), S. 5–40; Hornbostel, Erich Moritz von, Opera omnia, Vol. 1, edited by Klaus Peter Wachsmann u. a. – Den Haag: Martinus Nijhoff 1975, Vorwort.
Daß Weber selbst Archiv-Aufnahmen oder überhaupt einen Phonographen gehört hat, ist zu vermuten; zwei briefliche Äußerungen sowie eine ästhetisch wertende Bemerkung weisen darauf hin.
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Letztere zeigt darüber hinaus eine weitgehende Unvoreingenommenheit gegenüber den außereuropäischen Klängen. Sie ist in der gängigen Geringschätzung dieser Musik als „Chaos“ oder als „entsetzlich eintöniges“, „abscheuliches Hun[46]degeheul“ nicht eben zeittypisch. So führt Weber in der Studie (unten, S. 213) die von „P[ѐre] H[enri?] Trilles aufgenommenen, sehr anziehenden halbdramatischen Legenden-Rezitationen von Bantu-Negern“ an. Ob und wann er diese im Berliner (?) Phonographischen Archiv gehört hat, ist nicht bekannt. (Laut schriftlicher Auskunft von Frau Dr. Susanne Ziegler, Ethnologisches Museum zu Berlin, Fachreferat Musikethnologie, Phonogramm-Archiv, vom 10. April 2000, befindet sich in der Korrespondenz des Phonogramm-Archivs kein Hinweis auf einen Besuch Webers; allerdings sind noch nicht alle Dokumente, insbesondere auch Besucherlisten des Archivs, gesichtet worden. Die Editoren danken ferner Frau Barbara Boock vom Deutschen Volksliederarchiv / Arbeitsstelle für Internationale Volksliedforschung in Freiburg im Breisgau für Hinweise). Daß Weber bereits 1908 von der Existenz des Phonographen weiß, belegt der Brief vom 4. August 1908 an Robert Michels (MWG II/5, S. 616): „Rosa Luxemburg […] ist ein Phonograph, zeigen Sie mir einen eigenen Gedanken bei ihr.“ Aus Webers Karte vom 14. März 1912 an seine Frau (MWG II/7, S. 471) kann man wiederum auf mutmaßliche Höreindrücke schließen: „Übrigens: im Hotel ist ein Baby, welches geschlagene 18 Stunden […] brüllen kann wie eine Orgel in großen Registern, phonographisch wiedergegeben, klingen muß.“
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Weber hingegen wehrt sich dagegen, „die primitive Musik als ein Chaos regelloser Willkür zu denken“; auch bewundert er manche „phänomenale Fähigkeiten“ südostasiatischer Sänger, und er konstatiert sogar, daß „ein Ohr, welches nicht, wie das unsrige, auch jedes aus rein melodischem Ausdrucksbedürfnis geborene Intervall kraft seiner Erziehung unwillkürlich harmonisch deutet, an harmonisch nicht einzuordnenden Intervallen nicht nur Geschmack finden, sondern an ihren Genuß weitgehend gewöhnt werden [kann]“. Dies gelingt aber nur, wenn diese „unsere exklusive Erziehung zur modernen harmonischen Musik“, die den modernen Europäer jeden Ton nicht als melodisch „freistehenden“ Ton, sondern als (abhängigen) Teil von Akkorden oder dur-moll-tonalen Harmoniezusammenhängen interpretieren läßt, ausgeschaltet bzw. entwöhnt und die melodische Konzeption der außereuropäischen Musik als solche wahrgenommen wird. Wie schwierig das ist, betont Arnold Schönberg 1911 in seiner „Harmonielehre“: „Unser Ohr [ist] heute nicht bloß von den Bedingungen, die die Natur ihm gestellt, sondern auch von denjenigen erzogen worden, die das inzwischen zu einer zweiten Natur erwachsene System [der Dur-Moll-tonalen Akkordharmonik] hervorgebracht hat. Der Wirkung dieser Kultur, dieses Kunstproduktes können wir uns heute kaum oder nur allmählich entziehen.“[46] So beispielsweise die Eindrücke bei Wallaschek, Richard, Anfänge der Tonkunst. – Leipzig: Barth 1903 (hinfort: Wallaschek, Tonkunst), S. 7; Ost, Pieter van, Chansons populaires chinoises de la région Sud des Ortos, in: Anthropos, Band 7, 1912, S. 162, und Simmel, Studien, S. 268 f., der die „charakteristische Tatsache“ anführt, „daß die Chinesen beim Anhören europäischer Gesänge sagen: da heulen die Hunde; während ihre eigne Musik für ein europäisches Ohr ebenso klingt“. Abfällig wie kaum ein anderer spricht Hugo Riemann, Musikgeschichte 1/1, S. VI, und ders., Logik, S. 17, von „fragwürdigen Gesangsleistungen farbiger Weiber“ und schlicht von „Nonsens“, siehe dazu auch unten, S. 56 f.
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Schönberg, Harmonielehre, S. 52.
In seinen frühen, großteils mit Abraham gemeinsam verfaßten Arbeiten – denen, die Weber explizit oder sehr wahrscheinlich rezipiert hat – ist Hornbostel kaum an Theoriebildung interessiert. Es kommt ihm vielmehr darauf an, möglichst viele Tondokumente möglichst exakt – und möglichst auch sofort nach ihrem Eintreffen im Berliner Archiv – zu interpretieren: „Eine Vergleichung im großen Maßstabe, die uns gestattet, an die Lösung der allgemeinsten Fragen heranzutreten, wird erst dann möglich sein, wenn wir von allen Punkten der Erde wenigstens Stichproben musikalischer Äußerungen zur Verfügung haben. Einstweilen müssen wir uns damit begnügen, das Material in der ungeordneten Folge, wie es zusammenkommt, monographisch zu bearbeiten.“
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Diese kleinen „monographischen“ Auf[47]sätze sind auch Belege für die Richtigkeit der Thesen, die Alexander J. Ellis, der als Gründer der angelsächsischen Tonpsychologie und Musikethnologie eine ähnlich wichtige Rolle spielt wie Helmholtz (dessen „Lehre von den Tonempfindungen“, dritte Auflage, er 1875 übersetzt und in der zweiten englischen Auflage 1885 mit eigenen Forschungsergebnissen ergänzt) und Stumpf im deutschsprachigen Raum, in seiner bahnbrechenden Studie „On the Musical Scales of Various Nations“ bereits 1885 formuliert; dort heißt es abschließend: „The final conclusion is that the Musical Scale is not one, not ,natural‘, not even founded necessarily on the laws of the constitution of musical sound so beautifully worked out by Helmholtz, but very diverse, very artificial, and very capricious.“ Hornbostel, Vergleichende Musikwissenschaft, S. 87.
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Weber hat die Grundzüge dieses Pionier-Aufsatzes der ausführlichen Rezension von Stumpf entnehmen können, die 1886 an prominenter Stelle erscheint.[47] In: Journal of the Society of Arts, Jg. 33, 1885, S. 485–527, hier S. 527.
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Stumpf, Besprechung Ellis.
Für Hornbostel, der Ellis’ Arbeit übersetzt und zum Ausgangspunkt seiner späteren, stark spekulativen kulturhistorischen Arbeit über die „Maßnorm“ nimmt,
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ist Ellis’ experimentell-akustisches Arbeiten wie auch die Absage an ein darwinistisches Ursprungsdenken Grundlage seiner Arbeit. Die Übersetzung in: Sammelbände (wie oben, S. 45, Anm. 30), Band 1, S. 1–77; Hornbostel, Erich Moritz von, Die Maassnorm als kulturgeschichtliches Forschungsmittel, in: Publication d’hommage offerte au Pater Wilhelm Schmidt, hg. von W. Koppers. – Wien: Mechitaristen-Congregations-Buchdruckerei
N
1928, S. 305–323; in ersten Ansätzen bereits: ders., Über ein akustisches Kriterium für Kulturzusammenhänge, in: Zeitschrift für Ethnologie, Jg. 43, 1911, S. 601–615. Verlagsname in MWG digital ergänzt.
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Für Weber wiederum sind Hornbostels empirisch-exakte (oder, im Falle der seit 1910 von Hornbostel entwickelten Blasquintentheorie, Zur „produktiven Aufhebung des Darwinismus“ bei Hornbostel (der sich mitunter, wie die Blasquintentheorie zeigt (s. nächste Anm.), nicht frontal gegen Darwin stellt), siehe Kaden, Vorwort (wie oben, S. 45, Anm. 30), S. 26–29.
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scheinbar empirisch-exakte) Einzelstudien von zentraler Bedeutung für seine Grundthese von der Einzigartigkeit der Entwicklung der abendländischen Musik. Auch stimmen beide methodisch überein in der Wertschätzung des universalhistorischen Vergleichs als „vornehmstes Mittel wissenschaftlicher Erkenntnis“ Erste Mitteilungen über die Blasquinten-Theorie, in: Anthropos, Jg. 14/15, 1919, S. 569 f. Mit dieser Theorie, die auf der durch Überblasen eines gedeckten Rohres erzeugten Obertonreihe beruht, sucht Hornbostel den Ursprung verschiedener außereuropäischer Tonsysteme und deren gegenseitige Abhängigkeit genetisch zu erklären. Zur Kritik siehe Manfred F. Bukofzer, Artikel Blasquinte, in: MGG 1, Sp. 1918–1924.
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ebenso wie in der Skepsis gegenüber verallgemeinernden Theorien. So konstatiert Weber in Übereinstimmung mit Horn[48]bostel für „die uns letztlich am meisten interessierende Frage […], inwieweit ,natürliche‘ Tonverwandtschaft rein als solche als entwicklungsdynamisches Element wirksam gewesen ist“: dies „dürfte heute selbst für konkrete Fälle von den Fachleuten nur mit großer Vorsicht und unter Ablehnung aller Generalisationen beantwortet werden können“. Hornbostel, Vergleichende Musikwissenschaft, S. 85 f.
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Die Grobgliederung der Musik-Studie in ihrer überlieferten Gestalt folgt ferner jener Trias, mit der Hornbostel einem „Fremden“ die moderne europäische Musikkultur auf den Begriff bringt: „Harmonie, Notenschrift und Klavier“.[48] Unten, S. 179. Weber folgt hier nahezu wörtlich Beiträgen seines wichtigsten Gewährsmannes: Hornbostel, Arbeit, S. 347, ders., Vergleichende Musikwissenschaft, S. 96, ders., Besprechung von Viktor Goldschmidt: Über Harmonie und Komplikation (Berlin 1901), in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Jg. 32, 1903, S. 438.
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Schließlich sind Hornbostel bzw. Stumpf Webers zentrale Argumentationsschritte verpflichtet, angefangen von den „Grundtatsachen“ aller Musikrationalisierung über die Grundprinzipien der modernen europäischen Akkordharmonik im Kontrast zur außereuropäisch-„melodischen“ Tonalität und die Unterscheidung von inner- und außermusikalischer Rationalisierung Hornbostel, Melodie, S. 12: „Wer einen ganz Fremden in Kürze auf die Dinge weisen wollte, die unsere musikalische Kultur von heute am deutlichsten bezeichnen, der würde etwa diese drei nennen: Harmonie, Notenschrift und Klavier“.
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bis zu den Idealtypen der Mehrstimmigkeit, Siehe dazu Hornbostel/Abraham, Japaner, S. 315 und 322 f., Hornbostel, Melodie, S. 20, ders., Vergleichende Musikwissenschaft, S. 90 und Stumpf, Konkordanz, S. 334 f.
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die in die im Klavier „manifeste“, der Akkordharmonik adäquate gleichschwebend temperierte Stimmung, den „letzten“ tonsystematischen Rationalisierungsschritt, münden. Wie Weber (unten, S. 212) idealtypisch die „typisch verschiedenen Charaktere“ der Mehrstimmigkeit auflistet, „zwischen denen es natürlich alle Arten von Übergängen gibt, die aber in ihren reinen Grenzfällen sehr scharf geschieden sind […]“, so führt Stumpf, Anfänge, S. 97–101, in Anlehnung an Hornbostel, Mehrstimmigkeit, S. 299–303, „mannigfaltige Zwischenstufen zwischen rein unisoner und harmonisch-polyphoner Musik“ auf: Homophonie, Organum, Bordun, Heterophonie, Polyphonie und schließlich (akkord-)harmonische Musik.
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Unten, S. 248. Zur gleichschwebend temperierten Stimmung, mit der „das System endgültig geschlossen“ und „die Geschichte der Skala notwendig beendet“ wird, siehe Hornbostel, Melodie, S. 13.
Hornbostels besondere Bedeutung für die Musik-Studie darf andererseits den Blick nicht dafür verstellen, daß Weber ein außerordentlich breites Spektrum früher musikethnologischer Arbeiten anderer Autoren nachweislich oder wahrscheinlich rezipiert hat. Eine große Zahl von Artikeln – zumeist empirische Befunde aus der ethnologischen Feldforschung, seltener Untersuchungen schriftlicher Quellen aus Hochkulturen – ist hier zu nennen, die heute „Klassiker“ des Faches sind: Brambach, Chrysander, [49]Collanguettes, Dechevrens, Densmore, Fillmore, Fox Strangways, Gilman, Land, Lineff, Sachs, Trilles, Wertheimer und Witte/Schmidt.
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Sie wie auch Stumpf und Hornbostel veröffentlichen ihre Forschungsergebnisse in erster Linie in den von Oskar Fleischer und Johannes Wolf herausgegebenen Sammelbänden der Internationalen Musikgesellschaft und deren Zeitschrift sowie in der von Friedrich Chrysander, Philipp Spitta und Guido Adler initiierten Vierteljahresschrift für Musikwissenschaft und der von Steyler Missionaren (SVD) unter der Leitung von Pater Wilhelm Schmidt ins Leben gerufenen „Internationalen Zeitschrift für Völker- und Sprachenkunde“ „Anthropos“.[49] Siehe dazu das Verzeichnis der von Max Weber zitierten Literatur, unten, S. 354 ff., sowie den Überblick über Webers Rezeption der Literatur, historisch-systematisch nach europäischen Epochen und außereuropäischen Kulturkreisen geordnet, bei Braun, Musiksoziologie (wie oben, S. 16, Anm. 53), S. 233 ff.
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Sammelbände und Zeitschr. der Internat. Musikges., Jg. 1, 1899/1900 – Jg. 15, 1913/14; Vierteljahresschr. für Musikwiss., Jg. 1, 1885 – Jg. 10, 1894/95; Anthropos, Band 1, 1906 – Band 5, 1910. In den jeweils ersten Jahrgängen finden sich die für die Musikwissenschaft respektive (Musik-)Ethnologie programmatischen Abhandlungen: Oskar Fleischer, Ein Kapitel vergleichender Musikwissenschaft, in: Sammelbände der Internat. Musikges., Jg. 1, 1899/1900, S. 1–53, sieht, S. 4, die Aufgabe der vergleichenden Musikwissenschaft darin, „Eigenbesitz und Lehngut eines Volkes sicher festzustellen“; Guido Adler, Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft, in: Vierteljahrsschr. für Musikwiss., Jg. 1, 1885, S. 5–20, führt neben der historischen und systematischen Großgliederung des „Gesammtgebäudes“ der Musikwissenschaft explizit, S. 14, die „Musikologie, d[as] i[st] die vergleichende Musikwissenschaft“ als „neues und sehr dankenswerthes Nebengebiet“ an, das „sich zur Aufgabe macht, die Tonproducte, insbesondere die Volksgesänge verschiedener Völker, Länder und Territorien behufs ethnographischer Zwecke zu vergleichen und nach der Verschiedenheit ihrer Beschaffenheit zu gruppiren und sondern“. Pater Wilhelm Schmidt wiederum, dessen „Kulturhistorische Schule der Ethnologie“, so Honigsheim, Heidelberg, S. 220, Weber „nicht unverwandt war“, bestimmt in seiner deutsch-französischen Grundsatzabhandlung: Die moderne Ethnologie/L’Ethnologie moderne, in: Anthropos, Band 1, 1906, S. 134–163, 318–388, 592–644, 950–997, hier S. 356 und 358, sein Fach als „Wissenschaft, welche die Entwickelung des Geistes und der durch den Geist geleiteten äußeren Tätigkeit des Menschen im Völkerleben zum Gegenstande hat“ und dadurch „eine reine Gruppen-, nicht eine Individual-Wissenschaft ist“ – in Abgrenzung zur Anthropologie und „Psycho-Physik (oder physiologische Psychologie)“.
Getragen wird die Arbeit dieser Zeitschriften wie auch die der Phonogramm-Archive, allen voran der Berliner Sammlung, von einer immer wieder geäußerten Sorge: „Je unaufhaltsamer europäische Cultur in fremde Erdtheile eindringt und abweichende Formen, wenn nicht sogar ihre Träger, zum Absterben zwingt, um so mehr ist es an der Zeit, jene Formen zu sammeln und zu studiren“.
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Es liegt nahe, diesen Stumpfschen Kassan[50]draruf auf jenes universalhistorische Forschungsprogramm zu beziehen, das Weber als „Sohn der modernen europäischen Kulturwelt“ 1920 der Frage widmet (und in das er explizit die Kunst respektive Musik einbezieht): „welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?“ Stumpf, Siamesen, S. 133; ders., Phonogrammarchiv, Sp. 243 f.: „Was an exotischer Musik und Sprache noch zu sammeln ist, muß schleunigst gesammelt werden. Das Aussterben der Naturvölker ebenso wie das Eindringen europäischer Kultur zwingen zur Eile. Daran erinnern immer wieder die Forschungsreisenden […]“.
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Daß die moderne europäische Musikkultur sich universell verbreitet, liegt, so läßt sich mit Stumpf und Hornbostel „negativ“ kommentieren, am Verschwinden der „exotischen“ Musiken, die von den europäischen verdrängt werden; „positiv“ kann und muß man mit Weber die „schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens: [den] Kapitalismus“ anführen,[50] Weber, Vorbemerkung, in: GARS I, S. 1 (MWG I/18).
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mit dessen mehr oder minder imperialer, weltweiter Durchsetzung die Grundlagen der einheimischen Kulturen zerstört, die äußere Lebensführung wie das innere Empfinden mehr und mehr europäisiert und damit auch die urwüchsige eigene Musikkultur zugunsten der fremden europäischen aufgegeben wird. Die musikimmanente Frage aber, warum europäische Musik eine so überaus „erfolgreiche“ Anziehungskraft besitzt, lassen Weber wie auch seine ethnologischen Gewährsmänner offen; Ebd., S. 4.
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hingegen weisen sie geradezu prophetisch auf die „Gefahr“ hin, „daß die rapide Ausbreitung der europäischen Kultur auch die letzten Spuren fremden Singens und Sagens vertilgt. Wir müssen retten, was zu retten ist, noch ehe zum Automobil und zur elektrischen Schnellbahn das lenkbare Luftschiff hinzugekommen ist, und ehe wir in ganz Afrika Tararabum-diäh und in der Südsee das schöne Lied vom kleinen Kohn hören;“ Die Frage, warum z. B. Massen von Laiensängern in Japan jährlich Beethovens Neunte Symphonie zelebrieren oder europäische und amerikanische Musikhochschulen derart stark von koreanischen oder chinesischen Studenten frequentiert werden, hingegen wohl kaum jemals ein Europäer als gefeierter gagaku-Musiker hervortritt, kann nicht nur mit dem außermusikalischen Faktum des weltweit verbreiteten Kapitalismus erklärt werden. Hornbostel/Abraham, Japaner, S. 333 f., sehen allerdings in Japan das „Streben, sich europäischer Civilisation anzupassen“ besonders ausgeprägt: „Europäische Musikinstrumente (Klavier, Geigen) werden importiert; japanische Musiker werden auf Staatskosten nach Europa gesandt, um harmonische Musik und Theorie zu erlernen, das japanische Heer hat deutsche Kapellen, die altjapanische Weisen in moderner Orchestrierung zur Aufführung bringen; das Musikinstitut in Tokio bemüht sich, unserer Notenschrift Verbreitung zu verschaffen […]. Die Annäherung an unsere temperierte Stimmung, die wir in japanischer Musik öfters bemerkt haben, wird wahrscheinlich durch diese Einflüsse begünstigt und in absehbarer Zeit noch bedeutend vergrößert werden.“
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oder mit Jan Pieter Nicolaas [51]Lands bereits 1889 geäußerten, resignativen Worten: „Es wird wohl am Ende der Javane, der sich schon seit längerer Zeit als begabter Spieler europäischer Musik gezeigt hat, ganz der letzteren sich zuwenden, und damit ein interessantes Stück Musikgeschichte für uns verloren gehen“. Hornbostel, Vergleichende Musikwissenschaft, S. 97.
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[51] Land, Javanen, S. 215.
3. Antike Musik
Es leuchtet ein, daß für Webers Ansatz und dessen Konzentration auf den Rationalisierungsprozeß auf dem Gebiet der Konstruktion von Tonsystemen die antike Musiktheorie, als die älteste im engeren Sinne wissenschaftliche Beschäftigung mit Musik, eine besondere Rolle spielt. Auch hier kommt der Stand der Musikwissenschaft seinen Interessen entgegen, denn die Erforschung der antiken Musik hat schon im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle im Fach gespielt und spielt sie zur Zeit der Arbeit Webers an der Musik-Studie – so wie nie mehr danach – noch immer. Das hängt einerseits damit zusammen, daß die Musikwissenschaft sich bei der Entwicklung eines fachspezifischen Methodenkanons vor allem an der Klassischen Philologie (daneben an der Germanistik) orientiert und hier vor allem die historisch-philologische Quellen-Edition betreibt, parallel zur Erschließung und Interpretation der antiken Quellen auch in der Arbeit mit den Quellen des Mittelalters. Beides kommt Webers Interesse an der Verarbeitung möglichst großer historischer Quellenmengen entgegen. So hat er die Quellen-Sammlungen und -Studien etwa von Carl von Jan und Rudolf Westphal für die Antike und Martin Gerbert oder Edmond de Coussemaker für das Mittelalter ausgewertet.
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Siehe hierzu das Verzeichnis der von Max Weber zitierten Literatur, unten, S. 354 ff. Weber war auch die Schrift seines Heidelberger „Eranos“-Kollegen (und Gründers des „Eranos“-Kreises) Adolf Deißmann, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1908, bekannt, in der dieser, S. 22 f., auch die überlieferten griechischen Musik-Fragmente diskutiert. Zu Webers detaillierten Kenntnissen der klassisch-philologischen Literatur im allgemeinen siehe seine kommentierte Literaturübersicht am Ende seines Artikels „Agrarverhältnisse im Altertum“ (Weber, Agrarverhältnisse3, S. 182–188).
Die Beziehung der Musikwissenschaft zur Klassischen Philologie ist über das Institutionelle und Methodische hinaus auch biographisch verankert: nicht wenige Pioniere des Faches, insbesondere die Entzifferer der griechischen Notenschrift Johann Friedrich Bellermann (1795–1874) und Carl Fortlage (1806–1886), aber auch Otto Jahn (1813–1869) und Philipp Spitta (1841–1894) kommen von der Klassischen Philologie her. Modellhaft zeigt sich die Bedeutung der Antike- und Mittelalter-Studien in der [52]Laufbahn des einflußreichsten deutschsprachigen Musikhistorikers der Generation nach Hugo Riemann und Guido Adler, Hermann Abert (1871–1927): er wird 1897 mit einer (von Weber rezipierten) Arbeit zur griechischen Musikanschauung promoviert, 1902 habilitiert er sich mit einer Studie zur mittelalterlichen Melodiebildung.
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[52] Siehe dazu Abert, Ethos; ders., Papyrusfund, sowie ders., Die ästhetischen Grundsätze der mittelalterlichen Melodiebildung. – Halle: Niemeyer 1902, und darauf aufbauend ders., Die Musikanschauung des Mittelalters und ihre Grundlagen. – Halle: Niemeyer 1905; ferner ders., Berichte über die Literatur zur griechischen Musik I (1903–08), II (1909–21), in: Jahresbericht über den Fortschritt der klassischen Altertumswissenschaft, Band 144, 1909, und Band 193, 1922.
Der zweite und noch wichtigere, weil allgemeinere und breiter in der Gesellschaft verwurzelte Grund für die (natürlich nicht ausschließliche) Konzentration der frühen Musikwissenschaft auf Antike und Mittelalter ist die Kombination des allgemeinen Geschichtsinteresses in breiten bürgerlichen Schichten mit der Tradition des humanistischen Gymnasiums, an der Weber ja selbst Anteil hat.
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Sie manifestiert sich nicht zuletzt in den zahllosen Schriften vornehmlich zur Antike, zur älteren deutschen Literatur und mittelalterlichen Geschichte von wissenschaftlich arbeitenden Gymnasial-Professoren in den berühmten, heute längst ausgestorbenen Schulprogrammen. Zu Webers eigener humanistisch-gymnasialer Ausbildung und der zentralen Bedeutung antiker Schriften für seine „Geistesschulung“ siehe Weber, Marianne, Lebensbild, S. 49–60, ferner Hennis, Wilhelm, Max Weber und Thukydides. Nachträge zur Biographie des Werks. – Tübingen: Mohr Siebeck 2003, S. 15 f. In seiner „Auseinandersetzung mit Eduard Meyer“ (siehe im Anschluß) und seinem Beitrag in: Das Gymnasium und die neue Zeit. Fürsprachen und Forderungen für seine Erhaltung und seine Zukunft. – Leipzig und Berlin: B. G. Teubner 1919, S. 133 f. (MWG I/13), thematisiert Weber die „,Bedeutung‘, welche die Kultur des klassischen Altertums bisher für unsere eigene Geistesschulung gehabt hat“. Wie bei Weber „dominieren“, so Lenger, Friedrich, Werner Sombart: 1863–1941. Eine Biographie. – München: C. H. Beck 1994, S. 31, auch bei seinem späteren Berliner Kollegen und Freund Werner Sombart „die Antike, die deutsche Klassik und die zeitgenössische Musik und Literatur den jugendlichen Gedankenaustausch“.
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Wie selbstverständlich es ist, daß die Antike (trotz des fast völligen Fehlens praktischer Denkmäler) in musikhistorischen Darstellun[53]gen, aber auch in Enzyklopädien, großes Gewicht hat, zeigt ihre Behandlung bei einem Autor, der als Sohn eines Rittergutsbesitzers gerade nicht aus der erwähnten bildungsbürgerlichen Tradition kommt, Hugo Riemann: im ersten Band seines Handbuchs der Musikgeschichte aus dem Jahre 1904, das eigentlich auch für ein bildungsbürgerliches Publikum gedacht ist, nimmt sie volle 250 Seiten ein. So verfaßt etwa Fritz Baumgarten, ein Straßburger Vetter Max Webers, der sich 1903 für Kunstgeschichte habilitiert, als Gymnasialprofessor in Freiburg mehrere Abhandlungen zur Antike, darunter – zusammen mit seinen Dresdner Kollegen Richard Wagner und Franz Poland – das Grundlagenwerk: Die hellenische Kultur. – Leipzig, Berlin: B. G. Teubner 1905. Für Baumgarten ist, ebd., Vorwort, S. IV, die hellenisch-römische Kultur „nach wie vor eine Hauptgrundlage unserer heutigen Kultur“. Im musikhistorischen Kontext tritt der Gymnasiallehrer, Musikkritiker, Organist und Komponist Heinrich Reimann (1850–1906) als Kenner der griechischen und byzantinischen Musik hervor, siehe etwa Reimann, Byzantinische Musik oder ders., Studien zur griechischen Musikgeschichte. – Ratibor: Riedinger 1882 (hinfort: Reimann, Studien).
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[53] Riemann, Musikgeschichte 1/1, beginnt sein Handbuch denn auch nicht – wie z. B. sein Vorläufer Ambros, Geschichte 1 – mit einer chronologischen Darlegung der „Anfänge der Musikkultur in der Art, wie sie die älteren allgemeinen Musikgeschichten geben, indem sie den Berichten über die Musik des klassischen Altertums lange Abhandlungen über die Musik der Ägypter, Babylonier, Chinesen, Inder und gar der von der europäischen Kultur nicht beleckten Naturvölker der Gegenwart vorausschicken“, sondern mit der „Entwicklung der Formen der griechischen Musik“, denn die „Wurzeln der europäischen Musikkultur“ reichen nicht in jene Kulturen zurück, sondern „in die ohnehin schon ins Sagenhafte zerfließenden ältesten Berichte der Griechen“ (Riemann, Vorwort, S. V f.). Ungeachtet dieser Differenz mißt auch Ambros, Geschichte 1, S. 217–513, der hellenischen Musik einen breiten Raum bei. Dies gilt auch für die außergewöhnlich umfangreichen Artikel „Griechische Musik“ in der Ersch-Gruberschen Allgemeinen Enzyklopädie der Wissenschaft und Künste von 1863 (Fortlage, Griechische Musik) und noch in Hugo Riemanns Musik-Lexikon, 8., vollständig umgearbeitete Aufl. – Berlin und Leipzig: Max Hesse 1916, S. 402–409.
Webers ausführliche Beschäftigung mit der musikalischen Antike zielt in erster Linie darauf, die hellenische Kultur als Qualitätskriterium in Erinnerung zu rufen, an dem die Gegenwart gemessen wird. Er schreibt dem Altertum nicht nur eine „mindestens gleiche Intensität der musikalischen Kultur“ zu wie Westeuropa; hinsichtlich der Subtilität der Intervalle, der „Tonempfindungen“, stellt er Hellas über diese seine musikalische Gegenwartskultur, wenn er an die Kosten der „Gewöhnung“ des modernen Europäers an die Temperierung erinnert, die „unserem Ohr […] sicherlich in melodischer Hinsicht einen Teil jener Feinheit genommen hat, welche dem melodiösen Raffinement der antiken Musikkultur das entscheidende Gepräge gab.“ Dieses „Raffinement“, Produkt der „exklusiven Pflege melodischer Interessen“, macht Weber vor allem im – seiner Meinung nach real gebrauchten und nicht nur theoretisch berechneten – „Pyknon“ des chromatischen und enharmonischen Tongeschlechts fest.
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Beim Vergleich [54]Hellas–Gegenwart dienen Weber wiederum Hermann von Helmholtz, der bei der „Feinheit sinnlicher Beobachtung in künstlerischen Dingen […] überhaupt die Griechen als unübertroffene Muster“ hinstellt, Siehe dazu unten, S. 278. Während das Pyknon – die „Verdichtung“ – für Weber reale hellenische Musikpraxis ist, sprechen – da die Vierteltöne der eigenen modern-europäischen Musik denkbar fremd erscheinen – viele Musikhistoriker der älteren, aber auch seiner Generation von etwas absonderlich Unmusikalischem, Vernunftwidrigem und „Affereien“ oder einem rein theoretisch-mathematischen Hirngespinst, vgl. etwa Kiesewetter, Raphael Georg, Ueber die Musik der neueren Griechen nebst freien Gedanken über altegyptische und altgriechische Musik. – Leipzig: Breitkopf & Härtel 1838, S. 60 f., Thimus, Albert Freiherr von, Die harmonikale Symbolik des Alterthums, Band 1. – Köln: DuMont-Schauberg 1868, S. 243 und 246, Bellermann, Johann Friedrich, Die Tonleitern und Musiknoten der Griechen. – Berlin: Förstner 1847, S. 25; Engel, [54]Nations, S. 192. Ambros, Geschichte 1, S. 374, streitet die Existenz der „sonderbaren, unmusikalischen, unmelodischen Fortschreitungen“ des enharmonischen Tongeschlechts zwar nicht ab, glaubt dieses jedoch „aus der Verweichlichung und Verunstaltung der dorischen Tonweise“ entstanden.
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und ferner Jacob Burckhardt mit seiner von Weber hochgeschätzten „Griechischen Kulturgeschichte“ als Autoritäten. Helmholtz, Tonempfindungen, S. 420 f., sieht „uns von Jugend auf daran gewöhnt, uns mit den Ungenauigkeiten der modernen gleichschwebenden Stimmung abzufinden und die ganze frühere Mannigfaltigkeit der Tongeschlechter von verschiedenem Ausdruck hat sich reducirt auf den ziemlich leicht vernehmbaren Unterschied von Dur und Moll. Die verschiedenartigen Abstufungen des Ausdrucks aber, welche wir durch Harmonie und Modulation erreichen, mussten die Griechen und andere Völker, die nur homophone Musik besitzen, durch eine feinere und mannigfaltigere Abstufung der Tongeschlechter zu erreichen suchen. Was Wunders daher, wenn sich auch ihr Ohr für diese Art von Unterschieden viel feiner herausbildete, als das unserige dafür ausgebildet ist“.
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Wobei Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, 4 Bände, hg. von Jakob Öri, 2. Aufl. – Berlin. Stuttgart: Wilhelm Spemann 1898–1902, im dritten Kapitel des siebten Abschnittes („Poesie und Musik“) zwar auf die wesentlichen Unterschiede von griechischem und modern-europäischem Tonsystem hinweist, jedoch die Feinheit des griechischen Hörens weniger in den subtilen Tondistanzen als am „äußern Effekt“, an der geringen Lautstärke der griechischen Instrumente festmacht: „Das griechische Ohr, für dessen Feinheit wir in der Metrik ein allgemeines Zeugnis haben, muß von einer für uns kaum vorstellbaren Empfindlichkeit gewesen sein, wenn Instrumente mit Darmsaiten, welche nicht gestrichen, sondern nur gegriffen oder mit dem Plektron gespielt wurden, in riesigen, völlig besetzten Theatern hörbar sein sollten […].“ (ebd., Band 3, S. 138 f.). Ähnlich wie Burckhardt argumentiert im übrigen Simmel, Studien, S. 295, wenn er die „eigentlich thematische Erfindung“ der Musik der Griechen „nicht in den Themen und ihrer Neuheit, sondern nur in der Feinheit der Nüancierung und Ausführung“ erblickt.
Schon aufgrund dieser Gewährsleute wäre es verfehlt, Webers eigenen Standpunkt eindeutig einer jener drei Haltungen zuzuschreiben, die er selbst in der „Auseinandersetzung mit Eduard Meyer“ von 1906 als „prinzipiell möglich[e]“ gegenüber der „Kultur der Altertums“ diskutiert. Was Weber hier idealtypisch trennt: 1. die Vorstellung von der absoluten, zeitlosen „Wertgeltung“ der antiken Kultur im Humanismus, bei Winckelmann und im Klassizismus, die die Antike zur „Erziehung der eigenen Nation zum Kulturvolk“ heranzieht, 2. die Antike als „sublimes Objekt der Wertung für die Wenigen, die in eine für immer dahingegangene, in keinem wesentlichen Punkte jemals wiederholbare, höchste Form des Menschentums sich versenken“, und 3. ihre im engeren Sinne altertumswissenschaftliche Behandlung als „ungewöhnlich reichhaltiges ethnographisches Material [55]für die Gewinnung allgemeiner Begriffe, Analogien und Entwicklungsregeln“,
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– das hebt er für sich selbst gewissermaßen in seiner Musik-Studie synthetisch auf. Die Kontrastierung des temperiert-„abgestumpften“ Gehörs gegenüber dem subtilen „Pyknon“-Gebrauch der Hellenen läßt sich durchaus dem zweiten – geistesaristokratisch-„esoterischen“ – Standpunkt zuschreiben;[55] Weber, Kritische Studien, S. 184.
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der Kontrast wiederum ist kein spekulativer oder kulturpessimistisch vorurteilsvoller, sondern ein aufgrund detaillierter Quellenforschungen erhobener, den Weber sich durch die Analysen eines Helmholtz, Hugo Riemann, Hermann Abert, Otto Bähr, Otto Crusius, Carl Fortlage, Carl von Jan, Albert Thierfelder beglaubigen läßt. Daß er schließlich die Antike als Mittel der Erziehung, wenn auch nicht unbedingt zur spezifisch deutschen Nation, „Esoterisch“ nennt Weber, ebd., Anm. 2, die Lehre Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs vermutlich wegen dessen in seiner Prorektoratsrede von 1892 propagierten Abkehr von den (auch von Weber hier aufgeführten) „Vielzuvielen“, die sich dem Studium der Altphilologie widmen wollen. Von Wilamowitz hat – wohl aufgrund einer nur wenig ausgeprägten Musikalität – die griechische Musik im engeren Sinn nur in zwei Werken beiläufig thematisiert, die Weber nicht mehr zur Kenntnis nehmen konnte, so in der „Griechischen Verskunst“ (Berlin: Weidmann 1922, S. 58–85) und in seinem berühmten „Pindaros“ (Berlin: Weidmann 1922, S. 92–95). Die Editoren danken Prof. William M. Calder III, University of Illinois, für den freundlichen Hinweis. Was die Entstehung der griechischen Tragödie angeht, so hielt Weber, wie seinem Brief vom 1. Feburar 1909 an Karl Bücher (MWG II/6, S. 48, mit editorischer Anm. 11) zu entnehmen ist, von Wilamowitz’ Anschauung (in: Einleitung in die griechische Tragödie. Unveränderter Abdruck aus der ersten Auflage von Euripides Herakles I, Kapitel I–IV. – Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1907) für wenig glaubhaft, wonach die Ursprünge in peloponnesischen Satyrtänzen bzw. Bockschören zu finden seien.
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so doch zum europäischen „Kulturvolk“ hochschätzt, das belegt schon sein eigener humanistisch-gymnasialer Bildungsweg und seine daraus resultierende umfassende (Quellen-)Kenntnis der abendländischen Geistesgeschichte als Basis seiner kulturhistorischen Grundsatzfrage nach dem „in alle intimsten Kulturfragen eingehenden Kampf des ,Fachmenschen‘-Typus gegen das alte ,Kulturmenschentum‘“, der bereits in Platons „Protagoras“ thematisiert wird. Zur „hervorragenden Stellung der klassischen Philologie als Element der Nationalerziehung“ siehe Nippel, Wilfried, Einleitung, in: ders. (Hg.), Über das Studium der Alten Geschichte. – München: dtv 1993, S. 14.
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Weber, Bürokratie, WuG1 S. 677 (MWG I/22-4); Platon, Protagoras, Vers 312b.
4. Musiktheorie und Musikgeschichte
In Meyers großem Konversations-Lexikon von 1913, das Weber wahrscheinlich benutzt hat, stehen hintereinander zwei Artikel, die die ersten wissenschaftlichen Darstellungen ihrer Gegenstände in einem deutsch[56]sprachigen allgemeinen Lexikon sind und die damit auch die Bedeutung des Faches Musikwissenschaft für ein breites Bildungs- und Lesepublikum am Anfang des 20. Jahrhunderts illustrieren: „Musik der Naturvölker“ von Erich Moritz von Hornbostel und „Musikgeschichte“ von Hugo Riemann.
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Mit dem Namen Riemann ist Webers wohl wichtigster Gewährsmann für Fragen der europäisch-abendländischen Musikgeschichte und damit der überhaupt wichtigste neben Hornbostel und Helmholtz genannt. Nicht nur Riemanns Einzelstudien zu den verschiedensten Themen der Musikgeschichte und Musiktheorie, sondern vor allem seine großen synthetischen Darstellungen „Geschichte der Musiktheorie“ – in ihrer Zeit eine einzigartige Leistung und nach wie vor unentbehrlich – und „Handbuch der Musikgeschichte“ bieten Weber einen großen Fundus für seine Musik-Studie. Dies gilt erst recht für den Systemcharakter des weitverzweigten Riemannschen Œuvres, der sich auf mehreren komplementären Ebenen zeigt: in der (schon zu seiner Zeit unhaltbaren und scharf kritisierten) Konstruktion einer universell gültigen Rhythmik und Metrik, in der für Weber bedeutsamen Durchkonstruktion der Dur-Moll-Tonalität zu einem geschlossenen System und schließlich in der Konstruktion der europäisch-abendländischen Musikgeschichte zu einer kontinuierlichen und in ihren Resultaten einzigartigen Evolution. Hier wie bei dem älteren Gegenstück zu Riemanns Werk, der konsequent kulturgeschichtlich argumentierenden Musikgeschichte von August Wilhelm Ambros,[56] Siehe im Verzeichnis der von Weber zitierten Literatur, unten, S. 360 und 363: Hornbostel, Naturvölker und Riemann, Artikel.
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geht es Weber nicht um methodologische Annäherung – hier geht Weber eigene Wege Ambros, Geschichte 1, 2, 4.
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–, sondern um Fakten aus dem Steinbruch der musikhistorischen Details, die seinen Entwurf stützen können. So greift Weber auf Riemann zurück bei seiner Analyse der „bekannten komplizierten hellenischen Skalenlehre“, bei der begrifflichen Differenzierung von „Chromatik“ und „Enharmonik“ jeweils im antiken und modernen Kontext und analog der gleichnamigen, aber anders strukturierten hellenischen und mittelalterlichen Tonarten (Kirchentöne); ferner bei der Diskussion um eine hellenische (quantitative) Mehrtönigkeit (κροῦσις), bei der Darlegung des mittelalterlichen Hexachord-Schemas, der hellenischen, mittelalterlichen und byzantinischen Notenschrift und nicht zuletzt bei der systemischen „Logik der Tonbeziehungen“ in der modernen dur-moll-tonalen Funktionsharmonik. Siehe dazu im Anschluß.
Bei aller Nähe zum Doyen der Musikgeschichtsschreibung braucht sich Weber nicht daran zu stören, daß Riemann die aufkommende Musikethnologie verachtete. Mit extrem dogmatischer (Ab-)Wertungsfreude ermahnt [57]Riemann 1904 seine Kollegen, sich nicht von einem „der jüngsten Zweige der Musikwissenschaft, [der] musikalischen Ethnographie“ beirren zu lassen: wenn, so schreibt er im Vorwort seiner „Musikgeschichte“, diese aufstrebende Disziplin „unter Anwendung aller Errungenschaften moderner Forschungstechnik aus phonographischen Aufnahmen von Gesängen der Naturvölker und genauer Untersuchung der Konstruktion von Musikinstrumenten zu Resultaten kommt, welche den uralten Traditionen der Theorie der Tonverhältnisse ins Gesicht schlagen (Intervalle von ¾ Ganzton, ,neutrale‘ Terz u[nd] d[er]gl[eichen]), so ist es jedenfalls nicht die Sache der Geschichtsforschung, von solchen Beobachtungen der Gegenwart aus die Darstellung der Verhältnisse der Vergangenheit beeinflussen zu lassen. Hier ist ein ernster Warnruf an die Musikhistoriker am Platze, sich nicht den Blick durch die exakten Forscher der naturwissenschaftlichen Methode trüben zu lassen. Die frappante Übereinstimmung der in Zeitabständen von vielen Jahrhunderten gleichermaßen von den Chinesen, Griechen und den Völkern des europäischen Westens gefundenen Teilung der Oktave in zwölf Halbtöne als letzte Vervollkommnung der […] siebenstufigen Skala ist denn doch ein historisches Faktum, das man mit ein paar mangelhaft gebohrten Pfeifen aus Polynesien oder mit fragwürdigen Gesangsleistungen farbiger Weiber nicht über den Haufen rennt.“
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[57] Riemann, Musikgeschichte 1/1, Vorwort, S. VI. Ähnlich die Glosse „Exotische Musik“, in: Max Hesse’s Deutscher Musik-Kalender 21, 1906, S. 135 f., in welcher Riemann die Existenz sogenannter neutraler Terzen „lieber auf das Ungeschick von Instrumentenmachern oder [die] geringe Musikanlage und mangelhafte Gesangstechnik der als Versuchsobjekte dienenden asiatischen, afrikanischen und amerikanischen Musikanten“ schiebt, „als daß wir uns durch dieselben die natürlichen Grundlagen alles Musikhörens und Musikempfindens erschüttern lassen.“
Doch nicht nur das tonsystematische Gerüst der zwölfteiligen Oktave will sich Riemann nicht in Frage stellen lassen; vielmehr ist ihm das gesamte System der Dur-Moll-tonalen Akkordharmonik sakrosankt. In Jean-Philippe Rameaus Lehre von der hierarchischen Bedeutung der (Haupt- und Neben-)Harmonien, dem Prinzip des Terzenaufbaues der Akkorde
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sowie – Rameau fortführend – in der eigenen „Lehre von der Klangvertretung, der Harmoniebedeutung der Einzeltöne“ Der Terzenaufbau der Akkorde ist Bedingung für Rameaus Unterscheidung von Stammakkorden, Nebenakkorden, Umkehrungen, Vorhaltsakkorden etc. Zu Rameau, dem Ahnherren Riemanns, siehe Riemann, Musiktheorie, S. 454 f., sowie die Verzeichnisse, unten, S. 294 und 363.
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will Riemann jene programmatische Aufgabe einlösen, die er im letzten Kapitel („Musikalische Logik“) seiner „Geschichte der Musiktheorie“ in Aussicht stellt: „Fragt man sich, worin eigentlich die Aufgabe der Theorie einer Kunst bestehe, so [58]kann die Antwort nur lauten, dass dieselbe die natürliche Gesetzmäßigkeit, welche das Kunstschaffen bewusst oder unbewusst regelt, zu ergründen und in einem System logisch zusammenhängender Lehrsätze darzulegen habe.“ Riemann, Musiktheorie, S. 485, ders., Tonvorstellungen.
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Für das akkordharmonische System heißt dies, eine „Lehre von der immanenten Logik der Harmoniefolgen, eine Lehre von der natürlichen Gesetzmässigkeit der Harmoniebewegung“ aufzustellen – als „unerschütterlicher“, auf „felsenfestem Fundament“ stehender Schlußpunkt der seit der Antike „keimenden Erkenntnis der harmonischen Natur alles musikalischen Formenwesens“.[58] Riemann, Musiktheorie, S. 450.
73
Ebd., S. 452 f. und 463.
Dem setzt Weber zunächst die „Widersprüche“ und „Irrationalitäten“ dieser „Logik“ entgegen: das akkordharmonische System erscheint ihm nur „auf den ersten Blick als eine rational geschlossene Einheit […]. Allein dem ist bekanntlich nicht so“.
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Gegen den seit Rameau in der Musiktheorie existierenden Anspruch, die Akkordharmonik mittels der Obertonreihe als „naturgegeben“ zu legitimieren, führt er die „allgemeinen Bedenken“ an, „daß eben doch die Obertonskala nicht vollständig, sondern unter Überspringung bestimmter Stufen in sehr prononcierter Unvollständigkeit der Harmonik zugrunde liegt“. Zu den Einzelheiten siehe unten, S. 148–154.
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Sodann hält er Riemann die ästhetisch-historische Veränderungsmöglichkeit von Tonsystemen, auch der Akkordharmonik, vor Augen – mit jener von Helmholtz postulierten, von Stumpf und Hornbostel mannigfach ethnologisch untermauerten These, wonach die europäische Musik „die Consequenz ästhetischer Principien ist, die mit fortschreitender Entwickelung der Menschheit einem Wechsel unterworfen gewesen sind und ferner noch sein werden“. Die Vorstellung, die Akkordharmonik sei naturgegeben, weil sie auf dem (Dur- und Moll-)Dreiklang, mithin auf der naturgegebenen Obertonreihe fuße, in deren ersten sechs Teiltönen der Dreiklang erklingt, ist mit Webers Einwand leicht zu widerlegen. Analoges gilt für den Molldreiklang, der sich nur mit einer fiktiven „Untertonreihe“ herleiten läßt, vgl. dazu Riemann, Musiktheorie, S. 455 f. Denselben Einwand gegen eine akkordharmonische Instrumentalisierung der Obertonreihe bringt im übrigen Schönberg, Harmonielehre, S. 348, 358 f., vor.
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Zwar gilt Helmholtz – wie Riemann – das moderne Tonsystem als das ästhetisch „vorzüglichste von allen“, dieses hat sich aber „nicht aus einer Naturnothwendigkeit entwickelt, sondern aus einem frei gewählten Stilprincip“, der „Verwandtschaft“ der „ganzen Masse der Töne und Harmonieverbindungen […] zu einer frei gewählten Tonica“; dieses „Princip [der Tonalität] ist aber […] ein ästhetisches, kein natürliches“; Siehe oben, S. 39 f.
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in Stumpfs universalhistorischen Worten: [59]„Wenn Riemann ,eine der unseren entsprechende harmonische Auffassung der Tonverhältnisse als allem Musikhören von jeher immanent‘ behauptet, so […] ist diese Anschauung heute gegenüber den ethnologisch-musikalischen, durch phonographische Aufnahmen exakt begründeten Forschungen unmöglich mehr aufrecht zu erhalten.“ Helmholtz, Tonempfindungen, S. 394 f.
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(Angesichts der erdrückenden Gegenargumente relativiert Riemann ab etwa 1916 sein dogmatisches Konzept und gesteht, daß Tonsysteme das Ergebnis „willkürlicher Konstruktion und Konvention“ sein können;[59] Stumpf, Konkordanz, S. 349.
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ob Weber diese Riemannsche Kehrtwende zur Kenntnis genommen hat, wissen wir allerdings nicht.) Riemann, Hugo, Folkloristische Tonalitätsstudien. Pentatonik und tetrachordale Melodik im schottischen, irischen, walisischen, skandinavischen und spanischen Volksliede und im Gregorianischen Gesange (Abhandlungen der Königlich-Sächsischen Forschungsinstitute zu Leipzig, Forschungsinstitut der Musikwissenschaft, Reihe A, Band 1). – Leipzig: Breitkopf & Härtel 1916.
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Das Erscheinen des monumentalen Gegenentwurfs zu Riemanns Handbuch, das von Guido Adler konzipierte und herausgegebene, mit einem Kapitel zur „Musik der Natur- und orientalischen Kulturvölker“ von Robert Lach beginnende „Handbuch der Musikgeschichte“ (Frankfurt a.M.: Frankfurter Verlagsanstalt 1924) hat Weber jedenfalls nicht mehr erlebt.
Trotz oder vielleicht gerade wegen Riemanns fraglichem Anspruch, natürliche und unveränderliche Gesetzmäßigkeiten in der Musiktheorie zu eruieren, sind die „natürlichen Grundlagen alles Musikhörens und Musikempfindens“ ein zentrales Thema der Musik-Studie. Dies belegt die Weber „letztlich am meisten interessierende“, wenngleich nur beiläufig angeführte Frage nach der Entwicklungsdynamik der „,natürlichen‘ Tonverwandtschaft“. Weber formuliert diese Frage zwar, kann und will sie jedoch nicht selbst beantworten – das vermögen seiner Meinung nach „nur Fachleute“, und diese auch nur vorläufig und für den monographisch-ethnologischen Einzelfall.
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Die Ton-Natur erscheint Weber jedenfalls – zumindest in der Art, wie sie von Helmholtz und seinem Widersacher Riemann eigentümlich paradox thematisiert wird: vom Physiker historisch relativierend, vom Hi[60]storiker nahezu verabsolutierend, Siehe unten, S. 179. Auch und gerade Helmholtz, dem er die Fragerichtung verdankt, sieht Weber (unten, S. 151) an diesem Problem gescheitert, da dieser zwar „das Prinzip der stellenweisen Fortschreitung zu den (nach der Ober- und Kombinationston-Skala) ,nächstverwandten‘ Tönen, gerade als Prinzip der reinen monodischen Melodik, theoretisch glänzend durchgeführt [hat]. Aber er selbst mußte als ferneres Prinzip die ,Nachbarschaft der Tonhöhe‘ einführen, welches er dann […] durch die Beschränkung der nur melodisch erklärbaren Töne auf bloße ,Durchgangs‘funktion dem strengen harmonischen System einzufügen suchte“.
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– nicht aussagekräftig genug für eine tragfähige Theorie der modernen europäischen Musik; daher formuliert er als Alternative jene Frage nach den universalhistorischen Entstehungsbedingungen: „warum [hat] sich gerade an einem Punkt der Erde aus der immerhin ziemlich weitverbreiteten Mehrstimmigkeit sowohl die polyphone wie die harmonisch-homophone Musik und das moderne Tonsystem überhaupt entwickelt“?[60] Gerade jene Helmholtz’sche Einsicht in den historisch-ästhetischen, vergangenen wie zukünftigen Wandel des (europäischen) Tonsystems, verstanden als Mahnung an „unsere Historiker und Theoretiker“ (siehe oben, S. 39), hat sich Riemann nicht zu eigen gemacht. Siehe dazu Dahlhaus, Carl, Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Teil 1: Grundzüge einer Systematik (Geschichte der Musiktheorie, Band 10). – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984, S. 59 f.
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Siehe unten, S. 232.
In engem Konnex zur Natur-Thematik steht der Streit um die Vorherrschaft von Melodie oder Harmonie. Während Helmholtz schon in der Vorrede seiner „Tonempfindungen“ die Melodie zur „wesentlichen Basis der Musik“, die Harmonie „der westeuropäischen Musik der letzten drei Jahrhunderte“ hingegen zum „wesentlichen und unserem Geschmack unentbehrlichen Verstärkungsmittel der melodischen Verwandtschaften“ erklärt und betont, daß es „Jahrtausende lang fein ausgebildete Musik ohne Harmonie gegeben [hat], und es giebt noch jetzt welche bei den aussereuropäischen Völkern“,
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degradiert Riemann jegliche Melodie zum unselbständigen Produkt der Harmonie: „Jeder Ton muss akkordlich aufgefaßt werden […] für sich als Grundton, Terz, an Stelle thetischer Quint sogar als Quint eines Akkordes“; Helmholtz, Tonempfindungen, S. IX f.
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apodiktisch spricht er vom „Nonsens“ einer „Melodie ohne Beziehung zur Harmonie und ein[es] Rhythmus ohne Verhältnis zum Metrum“. Riemann, Logik, S. 7. Im Anschluß an Hauptmann, Natur, S. 207 f.. und dessen hegelianische Begrifflichkeit interpretiert Riemann, Logik, S. 3, die drei Kadenztöne bzw. -akkorde dialektisch: „thetisch ist die Tonika, antithetisch die Unter-, synthetisch die Oberdominante“. Die weiterführende Synthese der Dominanten zeigt sich vor allem in der „Modulation“ in eine andere Tonika. Zu den Begriffen siehe das Glossar.
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Webers Position ist zunächst eine vermittelnde: so hält er die „,Melodik‘ überhaupt“ für „harmonisch bedingt und gebunden, aber, auch in der Akkordmusik, nicht harmonisch deduzierbar“. Letztlich jedoch nimmt er Partei gegen die „Panharmoniker“ – allen voran Rameau und Riemann – und für das melodische Prinzip, und zwar nicht nur, wie zu [61]erwarten, im akkordfremden, melodisch strukturierten außereuropäischen Kontext, sondern paradoxerweise gerade im Bereich der modernen Akkordharmonik: sie erscheint ihm nicht lebensfähig ohne Melodik, ohne den melodisch motivierten „Kontrast gegen das akkordlich Geforderte“, der sich in Dissonanzen und den sogenannten „Durchgangs“-, „Vorhalts“-, „Wechsel“- und „Nachschlags“-Noten manifestiert. Gerade diese akkordfremden, von der Theorie nur schwer zu rationalisierenden „Rebellen“ und „Revolutionäre“ – Begriffe, die Weber 1911 mit Schönberg teilt Riemann, Logik, S. 17. Ähnlich rigoros ders., Ein Problem des harmonischen Dualismus. Ein Beitrag zur Ästhetik der Tonkunst. – Leipzig: Breitkopf & Härtel 1905, S. 18: „ein Hören im Sinne von Dreiklängen ist das A und Ω aller Musik. Auch die absolut einstimmige Melodie hört zweifellos der Hörer von heute, wahrscheinlich aber der Hörer aller Zeiten im Sinne von Harmonien (Tonkomplexen)“.
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– sind „die wirksamsten Mittel der Dynamik des Fortschreitens einerseits, andererseits auch der Bindung und Verflechtung der Akkordfolgen miteinander. Ohne diese durch die Irrationalität der Melodik motivierten Spannungen gäbe es keine moderne Musik, zu deren wichtigsten Ausdrucksmitteln gerade sie zählen.“[61] Wohl nicht nur, aber auch gegen Riemanns „Musikalische Logik“ richtet Schönberg die spitzen Bemerkungen seiner „Harmonielehre“, S. 344 f., 355 und 360: „Es ist eigentümlich, daß es noch niemandem aufgefallen ist: Die Harmonielehre, die Lehre von den Harmonien, befaßt sich mit harmoniefremden Tönen!“; „harmoniefremde Töne gibt es entweder nicht, oder sie sind nicht harmoniefremd", denn sie „bilden doch Zusammenklänge, sind also […] Harmonien wie alles, was gleichzeitig erklingt“; „harmoniefremde Töne sind bloß solche, die die Theoretiker nicht in ihr System der Harmonie unterbringen konnten“ und gerade von „jenen Teilen, die sich nicht decken […], geht eben die Revolutionierung aus“.
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Zwar schmälert dies nicht, wie Weber mit Schönberg und Stumpf konstatiert, die „Herrschaft der akkordharmonischen Musik“, unter der der moderne Europäer lebt und hört und die ihn „jedes aus rein melodischem Ausdrucksbedürfnis geborene Intervall kraft seiner Erziehung unwillkürlich harmonisch“ deuten läßt; gleichwohl muß diese anerzogene „zweite Hör-Natur“ ihn nicht kategorisch hindern, „an harmonisch nicht einzuordnenden Intervallen nicht nur Geschmack [zu] finden, sondern an ihren Genuß weitgehend“ sich zu gewöhnen. Unten, S. 152 f.
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Unten, S. 242. Ebenso Stumpf, Konkordanz, S. 345; zu Schönberg siehe oben, S. 34 und 46.
Zeitgleich mit der aufstrebenden Musikethnologie drängen auch die von Weber so genannten „modernsten Entwicklungen der Musik, welche praktisch sich mehrfach in der Richtung einer Zersetzung der Tonalität bewegen“, seinen wichtigsten Gewährsmann in puncto Musikgeschichte und -theorie in die Defensive. Hier geht Weber allerdings mit Riemann konform, halten beide doch prinzipiell an der Gültigkeit einer „tonalen Ratio“ fest. Jene tonalitätszersetzenden Erscheinungen seiner Gegenwart können, so postuliert Weber am Ende seiner tonsystematischen Untersuchungen, „schließlich mindestens von irgendwelchen letzten Beziehungen zu diesen [tonalen] Grundlagen, und seien es solche des Kontrastes, nicht los“; [62]denn die tonale Ratio wirke, „sowenig sie die lebendige Bewegung der musikalischen Ausdrucksmittel jemals einzufangen vermag, doch in der Tat überall, sei es noch so indirekt und hinter den Coulissen, irgendwie als formendes Prinzip, ganz besonders stark aber in einer Musik wie der unsrigen, wo sie zur bewußten Grundlage des Tonsystems gemacht worden ist.“
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Dieses „überall“ belegt Weber mit seinen Analysen zur außereuropäischen bzw. antiken „melodischen“ Tonalität, die sich im Gravitieren um bestimmte Haupt- oder Schwerpunkttöne (z. B. der hellenischen Mese) manifestiert.[62] Unten, S. 252 f.
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Ausschließlich für die europäische Entwicklung erklärt Riemann: „Das Prinzip der Tonalität, der Bezogenheit der Töne einer Melodie auf einen Hauptton, durch die Stellung zu welchem erst alle andern Töne einen bestimmten Sinn erhalten, ist zwar erst in neuester Zeit […] aufgestellt worden; dasselbe hat jedoch, wenn auch nur geahnt, nicht klar ausgesprochen, bereits die Aufstellungen der Theoretiker des Altertums und Mittelalters geleitet, bis es an der Schwelle der Neuzeit in der Erkenntnis der Einheitsbedeutung des konsonanten Accordes in eminenter Weise in den Vordergrund trat […].“ So fragt Weber, unten, S. 178, „was denn nun in vorwiegend melodisch, das heißt distanzmäßig konstruierten Tonsystemen an die Stelle der modernen ,Tonalität‘ tritt, um ihrer Struktur feste Grundlagen zu geben“.
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Riemann, Musiktheorie, S. 451.
Zwar hebt sich Weber auch hier – mit der Betonung der „bewußten“ Grundlage der tonalen Ratio – ab von Riemanns Versuch, die moderne akkordharmonische Dur-Moll-Tonalität als naturgegeben hinzustellen; aber der konservative Unterton ist auch bei ihm nicht zu überhören, zumal er die tonalitätszersetzenden Kompositionen nicht eben werturteilsfrei „mindestens zum Teil Produkte der charakteristischen, intellektualisiert-romantischen Wendung unseres Genießens auf den Effekt des ,Interessenten‘ hin“ nennt.
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Scheinbar sachbezogener, dabei rigoroser erklärt sich Riemann, wenn er „der mehr und mehr sich entfaltenden Freiheit unserer modernen Harmonik […] eine ganz bestimmte Schranke“ versetzen will, „die in nichts anderem zu suchen ist, als in der logischen Bedeutung der verschiedenen Tonstufen“. Unten, S. 252.
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Ist diese „logische Bedeutung“ nicht mehr gewährleistet, ist eine Einordnung von Tönen oder Akkorden in das hierarchisch-funktionale Deutungssystem der Dur-Moll-Tonalität nicht mehr möglich, z. B. bei „Dissonanzen, die frei auftreten, seien es Septimenakkorde oder zwei-, dreifache Vorhalte“, oder werden allzuhäufige Modulationen, die die Tonika verunklaren, vorgenommen, so protestiert Riemann: „alles [63]hat seine Grenzen und selbst Wagner […] muss Abschnitte bilden, Knotenpunkte für das freie Stimmgewebe. – Geht uns irgendwo der Faden wirklich verloren, so ist die Grenze des Erlaubten überschritten.“ Riemann, Logik, S. 2.
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[63] Ebd., S. 21.
Mit diesen 1872 niedergeschriebenen Zeilen hat Riemann noch nicht an die „modernsten“ Tendenzen denken können, die Weber 1912/13 in seiner Studie erwähnt und die das zentrale Charakteristikum der „frei auftretenden Dissonanz“ in Gestalt z. B. von übermäßigen Sext-, Quarten- und Nonenakkorden auf der Basis von Ganzton-Skalen in weit radikalerem Ausmaße verwirklichen als die von Riemann konstatierten Wagnerschen modulatorisch-enharmonischen „Abweichungen“ von der tonalen Norm. Ob Weber bei seinem persönlichen Erfahrungshorizont des „Modernsten“ – Richard Strauss, Conrad Ansorge, Paul von Klenau, Kenntnis von „Ganztonskalen“ und der „vielumstrittenen ,alterierten Tonleitern‘“ – auch die so genannten „atonalen“ Vorkriegs-Werke Schönbergs und seiner Schüler im Auge hat, ist allerdings fraglich. Wenn nicht auf Schönberg direkt, so verweist doch zumindest jener Zusatz „und seien es [auch] solche [Beziehungen] des Kontrastes [zur tonalen Ratio]“
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auf den Begriff des „A-“ bzw. „Antitonalen“. Von letzterem spricht Guido Adler 1908 in seiner von Weber rezipierten „Heterophonie“-Studie: „In einzelnen Kunsterzeugnissen der neuesten Zeit erheben sich im mehrstimmigen Verbande zwei oder sogar mehrere Stimmen zu einer Ungebundenheit im Auftreten und Fortschreiten, als ob sie sich gar nicht um einander zu kümmern hätten, und so entstehen Zusammenklänge, die nach dem Gebrauche sowohl unserer klassischen Musik, als auch nach der künstlerischen Auffassung der Hauptvertreter der Romantik in geradezu willkürlicher Weise Zusammentreffen und das, nach den Klassikern gebildete Ohr empfindlich verletzen. Die Verbindung und Zusammenstellung solcher Melodien vollzieht sich dann mehr in rhythmischen Proportionen, als in tonalen, ja, manchmal werden direkt tonal entgegenstehende Tonreihen zusammengeschweißt, was geradezu mit dem Ausdruck ,antitonal‘ bezeichnet werden könnte.“ Zu den Zitaten siehe unten, S. 252; Hervorhebung der Editoren.
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Adler, Heterophonie, S. 17.
Schönberg selbst bekundet 1921, als er bereits mit Zwölftonreihen arbeitet,
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er wolle schon aus begrifflichen Gründen nicht zu den „Atonalisten“ gerechnet werden: „Alles was aus einer Tonreihe hervorgeht, sei es durch das Mittel der direkten Beziehung auf einen einzigen Grundton oder durch kompliziertere Bindungen zusammengefaßt, bildet die Tonalität. Daß sich von dieser einzig richtigen Definition kein vernünftiger, dem Wort Ato[64]nalität entsprechender Gegensatz bilden läßt, muß einleuchten. […] Ein Musikstück wird stets mindestens insoweit tonal sein müssen, als von Ton zu Ton eine Beziehung bestehen muß, vermöge welcher die Töne, neben- oder übereinander gesetzt, eine als solche auffaßbare Folge ergeben.“ Dies ist jener Weberschen Einsicht, daß keine Musik von „irgendwelchen letzten Beziehungen“ zu den Grundlagen einer wie auch immer gearteten „tonalen Ratio" loskommen könne, durchaus verwandt. In der dritten Auflage von Schönberg, Harmonielehre. – Wien: Universaledition 1922, S. 486, Fußnote.
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Im übrigen ist Webers tonaler Konservativismus der Studie durchaus zu relativieren, hält man sich den begeisterten Parteigänger der skandalösen „genialen“ Strauss’schen „Salome“ vor Augen; ihn wird Schönbergs und anderer Zeitgenossen „Zersetzung“ der tradierten Dur-Moll-Tonalität nicht derart „empfindlich verletzt“ haben wie den indignierten Mehrstimmigkeitsanalytiker Adler. [64] Ebd. notiert Schönberg kritisch gegen den üblichen Gebrauch des Begriffes (wie schon bei den „harmoniefremden“ Tönen, siehe oben, S. 61, Anm. 86): „Ich bin Musiker und habe mit Atonalem nichts zu tun. Atonal könnte bloß bezeichnen: etwas, was dem Wesen des Tons durchaus nicht entspricht. Es ist schon der Ausdruck: tonal unrichtig gebraucht, wenn man ihn im ausschließenden und nicht im einschließenden Sinn meint.“ Und in letzterem versteht Weber, auch wenn er Schönbergs atonale oder zwölftonstrukturierte Werke nicht gekannt haben sollte, seinen weit gefaßten Begriff der „tonalen Ratio“, der über die Dur-Moll-tonale europäische Variante hinausreicht.
In abwägender Kosten-Nutzen-Analyse betrachtet Weber schließlich den historisch „letzten“ Schritt der Rationalisierung von Tonsystemen, die gleichschwebend temperierte Stimmung, die jene von Riemann gepriesene zwölfstufige Oktavaufteilung in die mathematisch präzise Form zwölf gleich großer Halbtöne gießt. Einerseits betont Weber (mit Helmholtz) ihre „abstumpfenden“ hörphysiologischen und musikpädagogischen Kosten – sowohl für die Ausbildung der Sänger als auch für das rezipierende Publikum;
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andererseits hebt er – durchaus in Übereinstimmung mit Riemann [65]und der herrschenden „Lehre“ Unten, S. 278 f. Daß alle natürlich bzw. „rein“ gestimmten Intervalle (mit Ausnahme der Oktave) und ihre subtilen Komma-Differenzen und Diësen zugunsten des nivelliert-nivellierenden Einheits-Halbtones verloren gehen, wird Helmholtz, Tonempfindungen, S. 510 f., nicht müde zu betonen; in Webers Helmholtz-Handexemplar (UB Heidelberg) finden sich an der folgenden, von Weber paraphrasierten Stelle, Anstreichungen: „Bis zum 17. Jahrhundert wurden die Sänger nach dem Monochorde eingeübt, welchen [sic] Zarlino in der Mitte des 16. Jahrhunderts die richtige natürliche Stimmung wieder einführte. Die Einübung der Sänger geschah in jener Zeit mit einer Sorgfalt, von der wir gegenwärtig freilich keine Idee haben […]“; ebd., S. 324: „es ist für den vollen Wohlklang solcher [polyphoner] Sätze ein ganz unumgängliches Erforderniss, daß nach reinen musikalischen Intervallen gesungen werde, und leider lernen dies unsere jetzigen Sänger selten mehr, da sie von Anfang an gewöhnt werden, in Begleitung von Instrumenten zu singen, welche nach gleichschwebender Temperatur, also in ungenauen Konsonanzen, gestimmt sind […].“ Helmholtz hat Experimente mit Sängern gemacht, die er am Klavier und einer rein gestimmten Orgel begleiten ließ. In [65]der Beilage Nr. 18 hat er die Experimente beschrieben, ebd., S. 511, hält er als ein Ergebnis fest: „Der Sänger, welcher sich an einem temperierten Instrumente einübt, hat gar kein Princip, nach welchem er die Tonhöhe seiner Stimme sicher und genau abmessen könnte.“
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– ihren elementaren Nutzen hervor. In der Temperierung sieht er die unabdingbare Voraussetzung freier Transposition ohne Umstimmung der Instrumente, freier Akkordbewegung und vor allem „höchst fruchtbare[r] Modulationsmöglichkeiten durch die sog[enannte] ,enharmonische Verwechslung‘“ mit ihrem Hauptträger, dem verminderten Septakkord. Weber resümiert: „Die gesamte akkordharmonische Musik überhaupt ist ohne die Temperierung und ihre Konsequenzen nicht denkbar. Erst die Temperierung brachte ihr die volle Freiheit“. Vgl. Riemann, Tonvorstellungen, S. 18 f., ders., Musiktheorie, S. 501 f.; Stecker, Carl, Kritische Beiträge zu einigen Streitfragen der Musikwissenschaft, in: Vierteljahresschr. für Musikwiss., Jg. 6, 1890, S. 457 und 463; Tanaka, Shohé, Studien im Gebiet der reinen Stimmung, ebd., S. 88 f. (hinfort: Tanaka, Stimmung).
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Dies anzuerkennen sind auch namhafte Kritiker dieser tonphysikalischen Gleichmacherei wie Helmholtz gezwungen. Ebenfalls von der Temperierung als Garant der „vollen Freiheit“ der Akkordharmonik spricht Riemann, Musiktheorie, S. 502.
102
Helmholtz, Tonempfindungen, S. 501.
In seiner Kosten-Nutzen-Abwägung steht Webers Wertung derjenigen Schönbergs nahe, der 1911 das temperierte System einen „genialen Notbehelf“ nennt.
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Im Unterschied aber zum „ruhelos suchenden Geist“ des Komponisten, der das temperierte System nur als „Waffenstillstand“ akzeptiert – „er darf nicht länger währen, als die Unvollkommenheit unserer Instrumente ihn nötig macht“ Schönberg, Harmonielehre, S. 20 und 350 f.
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–, konstatiert der nüchterne Rationalisierungsanalytiker den „endgültigen Sieg“ des gleichförmigen zwölfstufigen Systems – ein Sieg, den Weber wie auch Riemann aufgrund von Marktgesetzen und technisch-ökonomischen Fakten für unwiderruflich hält: „Der Gedanke, Klaviere mit 24 Tasten in der Oktave zu bauen, wie sie z. B. Helmholtz vorschlug“ – um so wenigstens die enharmonisch identifizierten (bzw. die rein gestimmten, also nicht identifizierten) Halbtöne wie z. B. gis neben as, es neben dis, aufzunehmen – „ist aus ökonomischen Gründen vorerst nicht sehr aussichtsreich. Gegenüber der bequemen 12tastigen Klaviatur würden sie bei Dilettanten keinen Markt haben und bloße Virtuoseninstrumente bleiben. Der Klavierbau aber wird durch den Massenabsatz bedingt. Denn das Klavier ist auch seinem ganzen musikalischen [66]Wesen nach ein bürgerliches Hausinstrument.“ Ebd., S. 351.
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Entgegen Tanakas Ansicht[66] Unten, S. 279. Weber spielt auf Helmholtz, Tonempfindungen, S. 496, und dessen Beilage Nr. 17 (S. 628 f. und 662 f.) an, in der der Plan für ein rein gestimmtes Instrument aufgeführt ist.
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glaubt Weber, daß die Aufsehen erregenden Versuchsklaviere „mit einigen 30 bis 50 Tasten auf die Oktave“, die die kommatischen Subtilitäten der reinen Stimmung zumindest ein gutes Stück weit verwirklichen, nicht mehr „im Klaviertempo zu benutzen“ sind und folglich reine Theoretiker-Werkzeuge bleiben. Helmholtz’ Schüler Tanaka, wie sein Lehrer ein Verfechter der reinen Stimmung, stellt (Tanaka, Studien, S. 19 f., 62–70) ein solches – von Hans von Bülow in Anspielung auf die Vierteltöne, die es wiedergeben kann, „Enharmonium“ genanntes – Experimentierklavier vor, das er zusammen mit der Firma Walcker & Co baut. „Vom praktischen und pädagogischen Standpunkt aus betrachtet“ glaubte Tanaka, ebd., S. 20 und 62, daß „die Beherrschung der neuen Tastatur mit mechanischer Transposition nicht mehr Schwierigkeiten bieten [dürfte] als die gewöhnliche Spielart auf der 12-tastigen Klaviatur“. Zu Webers Lebzeiten bauten neben Tanaka Robert Holford Macdowall Bosanquet, Gustav Engel, Carl Eitz (zusammen mit Helmholtz), M. S. Sachs, General P. Thompson und H. W. Poole rein gestimmte Instrumente.
5. „Methodisches“ und „Soziologisches“
Der Faktenreichtum einerseits, die provisorische Gestalt der Musik-Studie andererseits lassen nur bedingt methodische Konzepte im engeren Sinn erkennen. Was die Studie mit Ambros’ oder Riemanns musikhistorischen Grundlagenwerken vergleichbar macht, ist zunächst „negativer“ Art: Wenn Weber im „Wertfreiheits“-Aufsatz von seiner Studie als „empirischer Musikgeschichte“ spricht, so ist diese denkbar weit entfernt von der traditionellen Historiographie, die sich wesentlich an Nationalstilen, an Stilepochen und überragenden Komponisten als Repräsentanten dieser Epochen (mit obligatorischem Rekurs auf ihr singuläres „Genie“ und ihre Ausnahmewerke) orientiert. Webers Konzentration auf die technisch-rationalen „Ausdrucksmittel“ künstlerischen Wollens erklärt, warum keine Einzelwerke oder Gattungen oder Nationen Erwähnung finden
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und die Studie, ob[67]schon keine namenlose Strukturgeschichte, Komponisten allenfalls am Rande bzw. als Stichwortgeber übergeordneter Themenbereiche nennt. Mit Ausnahme von Violin- und Klavierliteratur im allgemeinen und der im Kontext der „wohltemperierten“ Stimmung genannten gleichnamigen Bachschen Präludien- und Fugensammlung. Nationen – europäische – als vermeintliche Träger musikgeschichtlicher Entwicklungen spielen bei Weber nur eine rudimentäre Rolle; so erwähnt er (unten, S. 226 und 237) „Franzosen und Engländer“ im Kontext des mittelalterlichen Hexachord-Schemas sowie beim „musikgeschichtlich so wichtigen Terzen- und Sextengesang“ (faux bourdon), die von Kiesewetter, Niederländer, „überschätzte Stellung der Niederländer“ für die Kunst der franko-flämischen Polyphonie. Die Zitate des „Wertfreiheits“-Aufsatzes: Weber, Wertfreiheit, S. 69 f.
An ihre Stelle setzt Weber eine einzigartig breit gefächerte vergleichende Universalgeschichte, deren Objekt Tonsysteme bzw. theoretisch abstrahierte Material- und Gebrauchstonleitern – die elementaren Grundstrukturen musikalischer Theorie und Praxis – sind; ihr Erkenntnisziel gilt den Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen der spezifisch okzidentalen Musik. Um dieses „spezifisch Okzidentale“ herauszupräparieren, arbeitet Weber mit zwei charakteristischen Argumentationsschemata. Das erste läßt sich als „zwar-aber“-Muster kennzeichnen, wobei das „zwar“ den universellen bzw. universalhistorischen Kontext, das „aber“ das spezifisch Okzidentale – sozusagen die „qualitative“ Teilmenge – aus dem allgemeinen Kontext extrapoliert. Mit diesem Argumentationsschema – es kehrt in der „Vorbemerkung“ zu den „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“, die das spezifisch Okzidentale für die großen Kulturbereiche Wissenschaft, Kunst, Architektur, Staat, Wirtschaft und eben auch für die Musik benennt, an prominenter Stelle wieder
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– faßt Weber drei zentrale Themenbereiche zusammen: Da ist zunächst die Mehrstimmigkeit und der Dur-Dreiklang: „Die Nationen des Orients und des fernen Ostens […] kennen zwar den Zusammenklang mehrerer Töne. Und […] es scheint, daß wenigstens der Dur-Dreiklang auch von Völkern, deren Musik jeder Tonalität unserer Art entbehrt oder, wie bei den Siamesen, auf völlig anderer Grundlage ruht, meist als ,schön‘ akzeptiert wird. Aber sie interpretieren den Akkord nicht nur nicht in harmonischem Sinn, auch genießen sie ihn nicht als Akkord in unserer Art, sondern als eine Kombination von Intervallen, die sie als einzelne hören wollen […]“.[67] Weber, Vorbemerkung, in: GARS I, S. 2 (MWG I/18). Näheres unten, S. 124 f.
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Es kann hier also nicht wie im Okzident von einer qualitativen Mehrstimmigkeit, die bewußt bestimmte Zusammenklänge sucht, sondern (nur) von einer quantitativen „Mehrtönigkeit“ gesprochen werden. Das zweite „zwar-aber“ gilt der Tonalität: „Das Gefühl für etwas unserer ,Tonalität‘ im Prinzip Ähnliches ist an sich keineswegs etwas spezifisch Modernes. Es findet sich […] in vielen Indianer-Musiken wie in der orientalischen Musik und ist in der indischen unter einem eigenen Wort (Ansa) bekannt. Aber sein Sinn und seine Wirkungsweise ist wesentlich anders und auch seine Tragweite begrenzter in Musiken, welche eine melodische Struktur haben, als dies bei uns heute möglich ist.“ Unten, S. 213.
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Analog umkreist Weber schließlich den spezifisch okzidentalen bzw. modern-europäischen Gebrauch der Temperierung: das Prinzip der Temperierung „liegt einer […] melodisch-distanzmäßig orientierten [68]Musik [zwar] sehr nahe. […] Aber [es] hat bekanntlich seine wichtigste Stätte gerade nicht auf dem Boden der ihr, in gewissem Sinn, urwüchsig verwandten melodischen Musiken gefunden. [Sondern:] ,Temperierung‘ war auch das letzte Wort unserer akkordharmonischen Musikentwicklung. […] Die Besonderheit der modernen Temperierung aber ist: daß die praktische Durchführung des Distanzprinzips auf unseren Tasteninstrumenten eben doch nur als ,Temperierung‘ harmonisch gewonnener Töne und nicht, wie die sog[enannten] Temperierungen in den Tonsystemen der Siamesen und Javanesen, als Schaffung einer wirklichen bloßen Distanzskala statt der harmonischen behandelt wird und wirkt.“ Unten, S. 179 f.
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[68] Unten, S. 248 und 251.
Charakteristisch für Webers Art, Universalhistorie zu treiben, ist ferner, daß sie nicht nur horizontal – universell – Musikkulturen, sondern auch vertikal – historisch – europäische Musikepochen vergleicht. In diesem historischen Aufriß ortet Weber strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen dem hellenistischen Zeitalter, dem Spätmittelalter (und Renaissance) und seiner (spätromantischen) Gegenwart. In allen drei Epochen sieht er ein vermehrtes Ausdrucksstreben, ein Bedürfnis „nach dramatischer Darstellung der Leidenschaften“, walten, das jeweils zu einer (enharmonischen bzw. chromatischen) Aufweichung der „harten“ Diatonik, des tradierten Tonmaterials der klassisch-antiken Tragödienzeit, der hochmittelalterlichen Kirchentöne bzw. der Dur-Moll-tonalen Akkordharmonik des 17. bis 19. Jahrhunderts (die zunächst im Generalbaß, dann im Sonatensatz ihre „klassisch“-normgerechte Anwendung findet), führt.
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Während Weber für Hellas bzw. den Hellenismus und – abgeschwächt durch „manche tonalitätszersetzende Erscheinung“ Unten, S. 171 und 211. Allerdings ist sich Weber der möglichen Schieflage des Vergleichs bewußt insofern, als manche hellenischen Quellen nicht das Diatonische, sondern gerade das Enharmonische für das älteste Tongeschlecht halten.
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– auch für seine Gegenwart eine Auflösung der Tonalität konstatiert, sieht er im Spätmittelalter bzw. in der Renaissance das vermehrte Ausdrucksstreben „sofort auf die Bahn der modernen Tonleiterbildung drängen“ und in die neu entstehende Dur-Moll-Tonalität münden. Die spätmittelalterliche „,innere Logik‘ der Tonbeziehungen“ ist mithin eine andere als diejenige des antiken Hellas, „obwohl die Entstehung der chromatischen Tonalterationen und ihre Rezeption und harmonische Legitimierung im Okzident historisch auf ganz die gleichen Bedürfnisse zurückgehen wie die Pykna der Hellenen […]. Daß die gleichen Ausdrucksbedürfnisse dort zu einer Zersetzung der Tonalität, hier […] zur Schaffung der modernen Tonalität führten, lag in der sehr abweichenden Struktur derjenigen Musik, in welche jene Tonbildungen im einen und im [69]anderen Fall eingebettet wurden. Die neuen chromatischen Spalttöne wurden in der Renaissancezeit als Terzen- und Quinton-bestimmte harmonisch gebildet. Die hellenischen Spalttöne dagegen sind Produkte einer rein distanzmäßigen […] Tonbildung.“ Unten, S. 241.
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In Hellas brachte dies „eine extrem-melodiöse, die ,harmonischen‘ Bestandteile des Musiksystems weitgehend sprengende Entwicklung“ mit sich, während „im Okzident seit dem Ausgang des Mittelalters ganz das gleiche Streben zu dem gänzlich abweichenden Ergebnis der Entwicklung der Akkordharmonik geführt hat“. Weber schreibt dies „in erster Linie dem Umstand zu […], daß der Okzident zu der Zeit, als jenes gesteigerte Ausdrucksbedürfnis einsetzte, sich im Gegensatz zur Antike schon im Besitze einer mehrstimmigen Musik befand, in deren Bahnen daher die Entwicklung des neuen Tonmaterials einlief.“[69] Unten, S. 170 f. Weber demonstriert dies, unten, S. 204, zunächst am „musikgeschichtlich überhaupt so wichtigen Streben nach Transponierbarkeit von Melodien in andere Tonlagen“.
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Unten, S. 211. Damit sind zwei der drei von Weber sogenannten „entscheidenden Besonderheiten der abendländischen Musikentwicklung“ genannt, die zur Etablierung der modernen Tonalität geführt haben: ein spezifisch okzidentaler Mehrstimmigkeitstypus (Polyphonie) und eine harmonisch gewonnene bzw. gedeutete Chromatik als Produkt vermehrten Ausdrucksstrebens in der Renaissance; hinzu kommt die „Erfindung unserer modernen Notenschrift“ (unten, S. 232), mithin die „Erhebung der mehrstimmigen Musik zur Schriftkunst“, die „so den eigentlichen ,Komponisten‘ [schuf] und […] den polyphonen Schöpfungen des Abendlands im Gegensatz zu denen aller anderen Völker Dauer, Nachwirkung und kontinuierliche Entwicklung [sicherte]“, siehe unten, S. 238.
Die derart vergleichend verfahrende „Musikgeschichte“ ist Webers genuine Leistung. Sie ist im musikwissenschaftlichen Schrifttum seiner Zeit einzigartig und in ihrer Komplexität bislang unerreicht. Ihre Grundlage bildet einerseits Webers eminent breite Rezeption der zeitgenössischen Literatur, andererseits seine mit großer Sicherheit des Urteils einhergehende Konzentration auf zentrale Texte. Daß der musikwissenschaftliche Laie hierbei auch noch fundierte Kritik an den Fachpublikationen übt, ergänzt das erstaunliche Bild.
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Mehr oder minder prononciert bezieht er Stellung [70]zu Einzelfragen der historischen Forschung der Zeit, so zur Frage der Existenz einer hellenischen Mehrstimmigkeit, zu Herkunft und tonsystematischer Struktur des gregorianischen Gesanges, zur Bedeutung Hucbalds bzw. des Traktats der „Musica enchiriadis“ für die früheste mittelalterliche Mehrstimmigkeit in Gestalt des Quint-Quart-Organums, ferner zur „nordische[n] Entwicklung der Terz“ als Ursprungstopos des spezifisch okzidentalen Harmoniegefühls. So vor allem gegenüber Helmholtz’ „Tonempfindungen“, unten, S. 178: „Die überaus geistvollen Deduktionen in Helmholtz’ schönem Buche halten dem heutigen Stande des empirischen Wissens nicht mehr ganz stand. Und auch die Voraussetzung der ,Panharmoniker‘, daß jede, auch jede primitive Melodik doch letztlich sich aus zerlegten Akkorden aufbaut, ist gegenüber den Tatsachen jedenfalls nicht glatt durchführbar. […] Und vollends fraglich geworden ist die von Helmholtz in geistvoller Art begründete Rolle der Obertöne für die historische Entwicklung der alten Melodik.“ Neben Helmholtz kritisiert Weber, unten, S. 172, „in Anlehnung an die neueren Analysen der arabischen Musiktheorie von Collangettes“ die älteren Arbeiten von Villoteau und Kiesewetter, die er für die „höchst mißverständliche“ Rolle verantwortlich macht, die [70]die Dritteltöne in der Theorie der arabischen Musik spielen. Andererseits lobt er, unten, S. 205 und 225, Riemanns Herleitung des mittelalterlichen Hexachord-Schemas und schließt sich vorsichtig an dessen Interpretation des hellenischen Begriffs der κροῦσις (krusis) an. Nahezu mitleidig kommentiert er, unten, S. 209 f., „Gevaerts unermüdliche“, wenngleich „im Prinzip abzulehnen[de]“ Versuche, hellenische Chorgesänge mit moderner akkordharmonischer Begleitung zu versehen; Westphal wiederum wirft er, unten, S. 215, eine „irrige Quelleninterpretation“ des hellenischen „symphonie“-Begriffs vor. Welches fachmännische Niveau – gepaart mit typischem Understatement – Weber erreicht hat, zeigt pointiert, unten, S. 208, seine Bemerkung zu Fox Strangways’ Erklärung der Vormachtstellung der Quart im indischen Kontext: „Die Erklärung – über welche nur Fachmännern ein endgültiges Urteil zusteht – erscheint, geschichtlich betrachtet, insofern problematisch, als […]“. Ebenso bescheiden den „Fachleuten“ das Feld überlassend zeigt sich Weber, unten, S. 179, bei jener „uns letztlich am meisten interessierende[n] Frage“ nach der entwicklungsdynamischen Wirksamkeit der „natürliche[n]“ Tonverwandtschaft (siehe dazu auch oben, S. 59 f.).
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Daß viele Analysen und Daten seiner Gewährsmänner inzwischen überholt sind, liegt in der Natur historischer Forschung und schmälert Webers Leistung keineswegs. Ebenfalls sekundär, zudem nur für den Einzelfall zu entscheiden, ist die Frage, ob Weber seine Quellen im Original bzw. in den von Jan, Westphal, Gerbert und Coussemaker erstellten Sammlungen gelesen oder deren Übersetzungen und Interpretationen bei seinen Gewährsmännern studiert hat. Die Tatsache, daß er manche abgelegene Quelle wie den „Kölner Traktat de organo“ heranzieht, diesen zudem auch noch in marginalem Bezug, Unten, S. 215 f., 190 und 229 f. Zu den Einzelheiten siehe Braun, Musiksoziologie (wie oben, S. 16, Anm. 53), S. 297–340.
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oder daß er das nur bei Mattheson, Critica musica von 1722 zu findende klavierspielende „Frauenzimmer“ erwähnt, Unten, S. 265. Im Kontext dieses Traktates fällt, ebd., – vermutlich ein Lesefehler der Erstherausgeber – der nicht verifizierbare, von Weber gleichwohl als bekannt hingestellte Name „Behr“. An dieser Stelle sei nachdrücklich Hubert Treiber, Hannover, für seine unermüdliche Hilfe bei der Suche gedankt.
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zeigt jedenfalls pointiert die Akribie, mit der sich Weber seinen Aufgaben stellt. Unten, S. 272.
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Für bestimmte Gegenstandsbereiche wiederum muß er mit Literatur geringeren Anspruchs Vorlieb nehmen, einfach weil es nichts Besseres gibt, so Oscar Bies „Das [71]Klavier und seine Meister“. Das populäre Werk ist weniger als wissenschaftliche Untersuchung denn als Lesebuch für das musikinteressierte Bürgertum konzipiert, aber doch reich an historischen und zeitgenössischen Fakten, die Weber hat brauchen können; von Bie übernimmt er auch die griffige Charakterisierung des Klaviers als „bürgerliches ,Möbel‘“, Dieselbe Akribie zeigt sich erst recht bei seinen vermutlich von Collangettes, Musique arabe, inspirierten Analysen der arabischen Lautenbünde, siehe unten, S. 173 f. und 244 f.
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die dann als Schlagwort kurioserweise nicht durch Bie, sondern durch Max Weber Karriere macht.[71] Unten, S. 280. Bie, Klavier, S. 292 f., nennt das Klavier im allgemeinen ein „Gesellschafts-Vergnügungsmittel“, das herkömmliche, aufrechtstehende Pianino aber im Unterschied zum Flügel, der ein „einziges solide gefügtes und sorgsam durchgearbeitetes Möbel“ ist, ein Instrument, das „leider zu oft nichts als ein Möbel sein soll und mit verkleideten Holzwänden dem Modegeschmack nur allzu viel Platz bietet […]. Bald ist es ganz als Büffett behandelt worden, bald nur als ägyptische Pyramide, bald als Altar mit figürlichen Malereien, bald als Versuchsstätte ominöser Blümchen-Marquetereien“.
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Siehe dazu etwa Hildebrandt, Dieter, Pianoforte oder Der Roman des Klaviers im 19. Jahrhundert. – Wien, München: Hanser 1985, Vorspiel. Hier wie auch in den musikwissenschaftlichen oder soziologischen Kommentaren zur Weberschen Musik-Studie, die explizit das Klavier als charakteristisches bürgerliches Hausinstrument thematisieren, taucht der Name Bie nicht auf. Näheres dazu bei Braun, Musiksoziologie (wie oben, S. 16, Anm. 53), S. 11 f., 18 f. und 196 f.
Mit dem genuin „bürgerlichen“ Klavier-Rekurs ist ein letztes Charakteristikum der Weberschen Studie als „Musikgeschichte“ angesprochen: ihre weitgehende soziologische Abstinenz. Sieht man von der beiläufigen Erwähnung von Trägerschichten bestimmter musikalischer „Ethoi“ ab, ferner von der genuin rationalisierungstheoretischen Nennung des okzidentalen Mönchtums als Träger der mittelalterlichen Musiktheorie und Notenschrift-Entwicklung und schließlich von wenigen Bemerkungen zur sozialen und ökonomischen Stellung prominenter Künstler oder Berufsgruppen im Instrumentalteil der Studie,
122
so bleibt jenes „Möbel“, verstanden als musikalisches Signum der (spät-)bürgerlichen Gegenwartsepoche, nahezu Webers einziger soziologischer Befund im engeren Sinn – mit einer Ausnahme. Sie reicht in die kulturhistorische Frühzeit und gilt den ersten grundlegenden, „ständischen“ Entwicklungsschritten der musikalischen Ratio: „Mit der Entwicklung der Musik zu einer ständischen – sei es priesterlichen, sei es aoidischen –,Kunst‘: dem Hinausgreifen über den rein praktisch abgezweckten Gebrauch traditioneller Tonformeln, also dem Erwachen rein ästhetischer Bedürfnisse[,] beginnt regelmäßig ihre eigentliche Rationalisierung.“ Unten, S. 159, 236, 255 f., 258, 262 und 274.
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Unten, S. 188.
Der religionssoziologische Kontext dieser frühen Rationalisierung und mit ihm das parallele Konzept von Musik-Studie, Religions- und Herr[72]schaftssoziologie ist offensichtlich, weniger dagegen der explizit soziologische Kontext; „Wir haben uns hier der soziologischen Tatsachen zu erinnern, daß die primitive Musik zu erheblichem Teil auf sehr früher Entwicklungsstufe dem rein ästhetischen Genießen entrückt und praktischen Zwecken unterstellt wurde. Zunächst vor allem magischen, insbesondere apotropäischen (kultischen) und exorzistischen (ärztlichen).“
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Im Mittelpunkt der Kultpraxis stehen – so lassen sich Webers verstreute Darlegungen zur Geburt einer theoretisch-ästhetisch fundierten „Kunst“ aus archaisch-kultischer Praxis heraus zusammenfassen – „Tonformeln“, die der Sänger bzw. Priester „zur Beeinflussung der Götter und Dämonen“ vorträgt;[72] Ebd. Zu den weiterführenden „soziologischen“ Plänen Webers siehe unten, S. 107 und 123 f.
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sie sind, wie Weber im Anschluß an Chrysanders Analysen altindischer Opfermusik ausführt, Unten, S. 187. Neben den „Narkotika, die alle ursprünglich Orgienzwecken dienten“, ist es, so Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 124, „vor allem die Musik“: „Wie man sie verwendet, bildet neben der rationalen Beeinflussung der Geister im Interesse der Wirtschaft, den zweiten, wichtigen, aber entwicklungsgeschichtlich sekundären Gegenstand der naturgemäß fast überall zu einer Geheimlehre werdenden Kunst des Zauberers“.
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stark stereotypiert, denn ihre „genaue Einprägung“ ist für den Beteiligten „im eigentlichsten Sinne ,Lebensfrage‘, ,falsches‘ Singen [aber] ein – oft nur durch sofortige Tötung des Schuldigen zu sühnender Frevel“. Die im Kult vereinigten gesanglich-instrumentalen, tänzerischen, mimischen, rezitatorischen und orchestischen Praktiken differenzieren sich „von einem bestimmten Entwicklungsstadium der Kultur an“ zu mehr und mehr eigenständigen Sphären. Im musikalischen Bereich manifestiert sich dies in der Entstehung von sogenannten „Tonarten“, von Intervallfolge-Schemata, die aus kultischen Tonformeln abstrahiert, standardisiert und mit einem bestimmten „Ethos“ versehen werden. Zunächst finden sie Verwendung „im Dienste bestimmter Götter oder gegen bestimmte Dämonen oder zu bestimmten feierlichen Gelegenheiten“. Unten, S. 187 f., mit dem Chrysander-Bezug in Anm. 23.
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So bilden z. B. die Tonformeln des kleinasiatisch-phrygischen, vom Aulos getragenen Dionysos-Kultes, den Weber im religionssoziologischen Kontext von „Wirtschaft und Gesellschaft“ thematisiert, Unten, S. 187 f.
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das Urmaterial der in der aufkommenden hellenischen Musiktheorie so genannten „phrygischen Harmonia“, der diatonischen „Oktavgattung“ (d’–d), der das „Ethos“ ekstatischen Rausches bzw. reinigender Katharsis zugesprochen wird. Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 181, 185, 251 und 336.
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Die [73]weitere Entwicklung führt schließlich zu einer von jedem kultisch-religiösen Zweck abgelösten, rein ästhetischen Verwendung der „Tonarten“ als Ausdrucksmittel künstlerischer Vorstellungen. Analoges beobachtet Weber Vgl. ebd., S. 317. Zur Rolle der im Dionysoskult beheimateten Satyrtänze und Bockschöre und ihrer Bedeutung für die Entstehung der griechischen Tragödie äußert sich Weber im Brief vom 1. Februar 1909 an Karl Bücher, MWG II/6, S. 47 f., siehe auch oben, S. 55, Anm. 63.
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bei den drei weiteren frühhellenischen, regional differenzierten dorischen, lydischen und aiolischen Kulten, bei ihren jeweiligen Tonformeln und den daraus erwachsenden spezifisch „ethisch“ konnotierten „Tonarten“ („Oktavgattungen“), darüber hinaus bei außereuropäischen Hochkulturen, allen voran Indien.[73] Unten, S. 189.
130
Unten, S. 167 f., 175 und 189 f.
In diesen Hypothesen zur Frühgeschichte der musikalischen Ratio, die „leider kaum zuverlässig“ mit überlieferten oder noch existierenden (zudem als „Geheimkunst“ behandelten) Tonformeln zu belegen sind,
131
reflektiert Weber nur bedingt die zeittypische ethnologische Suche nach den materialen „Anfängen“ oder „Ursprüngen der Musik“ etwa aus dem Sprechen oder Vogelgesang; Vgl. unten, S. 187.
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vielmehr geht es ihm darum, die Musik als künstlerischen Ausdrucksraum in jenem Sinn zu eruieren, den er dann in der „Zwischenbetrachtung“ der „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ zum eigenständigen „Kulturinhalt“, schließlich zur eigengesetzlichen „Lebenssphäre“ (neben anderen) erklärt. Siehe dazu etwa Stumpf, Anfänge; ders., England; Hornbostel, Vogelgesang; ferner Simmel, Studien und Wallaschek, Tonkunst (wie oben, S. 46, Anm. 32). Auch die von Weber andernorts (unten, S. 181) diskutierte Frage nach der Rolle des Rhythmus für die Entstehung von Musik, die sein nationalökonomischer Kollege Karl Bücher, Arbeit und Rhythmus. – 4., neubearbeitete Aufl. – Leipzig und Berlin: B. G. Teubner 1909, prominent behandelt und Hornbostel, Arbeit, kritisch gegenüber Büchers Werk beleuchtet, gehört hier hin. Weber selbst setzt sich in jenem Brief an Bücher vom 1. Februar 1909 (siehe oben, S. 55, Anm. 63) überwiegend lobend mit dessen Schrift auseinander und bringt hier auch die im religionssoziologischen Kontext wie in der Musik-Studie. unten, S. 187, erwähnten, u. a. auf Tonformeln gegründeten „apotropäischen“ Handlungen der Kult-Praxis zur Sprache (MWG II/6, S. 47).
133
Verwandte „soziologische“ Gedanken hat Weber dazu in Ambros’ kulturhistorisch ausgerichteter Musikgeschichte Weber, Zwischenbetrachtung, MWG I/19, S. 499–502.
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und in Georg Simmels frühen „Psychologischen und ethnologischen [74]Studien über Musik“ von 1880/82 finden können. Ambros, Geschichte 1, S. 218 f., hebt die einzigartige Stellung der Musik bei den Griechen hervor, die „zuerst die Musik als Kunst [verstehen], als ebenbürtige Schwester der übrigen Künste. Bei den Griechen wird die Musik zuerst und zum erstenmale Selbstzweck. […] Die Tonkunst drang tief in alle Kreise griechischen Lebens, sie hatte bei den Griechen nicht, wie bei […] andern Völkern, blos eine culturhistorische Bedeutung, sondern erlebte in sich selbst eine kunstgeschichtliche Entwickelung, wie wir sie bei der ägyptischen, hebräischen u.s.w. Musik vergebens suchen würden.“
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Allerdings ist Webers Kenntnisstand im Vergleich zu den eher spekulativen Ausführungen Ambros’ und Simmels ein anderer: empirischer. Bezeichnenderweise findet sich von Simmels noch ohne phonographische Kontrolle erhobenen Analysen wie auch von seinen biologistisch-evolutionstheoretischen Annahmen zu den „Anfängen der Musik“ und „Veranlassungen zum Hervorbrechen des Gesanges“[74] Wie Weber, so will auch Simmel, Studien, S. 268 und 281, „nicht vergessen, dass die Musik in diesem [kultischen] Stadium noch keine Kunst war, ebenso wenig wie die Hütte des Wilden ein Werk der Architektur als Kunst ist […]“. „Immer mehr im Laufe ihrer Entwicklung wirft die Musik ihren natürlichen Charakter ab; je mehr sie dies tut, desto mehr nähert sie sich ihrem Ideal als Kunst“.
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nichts in Webers Musik-Studie. Daß Helmholtz Simmels 1880 als Dissertation eingereichte „Studien“ u. a. wegen mangelnder Beweisführung ablehnt, Ebd., S. 266.
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Weber hingegen dreißig Jahre später die „überaus geistvollen Deduktionen in Helmholtz’ schönem Buche“ der „Tonempfindungen“ als empirisch überholt hinstellt, kennzeichnet pointiert den Erkenntnisfortschritt und die methodische Distanz, welche die musikalischen Exkurse beider Soziologen voneinander trennt. Dies hat jedoch weder die Gemeinsamkeit ihrer thematisch eng verwandten Interessen beeinträchtigt – Interessen, die der formalen Rationalität und Parallelität von moderner Geldwirtschaft und moderner Musik, von Geld und temperiertem Halbton als jeweiligem quantitativen Generalnenner der sozialen respektive musikalischen Sphäre gelten; Siehe dazu Landmann, Michael und Gassen, Kurt (Hg.), Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958. – Berlin; Duncker & Humblot 1958, S. 16 f.
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noch hat darunter die Freundschaft beider Musikliebhaber, die in Berlin gemeinsam Konzerte besuchen, gelitten. Wie verwandt diese Interessen sind, zeigen nicht zuletzt die bis in die Wortwahl übereinstimmenden Analysen zur „Abstumpfung“ in der modernen Kultur. So kennzeichnet Simmel, Georg, Die Großstädte und das Geistesleben (1903), in: ders., Gesamtausgabe, Band 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, Band 1, hg. von Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt. – Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 121 f., die „unbedingt der Großstadt vorbehalten[e]“ „Blasiertheit“ als „Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge […] in dem Sinne […], daß die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird. […] Diese Seelenstimmung ist der getreue subjektive Reflex der völlig durchgedrungenen Geldwirtschaft; indem das Geld alle Mannigfaltigkeiten der Dinge gleichmäßig aufwiegt, alle qualitativen Unterschiede zwischen ihnen durch Unterschiede des Wieviel ausdrückt, indem das Geld, mit seiner Farblosigkeit und Indifferenz, sich zum Generalnenner aller Werte aufwirft, wird es der fürchterlichste Nivellierer, es höhlt den Kern der Dinge, ihre Eigenart, ihren spezifischen Wert, ihre Unvergleichbarkeit rettungslos aus.“ Ersetzt man in Simmels Darlegungen „Geld“ durch „temperierten Halbton“, so hat man die zentrale Argumentation der Temperatur-Kritiker von Helmholtz bis Weber vor Augen: der Halbton ist der rein quantitativ be[75]messene Intervallnenner der modernen akkordharmonischen Musik, der die Tonalität, die qualitativ-hierarchische Unterscheidung der Töne und Akkorde wie auch die charakteristischen Differenzen der Tonarten eliminiert.
[75]III. Max Webers Musik- und Kultursoziologie.
Die Werkgeschichte im Kontext
Seit 1903 sind Kunst und Musik in Webers Schriften präsent,
1
zunächst in Gestalt von fachfremden methodologischen Argumentationsstützen (etwa bei der Betonung der individuellen „Kulturbedeutsamkeit“ Richard Wagners in Abgrenzung gegen Karl Lamprechts entwicklungsgeschichtlich-nomothetische Kunstbetrachtung) Von Webers frühen agrar- und rechts- bzw. wirtschaftshistorischen Schriften enthält lediglich die Abhandlung: Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur, in: Die Wahrheit, Band 6, 1896, S. 57–77 (MWG I/6), Anmerkungen zur Kunst. Weber definiert hier (ebd., S. 59 und 76) die antike Kultur als wesentlich „städtische Kultur“, die karolingische hingegen als „ländliche Kultur“, die die Geistesarbeit des Altertums „scheinbar völlig vernichtet.“ „Versunken ist […] die Marmorpracht der antiken Städte und damit alles das, was von geistigen Gütern auf ihnen ruhte: Kunst und Litteratur, die Wissenschaft und die feinen Formen des antiken Verkehrsrechts. Und an den Gutshöfen der Possessoren und Senioren ertönt noch nicht der Minnesang.“ Während seines Genesungsaufenthaltes im Frühjahr 1902 in Rom liest Weber, wie Marianne Weber, Lebensbild, S. 267, zu entnehmen ist, Hippolyte Taines „sämtliche Bände“ und damit nachweislich erstmals ein genuin kunstwissenschaftliches bzw. -soziologisches Werk, Taines „Philosophie de I’art“. Er schätzt Taine, trotz des „fürchterliche[n]“ Begriffs des „Milieus“, siehe dazu die Briefe Webers an Karl Vossler vom 5. Mai 1908 (MWG II/5, S. 559 f.) und vom 11. und 14. Dezember 1910 (MWG II/6, S. 730), ferner Weber, Roscher und Knies III, S. 112 f., Fn. 2. Taines „Philosophie de l’art“, hervorgegangen aus Vorlesungen an der Pariser Ecole de Beaux-Arts, zwischen 1865 und 1869 in Einzelbänden veröffentlicht, erscheint erstmals in deutscher Übersetzung von Ernst Hardt 1901 bei Eugen Diederichs in Jena, weitere Auflagen folgen 1906 und 1909.
2
oder als Marginalien im nationalökono[76]misch-sozialwissenschaftlichen Forschungsprogramm, das neben rein wirtschaftlichen und ökonomisch relevanten Erscheinungen auch „ökonomisch bedingte“ „Kulturinhalte“ wie z. B. „die Richtung des künstlerischen Geschmacks einer Zeit“ oder „individuelle literarische und künstlerische Leistungen“ thematisieren will.In: Weber, Roscher und Knies I, S. 7 f., Fn. 2, vgl. Lamprecht, Karl, Deutsche Geschichte, Erster Ergänzungsband: Zur jüngsten deutschen Vergangenheit, Erster Band: Tonkunst, Bildende Kunst, Dichtung, Weltanschauung. – Berlin: R. Gaertner 1902 (hinfort; Lamprecht, Tonkunst). Ebd., S. 21, 30, 41 u. a., hypostasiert Lamprecht eine entwicklungsgeschichtliche Reihe von „seelischen Zeitaltern“ „im Sinne eines gesetzmäßigen Fortschreitens“ von Gesellschaften, das „durch das Wesen der menschlichen Seele vorgezeichnet ist“ und in dem Künstler und Komponisten als Wegmarken des emotionalen Fortschritts respektive der „Erweiterung des ästhetischen Empfindungsvermögens“ verstanden werden – hin zum „seelischen Zeitalter des Subjektivismus“, zum „Seelenleben der Gegenwart, der Periode der Reizsamkeit.“ In dieser Perspektive „steht und fällt“, so Weber, Roscher und Knies I, S. 8, Fn. [2], Wagners Werk „nicht etwa mit dem, was es uns bedeutet, sondern mit der Frage, ob es in einer bestimmten theoretisch postulierten ,Entwickelungs‘-Linie liegt.“ In Webers Handexemplar des Lamprecht-Werkes (Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München) finden sich zahlreiche Bemerkungen vorwiegend negativer Art, wie z. B. „romantische Geschichtsschreibung“ (S. 59) oder „Einfacher Blödsinn“ (S. 61).
3
Allerdings geht es Weber eher hierbei um methodische Abgrenzungsfragen, insbesondere um eine differenziert antimaterialistische und antideduktionistische Argumentation, noch nicht um inhaltliche Kunst-Kommentare. So ist ihm die „Reduktion auf ökonomische Ursachen allein“ „auf keinem Gebiete der Kulturerscheinungen“, erst recht nicht auf dem der Kunst, „je in irgend einem Sinn erschöpfend“ – unbesehen der Tatsache, daß der „indirekte Einfluß, der unter dem Drucke ,materieller‘ Interessen stehenden sozialen Beziehungen, Institutionen und Gruppierungen der Menschen […] sich (oft unbewußt) auf alle Kulturgebiete ohne Ausnahme, bis in die feinsten Nuancierungen des ästhetischen und religiösen Empfindens hinein“ erstreckt.[76] Weber, Objektivität, S. 30 und 38 f.
4
Ebd., S. 44 und 39.
Aus solchen methodischen Randbemerkungen werden im Laufe der Dekade vor dem Weltkrieg eigenständige kunstthematische Problemgebiete. Sie kulminieren in der provisorisch fixierten Musik-Studie, schließlich im Plan einer „Soziologie der Cultur-Inhalte“, deren „erste[r] Versuch“ – so Marianne Weber – die Musik-Studie darstellt.
5
Von dieser „alle Künste umfassenden Soziologie“, Weber, Marianne, Lebensbild, S. 349.
6
die er nach Fertigstellung seiner Beiträge zum „Grundriß der Sozialökonomik“ verwirklichen will, unterrichtet Weber Ende 1913 seinen Verleger Paul Siebeck; „Später hoffe ich Ihnen dann einmal eine Soziologie der Cultur-Inhalte (Kunst, Litteratur, Weltanschauung) zu liefern, außerhalb dieses Werkes [des Grundrisses] oder als selbständigen Ergänzungsband.“ Ebd., S. 507.
7
Die Hervorhebung weist – gleichzeitig abgrenzend und Bezug nehmend – auf die „Grundriß“-Beiträge, die durch ihre „geschlossene soziologische Theorie und Darstellung […] alle großen Gemeinschaftsformen“, alle „Strukturformen“ des „Gemeinschaftshandelns“ zur Wirtschaft in Beziehung setzen. Brief Webers an Paul Siebeck vom 30. Dezember 1913, MWG II/8, S. 450.
8
Die arbeitsteilige Trennung von Kul[77]tursoziologie und „Wirtschaft und Gesellschaft“ hindert Weber jedoch nicht daran, die Musik-Studie einerseits, die religions-, herrschafts- und rechtssoziologischen „Grundriß“-Beiträge andererseits mehrfach thematisch aufeinander zu beziehen. Schließlich gibt die Musik-Studie ihrerseits Impulse für die übergreifende universalhistorisch-vergleichende Frage nach der „Entstehung des abendländischen Bürgertums“, die Weber resümierend für seine religionssoziologischen Studien in der „Vorbemerkung“ formuliert. Ebd., S. 449. Mehrfach unterscheidet Weber in „Wirtschaft und Gesellschaft“ beide Bereiche, so etwa im Text „Hausgemeinschaften“, MWG I/22-1, S. 114: „An dieser Stelle ist dabei nicht die Beziehung der Wirtschaft zu den einzelnen Kulturinhalten (Literatur, Kunst, Wissenschaft usw.), sondern lediglich ihre Beziehung zur ,Gesellschaft‘, das heißt in diesem Fall: den allgemeinen Strukturformen menschlicher Gemeinschaften zu erörtern“. Daß er Formen und Inhalte voneinander getrennt wissen wollte, wird noch einmal in dem von ihm und dem Verlag im Juni 1914 veröffentlichten [77]„Vorwort“ zum ersten Band des „Grundrisses“ deutlich, in dem er die „materiale ökonomische Kultursoziologie“ einem eigenen „Beiheft“ vorbehalten wissen will (Vorwort, in: Grundriß der Sozialökonomik, Abteilung I.: Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1914, S. VII). Gleichwohl hat Marianne Weber die Studie über Musik 1925 „Wirtschaft und Gesellschaft“ einverleibt, siehe dazu den Editorischen Bericht, unten, S. 137 f.
9
Weber, Vorbemerkung, in: GARS I, S. 10 (MWG I/18).
1. Leipziger Sozialpsyche und Energieersparnis
In den Jahren 1909 und 1910 verknüpft Weber erstmals seine angestammten sozialökonomischen Fragen mit kultur- und musikimmanenten. Auch weitet sich sein Blick zum universalhistorischen. Einen äußeren Anstoß dazu liefert Karl Lamprecht mit der Gründung seines „Königlich Sächsischen Instituts für Kultur- und Universalgeschichte bei der Universität Leipzig“ im Jahre 1909.
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Der Leipziger Kulturhistoriker will mit dem Institut die „moderne Geschichtswissenschaft vergleichender Art“, gestützt auf ihre „grundlegenden Wissenschaften“ der „Psychologie“ und „gewisse Richtungen der neueren Soziologie“, im Forschungs- und Lehrbetrieb verankern. Thematisch geht es dabei um die „Entwicklung einer Anzahl besonderer geschichtlicher Disziplinen für Politik und Verfassung, für Wirtschaft und Recht, für Kunst und Dichtung, für Weltanschauung und Wissenschaft“, wobei zunächst der „isolierende Verlauf der einzelnen Kulturzweige innerhalb eines gegebenen nationalen Ganzen“ dargelegt und dann die „weite Vergleichung der nationalen Entwicklungen unter- und gegeneinander bis tief hinein in letzte universalgeschichtliche Probleme“ vorgenommen werden soll. Siehe dazu Lamprecht, Karl, Das Königlich Sächsische Institut für Kultur- und Universalgeschichte bei der Universität Leipzig. Rede, gehalten bei der Eröffnung des Instituts am 15. Mai 1909. – Leipzig: Röder & Schunke 1909.
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Noch 1902, im kunst- und musikthematischen [78]Ergänzungsband seiner „Deutschen Geschichte“, hält Lamprecht seinen Kollegen vor, sowohl die „besonderen“, abseits der normalen (politischen) Geschichtsschreibung angesiedelten Disziplinen der Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte als auch universalhistorische Fragestellungen zu ignorieren. Ders., Zur universalgeschichtlichen Methodenbildung, in: Abhandlungen der philologisch-historischen Klasse der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Band 27. – Leipzig: B. G. Teubner 1909 (hinfort: Lamprecht, Methode) S. 38 f.; ders., Rede (wie vorherige Anm.), S. 12 und 14.
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Sieben Jahre später räumt er ein, daß die „Hypothesenbildung in unserem Falle [einer universell ausgerichteten Kulturgeschichte] aber besonders erschwert ist. Denn das Material, auf das sie sich bezieht, ist ungeheuerlich“, so daß „auch nicht im entferntesten daran zu denken [sei], daß es ein einziger menschlicher Verstand jemals im einzelnen auch nur einigermaßen beherrsche.“[78] In seiner Tonkunst (wie oben, S. 75, Anm. 2), S. 62, fragt Lamprecht: „[…] haben solche Forschungen schon mehr als begonnen? Und kümmern sich unsere Historiker etwa zumeist um diese Dinge? Nein – die müssen innerhalb des engen Bereichs der europäischen und womöglich gar nur innerhalb der eigenen nationalen Geschichte ,individuell‘ verfahren, nach den Königen auch die Minister, Gesandten und andere Kärrner, nach den Malerfürsten auch die Farbenreiber ins Auge fassen und Geschichten schreiben statt Geschichte“. Webers Randbemerkung in seinem Handexemplar hierzu: „Illegale Übertragung auf ganz andre Probleme“; gemeint ist wohl Lamprechts (gegen Weber gerichtete?) Ablehnung einer „individuell“ statt entwicklungsgeschichtlich verfahrenden Kulturwissenschaft.
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Lamprecht, Methode (wie oben, S. 77, Anm. 11), S. 36 f.
Ebenfalls 1909 hält Max Weber es für „zunehmend unvermeidlich“, daß „Vertreter ,kulturwissenschaftlicher‘ Disziplinen“, insbesondere der sich neu etablierenden „Soziologie“, mit den „eigenen Begriffsbildungen auf Grenz- und Nachbargebieten“ „experimentieren“.
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Auch wenn er nicht explizit auf Lamprechts Institutsgründung reagiert – grundsätzlich verfolgt er die Arbeiten des Leipziger Kulturhistorikers über die Jahre hinweg mit Kopfschütteln Weber, „Energetische“ Kulturtheorien, S. 596 f. In „Wissenschaft als Beruf“ kommt Weber im Kontext der Problematik der Wissenschaftsspezialisierung auf Arbeiten zu sprechen, „welche auf Nachbargebiete übergreifen, wie wir sie gelegentlich machen, wie gerade z. B. die Soziologen sie notwendig immer wieder machen müssen“ (MWG I/17, S. 20).
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–, so wird man es kaum Zufall nennen können, [79]daß zur selben Zeit seine kultursoziologischen Interessen erwachen, und zwar zunächst in jenen Bereichen Kunst, Musik und Literatur, die auch Lamprechts „Ergänzungsband“ zur „Deutschen Geschichte“ strukturieren. Siehe dazu Weber, Roscher und Knies I, S. 7 f., Fn. 2, S. 22, Fn. 2, S. 24 f., Fn. 5; dass. II, S. 98 f., 103; ders., „Energetische“ Kulturtheorien, S. 588, Fn. 3, S. 590; ders., PE II, S. 45, Fn. 79a, sowie den Brief Webers vom 20. Januar 1906 an Willy Hellpach (MWG II/5, S. 25). Näheres zum Verhältnis Weber-Lamprecht bei Whimster, Sam, Die begrenzten Entwicklungsmöglichkeiten der Historischen Soziologie im „Methodenstreit“: Karl Lamprecht und Max Weber, in: Max Weber und seine Zeitgenossen, hg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schwentker. – Göttingen; Vandenhoeck & Ruprecht 1988, S. 380–402, ferner bei Ay, Leipzig (wie oben, S. 38, Anm. 3), S. 156–159, und Lichtblau, Klaus, Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland. – Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996 (hinfort: Lichtblau, Kulturkrise), S. 194–203.
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Versteht man die Musik-Studie als erstes, breiter konzipiertes Ergebnis der kultursoziologischen Pläne, so ist in ihr nicht nur der methodische Reflex – Webers strikte Ablehnung der Lamprechtschen „psychischen Seinskategorien“ und des „seelischen Charakters“ einer „Nation“, eines „Volkes“ oder „Zeitalters“ – evident.[79] Wobei die privaten Anregungen insbesondere auf dem Terrain der Musik durch Mina Tobler, die Weber zur selben Zeit kennen lernt, ebenso hoch zu veranschlagen sind, siehe dazu oben, S. 16 f.
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Auch und gerade ihr universalhistorischer Anspruch – der weitreichendste im gesamten Schaffen – auf der Basis einer streng empirisch arbeitenden Tonphysik, Musikethnologie und Musikhistorie erlaubt es, das Werk als Antwort bzw. Gegenentwurf zu Lamprechts Leipziger Konzept von „Kulturgeschichte“ von 1909 zu verstehen – wie überhaupt Lamprechts Institutsgründung Weber zusätzlich motiviert haben dürfte, ab 1909 im eigentlichen Sinne „universalhistorisch“ zu arbeiten. Zu Webers Kritikpunkten vgl. oben, S. 75, Anm. 2. Friedrich Tenbruck, Die Genesis der Methodologie Max Webers, in: KZfSS, Band 11, 1959, S. 573–630, hier S. 627, Anm. 12, sieht Webers „musiksoziologische[n] Versuch […] nicht zufällig in seinem Bemühen, die Entwicklung rein rational zu verstehen, von Lamprechts […] Anliegen [kontrastieren], die musikalische Entwicklung als Moment des Wandels des Zeitgeistes zu verstehen.“
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Schließlich ist es die Frage des Selbstverständnisses der neu sich etablierenden „Soziologie“ respektive „Kultursoziologie“, die Max Weber wenn nicht nur, so doch auch in Konkurrenz zu Lamprecht motiviert, eigene Wege zu gehen, und zwar wiederum in Abgrenzung bzw. Anlehnung an die gleichzeitigen kultursoziologischen Hei[80]delberger Unternehmungen seines Bruders Alfred und des befreundeten Georg von Lukács. Zwar spricht Weber bereits 1904, in: Objektivität, S. 47 f., von der geplanten Analyse „des uns umgebenden sozialen Kulturlebens in seinem universellen […] Zusammenhange“, und 1906, in: Kritische Studien, S. 178 f., von einer „Universalgeschichte der Genesis der heutigen Kultur“, also der „gesamte[n] ,moderne[n]‘, d. h. unsere[r] von Europa ,ausstrahlende[n]‘ christlich-kapitalistisch-rechtsstaatliche[n] ,Kultur‘ in ihrem Gegenwartsstadium“, aber dies bleibt noch Absichtserklärung bzw. historiographische Begriffsklärung in der Auseinandersetzung mit Eduard Meyer. 1909 hingegen, in: Agrarverhältnisse3, legt Weber erstmals eine Abhandlung vor, die den Horizont des europäischen Kulturkreises überscheitet und Vorderasien, insbesondere Mesopotamien, Ägypten und das antike Israel miteinbezieht. In den nächsten beiden Jahren beginnt er mit Vorarbeiten zu den Abhandlungen über die „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ (MWG I/19 bis 21) und zu den ebenfalls universalhistorisch ausgerichteten Einzelsoziologien von „Wirtschaft und Gesellschaft“, Webers Beitrag zum Sammelwerk des „Grundrisses der Sozialökonomik“ (MWG I/22 und 23). Näheres dazu im Anschluß.
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[80] Alfred Weber hält, wie ders., Prinzipielles zur Kultursoziologie (Gesellschaftsprozeß, Zivilisationsprozeß und Kulturbewegung), in: AfSSp, Band 47, 1920/21, S. 1–49, hier: Vorbemerkung, S. 1, rückblickend erwähnt, im Wintersemester 1909/10 in Heidelberg eine einführende Vorlesung zur Kultursoziologie; 1912 hält er auf dem Zweiten Deutschen Soziologentag den Eröffnungsvortrag „Der soziologische Kulturbegriff“, in: Verhandlungen 1912, S. 1–20, und 1913 beginnt er mit der Herausgabe einer kultursoziologischen Schriftenreihe, siehe dazu Staudinger, Hans, Individuum und Gemeinschaft in der Kulturorganisation des Vereins (Schriften zur Soziologie der Kultur, hg. von Alfred Weber, Band 1, mit einem Geleitwort von Alfred Weber). – Jena: Eugen Diederichs 1913. Eine Besprechung dieses Werkes, insbesondere des Geleitwortes, verfaßt Georg von Lukács, Zum Wesen und zur Methode der Kultursoziologie, in: AfSSp, Band 39, 1915, S. 216–226. Lukács pflegt mit beiden Weber-Brüdern engen Kontakt und diskutiert insbesondere mit Max Weber seine kunstphilosophischen und literatursoziologischen Schriften, vgl. dazu Georg Lukács, Briefwechsel 1902–1917, hg. von Éva Fekete und Éva Karádi. – Stuttgart: J. B. Metzler 1982, S. 320 f., 362–372, 376 f.; siehe auch den Brief Ernst Blochs an Lukács vom 16. August 1916, ebd., S. 375: „[…] muß ich Dich fragen: wie kann […] dieser Mann [Max Weber] mit Dir auch geistig so intim stehen?“, siehe dazu auch oben, S. 16, Anm. 53. Näheres bei Karádi, Weber-Kreis (wie oben, ebd.), S. 689–702, sowie Braun, Musiksoziologie (wie oben, S. 16, Anm. 53), S. 72–78; zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext bei Lichtblau, Kulturkrise (wie oben, S. 78, Anm. 15), bes. S. 178–279.
Seine kultursoziologischen Unternehmungen beginnt Weber gewissermaßen negativ. Im September 1909 unterzieht er – als abschreckendes Beispiel dafür, wie eine Kultursoziologie nicht geschrieben werden sollte – die sogenannten „energetischen“ Kulturtheorien Wilhelm Ostwalds und Ernest Solvays einer sarkastischen Kritik.
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Ihre Versuche, Kulturerscheinungen vom naturwissenschaftlich-technologischen Gesichtspunkt aus zu betrachten, nennt er ein „tolles“ Dreschen von „leerem Stroh“ mit mathematischen Formeln, mit denen „rein naturwissenschaftlich geschulte Technologen die ,Soziologie‘ vergewaltigen“. Schlichtweg „Unfug“ ist ihm Ostwalds Idee, vom „sozioenergetischen“ Effizienz-Standpunkt der Energieersparnis respektive zweckrationalen Energieverwertung aus Kultur im allgemeinen, Kunst im besonderen zu betrachten, ebenso wie Solvays Ansinnen, Musik auf den „potentiellen Gewinn“ der von ihr bewirkten körperlichen Oxydations- bzw. Verdauungsprozesse hin zu untersuchen. Weber, „Energetische“ Kulturtheorien, (Besprechung von) Ostwald, Wilhelm, Energetische Grundlagen der Kulturwissenschaft. – Leipzig: W. Klinkhardt 1909 (hinfort: Ostwald, Grundlagen); Solvay, Ernest, Formules d’introduction à l’Energétique physio- et psycho-sociologique (Travaux de l’Institut de Sociologie: Notes et Mémoires, No. 1). – Bruxelles und Leipzig: Misch et Thron 1906. Ostwald widmet seine Grundlagen Ernest Solvay, dem „Begründer der soziologischen Energetik“.
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Doch nicht nur Ost[81]walds und Solvays normativ-monistischer Energie-Maßstab erscheint Weber 1909 als kulturwidersinnig; in ihrer Absicht, letztlich eine „‚rationale‘ Definition von Kunstzwecken“ zu geben, seien beider Vorgänger – „z. B. Comte, Proudhon, Tolstoi – ganz ebenso banausisch […], aber doch nicht so blindlings zu Werke gegangen“ wie Ostwald und Solvay. Weber, „Energetische“ Kulturtheorien, S. 579 f., Fn. 1, S. 576 f. Entsprechend seiner Definition von Wissenschaft als „Technik des systematischen Voraussagens oder [81]Prophezeiens“ nennt Ostwald, Grundlagen (wie die vorherige Anm.), S. 169 f., „auch die Kunst“ eine Wissenschaft, „denn ihre ganze Ausübung beruht auf der Voraussicht der zu erzielenden Wirkungen. Der Musiker weiß genau, durch welche Besonderheiten seines Vortrages er seine Hörer rühren oder hinreißen kann.“
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Weber, „Energetische“ Kulturtheorien, S. 590, bezieht sich wohl auf Comte, Auguste, Système de politique positive ou Traité de Sociologie, 1er part. Discours préliminaire et introduction fondamentale. – Paris: Mathias 1851, und Proudhon, Pierre-Joseph, Du principe de l’art et de sa destination sociale, hg. von Théophile Thoré. – Paris: Dalmont 1865, die – beide auf ihre Art – Kunst zum sozialen Integrationsmittel, Künstler zu Propagandisten des Fortschritts, allgemein: eines vorgegebenen gesellschaftlichen Zwecks, erklären. Vor allem wird Weber Leo N. Tolstoj’s Schrift: Was ist Kunst? in: Sämtliche Werke, Band 10, hg. von Raphael Löwenfeld. – Leipzig, Jena: Eugen Diederichs 1911, insbesondere dessen Kritik an Wagners „Ring“: ein „sinnloses, grobes, falsches Werk“, das „Millionen bei seiner Aufführung koste“ (Tolstoj, ebd., S. 203), „banausisch" erschienen sein. Tolstojs moralisierende Ansicht: „Je mehr wir uns dem Schönen ergeben, desto weiter entfernen wir uns von dem Guten“ (Was ist Kunst?, S. 94) hat Weber zur zentralen Aussage in „Wissenschaft als Beruf“ provoziert: „Wenn irgend etwas, so wissen wir es heute wieder: daß etwas heilig sein kann nicht nur: obwohl es nicht schön ist, sondern: weil und insofern es nicht schön ist, […] und daß etwas schön sein kann, nicht nur: obwohl, sondern: in dem, worin es nicht gut ist, das wissen wir seit Nietzsche wieder, und vorher finden Sie es gestaltet in den ,fleurs du mal‘, wie Baudelaire seinen Gedichtband nannte […]“ (MWG I/17, S. 99 f.).
2. Technik, Eigengesetzlichkeit und Kultur
Auch wenn Weber 1909 betont, daß er „guten Grund [habe], nicht mit Steinen nach Leuten zu werfen, welche bei Überschreitung ihres engsten Fachgebietes einige faux pas machen“,
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so zeigt die Art, wie er die Leipziger kultursoziologischen Pläne als „rein dilettantisch“ und „banausisch“ [82]hinstellt, Weber, „Energetische“ Kulturtheorien, S. 596. Ostwald, der einer der Reisegenossen Webers zur Weltausstellung und Kongreß „aller Künste und Wissenschaften“ 1904 in St. Louis ist und sich während des USA-Aufenthaltes von Ferdinand Tönnies eine „Einführung in soziologisches Denken“ geben läßt, zeigt sich scheinbar unbeeindruckt von der Kritik an seinen „Energetischen Grundlagen“: „Wie ich es schon gewohnt war, fanden die neuen Gedanken seitens der Fachgelehrten einen unfreundlichen Empfang. Einige ,vernichtende‘ Kritiken namhafter Soziologen überzeugten mich völlig von der Notwendigkeit meiner Arbeit, so unfähig erwiesen sich diese Kritiker, deren Voraussetzungen und Inhalt zu verstehen“ (Ostwald, Wilhelm, Lebenslinien. Eine Selbstbiographie, dritter Teil: Groß-Bothen und die Welt 1905–1927. – Berlin: Klasing & Co 1927, S. 327; zu Tönnies siehe ebd., S. 397 f.).
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ein starkes Selbstbewußtsein des Kritikers in Sachen Kunst. „Positiv“ manifestiert sich dieses Selbstbewußtsein erstmals im Oktober 1910 auf dem von ihm mitinitiierten Ersten Deutschen Soziologentag in Frankfurt am Main. Darum bemüht, „bei dem schwankenden Inhalt des Begriffes ,Soziologie‘“ die gerade begründete „Gesellschaft mit diesem bei uns unpopulären Namen“ durch „ganz konkrete Angaben über ihre derzeitige Konstitution und ihre derzeitigen nächsten Aufgaben erkennbar zu machen“,[82] Weber, „Energetische“ Kulturtheorien, S. 580 und 590. Ostwalds Schrift nennt er, ebd., S. 597, eine „kleine Mißgeburt“ mit „zahllosen grotesken Entgleisungen“, um dann, ebd., S. 590 f., für Ostwald wie für Lamprecht zu resümieren: „In Leipzig scheint das Mißverhältnis obzuwalten, daß z. B. Lamprecht für wissenschaftliche Zwecke erheblich zu viel, Ostwald dagegen – ganz unbeschadet aller seiner Verdienste um die chemische Analyse der Farbstoffe für die Malerei – etwas zu wenig Fühlung mit der Kunst besitzt und daß, einer fatalen Eigenart der ,psychischen Energie‘ entsprechend, der ,Ausgleich‘ dieser Intensitätsdifferenzen trotz der zweifellos häufigen ,Berührung‘ nicht recht zustande kommen will“.
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widmen sich die Vertreter der neuen Disziplin zunächst der Beziehung von „Technik und Kultur“, also jenem „großen Problemgebiet“, das schon Webers Auseinandersetzung mit den Leipziger „Kulturologen“ und ihrem technologisch-naturalistischem Kultur- und Kunstverständnis zugrundeliegt. Weber, Geschäftsbericht, in: Verhandlungen 1910, S. 39–62 (MWG I/13; hinfort: Weber, Geschäftsbericht), hier S. 39.
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Das Hauptargument, das Weber diesen 1909 entgegenhält: „Fatal – daß die ,Kunst‘ gerade da anfängt, wo die ,Gesichtspunkte‘ des Technikers aufhören! Aber vielleicht steht es mit dem, was man ,Kultur‘ nennt, überhaupt und überall so?“ Ostwald, Grundlagen (wie oben, S. 80, Anm. 20), S. 3, versteht seine Abhandlung als „Grundlegung der Soziologie vom Standpunkt der Energetik aus“. Im Vorwort spricht er synonym von „kulturologischer Energetik“, S. 114 von „Kulturologie“ als „höchster und besonderster“ aller Wissenschaften, die im logisch geschlossenen und hierarchischen „Bau der Wissenschaften“ den obersten Rang einnimmt. Dies wiederum hält Weber, „Energetische“ Kulturtheorien, S. 596 und 585 f., für „eine Folge der verfehlten“ und „längst veraltete[n]“ „Comteschen Wissenschaftsschematik“. Im übrigen will Weber noch 1909, da er glaubt, der Soziologentag würde in Leipzig stattfinden, Lamprecht und Ostwald zur Versammlung einladen, wobei er in einem Brief vom 8. Mai 1909 an Heinrich Herkner (MWG II/6, S. 116) bekundet: „Vor Ostwald’s ,energetischer Soziologie‘ graut mir stark, – aber wenn er reden wollte, so müßte man ihn doch wohl, um Verstimmungen zu vermeiden, zu Worte kommen lassen, d. h. also angesichts seiner sonstigen Bedeutung, fragen.“
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– dieses Argument konterkariert Werner Sombart in Frankfurt in seinem Eröffnungsvortrag, in welchem er „Wirkungen, die die Technik auf die Kultur hervorbringt“, darlegt und dabei neben der „modernen Verkehrstechnik“ die „Entwickelung der Instrumentaltechnik“ als zentrale kausale Bedingungsfaktoren moderner Kunst [83]respektive Musik in Rechnung stellt. Weber, „Energetische“ Kulturtheorien, S. 591.
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Webers Kommentar ist – wiederum – eine herbe Kollegenschelte,[83] Sombart, Werner, Technik und Kultur, in: Verhandlungen 1910, S. 63–83, Zitate S. 67, 69 und 78 (hinfort: Sombart, Technik). Allgemein zeichne sich die „heutige künstlerische Kultur“ durch eine „außerordentliche Massenhaftigkeit der Produktion“ aus, die „natürlich engstens mit der Entwickelung unserer Technik verbunden“ ist (ebd., S. 71). Im besonderen habe z. B. das Motiv der Verschollenheit von Personen in der vormodernen Literatur „zur Voraussetzung das Nichtvorhandensein unserer modernen Verkehrstechnik“. Die „klassische Musik“ wiederum sei „noch für einen intimen Kreis erzeugt worden“, während „die moderne Musik“ „pour tout le monde [schreibt] und dieser monsieur tout le monde ist entweder aus der Großstadt erwachsen oder ist durch die modernen Verkehrsmöglichkeiten entstanden“ (ebd., S. 72 f.). Schließlich sei die Gegenwartsmusik „schon seit Richard Wagner, seit Richard Strauß“ eine „Parallel-Erscheinung zur Entwickelung der modernen Technik“ insofern, als die Unterschiede ihrer „Klangwirkung“ verglichen mit derjenigen Beethovens „eine technische Unterschiedlichkeit“ sei: „Es sind andere Instrumente, aus denen heraus geblasen wird, insbesondere die Entwickelung der Holzbläser gehört hierher, um die moderne Musik verständlich zu machen“ (ebd., S. 74).
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motiviert wohl nicht zuletzt durch manche plakativen Äußerungen Sombarts, wonach der „Lärm der modernen Musik mit dem Lärm der modernen Großstadt“ und „gelassene Musik mit der Ruhe der Kleinstadt“ korrespondiere. Weber im Brief vom 27. Oktober 1910 an Franz Eulenburg (MWG II/6, S. 655): „Sombarts Referat war ein Feuilleton. Die Debatte durchweg auf ganz niedrigem Niveau (mich eingeschlossen: man kann ja da nichts Ernstliches anschneiden)“.
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Vor allem aber offenbart Webers Diskussionsbeitrag, gerade auch durch die Betonung seines „gegenwärtigen, freilich ganz provisorischen Standpunkt[es]“, der ihn mitunter ein „nach Lage unsrer Kenntnis“ und „mir fehlt das Urteil“ einräumen läßt, wie tief sich der Heidelberger Universalgelehrte inzwischen in die Thematik der geplanten Kultursoziologie – hier: der „ästhetischen Evolution“ – eingearbeitet hat. Sombart, Technik (wie Anm. 28), S. 73. Sombart lehnt vor allem Richard Strauss’ Schaffen ab – dessen „Hauptvergnügen ist es, wenn er ein ausgefallenes Instrument in sein Symphonium eingliedern kann“ (ebd., S. 74) – und stellt es, wie der Aufsatz-Fassung seines Vortrages: Sombart, Werner, Technik und Kultur, in: AfSSp, Band 33, 1911, S. 305–347 (hinfort: Sombart, Aufsatz), hier S. 343, zu entnehmen ist, der „wahrhaft klingende[n] und singende[n] Musik“ der „Wiener Klassik“ entgegen.
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Bereits das Spektrum der angesprochenen Themen von der „modernen naturalistischen Kunst“ über die Lyrik Stefan Georges und Émile Verhaerens, „gewisse[n] formale[n] Werten der modernen Malerei“, „in der Geschichte der Baukunst […] der Übergang zum gotischen Stil“ [84]bis hin zur „Musikgeschichte“ mit dem besonderen Augenmerk der Instrumentalentwicklung verweist auf die geplante „Soziologie der Cultur-Inhalte“, deren Themenbereiche Weber hier in nuce vorstellt bzw. kurz anspricht. Weber, Verhandlungen 1910 (Sombart), S. 97 f. Schon allein die Bemerkung, ebd., S. 99: „Inwieweit die von Sombart herangezogene Musikgeschichte geeignete Beispiele ähnlicher Art [zur immanenten Gesetzlichkeit der musikalischen Ausdrucksmittel] bieten würde, ist wohl fraglich“, zeigt den hohen musikthematischen Kenntnisstand Webers.
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[84] Ebd., S. 97–100, Zitate: S. 98 f.
Bezeichnenderweise interessiert sich Weber im Unterschied zu Sombart nicht nur bzw. nicht so sehr für die „Abhängigkeit der künstlerischen Entwicklung von den allgemeinen, außerkünstlerischen, technischen Bedingung des Lebens“, sondern in erster Linie für kunstimmanente Technik-Fragen, für das „spezifisch Künstlerische“ des Problems: „inwieweit [sind] zufolge ganz bestimmter technischer Situationen formale ästhetische Werte auf künstlerischem Gebiet entstanden“? und vor allem: worin zeigt sich die „Abhängigkeit der Entwicklung einer Kunst von ihren technischen Mitteln“?
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Entsprechend lautet die disziplinäre Arbeitsteilung hinsichtlich des „Culturinhaltes“ Musik: den außerkünstierischen, von Sombart bevorzugten Blick rechnet Weber der „Musiksoziologie“ zu, die sich der „Frage nach der Beziehung zwischen dem ,Geist‘ einer bestimmten Musik und den das Lebenstempo und die Lebensgefühle beeinflussenden allgemeinen technischen Unterlagen unseres heutigen, zumal wiederum unseres großstädtischen Lebens“ widmet; in das Gebiet der „Musikgeschichte“ hingegen gehöre die „Frage der Beziehung zwischen künstlerischem Wollen und musiktechnischem Mittel“. Ebd., S. 99 und 97.
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Die (kultur-)soziologischen Bemerkungen, die Weber selbst in Frankfurt zum Verhältnis von moderner Lyrik und Malerei und dem wesentlich durch die moderne Technik geprägten großstädtischen Lebensgefühl macht, Ebd., S. 100.
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verfolgt er eigenartigerweise in den [85]folgenden Jahren nicht weiter. So bleibt diese Kultursoziologie im engeren bzw. Gegenwarts-Sinn ungeschrieben, die begrifflich mit den bereits im „Protestantismus-Kapitalismus“-Aufsatz erprobten „Wahlverwandtschafts“- und idealtypischen „Geist“-Analysen gearbeitet und das großstädtische Lebensgefühl mit dem „Geist“ moderner Kunst, Musik, Literatur und Malerei in „Adäquanzbeziehungen“ gesetzt hätte. So glaubt Weber, Verhandlungen 1910 (Sombart), S. 98, daß „ganz bestimmte formale Werte in unserer modernen künstlerischen Kultur allerdings nur durch die Existenz der modernen Großstadt […] geboren werden konnten“ – „der modernen Großstadt mit Trambahn, mit Untergrundbahn, mit elektrischen und anderen Laternen, Schaufenstern […], und all dem wilden Tanz der Ton- und Farbenimpressionen, den auf die Sexualphantasie einwirkenden Eindrücken und den Erfahrungen von Varianten der seelischen Konstitution, die auf das hungerige Brüten über allerhand scheinbar unerschöpfbare Möglichkeiten der Lebensführung und des Glückes hinwirken […]. Teils als Protest, als spezifisches Fluchtmittel aus dieser Realität; – höchste ästhetische Abstraktionen oder tiefste Traum- oder intensivste Rausch-Formen, teils als Anpassung an sie: – Apologien ihrer eignen phantastischen berauschenden Rhythmik.“ Während Weber moderne Lyriker wie Stefan George oder Émile Verhaeren und auch „die moderne Malerei“ als Ausdruck dieses wesentlich durch die moderne Technik geprägten großstädtischen Lebensgefühls anführt, verneint er dies im Gegensatz zu Sombart für die moderne Musik, insbesondere für Richard Strauss: „Ob […] das innere Bedürfnis nach dieser spezifisch modernen Art der musikalischen Aussprache und ob der zugleich sinnlich-emotionale und intellektualistische Charakter dieser tonmalerischen Musik, der doch das Entscheidende ist, als ein Produkt technischer Situationen [85]verstanden werden darf, das will mir allerdings äußerst fraglich erscheinen […]“ (ebd., S. 100). Zu dem als pathogen empfundenen Lebenstempo der Großstädte der Jahrhundertwende siehe Radkau, Joachim, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, bes. S. 309 ff.
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Ob diese Abstinenz in der brüderlichen bzw. kollegialen Arbeitsteilung mit Alfred Weber, Georg Simmel, Werner Sombart, Willy Hellpach, Georg Lukács oder Wilhelm Hausenstein, die sich zeitgleich oder schon in den Jahren zuvor auf jeweils ihre Art dem „großstädtischen Lebensgefühl und Lebenstempo“ bzw. dem modernen bürgerlichen Lebensstil und seiner Auswirkungen auf die moderne Kunst zuwenden, Zu ihrem möglichen Konzept (in Anlehnung an die Frankfurter Ausführungen) und zu Webers detaillierten Kenntnissen der zeitgenössischen Kunst und Literatur siehe Braun, Musiksoziologie (wie oben, S. 16, Anm. 53), S. 62–94, und Weiller, Edith, Max Weber und die literarische Moderne. Ambivalente Begegnungen zweier Kulturen. – Stuttgart und Weimar: J. B. Metzler 1994.
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begründet ist, oder in der schwierigen empirischen Fundierung dieser soziologischen bzw. sozialpsychologischen Begrifflichkeit Siehe etwa Georg Simmel, Soziologische Ästhetik (1896), in: GSG 5, S. 197–214; ders., Die Großstädte und das Geistesleben (1903), in: GSG 7, S. 116–131; ders., Philosophie der Mode (1905), in: GSG 10, S. 7–37; ders., Philosophie des Geldes (1900), Kapitel 6: Der Stil des Lebens, in: GSG 6, S. 591–654; Werner Sombart, Wirtschaft und Mode. Ein Beitrag zur Theorie der modernen Bedarfsgestaltung. – Wiesbaden 1902; ders., Ihre Majestät die Reklame, in: Die Zukunft, Jg. 63, 1908, S. 475–487: ders., Technik und Kultur (Aufsatz) (wie oben, S. 83, Anm. 30), ders., Luxus und Kapitalismus (Studien zur Entwicklungsgeschichte des modernen Kapitalismus, Band 1). – München und Leipzig: Duncker & Humblot 1913; Willy Hellpach, Nervosität und Kultur. – Berlin 1902; ders., Nervosität und Kunstgenuß, in: Die Zukunft, Jg. 39, 1902, S. 102–112 und 144–153 (zur Korrespondenz Webers mit Hellpach, dessen Schriften er „hervorragend“ findet, siehe seine Briefe an Hellpach vom 27. Februar und 18. April 1906, in: MWG II/5, S. 40 und 80 f.); Wilhelm Hausenstein, Versuch einer Soziologie der bildenden Kunst, in: AfSSp, Jg. 36, 1913, S. 758–794; siehe auch – mit Blick auf die bildenden Künste – Emil Lederer, Aufgaben einer Kultursoziologie, in: Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, Band 2, hg. von Melchior Palyi. – München und Leipzig: Duncker & Humblot 1923, S. 148–171. Zu Alfred Weber und Georg Lukács siehe oben, S. 80, und die folgende Anm.
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oder aber einfach in der eigenen Interessenverlagerung: fest [86]steht, daß in den folgenden Jahren Webers kultursoziologisches Arbeiten – paradoxerweise – weniger die Frankfurter musiksoziologische, sondern jene „musikhistorische“ Vorgabe bestimmt. Die zwei Jahre nach dem Soziologentag konzipierte Musik-Studie und Webers explizite Ankündigung im Brief vom 5. August 1912 an die Schwester Lili Weber hat sich zweifellos, wie den Ausführungen des Soziologentages zu entnehmen ist (Weber, Geschäftsbericht (wie oben, S. 82, Anm. 25), S. 51; ders., Verhandlungen 1910 (Sombart), S. 100), Lukács’ spätere Kritik (Kultursoziologie (wie oben, S. 82, Anm. 19), S. 218) an Alfred Webers „Zurückgehen auf das ,Lebensgefühl‘“ zu eigen gemacht. Es sei – so Lukács – eine Kategorie, die „eine zu breite und darum teils nicht [86]genügend, teils subjektiv willkürlich individualisierte Grundlage für die Soziologie der Kultur [schafft]: ihrer empirischen Tatsachenforschung fehlt deshalb der leitende, Auswahl und Konstruktion regelnde Gesichtspunkt und ihre Zusammenfassungen bleiben erlebnishaft […]“. In seiner Entgegnung, in: AfSSp, Band 39, 1915, S. 223–226, hier S. 225, verteidigt Alfred Weber seinen Begriff als „die Bezeichnung eines vorintellektuellen Erlebniszentrums, das in jeder Zeit vorhanden ist, dessen einzelne Züge intellektuell nicht aufzuzählen sind, das aber in seinem Wesen intuitiv unmittelbar ergreifbar ist“.
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sind eindeutige Indizien für seine „musikhistorischen“ Pläne im Sinne der Frankfurter Ausführungen. Siehe dazu den Editorischen Bericht, unten, S. 129.
Ihnen gegenüber verschieben sich in der Musik-Studie allerdings die Akzente; auch weitet sich das Blickfeld zu einer fundamental neuen Einsicht. Die Akzentverschiebung zeigt sich darin, daß Weber auf dem Soziologentag noch dem persönlichen „künstlerischen Wollen“ die entscheidende Bedeutung beimißt, indem er die „erstaunlichen Experimente“ und „evolutionistisch größten Neuerungen“ Haydns, Beethovens, Berlioz’, Wagners und Strauss’ für „nicht etwa technisch motiviert“, sondern als „persönlichstes Eigentum“ erachtet; daher postuliert er als „Regel, daß das künstlerische Wollen sich die technischen Mittel zu einer Problem-Lösung gebiert“, denn was der Künstler „an ‚Technik‘ braucht und haben kann, schafft er sich, nicht aber die Technik ihm“
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– eine Ansicht, die durchaus mit der romantischen Genieästhetik konform geht und die zeittypisch z. B. auch Hugo Wolf gegenüber Berlioz’ Schaffen äußert. Weber, Verhandlungen 1910 (Sombart), S. 99 f. Weber muß sich, wie die Details, ebd., zeigen, bereits vor dem Soziologentag intensiv mit Instrumentalfragen beschäftigt haben: „Es läßt sich z. B. vielleicht – mir fehlt das Urteil – behaupten, daß Beethoven um deswillen ganz bestimmte Konsequenzen seiner eigenen musikalischen Auffassung nicht gewagt hat zu ziehen, weil die volle chromatische Tonleiter, wie sie die [modernen] Ventiltrompeten haben, den Blasinstrumenten zu seiner Zeit noch fehlte. Aber dieser Mangel war, wie Berlioz schon vor deren Erfindung bewies, technisch nicht absolut unüberwindbar und Beethoven selbst hat sich vor erstaunlichen Experimenten nicht gescheut, ihn zu überwinden, hat aber seine evolutionistischen größten Neuerungen ohne alle instrumental- und orchestraltechnischen Änderungen geschaffen.“
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Demge[87]genüber ist das – so Alois Riegls Begriff – „Kunstwollen“ Vgl. Wolf, Hugo, Über die Aufführung der „Symphonie fantastique" von Hektor Berlioz, in: ders., Musikalische Kritiken für das Wiener Salonblatt (1884–1887), hg. von R. Batka und H. Werner im Auftrag des Wiener akademischen Wagner-Vereins. – Berlin: 1911, S. 171 f.: „Der Kometenlauf des Genies läßt sich nicht in hergebrachte Bahnen lenken. Er schafft die Ordnung und erhebt seinen Willen zum Gesetze. Und Berlioz ist ein Genie.“
N
Bibliographisch nachweisbar ist das Zitat unter folgendem Titel: Hugo Wolf, Über die Aufführung der „Symphonie phantastique" von Hektor Berlioz, in: ders., Musikalische Kritiken. Im Auftrage des Wiener Akademischen Wagner-Vereins, hg. von Richard Batka und Heinrich Werner. – Leipzig: Breitkopf und Härtel 1911, S. 169–173, Zitat: S. 172 f.
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in der Musik-Studie kaum noch Thema; hier diskutiert Weber vielmehr die Entwicklung „musiktechnischer Mittel“, und zwar zunächst in ihrer „offensichtlichen“ Gestalt: als Musikinstrumente.[87] In seinem Werk: Stilfragen. Grundlegungen zu einer Geschichte der Ornamentik. – Berlin: G. Siemens 1893, hat Alois Riegl den Begriff des „Kunstwollens“ erstmals benutzt. Weber ist der 1905 im Alter von 47 Jahren verstorbene Wiener Kunsthistoriker, dessen überwiegende Werke erst aus dem Nachlaß in den Zwanziger Jahren bekannt werden (vgl. Riegl, Alois, Gesammelte Aufsätze (1894–1904), hg. von Karl Μ. Swoboda. – Augsburg, Wien: B. Filser 1929), 1913 noch unbekannt, wie seinem Brief vom 10. März 1913 an Georg Lukács zu entnehmen ist (MWG II/8, S. 116): „[Alois] Riegl und [Leo] Popper kenne ich nicht, zu meiner Schande sei es gesagt.“ Weber kommentiert hier das Manuskript des ersten Teils der „Heidelberger Philosophie der Kunst“, das ihm Lukács kurz zuvor zugeschickt hat, und in welchem dieser mehrfach auf jene beiden Kunsttheoretiker zu sprechen kommt, vgl. Lukács, Georg, Heidelberger Philosophie der Kunst (1912–1914). Aus dem Nachlaß hg. von György Márkus und Frank Benseler. – Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 1974, S. 37, 39 und 41. 1917 spricht Weber, Wertfreiheit, S. 68, wenn auch nicht explizit, so doch – von Lukács belehrt – in Riegls Sinn vom „Kunstwollen ganzer Epochen“, das ein überindividuelles geistiges Wollen einer Zeit meint; 1910 verwendet Weber den Begriff allerdings noch im individuell-persönlichen Sinn, vgl. Weber, Verhandlungen 1910 (Sombart), S. 100.
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Neu und für Webers übergreifende Fragestellung von zentraler Bedeutung ist dagegen die Analyse der rationalen „Mittel“ der Musik, die Weber in den kulturell und historisch unterschiedlichen Tonsystemen und den von Musiktheoretikern konzipierten Ge- und Verbotsregeln erblickt. Während er bis 1910 noch ausschließlich das „Technische“ und „Soziale“ respektive „Ökonomische“ als Bedingungsfaktoren von Kultur diskutiert, Explizit als „Mittel“ definiert Weber die Musikinstrumente im „Wertfreiheits“-Aufsatz und in der „Vorbemerkung“; in jenem wird nochmals die Akzentverschiebung deutlich, siehe dazu unten, S. 122.
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konzentriert sich die Musik-Studie, jedenfalls in ihrer provisorisch fixierten Gestalt, großteils auf das „Rationale“ als wesentliches Kriterium abendländischer Musik. Dem korrespondiert Marianne Webers Bemerkung von der um die Jahre 1910/11 gemachten „Ent[88]deckung“ ihres Mannes, „daß auch und gerade in der Musik […] die Ratio eine so bedeutsame Rolle spielt und daß ihre Eigenart im Okzident […] durch einen spezifisch gearteten Rationalismus bedingt ist“. Weber, Verhandlungen 1910 (Sombart), S. 100: „Es läßt sich feststellen, welchen Einfluß die bekannte plötzliche Entwicklung der Streichinstrumente, dann bei Bach die Orgel, auf den Charakter der Musik gehabt hat. Aber schon hier spielen andere als technische Dinge mit. Bedingungen soziologischen, zum Teil ökonomischen Charakters ermöglichten die Entwicklung des Haydnschen Orchesters.“ Seine Auseinandersetzungen mit Ostwald beendet Weber, „Energetische“ Kulturtheorien, S. 597 f., mit der „grundlegende[n] Erkenntnis“, „daß gewisse historisch gegebene und historisch wandelbare gesellschaftliche Bedingungen, d. h. Interessenkonstellationen bestimmter Art, es waren und sind, welche die Verwertung technischer ,Erfindungen‘ überhaupt erst möglich gemacht haben, möglich machen und möglich (oder auch: unmöglich) machen werden […]“.
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[88] Weber, Marianne, Lebensbild, S. 349, und dies., Vorwort zur zweiten Auflage, in: WuG2, S. VIII. Siehe dazu den Editorischen Bericht, unten, S. 127.
Nimmt man jene Trias des Rational-Technisch-Sozialen als Strukturierungsraster der Musik-Studie, so eröffnet deren provisorische Gestalt neue werkgeschichtliche Perspektiven. Weber hat der Trias folgend mit dem überlieferten ersten und zweiten Teil die „rationalen“ und „technischen“, jedoch noch nicht bzw. nur in kleinen Anmerkungen – verstreut in den beiden ersten Teilen – die „sozialen“ Grundlagen der Musik konzipiert. Vermutlich hat er diese „sozialen“ respektive „soziologischen“ Grundlagen einem eigenen dritten Teil vorbehalten wollen.
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Auch hierfür gibt der „Wertfreiheits“-Aufsatz Anhaltspunkte, siehe unten, S. 123.
Trotz bzw. auch mit der Akzentverschiebung und Horizonterweiterung erfährt die Musik-Studie wesentliche Impulse von den Frankfurter Ausführungen, und zwar unbeschadet der direkten instrumentaltechnischen Bezüge.
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Auf dem Soziologentag spricht Weber u. a. von den technischen „‚Bedingungen‘ […], mit denen, als gegeben, der Künstler zu ‚rechnen‘ hatte und zwar als mit Schranken.“ Beiderseitig – in Frankfurt wie in der Studie – erwähnt Weber Haydns musikhistorische Leistungen, wenn auch in Nuancen differenziert. In der Musik-Studie kommt er, unten, S. 258, auf die „drei modernen Streichinstrumente: Violine, Bratsche und Cello“ zu sprechen, „welche das spezifisch moderne Organ der Kammermusik, das Streichquartett, wie es Joseph Haydn endgültig konstituierte, vor allem aber auch den Kern des modernen Orchesters bilden“. Eine starke Ausweitung hat die „Orgel“ in der Musik-Studie erfahren, während sie in Frankfurt nur am Rande erwähnt wird (Weber, Verhandlungen 1910 (Sombart), S. 100). Umgekehrt verhält es sich mit den Blasinstrumenten. Während Weber in Frankfurt Details ihrer bautechnischen Entwicklung, insbesondere der Trompete bei Beethoven und Berlioz, diskutiert (ebd., S. 99 f.), erwähnt die Studie Blasinstrumente nur mehr beiläufig.
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Im Resümee des ersten, die (mehr oder minder) rationale Tonsystematik betreffenden Abschnitts der Studie greift Weber den Gedanken auf und faßt mit ihm die Beziehung von musikalischer Theorie und Praxis zusammen: „Was die ,Theorie‘ als solche anbelangt, so ist zwar nichts greifbarer, als daß sie den Tatsachen der musikalischen Entwicklung fast stets nachgehinkt hat. Aber deshalb ist sie nicht etwa einflußlos gewesen, und ihr Einfluß ist auch keineswegs etwa nur in die Wagschale des schon praktisch Bestehenden gefallen, so wahr es ist, daß sie die Kunstmusik wiederholt in lange nachgeschleppte Ketten geschlagen hat.“ Ebd., S. 100.
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Überdies zeigt der abschließende Satz des tonsyste[89]matischen Grundlagen-Teils: „Die Beziehung zwischen musikalischer Ratio und musikalischem Leben gehört zu den historisch wichtigsten variierenden Spannungsverhältnissen in der Musik“, den begrifflichen Wandel vom Soziologentag zur Studie: Was dort musikalische Technik bzw. musiktechnische Mittel heißt, das heißt nun „musikalische Ratio“, und was dort dem persönlichen „künstlerischen Wollen“ zugerechnet wird, das umfaßt nun die „lebendige Bewegung der musikalischen Ausdrucksmittel“ bzw. das „musikalische Leben“, das jene „Ketten“ der Theorie respektive der vorgegebenen technischen Ausdrucksmittel zu sprengen oder zumindest zu lockern sucht. Und: jene prinzipielle, überzeitliche Frankfurter „Regel“ von der Vorherrschaft des künstlerischen Wollens über die Ausdrucksmittel wird nun in eine historisch wandelbare und gleichgewichtigere Spannungsbeziehung umgedeutet. Unten, S. 253. Die „Theorie auf die Höhe des Verständnisses der Kunst der letzten beiden Jahrhunderte zu führen“, gilt Hugo Riemann, dem führenden Musiktheoretiker [89]in Webers Gegenwart, als „die große und schwere Aufgabe unserer Tage“, vgl. Riemann, Musiktheorie, S. VIII. Zu Webers Verständnis des Theorie-Praxis-Verhältnisses siehe unten, S. 102 f.
Grundlegend aber bleibt vor allem der Frankfurter Gedanke, daß die Entwicklung der „musiktechnischen Mittel“ wie die Entwicklung jeder Technik („auch wo sie künstlerischen Formungen dient“) einer „eigene[n] immanente[n] Gesetzlichkeit“ folgt.
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Die Erkenntnis einer vorwiegend „technisch bedingten“ bzw. „immanent rationalen“ „Eigengesetzlichkeit“ wird zum Konstituens für Webers gesamtes sozialwissenschaftliches Schaffen im letzten Lebensjahrzehnt, durchzieht sie doch das Projekt „Wirtschaft und Gesellschaft“ ebenso wie die Abhandlungen zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ und auch die geplante Kultur-Soziologie. So konstatiert er zu Beginn seiner Arbeiten an „Wirtschaft und Gesellschaft“ eine „eigengesetzlich bedingte Struktur des Gemeinschaftshandelns“, die ihn „immer wieder“ beschäftigen wird. Weber, Verhandlungen 1910 (Sombart), S. 99.
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Noch bedeutender ist der Gedanke der „Eigengesetzlichkeit“ für die Untersuchungen zur „Wirtschaftsethik“, insbe[90]sondere für deren 1913 bzw. 1915 verfaßte „Einleitung" und „Zwischenbetrachtung“, Die „Strukturformen des Gemeinschaftshandelns haben, wie wir immer wieder sehen werden, ihre ‚Eigengesetzlichkeit‘“, MWG I/22-1, S. 81. Die Erkenntnis der „eigengesetzlichen, d. h. technisch bedingten“ Formen sozialer Beziehungen (WuG1, S. 767, MWG I/22-4) findet sich in allen Teilsoziologien und Themenbereichen von WuG, insbesondere in den herrschaftssoziologischen Analysen der „bürokratischen Organisation“ mit ihrer „in ihrer technischen Struktur selbst liegenden ,Eigengesetzlichkeit‘“ (ebd., S. 677) und der „.Eigengesetzlichkeit' der Parteitechnik'' (ebd., S. 770). Oft rekurriert Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 168 (Zitat), 369 f., 388, auf die „höchst eigenwillige Eigengesetzlichkeit des Religiösen“; dort spricht er, ebd., S. 401, auch von der „immanenten rationalen Eigengesetzlichkeit“ der Justiz, vgl. dazu auch Weber, Recht § 1, WuG1, S. 391, ders., Recht § 8, ebd., S. 505 (MWG I/22-3), ferner von der „Eigengesetzlichkeit“ des Marktes, MWG I/22-1, S. 194.
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wo Weber über die (Erlösungs-)Religionen hinaus, die „auch ihre Eigengesetzlichkeiten“ haben,[90] Weber, Einleitung und ders., Zwischenbetrachtung, in: MWG I/19, S. 85, 109, 485-488, 492, 496–500 und 515.
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idealtypisch alle Lebensordnungen unter dem Aspekt der „innere[n] Eigengesetzlichkeiten der einzelnen Sphären“ und der durch diese Eigengesetzlichkeit provozierten „Spannung zueinander“ thematisiert. Ebd., S. 109.
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Ob „naturgegebene Sippengemeinschaft“, „Staatsräson“, „Kosmos der modernen rationalen kapitalistischen Wirtschaft“, „ästhetische und erotische Sphäre“ oder „Reich des denkenden Erkennens“: je mehr diese Wertsphären jeweils ihren „immanenten Eigengesetzlichkeiten“ folgten, „desto unzugänglicher jeglicher denkbaren Beziehung zu einer religiösen Brüderlichkeitsethik“ wurden sie. Zwischenbetrachtung, ebd., S. 485.
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Explizit macht Weber dies auch für die Kunst und „gerade die Musik“ geltend, die, nachdem sie sich „als ein Kosmos immer bewußter erfaßter selbständiger Eigenwerte“ konstituiert hat, „die Funktion einer, gleichviel wie gedeuteten, innerweltlichen Erlösung: vom Alltag und, vor allem, auch von dem zunehmenden Druck des theoretischen und praktischen Rationalismus“ übernimmt; als „‚innerlichste‘ der Künste“, die „in ihrer reinsten Form: der Instrumentalmusik, als eine durch die Eigengesetzlichkeit eines nicht im Innern lebenden Reiches vorgetäuschte, verantwortungslose Surrogatform des ersten religiösen Erlebens zu erscheinen“ vermag: gerade sie tritt, wie Weber in Anlehnung an Kierkegaard idealtypisch pointiert, „in direkte Konkurrenz zur Erlösungsreligion“. Ebd., S. 485, 488, 491 und 512.
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Ebd., S. 500 f. Kierkegaard, Søren, Entweder/Oder, Erster Teil, Band 1, übersetzt von Emanuel Hirsch. – Gütersloh: Verlagshaus Mohn 1979, S. 76 f.: „Bekanntlich ist die Musik jederzeit ein Gegenstand für die mißtrauische Aufmerksamkeit des religiösen Eifers gewesen […]. Je strenger die Frömmigkeit, umso mehr sagt man der Musik Valet und betont das Wort […]. Der religiöse Eifer aber will das Geistige ausgedrückt haben, darum fordert er die Sprache, welches des Geistes eigentliches Medium ist, und verwirft die Musik, welche ihm ein sinnliches Medium ist und insofern stets ein unvollkommenes Medium, um den Geist darin auszudrücken.“ Zur „innerlichsten“ Kunst siehe unten, S. 100.
Daß der Gedanke der „Eigengesetzlichkeit“ auch die geplante Kultursoziologie materiell beherrscht hätte, zeigt die Musik-Studie, die jene Erkenntnis des Frankfurter Soziologentages von der „eigenen immanenten Gesetzlichkeit“ der Technik auf die „rationalen“ tonsystematischen Grundlagen der Musik ausweitet, indem sie die „Logik der Tonbeziehungen“ und [91]mit ihr die eigendynamische Entwicklung okzidentaler Tonsystematik und Musiktheorie verfolgt. Was Weber kultursoziologisch, d. h. im Hinblick auf die „Kulturinhalte“ unter „immanenter Gesetzlichkeit“ versteht, belegt er auf dem Soziologentag wie auch in der Musik-Studie, im „Wertfreiheits“-Aufsatz und noch einmal zusammenfassend in der „Vorbemerkung“
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– in Anlehnung an Helmholtz – konkret auf dem Terrain der Baukunst, und zwar beim „Übergang zum gotischen Stil“, der „nicht die ‚Erfindung‘ des schon vorher dekorativ bekannten Spitzbogens [ist], sondern die ‚Lösung‘ eines ganz bestimmten statischen Problems des Gewölbeschubes, ja vielleicht sogar der Schalung, welches die Architekten technisch beschäftigt hatte und nach den gegebenen technischen Aufgaben nur durch die nunmehr auch konstruktive Verwendung jener Bogenform zu bestimmten Zwecken möglich war. So viele andere kulturhistorische Momente sonst noch mitspielen, – hier hat einmal ein rein bautechnisches Moment eminent schöpferisch eingegriffen.“[91] Weber, Verhandlungen 1910 (Sombart), S. 99; ders., Wertfreiheit, S. 56; ders., Vorbemerkung, in: GARS I, S. 2 f. (MWG I/18).
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Der „‚Stimmungsgehalt‘ gotischer Innenräume“ ist dagegen, so die Musik-Studie, „eine ungewollte Konsequenz“ dieser rein bautechnischen „Lösung“ jenes Problems des Gewölbeschubes – ganz ebenso wie die Tonschönheit der Geige ein „ungewolltes ‚Ne[92]benprodukt‘“ ihrer bautechnischen Neuerungen ist. Weber, Verhandlungen 1910 (Sombart), S. 99; vgl. dazu Helmholtz, Tonempfindungen, S. 372 f., der darlegt, „wie die an die wachsenden Aufgaben sich anschliessenden technischen Erfindungen nach einander drei ganz verschiedene Stilprincipien, nämlich das der geraden Horizontallinie, des Rundbogens und des Spitzbogens, erzeugten“ und der ebd. dazu ausführt; „Die alten Italiener (Etrusker) […] erfanden das Princip des aus keilförmigen Steinen zusammengesetzten Gewölbes. Durch diese technische Erfindung wurde es möglich, viel weitläuftigere Gebäude mit gewölbten Decken zu überdachen, als die Griechen es mit ihren hölzernen Balken thun konnten. […] Mit der gewölbten Decke tritt nun der Rundbogen in der romanischen (byzantinischen) Kunst als Hauptmotiv der Gliederung und Verzierung auf. […] In dem Gewölbe drängen die keilförmig gehauenen Steine gegeneinander; weil sie aber alle gleichmässig nach innen drängen, verhindert jeder den anderen wirklich zu fallen. […] Bei sehr grossen Gewölben ist […] der horizontal liegende mittlere Theil der gefährlichste, der bei der kleinsten Nachgiebigkeit der Nachbarsteine zusammenstürzt. Als nun die mittelalterlichen Kirchenbauten immer grössere Dimensionen annahmen, verfiel man darauf, den mittleren horizontal liegenden Theil des Gewölbes ganz wegzulassen, und die Seiten unter mässigerer Steigerung aufwärts laufen zu lassen, bis sie oben im Spitzbogen zusammenstiessen. Nun wurde dem entsprechend der Spitzbogen das herrschende Prinzip. Das Gebäude gliederte sich äusserlich durch die hervortretenden Strebepfeiler. Diese […] gaben harte Formen, die Kirchen wurden im Innern enorm hoch […]. Vielleicht gerade die Härte der Formen, vollständig beherrscht von der wunderbaren Consequenz, die sich durch die bunte Formenpracht der gothischen Dome hinzieht, diente dazu, den Eindruck des Gewaltigen und Mächtigen zu erhöhen.“
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Daß Weber im übrigen den Begriff der „Eigengesetzlichkeit“ oftmals in Anführungszeichen verwendet, ist wohl Ausdruck seiner Vorsicht hinsichtlich des kausal fraglichen Regresses: seine Gleichsetzung von „eigengesetzlich“ mit „technisch bedingt“ oder „rational“[92] Allerdings ist in Webers Vergleich von gotischem Stimmungsgehalt und Tonschönheit der Geige grammatikalisch nicht eindeutig, was bei letzterer die beabsichtigten „Vorzüge“ und die ungewollten „Nebenprodukte“ sind, siehe dazu unten, S. 260 f. (Hier wie auch bei einigen weiteren grammatikalisch zweideutigen Fällen haben die Editoren auf korrigierende Eingriffe verzichten müssen).
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soll ökonomisch-materialistische Überbau-Deduktionen, überhaupt monokausale Erklärungsversuche abweisen oder zumindest relativieren. Weber, Umbildung des Charisma, WuG1, S. 767. Siehe oben, S. 89, Anm. 50.
3. Vosslers Literatur- und Webers Kultursoziologie
Zwei Monate nach dem Frankfurter Soziologentag finden sich die nächsten Spuren der geplanten Kultursoziologie, und zwar für den „Culturinhalt“ Literatur bzw. Sprache. Im Dezember 1910 lobt Weber in einem Brief an den Romanisten Karl Vossler „aufs Höchste“ dessen Kritik zur „Sprach-,Soziologie‘“ Raoul de La Grasseries und fragt an: „giebt es denn bisher da schon irgend welche Anfänge, die besser sind als diese offenbar doch noch ganz unreife Leistung? Dann wäre ich für einen gelegentlichen Hinweis außerordentlich dankbar. Denn das geben ja auch Sie zu: berechtigte Probleme stecken in der Gegend.“
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Der bis 1909 in Heidelberg, dann für zwei Jahre in Würzburg, ab 1911 in München tätige Romanist, mit dem Weber bereits seit 1904 in Kontakt steht und dessen Schriften er „unverhehlbare Bewunderung, stilistisch und sachlich“ entgegenbringt, Brief Webers an Vossler vom 11. und 14. Dezember 1910, MWG II/6, S. 729 f. Weber bezieht sich auf Vossler, Karl, (Besprechung von) Raoul de La Grasserie, Etudes de psychologie et de sociologie linguistiques. Des parlers des différentes classes sociales. – Paris: Paul Geuthner 1909, in: Deutsche Literaturzeitung, Jg. 31, Nr. 30 vorn 23. Juli 1910, Sp. 1883–1886 (hinfort: Vossler, Besprechung).
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hält eine – wie von de La Grasserie versuchte – Entstehungsgeschichte der [93]französischen Schriftsprache unter dem Aspekt ihrer „sozialen Schichtungen und Schiebungen“ für eine „ebenso dringende wie reizvolle Aufgabe“. Vgl. die Briefe Webers an Vossler vom 17. Dezember 1904 (Nl. Karl Vossler, BSB München. Ana 350, 12; MWG II/4) und vom 5. Mai 1908 (MWG II/5, S. 556–563), das Zitat ebd., S. 557. Die ebenso überschwengliche wie detaillierte Bewunderung, die Weber vor allem Vosslers Dante-Buch (Die göttliche Komödie. Entwicklungsgeschichte und Erklärung. – Heidelberg: Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung 1907) nach mehrfacher Lektüre in den Briefen von 1908 und 1910, ebd., entgegenbringt, ist wohl einzigartig in Webers Beziehungen zu Kollegen. In München lädt Weber den acht Jahre jüngeren Romanisten zum Kolloquium – u. a. über seine Musik-Studie – ein, siehe dazu oben, S. 133.
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Dabei bemängelt er, wie aus seiner Abhandlung über Wilhelm IX. von Poitiers und die „Entstehungsgeschichte der ältesten modernen Kunstlyrik – und das ist die provenzalische“ – hervorgeht,[93] Vossler, Besprechung (wie oben, Anm. 59), Sp. 1884.
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den geringen gegenwärtigen Kenntnisstand „über die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, religiösen und überhaupt die kulturellen Verhältnisse, wie sie sich in Südfrankreich im Laufe des 10. und 11. Jahrhunderts gestaltet haben“; allerdings müsse man über die „kulturgeschichtliche Milieuforschung“ hinaus auch und gerade die „Dichtung selbst über das Geheimnis ihrer Geburt befragen und aus ihrem eigenen Geist heraus erleuchten.“ Vossler, Karl, Die Kunst des ältesten Trobadors, in: Miscellanea di studi in onore di Attilio Hortis, Trieste, Maggio MCMIX. – Trieste: Stabilimento artistico tipografico G. Caprin 1910, S. 419–440 (hinfort: Vossler, Trobador), hier S. 419.
Vosslers Ausführungen haben bei Weber „wieder die Frage erwachen lassen, wo ich mich am besten über die sozialen Bedingungen und das ‚Milieu‘ (der fürchterliche Ausdruck!) der Trobador-Cultur informieren könnte.“
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Die methodische und inhaltliche Parallele zur anderthalb Jahre später geäußerten Absicht, „ich werde über Musikgeschichte wohl etwas schreiben. D.h. nur: über gewisse soziale Bedingungen, aus denen sich erklärt, daß nur wir eine ‚harmonische‘ Musik haben“, Brief Webers an Vossler vom 11. und 14. Dezember 1910, MWG II/6, S. 730. Vermutlich bezieht sich Webers „wieder“ auf die „provençalische Ritterpoesie“, die er bereits 1906 in der „Auseinandersetzung mit Eduard Meyer“ (Weber, Kritische Studien, S. 175, Fn. 24) erwähnt.
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ist offensichtlich. Darüber hinaus zeigt sich die Bedeutung Vosslers in der Art seiner „Problem-“ und „Fragestellung“, die – so Weber Weber im Brief an seine Schwester Lili Schäfer vom 5. August 1912, MWG II/7, S. 638 f.
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– das „in meinen Augen als Leistung allein Entscheidende“ und „für mich persönlich so wichtig und erfreulich ist“, daß er sie zum Vorbild für seine kultursoziologischen Pläne nimmt. Brief Webers vom 15. November 1911 an Vossler, MWG II/7, S. 358.
Das gilt zunächst sachlich-thematisch. Im Brief vom Dezember 1910 erkundigt sich Weber bei seinem romanistischen Kollegen danach, „ob u[nd] wie etwa auch ein orientalischer Einschlag irgendwie an der Entstehung der spezifischen erotischen Bestandteile [der Troubadour-Kultur] irgendwie beteiligt sein könnte (Kenntnis orientalischer Novellen u. dgl.). Und dann eben auch immer wieder: warum grade in Frankreich bezw. in der Provence, diese, vom Orient einerseits, von der Stellung der Frau im Occident andrerseits so abweichende Attitüde zur Frau (deren innere [94]Weiterentwicklung ja dann Ihr früheres Buch analysiert).“
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Auf dem Zweiten Soziologentag im Oktober 1912 in Berlin schließt Weber daran an, indem er – innerhalb der Diskussion um die kultursoziologische Bedeutung der „Nationalität“ bzw. „Nation“ – „für Frankreich […] auf die Aufsätze meines verehrten Freundes Vossler“ verweist, und zwar auf dessen Beiträge zu den „eigentlich soziologischen Bedingungen der Entstehung einer einheitlichen Literatursprache und – was etwas anderes ist – einer Literatur in der Volkssprache“.[94] Brief Webers an Vossler vom 11. und 14. Dezember 1910, MWG II/6, S. 730 f. Weber bezieht sich auf Vossler, Karl, Die philosophischen Grundlagen zum „süßen neuen Stil“ des Guido Guinicelli, Guido Calvanti und Dante Alighieri. – Heidelberg: Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung 1904 (hinfort: Vossler, Grundlagen).
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Weber erwähnt – „weil man an ihn nicht oft denkt“ – einen „typischen Träger dieser Entwicklung […]: die Frauen. Ihre spezifische Leistung für die Bildung eines an der Sprache orientierten Nationalgefühls liegt hier. Eine erotische Lyrik, die sich an Frauen wendet, kann nicht wohl fremdsprachig sein, weil sie dann von den Adressatinnen unverstanden bliebe. Ganz gewiß nicht die höfische und ritterliche Lyrik allein, auch nicht immer zuerst, aber doch oft und nachhaltig gerade sie hat in Frankreich, Italien, Deutschland das Lateinische, in Japan das Chinesische durch die eigene Sprache ersetzt und diese zur Literatursprache sublimiert.“ Weber, Verhandlungen 1912, S. 51.
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Ebd. Weber hat sich offenbar neben Frankreich auch mit Japan und Italien näher beschäftigt, wo, wie er, ebd., S. 74. seinem Mitdiskutanten Robert Michels gegenüber ausführt, „die Tatsachen“ zur Entwicklung einer Literatursprache ebenfalls „außerordentlich klar liegen". Ferner zeigen spätere Bemerkungen, ebd., S. 189, zu den Skalden-Dichtungen wie auch zur französischen Belletristik des 17. Jahrhunderts, wie detailliert Webers literatursoziologisches Arbeiten bereits gediehen ist.
Daß die literarhistorische bzw. -soziologische Thematik Weber offenbar näher interessiert, geht aus zwei weiteren Bemerkungen hervor, die sozusagen negativ auf den Plan der Kultursoziologie verweisen; zum einen fragt er auf dem Berliner Soziologentag im Anschluß an jene sprachgeschichtliche Vossler-Reminiszenz nach der „Bedeutung der Volkssprache“, die „unter dem Einfluß der Erweiterung der Verwaltungsaufgaben von Staat und Kirche, also als Sprache der Behörden und der Predigt stetig fortschreitet“: dies „habe ich hier nicht zu schildern“.
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Die annähernd gleichzeitig, spätestens Anfang 1914 fixierten Passagen in „Wirtschaft und Gesellschaft“ Ebd., S. 51.
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verallgemeinern die literarhistorischen Berliner Bemerkun[95]gen zur herrschaftssoziologischen Frage nach der „Beeinflussung der allgemeinen Kultur durch die patrimoniale oder feudale Struktur politischer Gebilde. […] Wo immer das Feudalsystem das Stadium der Entwicklung einer bewußt ‚ritterlich‘ lebenden Schicht erreicht, da entsteht ein System der Erziehung zur ritterlichen Lebensführung mit allen seinen Konsequenzen: die hier nicht zu schildernden typischen Entfaltungen von bestimmten künstlerischen Kulturgütern (auf literarischem wie [auf] dem der Musik und der bildenden Künste), als Mittel der Selbstverklärung und der Entwicklung und Erhaltung des Nimbus der Herrenschicht gegenüber den Beherrschten stellt die ‚musische‘ Erziehung neben die zunächst vornehmlich militärisch-gymnastische, und es bildet sich jener in sich höchst vielgestaltige Typus der ‚Kultivations‘-Erziehung aus, welche den radikalen Gegenpol gegen die ‚Fachbildung‘ der rein bürokratischen Struktur darstellt.“ Zur Datierung der ältesten Fassung siehe Hanke, Edith, Max Webers „Herrschaftssoziologie“. Eine werkgeschichtliche Studie, in: dies. und Wolfgang Mommsen (Hg.), Max Webers Herrschaftssoziologie: Studien zu Entstehung und Wirkung. – Tübingen: Mohr Siebeck 2001, S. 19–46, hier S. 39.
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Was jeweils „hier“, d. h. auf dem Berliner Soziologentag bzw. in WuG, „nicht zu schildern“ ist: Entstehung einer differenzierten Literatur- und Volkssprache im Kontext der südfranzösischen Troubadour-Kultur und der daraus resultierenden ritterlich-feudalen, sprachlich-künstlerischen „Kultivations“-Erziehung, das will Weber der geplanten Kultursoziologie und ihrem literatursoziologischen bzw. -historischen Abschnitt vorbehalten; sein romanistischer Kollege aber hat ihm die Anregungen dafür gegeben.[95] Weber, Max, Wirkungen des Patriarchatismus und des Feudalismus, in: WuG1, S. 738 f. (MWG I/22-4). Weber, Bürokratie, ebd., S. 677, stellt den mittelalterlich-ritterlichen Erziehungstypus zur „,kultivierte[n]‘ Persönlichkeit“ in den universalhistorischen Kontext und resümiert: „Die Qualifikation der Herrenschicht als solcher beruhte auf einem Mehr an ,Kulturqualität‘ […], nicht von Fachwissen.“
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Vossler, Trobador (wie oben, S. 93, Anm. 62), S. 438, fragt nach den sozialhistorischen Entstehungsbedingungen der „ältesten modernen Kunstlyrik“ in Südfrankreich: „wie weit die Verfeinerung der Rittersitte, die Ausbildung einer Hofsprache, die Regeln des Frauendienstes und Ähnliches in der Zeit und in der Umgebung des Grafen [gemeint ist Wilhelm von Poitiers] gediehen waren, bedürfte einer eindringlichen Untersuchung. Eine Geschichte der südfranzösischen Kultur im 10. und 11. Jahrhundert, eine Darstellung, die uns nicht das mit dem übrigen Frankreich gemeinsame, sondern das Besondere und Eigenartige des Lebens im Süden verstehen liesse, tut dringend Not.“
Über die literarhistorische Thematik hinaus ist Vossler Webers expliziter Mitstreiter einer methodisch abgesicherten und nuanciert argumentierenden Kultursoziologie. Zum einen lehnen beide Lamprechts entwicklungstheoretische Konstruktionen wie auch den „seelenlosen Intellektualismus“ der „exakten Materialisten, Naturalisten und Positivisten“ ab.
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An ihrer [96]bzw. seiner Stelle will der Romanist eine breit fundierte Kultursoziologie etablieren, die sich allerdings hüten müsse vor vorschnell-„dilettantischen“ Klassen- und Schichten-Erklärungen von Kulturinhalten. Zwar sei für Frankreich der „regelmäßige, fast haarscharfe Parallelismus zwischen der politischen, literarischen und sprachlichen Entwicklung“ „höchst auffallend und für die französische Geistesart bezeichnend“ und gerade die Sonderdialekte und Schriftsprachen durchaus schichtenspezifisch geprägt, wie am Untergang der provençalischen Schriftsprache zu erkennen, die mit der „Demokratisierung des südfranzösischen Adels“ einhergegangen sei; daneben aber seien mindest ebenso wirksam geographische Faktoren und – vor allem – „Bedeutungssphären“, „Gefühls- und Gedankenstöcke“ von Dialekten und Sprachen. Vossler, Grundlagen (wie oben, S. 94, Anm. 66), S. 1, 5, 8; ders., die Grenzen der Sprachsoziologie, in: Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, Band 2, hg. von Melchior Palyi. – München und Leipzig: Duncker & Humblot 1923, S. 362–389, hier S. 374.
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Im Florenz des jungen Dante z. B. existierten gleichzeitig das Latein als „die hohe, schulmäßig gefärbte Wissenschaft; französisch, die mittlere, elegant gefärbte Lehrhaftigkeit; provenzalisch, die aristokratisch nuancierte Minnedichtung [und] italienisch, das demokratische, bürgerliche Geistesleben“. Noch heute sei von solchen funktionalen „Bedeutungsnuancen“ z. B. „ein deutscher Professor beherrscht, wenn er in Frankreich mit geläufigem Französisch über wissenschaftliche Fragen diskutiert, während es ihm nicht gelingt, einer schönen Französin in derselben Sprache des Landes eine annähernd stilgerechte Liebenswürdigkeit zu sagen. Sein sprachliches Kunstvermögen hat sich eben an einem andern Gefühls- und Gedankenstock als an dem galanten emporgerankt.“[96] Vossler, Zur Entstehungsgeschichte der französischen Schriftsprache, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Jg. 4, 1911, S. 45–60, 157–172, 230–246, 348–363 und 476–494, hier S. 46 f. und 52.
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Weber erscheint dieses „anmutige und ausgezeichnet treffende Beispiel“ bestens geeignet zur Bescheidung soziologischer Erklärungsansprüche. Es sei „darin so sehr glücklich, daß es davor warnt, zu glauben, die Sondersprachbildungen sozialer Schichten hätten in der äußeren sozialen Cohärenz und Homogenität dieser Schichten als solcher, – und nicht vielmehr in der inneren Besonderung der verschiedenen seelischen Provinzen, um die es sich handelt, ihren letzten entscheidenden Grund.“ Mit diesen „seelischen Provinzen“ der „Sache“ selbst, d. h. der Sprache bzw. Literatur, habe Vossler präzise „von vornherein die Grenzen jedes Versuchs einer soziologischen Betrachtung der Sprachgeschichte aufgezeigt.“ Ebd., S. 159 f. Zur Illustration führt Vossler, ebd., aus dem 13. Jahrhundert den König von Kastilien und Leon, den Dichter und Sänger Alfonso X. el Sabio an, der „seine prosaischen Werke castilisch, seine Liebeslieder galiçisch und eine besonders höfische Art von Minnesang provenzalisch abgefaßt“ habe.
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Andererseits – positiv – sieht Weber, wie seinen späteren [97]Ausführungen im „Wertfreiheits“-Aufsatz zu entnehmen ist, gerade in der Analyse jener „Gefühls- und Gedankenstöcke“ bzw. den zeit- und schichtentypischen „Gefühlsinhalten“ die eigentliche Aufgabe einer Musik-, Kunst- und Kultursoziologie. So Weber in seinem Brief vom 15. November 1911 an Vossler, MWG II/7, S. 359 f.
76
[97] Siehe dazu unten, S. 123.
Zum zweiten hat Vosster Webers „Warum-gerade-hier“-Frage, die alle seine universalgeschichtlichen Studien, vor allem auch die Musik-Studie, leitet, vorformuliert. Im „Kulturleben der Provençe“ erkennt Vossler
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einen „inneren Kausalzusammenhang zwischen der Blüte des Frauendiensts und Minnesangs und zwischen dem Durchbruch der waldensischen und verschiedener anderer Ketzereien. Auf den ersten Blick freilich verwundert man sich zu sehen, wie die entsagungsvolle Lehre des Petrus Waldus […] gerade auf dem zivilisiertesten Fleckchen Europas, in der lachenden Provençe, am besten gedieh, wie in derselben Sprache, in der die neue Muse von Rittern, von Waffen und Liebe sang, eine ernstere Stimme von Fasten und Enthaltsamkeit predigte.“ Weber schließt zunächst daran an und fragt: „warum grade in Frankreich bezw. in der Provence, diese, vom Orient einerseits, von der Stellung der Frau im Occident andrerseits so abweichende Attitüde [der Troubadour-Kultur] zur Frau“? Vossler, Grundlagen (wie oben, S. 94, Anm. 66), S. 2 f.
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Die Musik-Studie verpflanzt diese literatursoziologische „Warum-gerade-hier“-Frage auf universalhistorisch-musiksoziologisches Terrain: „warum (hat) sich gerade an einem Punkt der Erde aus der immerhin ziemlich weitverbreiteten Mehrstimmigkeit sowohl die polyphone wie die harmonisch-homophone Musik und das moderne Tonsystem überhaupt entwickelt […]“? Brief Webers an Vossler vom 11. und 14. Dezember 1910, MWG II/6, S. 730 f. Weber bezieht sich auf Vossler, Grundlagen (wie oben, S. 94, Anm. 66).
79
Die „Vorbemerkung“ zu den „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“ schließlich öffnet mit derselben Frageart den weitesten Horizont: „welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?“ Siehe unten, S. 232.
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Mit anderen Worten: Was Vossler für die älteste Kunstlyrik bzw. Literatursprache und ihren eigentümlichen Ursprungsort: die Provençe untersucht, das plant Weber für die verschiedenen „Cuiturinhalte“, insbesondere für die harmonische Musik und den Okzident. Weber, Vorbemerkung, in: GARS I, S. 1 (MWG I/18).
[98]4. „Teils rational, teils technisch, teils soziologisch“
Webers Plan, eine Kultursoziologie zu schreiben, ist auf dem Berliner Soziologentag vom Oktober 1912 nicht nur in den literatursoziologischen Vossler-Anleihen präsent, auch einige Thesen zur „primitiven Ornamentik“, vor allem aber eine knappe Zusammenfassung der ethnologischen Ausführungen der Musik-Studie verweisen auf ihn. Anlaß dazu ist Weber die Frage des Soziologentages nach „kausalen Komponenten, die zur Entstehung eines Nationalgefühls“ führen, wobei neben „gemeinsamen politischen Schicksalen“ die „gemeinsame Sprache“ und der „Einfluß der Rasse“, d. h. die Frage, „inwiefern erbliche Qualitäten gemeinschaftsbildend sind“, zur Diskussion stehen.
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Schon äußerlich zeigt Webers Vorwurf an seine Kollegen, sie hätten die Frage, „ob und welche Beziehungen zwischen Kunst und Rassen bestehen“, unerörtert gelassen, wie sehr ihn seine kultursoziologischen Pläne umtreiben. Offenbar treibt er gerade universalhistorisch-ethnographische Studien: „Die weitgehende Gleichheit primitiver Ornamentik spricht in der Tat noch nicht unbedingt gegen die Bedeutung von Rassenunterschieden. Denn da sprechen die typischen, von der Ethnographie jetzt allmählich aufgedeckten Quellen ornamentaler Motive wohl überwältigend mit. Aber was eigentlich künstlerische Leistungen anlangt, so ist z. B. für Europa die Annahme eines paläolithischen und ziemlich nördlich gelegenen Kunstzentrums immerhin eine Tatsache, die wenigstens denkbarerweise auf spezifische Rassenbegabungen der Nordländer hinweisen könnte.“[98] Weber, Verhandlungen 1912, S. 50 f. und 74.
82
Ebd., S. 189.
Daß Weber solche „spezifischen Rassenbegabungen“ als Erklärungsfaktoren von Kunst und Kultur dennoch nicht gelten läßt und ihm Rassentheorien gerade auf dem Terrain der „Kulturinhalte“ nichts Beweiskräftiges mitteilen können,
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dies liegt in erster Linie an seinen musikwissenschaftlichen, inbesondere universalhistorisch-musikethnologischen Studien, deren Ergebnis er in Berlin vorträgt, und zwar in drei provozierenden Thesen, [99]die unerwartete Verwandtschaften und Kontraste musikalischer Kulturen aufzeigen, die der zeitüblichen Einschätzung der Einzigartigkeit der deutschen Kultur und ihrer hellenischen Wiege wie auch der Verachtung „primitiver“, insbesondere der chinesischen Musik widersprechen. Wenn überhaupt, dann hält Weber, ebd., S. 190, den „psychophysischen Apparat", d. h. die „Art des ‚Reagierens‘ auf ‚Reize‘“, welche eine – wie es in der „Vorbemerkung“, GARS I, S. 15 (MWG I/18), heißt – „vergleichende Rassen-Neurologie und -Psychologie“ zu thematisieren hat, für ein „Objekt der Vererbung“, nicht aber „die Kulturinhalte“. In der „Vorbemerkung“, ebd., betont Weber noch einmal seine Skepsis gegenüber der „anthropologischen Seite der Probleme“ und der „Annahme: daß hier Erbqualitäten die entscheidende Unterlage boten“; statt dessen verspricht er sich weit größere Erkenntnisse von der „soziologische[n] und historische[n] Arbeit“, „zunächst möglichst alle jene Einflüsse und Kausalketten aufzudecken, welche durch Reaktionen auf Schicksale und Umwelt befriedigend erklärbar sind.“
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So sieht Weber zum einen „die hellenische Kunst prinzipiell verwandt mit der arabischen, indischen, javanischen, japanischen, ja selbst der chinesischen“; andererseits existiere nur „im modernen Europa […] seit dem Mittelalter ein harmonisches Musiksystem, zu dem sich Vorstufen eigentlich nur in Afrika und der Südsee, nicht aber bei den antiken Völkern finden“; schließlich stehe in „ihren Prinzipien die chinesische Musik der hellenischen näher als die deutsche“.[99] Siehe dazu oben, S. 45 f. und 52.
85
Gerade nicht empirisch unhaltbare Rassentheorien veranlassen Weber zu diesen Thesen, sondern fundierte musikethnologische Analysen, die, wie die Musik-Studie darlegt, Weber, Verhandlungen 1912, S. 190.
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„erst jetzt auf der Basis der Phonogramme zu einer exakten Grundlage“, d. h. zu „streng empirische[r] Erkenntnis“ führen. Vor allem überrascht er mit dem, was er den Rassentheorien ,positiv‘ entgegensetzt: „Alle die verschiedenen sehr auffälligen Unterschiede scheinen sich teils rational, teils technisch, teils soziologisch erklären zu lassen.“ Siehe unten, S. 179.
87
Damit gibt er im Oktober 1912 sozusagen einen Einblick in sein Heidelberger Arbeitszimmer, in dem gerade die Musik-Studie entsteht (wobei jenes vorsichtige „scheinen“ noch auf die Vorläufigkeit ihrer Thesen weist); denn die drei Erklärungsebenen spiegeln exakt die Großgliederung der Studie wider, wobei Weber deren rationale und (instrumental-)technische „Grundlagen“ realisiert, deren „soziale“ bzw. „soziologische“ Argumentation nur geplant, jedoch nicht mehr bzw. nur in Andeutungen ausgeführt hat. Weber, Verhandlungen 1912, S. 190. Als Beispiel führt er „die Tonbildung der spezifischen Instrumente der Hirtenvölker, namentlich des Dudelsacks“ „und viele ähnliche Umstände“ an, wobei die „Tonbiidung“ die rationale, der „Dudelsack“ die instrumentaltechnische und die „Hirtenvölker" die soziale Erklärungsebene repräsentieren. In der Musik-Studie erwähnt Weber mehrfach den Dudelsack (unten, S. 242 und 207) als ein „bei Viehzüchtern und Beduinen überall primitiv heimisches Instrument“, dem die „irrationale Terz“ eigen ist, und das daher bei der Ausbildung einer melodischen Quarten-Tonalität (statt harmonischen Quint-Terz-Tonalität) eine wichtige Rolle gespielt hat.
88
Daß er während des Berliner Sozio[100]logentages an diesen „soziologischen“ Erklärungen arbeitet, läßt der zwei Monate zuvor entstandene Brief an seine Schwester Lili vermuten, in dem gerade von „gewisse[n] soziale[n] Bedingungen“ die Rede ist, die Weber als Erklärungsgrund (der spezifisch okzidentalen, d. h. harmonischen Musik in Gestalt des „Mönchtums“) zu analysieren beabsichtigt. Zur Trias ließe sich noch – untergeordnet – das Klima hinzufügen (sowie – wie unten, S. 123, zu sehen – das Sozialpsychologische). Mit seinen Hinweisen auf die „günstigere Behandlung der […] Terz in der nordeuropäischen Musik“, auf die „akkordliche“ Musikpraxis der Iren schon im 11. Jahrhundert, auf eines „der ältesten, aus dem hohen Norden Europas bekannten Instrumente“ mit harmonischer Dur-Terz und den „musikgeschichtlich so wichtigen Terzen- und Sextengesang der Franzosen und Engländer“, den „faux Bourdon", spricht Weber auch in der Musik-Studie (wie auf dem [100]Soziologentag) dem „Norden“ eine besondere Rolle zu (unten, S. 163, 207, 230, 275 und 279); allerdings sieht er hier keine rassentheoretischen, sondern – neben rationalen, sozialen und instrumentaltechnischen – auch klimatische Faktoren am Werk, wie der Betonung des „Binnenraumcharakter[s]“ der modernen Tasteninstrumente, überhaupt der an das „Heim“ gebundenen Musikkultur des Nordens, und den „nicht geringen rein klimatischen Schwierigkeiten“ zu entnehmen ist, die einer Verbreitung des Klaviers im Süden im Wege standen, siehe unten, S. 279.
89
Brief Webers an Lili Schäfer vom 5. August 1912, MWG II/7, S. 639. Damit ist jedoch nicht erwiesen, daß Weber die beiden anderen Teile schon abgeschlossen hat, zumal in ihnen ja auch vereinzelt „soziale“ Komponenten aufgeführt sind.
5. Die „innerlichste“ Kunst, die Ratio und das fatale Komma
Webers Berliner Thesen richten sich nicht nur gegen rassenspezifische Vererbungstheorien; er weist hier auch die allgemeine Ansicht, Musik sei – nur – eine „scheinbar so aus dem intimsten Fühlen quellende Kunst“, zurück.
90
Das „nur“ ist hinzuzufügen, denn Weber selbst nennt an anderer prominenter Stelle – Schopenhauer, Nietzsche und Burckhardt zitierend – die Musik „die ,innerlichste‘ der Künste“, „deren Wesen von Grund aus arationalen oder antirationalen Charakters ist“. Weber, Verhandlungen 1912, S. 189 f.
91
Doch gerade die Musik, diesen emotionalen und „innerlichsten“ „Cuiturinhalt“ schlechthin, versteht er als genuin wissenschaftliches Terrain. Denn „gerade in […] dieser“ – so Marianne Webers Paraphrasierung des Berliner Diskussionsbeitrages ihres Mannes Weber, Zwischenbetrachtung, MWG I/19, S. 499–501. Schopenhauer, Wille (wie oben, S. 42, Anm. 18), Band 1, S. 322, 324, 331 und 528, sieht die Musik „so mächtig auf das Innerste des Menschen [wirken]“; „deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher, als die der andern Künste: denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen“. Friedrich Nietzsche, Nietzsche contra Wagner, KSA 6, S. 423, nennt die Musik „von allen Künsten, die auf dem Boden einer bestimmten Cultur aufzuwachsen wissen“, „die letzte aller Pflanzen […], vielleicht weil sie die innerlichste ist“. Für Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, in: ders., Kritische Gesamtausgabe, Band 10. – München: C. H. Beck 2000, S. 286, wiederum ist die Musik „ein Comet, der das Menschenleben in colossal weiter und hoher Bahn umkreist, dann aber auf einmal sich wieder so nahe zu demselben herbeiläßt als kaum eine andere Kunst und dem Menschen sein Innerstes deutet“.
92
– „scheinbar am reinsten aus dem Gefühl quellenden Kunst“ macht Weber die „Entdeckung“ eines spezifisch gearteten: okzidentalen [101]„Rationalismus“; gerade hier erkennt er, daß „die abendländische Kultur […] in all’ ihren Formen entscheidend bestimmt [wird] durch eine zuerst im Griechentum entwickelte methodische Denkart“, Weber, Marianne, Vorwort zur zweiten Auflage, in: WuG2, S. Vlll.
93
die sich in der Musik ganz unmittelbar, als „Ratio“ im eigentlichen Sinne, zeigt: als Berechnung (der Intervalle), als Kanonik, als pythagoreische Lehre der Beziehung von Zahl und Ton. Dies „erregt“, wie Marianne Weber sich im Lebensbild erinnert,[101] Weber, Marianne, Lebensbild, S. 348.
94
Weber „ganz besonders“, denn „die Zeit schmäht den Rationalismus und namentlich viele Künstler beurteilen ihn als Hemmung ihrer Schöpferkraft.“ Ebd., S. 349.
Auch wenn nicht zu entscheiden ist, ob Weber prinzipiell eher dem Leibniz’schen arithmetischen „Rationalitäts“- oder dem Schopenhauerschen „Innerlichkeits“-Diktum folgt
95
– die Dualität von „Zwischenbetrachtung“ und Musik-Studie spricht gegen ein Entweder-Oder –, so ist doch fraglos die radikal rationale „Denkart“, in der Weber seine Musik-Studie verfaßt, eine Provokation der zeitgenössischen (und nicht nur dieser) Kunst-Empfindungen. Gleich zu Beginn charakterisiert sie denn auch „unsere harmonische Musik“ nicht mit schöngeistigen Betrachtungen, sondern mit tonarithmetischen Formeln, wobei sie dem sogenannten pythagoreischen Komma als „Grundtatsache aller Musikrationalisierung“ eine zentrale Bedeutung zuspricht. Schopenhauer selbst, Wille (wie oben, S. 42, Anm. 18), Band 1, S. 322 und 332, setzt sich mit dem in Leibnitii epistolae, collectio Kortholti: ep. 154, angeführten berühmten Musik-Diktum auseinander und glaubt, da die Musik „eine so große und überaus herrliche Kunst [ist und] so mächtig auf das Innerste des Menschen [wirkt] […] – daß wir gewiß mehr in ihr zu suchen haben, als ein [musica est] exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi [Musik ist eine unbewußte Übung in der Arithmetik, bei der der Geist nicht weiß, daß er zählt], wofür sie Leibniz ansprach und dennoch ganz Recht hatte, sofern er nur ihre unmittelbare und äußere Bedeutung, ihre Schaale, betrachtete. Wäre sie jedoch nichts weiter, so müßte die Befriedigung, welche sie gewährt, der ähnlich seyn, die wir beim richtigen Aufgehn eines Rechnungsexempels empfinden, und könnte nicht jene innige Freude seyn, mit der wir das tiefste Innere unsers Wesens zur Sprache gebracht sehn.“ Da die Musik „in einer höchst allgemeinen Sprache das innere Wesen, das Ansich der Welt, welches wir […] unter dem Begriff Willen denken, ausspricht, in einem einartigen Stoff, nämlich bloßen Tönen“, und da „die Philosophie nichts Anderes ist, als eine vollständige und richtige Wiederholung und Aussprechung des Wesens der Welt, in sehr allgemeinen Begriffen“, können wir Leibniz’ Ausspruch, „der auf einem niedrigeren Standpunkt ganz richtig ist, im Sinn unserer höheren Ansicht der Musik folgendermaßen parodiren: Musica est exercitium metaphysices occultum nescientis se philosophari animi [Musik ist eine unbewußte Übung in der Metaphysik, bei der der Geist nicht weiß, daß er philosophiert].“
96
Siehe unten, S. 145. Zu den tonphysikalischen Termini siehe das Glossar.
[102]Wie sehr Weber gerade die „Entdeckung“ dieses „fatale[n]“ Rest-Intervalls
97
fasziniert, zeigt die Tatsache, daß er sie mehrfach sowohl in privaten wie in kollegialen Kreisen vorträgt und in unterschiedlichsten Kontexten auch in seine nicht-musikalischen Schriften einbaut.[102] Siehe unten, S. 248.
98
Zunächst in seinem im Sommer 1913 im Ausschuß des Vereins zur Sozialpolitik gehaltenen „Gutachten zur Werturteilsdiskussion“; Zu den privaten Zirkeln siehe den Editorischen Bericht, unten, S. 128 und 131 f.
99
hier dient es Weber dazu, das Verhältnis zwischen dem Empirischen, d. h. dem „konventionell und durch Erziehung uns beigebrachte[n] und gewohnt gewordene[n]“ Faktischen, einerseits und dem „normativ ‚Gültigen‘“, d. h. „Richtigen“, andererseits zu erläutern. So wie eine „im Mittelalter gelegentlich vertretene Annahme über das Verhältnis des Papstes zum Kaiser (Sonne und Mond) […] z. B. auf der Voraussetzung [beruht], daß 8 x 7 nicht, wie wir heute annehmen = 56, sondern = 57 sei“, und jede „Wiedergabe des Trinitätsdogmas […] eine – für unsere Annahme – rechnerische Absurdität hinnehmen“ muß, so muß auch jede „Darstellung der pythagoreischen Musiklehre […] die – für unser Rechnen – ,falsche‘ Rechnung zunächst einmal hinnehmen: daß 12 Quinten = 7 Oktaven seien“. Weber, Werturteilsstreit, S. 115 f.
100
Ebd., S. 116. Wörtlich übernommen in den „Wertfreiheits“-Aufsatz von 1917 (Weber, Wertfreiheit, S. 79).
In der im September desselben Jahres 1913 erschienenen Abhandlung „Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie“ greift Weber dasselbe methodologische Problem, diesmal mit direktem Verweis auf die Musik-Studie, wieder auf:
101
„Die Art[,] wie die Relation zwischen dem Richtigkeitstypus eines Verhaltens und dem empirischen Verhalten ,wirkt‘ und wie dies Entwicklungsmoment sich zu den soziologischen Einflüssen z. B. in einer konkreten Kunstentwicklung verhält, hoffe ich gelegentlich an einem Beispiel (Musikgeschichte) zu erläutern.“ Weber, Kategorien, S. 263, Fn. 1.
102
Hier in der Musik- wie „namentlich in der Kulturgeschichte“ sind „gerade jene Beziehungen, also die Nähte, an welchen Spannungen des Empirischen gegen den Richtigkeitstypus aufbrechen können, entwicklungsdynamisch von der höchsten Bedeutung.“ Bezeichnenderweise taucht auch hier die (musik-)„soziologische'‘ Fragestellung wieder bzw. noch immer als geplantes, noch nicht oder kaum realisiertes Unterfangen auf.
103
Welche „Nähte“ gemeint sind – „hier“, im methodologischen Kontext des Kategorien-Aufsatzes, „können solche, inhaltliche, Probleme nicht erörtert werden“ –, das verdeutlicht die Musik-Studie am Verhältnis von Musiktheorie (im Sinne jenes „Richtigkeitstypus“) und Musik[103]praxis (im Sinne jenes „empirischen Verhaltens“) oder – wie es an einer zentralen Stelle der Studie heißt Ebd., S. 260 und 263, Fn. 1.
104
– von „musikalischer Ratio“ und „musikalischem Leben“. Anhand der hellenischen Tetrachord-Theorie, der mittelalterlichen „Theorie der Mehrstimmigkeit“ und nicht zuletzt der „strengen“, gleichwohl schon in „relativ ‚moderner‘“ Fassung wiedergegebenen Theorie der Akkordharmonik legt Weber dar, daß „sich die praktische Musik nach der Theorie mindestens recht wenig richtete“ und diese oft große Probleme hatte, die „Tatsachen der Musik“, z. B. die melodisch gewonnenen, „akkord- und harmoniefremden Töne“, die gegenüber dem Regelwerk nicht selten als „Rebellen“ auftreten, zu „legitimieren“ und damit zu rationalisieren.[103] Unten, S. 253; siehe dazu auch oben, S. 89.
105
Als Legitimierungsinstanz aber ist die Theorie nicht selten Hemmschuh, „fühlbare Schranke“, der Kompositionspraxis gewesen. Doch auch das Umgekehrte gilt: daß die Theorie „praktisch fruchtbar“ wurde, wie z. B. die „Rationalisierungsbestrebungen der mittelalterlichen Theoretiker für die Entwicklung der auch ohne ihr Zutun schon bestehenden Mehrstimmigkeit“ zeigen. Unten, S. 152 und 211. Siehe dazu ferner oben, S. 61.
106
Resümierend sieht Weber denn auch die Musikgeschichte wesentlich als Geschichte historisch „variierender Spannungsverhältnisse“ von „musikalischer Ratio und musikalischem Leben“, Unten, S. 253.
107
die an jenen entwicklungsdynamisch so bedeutsamen „Nähten“ zwischen normativ gültigem und empirisch-faktischem (kompositorischem) Verhalten aufgetreten sind. Ebd.
Noch ein drittes Mal diskutiert Weber 1913 musikalische Rationalisierungsprobleme in außermusikalischem Kontext. Jene im Werturteilsgutachten implizierte Tatsache, daß zwölf Quinten nicht gleich sieben Oktaven sind, sondern diese um das scheinbar unbedeutend kleine „Komma“ überragen; daß, mit anderen Worten, der Quintenzirkel, d. h. die pythagoreische, rational-systematische Art der Tongewinnung, sich nicht zum Kreis schließt, sondern eine prinzipiell unendliche Tonspirale eröffnet und also kein in sich geschlossenes, in Ausgangs- und Endton (der Oktave) übereinstimmendes Tonsystem (im eigentlichen Sinn des Wortes) ermöglicht, – diese „fatale“ Tatsache weiß Weber auch religionssoziologisch auszuwerten. In der „Einleitung“ zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“
108
korreliert er das „Irrationale“ des Kommas mit dem „Irrationalen“ religiös-„überwirklicher“ Werte. Wie das pythagoreische Rest-Intervall vom Standpunkt einer Musiktheorie, die auf eine in sich geschlossene, rationale Tonsystematik bedacht ist, als „irrational“ empfunden werden muß, so er[104]scheint auch die Religion „vom Standpunkt einer intellektuellen Formung des Weltbildes“, von der „Forderung“ aus, „daß das Weltgefüge in seiner Gesamtheit ein irgendwie sinnvoller Kosmos sei“, als „irrational“. Beide, Komma wie Religion, widersetzten sich der „Rechnung des konsequenten Rationalismus“, beide wurden aber auch auf unterschiedliche Weise zu rationalisieren gesucht, entweder indem sie radikal beseitigt oder auch zum Anlaß genommen werden, vielfältige Kompromisse zwischen Rationalem und Irrationalem im Weltbild und der praktischen Lebensführung zu formen: „Wie in der Musik das pythagoreische ,Komma‘ der restlosen tonphysikalisch orientierten Rationalisierung sich widersetzte und wie daher die einzelnen großen Musiksysteme aller Völker und Zeiten sich vor allem durch die Art und Weise unterschieden, wie sie diese unentfliehbare Irrationalität entweder zu überdecken und zu umgehen oder umgekehrt in den Dienst des Reichtums der Tonalitäten zu stellen wußten, so schien es dem theoretischen Weltbild, noch weit mehr aber und vor allem der praktischen Lebensrationalisierung, zu ergehen. Auch hier wurden die einzelnen großen Typen der rational methodischen Lebensführung vor allem durch diejenigen irrationalen, als schlechthin gegeben hingenommenen, Voraussetzungen charakterisiert, die sie in sich aufgenommen hatten.“ Weber, Einleitung, in: MWG I/19, S. 102 f.
109
In tonsystematischer Hinsicht gibt Weber hier eine kurze idealtypisch pointierte Zusammenfassung seiner Studie. Während das moderne europäische, gleichschwebend-temperierte Tonsystem das Komma mit der Einteilung der Oktave in zwölf gleich große Halbtonstufen eliminiert und so eine geschlossene und universalhistorisch einzigartige rationale Tonsystematik konstruiert, hat die hellenische Musik mit ihren Viertel- und Dritteltönen die Komma-Differenzen der „natürlichen“ Tonabmessung belassen und sich deren Reichtum, sozusagen einen bunten Garten von „enharmonisch“ verschiedenen Tönen, Tonarten und Tongeschlechtern zunutze gemacht.[104] Ebd., S. 102 f.
110
Zu den Termini siehe unten das Glossar.
6. Religions-, Herrschafts- und Musiksoziologie
Die enge Verzahnung von Musik- und Religionssoziologie reicht über den beiderseitigen rationalisierungstheoretischen Komma-Diskurs hinaus auf genuin soziologisches Terrain. Auch wenn das Rationale, gefolgt vom Instrumentaltechnischen, die Musik-Studie in ihrer überlieferten Gestalt eindeutig dominiert, so kann die soziale bzw. soziologische Argumentationsebene nicht ignoriert bzw. in die Rubrik der ungeschriebenen Pläne We[105]bers abgelegt werden. Anhaltspunkte darüber, wie sich Weber dieses „Soziologische“ vorgestellt hat, bietet nicht nur die Musik-Studie, sondern gerade auch die gleichzeitig oder in den Jahren unmittelbar danach verfaßten religions- und herrschaftssoziologischen Analysen der Abhandlungen zu „Wirtschaft und Gesellschaft“ und der „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“.
a) Religiöse Trägerschichten und ihr künstlerisch-musikalisches „Ethos“
Webers und Vosslers Zurückweisung „dilettantischer“ Klassen-Rekurse enthebt beide nicht der Frage nach den kulturhistorisch und -soziologisch maßgeblichen Trägerschichten. Während Vossler sich auf dem Terrain der französischen Sprachentwicklung auf die Troubadour- und feudale Ritter-Kultur konzentriert, konstatiert Weber für das Terrain der okzidentalen Musikgeschichte bzw. seinen Plan, „über gewisse soziale Bedingungen“ zu forschen, „aus denen sich erklärt, daß nur wir eine ,harmonische‘ Musik haben“: „Merkwürdig! – das ist ein Werk des Mönchthums, wie sich zeigen wird.“
1
In der Herrschaftssoziologie präzisiert Weber dies, wobei er wiederum – sozusagen negativ – auf die Kultursoziologie verweist: „Daß ferner das Abendland z. B. allein den Entwicklungsweg zur harmonischen Musik eingeschlagen hat, verdankt es – wie hier nicht nachgewiesen werden kann – ebenso wie die Besonderheit der Entwicklung seines wissenschaftlichen Denkens zum immerhin erheblichen Teil der Eigenart des benediktinischen und weiterhin auch des franziskanischen und dominikanischen Mönchtums. Hier haftet unser Blick vor allem an den rationalen Leistungen des Mönchtums, die absolut unvereinbar scheinen mit seinen […] antiökonomischen Grundlagen.“[105] Brief Webers an Lili Schäfer vom 5. August 1912, MWG II/7, S. 639.
2
Weber, Staat und Hierokratie, WuG1, S. 787 (MWG I/22-4). Im religionssoziologischen Abschnitt von WuG eröffnet Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 266, dazu den universalhistorischen Horizont: „Neben den Priestern oder statt ihrer sind es in allen Zweigen des Buddhismus, im Islam und im alten und mittelalterlichen Christentum vor allen Dingen Mönche oder mönchsartig orientierte Kreise, welche nicht nur das theologische und ethische, sondern alles metaphysische und beträchtliche Bestandteile des wissenschaftlichen Denkens überhaupt und außerdem der literarischen Kunstproduktion okkupierten und literarisch pflegten.“ Auch hier, ebd., S. 267, verweist Weber – negativ und indirekt – auf die geplante Kultursoziologie: „Aber hier soll es nicht auf die literarische Produktion und ihren Charakter, sondern auf die Prägung der Religiosität selbst durch die Eigenart der sie beeinflussenden Intellektuellenschichten ankommen.“
Explizit korrespondiert dies mit dem Mittelteil der Musik-Studie, der vorwiegend dem Rationalismus des (europäischen) Mönchtums gewidmet ist, d. h. der von Klerikern getragenen mittelalterlichen Musiktheorie und ihrem [106]spezifischen, technisch anspruchsvollsten und kostspieligsten Instrument, der Orgel, die auf die okzidentale Musikentwicklung einen „sehr hohen Einfluß“ ausgeübt hat. Allerdings bleibt die Frage der Chronologie ungeklärt, ob die Studie die zuerst konzipierten WuG-Gedanken erläutert oder umgekehrt Weber mit dem Mönchtums-Rekurs in WuG den musikhistorischen Mittelteil der Studie zusammenfaßt. Hier, im Zentrum der Studie, geht Weber den „spezifischen Bedingungen der okzidentalen Musikentwicklung“ nach und mißt der „Entwicklung unserer modernen Notenschrift“ die größte Bedeutung zu. Denn die Notenschrift erhob die okzidentale mehrstimmige Musik „zur Schriftkunst und schuf so den eigentlichen ,Komponisten‘ und sicherte den polyphonen Schöpfungen des Abendlands im Gegensatz zu denen aller anderen Völker Dauer, Nachwirkung und kontinuierliche Entwicklung“.
3
Die Herausbildung dieses einzigartigen „rationalen Notenschriftssystems“ aber ist, wie Weber mit seinen Analysen zu Guido von Arezzo und späteren klerikalen Musiktheoretikern darlegt, wesentlich das Werk von Mönchen.[106] Unten, S. 237 f.
4
Spezielle Aufmerksamkeit schenkt er den Zisterziensern, jenem Orden, der, wie es in der Religions- und Herrschaftssoziologie und schon in der Protestantismus-Studie heißt, Unten, S. 236. Auch jene WuG-Paradoxie von „rationalen Leistungen“ des Mönchtums und seinen „antiökonomischen Grundlagen“, Weber, Staat und Hierokratie, WuG1, S. 787 (MWG I/22-4), greift die Musik-Studie auf. Die Tatsache, daß das Mönchtum als „Asketengemeinschaft“ zu den „erstaunlichen Leistungen befähigt gewesen [ist], welche über das hinausgehen, was die normale Wirtschaft zu leisten pflegt“ (ebd., S. 788) illustriert Weber musikhistorisch anhand der Entwicklung der Orgel: „Die feste Grundlage für den von jeher und zunehmend kostspieligeren Bau des immer komplizierteren, nach Erfindung des Pedals und besonders seit Anfang des 16. Jahrhunderts durch Differenzierung der Mensuren seiner Vollendung entgegengeführten Instruments bot im Okzident von Anfang an nur seine kirchliche Verwendung. In einer marktlosen Zeit war die Klosterorganisation die einzig mögliche Grundlage, auf dem es gedeihen konnte. […] Orgelbauer und Organisten sind zunächst entweder Mönche oder doch von Mönchen oder Domherren instruierte Kloster- oder Kapiteltechniker.“ (Unten, S. 266 f.). Siehe dazu auch unten, S. 113 f.
5
einer „ganz methodischen“ und „die rationalste Schlichtheit pflegenden Regel“ folgt; diese verleiht der mönchischen Lebensführung „welthistorische Bedeutung“ insofern, als sie „zu einer systematisch durchgebildeten Methode rationaler Lebensführung geworden [war], mit dem Ziel, den status naturae zu überwinden, den Menschen der Macht der irrationalen Triebe und der Abhängigkeit der Welt und Natur zu entziehen [und] der Suprematie des planvollen Wollens zu unterwerfen […]“. Weber, Staat und Hierokratie, WuG1, S. 786, 789, 796 (MWG I/22-4); ders., Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 338 (dort das nachfolgende Zitat); ders., PE II, S. 28.
6
Tonsystematisch entspricht [107]der asketischen Zisterzienser-Regel die leidenschaftslose „Anhemitonik“, ein halbtonloses Singen, das „mit einer ihnen [den Zisterziensern] spezifischen Vorliebe für die Terz zusammen[ging]“. Die Terz aber hat in der okzidentalen Musikentwicklung eine „im Sinn der Harmonik revolutionierende Rolle“ gespielt: sie ist der Keim des spezifisch okzidentalen „Empfindens für Harmonie“ und damit grundlegend für die Ausbildung der modern-europäischen Akkordharmonik. Ebd., S. 28.
7
[107] Unten, S. 158 f., 163, 177 und 227.
Der Verweis auf die „spezifische Vorliebe“ des europäischen Mönchtums für „Anhemitonik“, also für eine spezifische Tonsystematik in Gestalt besonderer „Tonarten“ und für Musikpraktiken, die auf der Verwendung dieser Tonarten basieren, führt ins Zentrum der Weberschen Art, Musiksoziologie zu treiben. Sie korrespondiert aufs engste mit den religionssoziologischen Studien von „Wirtschaft und Gesellschaft“ sowie der „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“. Diese arbeiten die „Eigenart, das heißt […] die äußere, sozial, und die innere, psychologisch, bedingte Interessenlage derjenigen Schichten“ heraus, „welche Träger der betreffenden Lebensmethodik in der entscheidenden Zeit ihrer Prägung waren“ und die mit einer der fünf Weltreligionen, d. h. „religiösen oder religiös bedingten Systeme[n] der Lebensreglementierung“ korrespondieren.
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Weber versteht die Trägerschichten „alle nicht als Exponenten ihres Berufes oder materieller ,Klasseninteressen‘“, sondern „als ideologische Träger einer solchen Ethik oder Erlösungslehre, die sich besonders leicht mit ihrer sozialen Lage vermählte“. Weber, Einleitung, in: MWG I/19, S. 103 und 83. Weber unterscheidet, ebd., zwei Typen von „ausschlaggebenden“ Schichten: „Intellektuelle“ und solche, die „praktisch handelnd im Leben standen“, also „ritterliche Kriegshelden oder politische Beamte oder wirtschaftliche erwerbende Klassen“.
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Damit ist jeder einseitig kausalen „Herleitung“ [108]oder „Widerspiegelungs“-Theorie, wonach Religionen nur Produkte von materiellen oder ideellen Interessenlagen seien, widersprochen. Im „Vermählungs“-Gedanken ist vielmehr die „Eigengesetzlichkeit“ des Religiösen und Sozialen bzw. der jeweiligen Erlösungsreligion und ihrer sozialen Trägerschicht mitgedacht, die je nach Charakter „wahlverwandt“ waren und sich „vermählten“. Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 283. So ist, MWG I/19, S. 86 f., der Konfuzianismus „die Standesethik einer literarisch gebildeten weltlich-rationalistischen Pfründnerschaft“, der ältere Hinduismus hingegen die Religion einer „erblichen Kaste literarisch Gebildeter, die, jedem Amt fremd, als eine Art ritualistischer Seelsorger der Einzelnen und der Gemeinschaften fungierten“, während im indischen Mittelalter der Hinduismus als „inbrünstige sakramentale Heilands-Religiosität der unteren Schichten mit plebejischen Mystagogen auf den Plan“ trat; der Buddhismus wiederum wurde „von heimatlos wandernden, streng kontemplativen und weltablehnenden Bettelmönchen propagiert“, hingegen war der Islam zunächst „eine Religion welterobernder Krieger, eines Ritterordens von disziplinierten Glaubenskämpfern“, dann zunehmend in Gestalt des kontemplativ-mystischen Sufismus eine Kleinbürger-Religion „unter der Führung von plebejischen Technikern der Orgiastik“; das Judentum war die „Religion eines bürgerlichen ,Pariavolkes‘ […] und geriet im Mittelalter unter die Führung einer ihm eigentümlichen literarisch-ritualistisch geschulten Intellektuellenschicht, welche eine zunehmend proletaroide, rationalistische Kleinbürgerintelligenz repräsentierte. – Das Christentum endlich begann seinen Lauf als eine Lehre wan[108]dernder Handwerksburschen. Es war und blieb eine ganz spezifisch städtische, vor allem: bürgerliche, Religion […] in der Antike ebenso wie im Mittelalter und im Puritanismus“.
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Zum Begriff der „Wahlverwandtschaft“ siehe etwa Weber, PE I, S. 54; ders., Einleitung, MWG I/19, S. 106; ders., Wirtschaftliche Beziehungen der Gemeinschaften im allgemeinen, MWG I/22-1, S. 81; ders., Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 238, und ders., Antikritisches Schlußwort zum „Geist des Kapitalismus“, in: AfSSp, Band 31, 1910, S. 554–599 (MWG I/9; hinfort: Weber. Schlußwort), hier S. 581 und 596.
Analoges gilt für die künstlerisch-musikalische Sphäre, zu der die Weltreligionen verschieden Stellung beziehen, und zwar als Religion im allgemeinen wie auch als deren „verschiedene Strukturformen, Schichten und Träger“ im besonderen, d. h. „Propheten anders als Mystagogen und Priester, Mönche anders als fromme Laien, Massenreligionen anders als Virtuosensekten, und von diesen die asketischen sehr anders und zwar im Effekt naturgemäß prinzipiell kunstfeindlicher als die mystischen“.
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Die Musik-Studie erläutert dies, indem sie Wahlverwandtschaften zwischen dem Ethos einer bestimmten religiös und kulturell gebundenen Lebensführung und dem Ethos einer bestimmten Musik oder Tonsystematik benennt. Weltweit verbreitet war bzw. ist die Pentatonik, die „häufig mit einer durch das ,Ethos‘ der Musik bedingten Meldung des Halbtonschrittes Hand in Hand“ geht und daher mit einem asketischen Lebensführungsethos korrespondiert, das die Chromatik ablehnt. Im Okzident führt Weber in erster Linie die „alte Kirche“ an, der der Halbtongebrauch „antipathisch“ ist; dies gilt „speziell“ auch für die Zisterzienser, die „ihrer Ordensregel gemäß puritanische Vermeidung alles ästhetischen Raffinements auch auf diesem Gebiet pflegten“. Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 413.
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Im ostasiatischen Kulturkreis sind hingegen „nur die feudal organisiert gewesenen Japaner mit ihrem Streben nach leidenschaftlichem Ausdruck der Chromatik prinzipiell stark ergeben. Chinesen, Anamiten, Kambodschaner, die ältere javanische Musik (Salendro-Skala) sind ihr ebenso wie auch allen Mollakkorden gleichmäßig abgeneigt“, wie ihre zumeist halbtonlosen pentatonischen Weisen zeigen. Unten, S. 159 f.
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Ebd.
[109]Vor allem interessiert Weber das musikalisch-künstlerische Ethos der antiken Kulturen und Religionen. Stark kontrastiert er Rom und Hellas. Die Ekrasierung und Degradierung der „Ekstasis“ zur „superstitio“ erscheint ihm typisch für die rationalistische Lebensführung des römischen Adels; mit dem Tanz lehne dieser auch die Musik als „unschicklich“ und „würdelos“ ab.
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Die Askese überhaupt sei verantwortlich für die „höchst charakteristische Gegensätzlichkeit der römischen Kulturentwicklung […] gegen die hellenische“ – mit den „allerweittragendsten Konsequenzen auf den verschiedensten Gebieten“; so sei „z. B.“ in der Musik Rom „absolut unproduktiv“ geblieben, während in Hellas nicht nur „rein musikalisch-rhythmisch erzeugte Formen der Ekstasis“, sondern auch Tanzkulte, etwa der musikalisch bedeutsame Dionysoskult, gepflegt wurden. Überhaupt wurde in Hellas gemäß dem Bildungsideal der „sophrosyne“ größter Wert gelegt auf die „gymnastisch-musische Durchbildung der Persönlichkeit“ und die musischen agone.[109] Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 336 f., und ders., Staat und Hierokratie, WuG1, S. 792 (MWG I/22-4).
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Ebd., S. 793; ders., Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 337 und 316 f.; ders., Umbildung des Charisma, WuG1, S. 777 (MWG I/22-4).
In der Musik-Studie verdeutlicht Weber, daß es vor allem die Musik ist, die beide Kulturen voneinander trennt. Während Rom hier kaum Beachtung findet, diskutiert die Studie ausführlich die hellenische Tonrationalisierung insbesondere der „klassischen“ und hellenistischen Zeit, die eine Melodik von höchstem „Raffinement“ geschaffen habe – eine „Feinheit […], welche […] der antiken Musikkultur das entscheidende Gepräge“ gegeben und die keine spätere Epoche mehr erlangt habe.
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Darüber hinaus wiegen – so Weber in der Religionssoziologie Unten, S. 278; die Einzelheiten S. 167–171.
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– die Hellenen „sehr sorgsam das ,Ethos‘ der Musik als ,politisch‘ richtig ab“ – „ganz ebenso, nur nicht so weitgehend wie der […] konfuzianische Rationalismus“. Die Musik-Studie wiederum konkretisiert: Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 317.
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beiden, „den älteren Hellenen und der bürgerlich rationalen konfuzianischen Musiklehre“, ist die Chromatik „antipathisch“. Im Gegensatz aber zur hellenischen „kriegerischen Polis“ kennt – so Weber in der Konfuzianismus-Studie – die konfuzianische „reine Literatenherrschaft auf der Basis einer ethisch purifizierten Literatur (und Musik)“ nur ein einziges und dazu auch noch recht einfach strukturiertes Tonsystem: die Pentatonik. Unten, S. 159.
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Im konfuzianischen, „absichtsvoll [110]nüchtern und schlicht“ gehaltenen Staatskult sind „alle orgiastischen Elemente streng – auch aus der offiziellen, pentatonischen, Musik offenbar absichtsvoll – ausgemerzt“. Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 374 (Klammern von Weber). Zu Pentatonik und Konfuzianismus vgl. Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 317. Allerdings kennt die chinesische Musik auch – so ist Weber zu ergänzen – diatonisch-heptatonische, jedoch keine chromatische Melodien.
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Statt dessen herrscht das Ideal der „Schicklichkeit“ als „Ethik des ,vornehmen Menschen‘, des ,Gentleman‘“, und in der musisch-künstlerischen Erziehung der Jugend wache die Maxime: „Musik bessert den Menschen, Riten und Musik sind die Grundlage der Selbstbeherrschung. […] ,Richtige Musik – d. h. die nach den alten Regeln und streng im alten Maß verwendete Musik – hält die Geister im Zaum‘“.[110] Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 337.
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Hinter den „alten Regeln“ und dem „alten Maß“ aber wirkten die chinesische „universalistische“ Philosophie und Kosmogonie, insbesondere die „kosmogonische Spekulation mit der heiligen Fünfzahl: 5 Planeten, 5 Elemente, 5 Organe usw.“ Ebd., S. 306 f. Weber zitiert nach dem mittelalterlichen Lehrbuch Siao-Hio („Jugendlehre“).
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Die Musik-Studie ergänzt dieses „usw.“ mit der „zahlenmythologischen Deutung der Töne“, mit der „Penta“- und „Heptatonik“: „die Heiligkeit der Fünf- und (namentlich) Siebenzahl hat die Art der Teilung [der Oktave in fünf bzw. sieben Tonstufen] mindestens mit beeinflußt“ und das „noch heute“ gültige „offizielle chinesische System“ der Pentatonik mitbegründet. Ebd., S. 407.
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Unten, S. 158, 186 und 247.
Während die Konfuzianismus-Studie enge Bezüge zur Musik-Studie erkennen läßt, weisen Webers Analysen zum „,Rationalismus‘ des Judentums“ kaum musikalisch-künstlerische Ethos-Bemerkungen auf. Das „zweite Gebot“ sowie der „reine Lehr- und Gebotscharakter des typischen synagogalen Gottesdienstes“ habe „gerade die plastischen Elemente des Kults herabgesetzt, die orgiastischen und orchestrischen […] gänzlich ausgemerzt“ und eine „völlige Verkümmerung der bildenden Kunst“ gebracht.
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Das Moment des Künstlerisch-Asketischen bekräftigt die Musik-Studie mit dem Hinweis auf eine pentatonische Skala des Synagogengesanges. Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 427 f., ders., Staat und Hierokratie, WuG1, S. 811 (MWG I/22-4).
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Unten, S. 159. Die zwischen 1917 und 1920, in: AfSSp, Jg. 44–46, veröffentlichte Studie über „Das antike Judentum“ (MWG I/21) kennt keine nennenswerten musikbezogenen Bemerkungen. Analoges gilt für die 1916 und 1917, ebd., Jg. 41 und 42, veröffentlichten Artikel über Hinduismus und Buddhismus (MWG I/20).
Askese heißt Webers Schlüsselwort auch für die Stellungnahmen des Christentums zu den künstlerischen „Culturinhalten“. Mit Vorbehalt ist zunächst die von Honigsheim – vermutlich stark verkürzt – überlieferte „Theorie“ Webers zu betrachten, die das frühe Christentum als körper-, [111]tanz- und rhythmusfeindliche Religion versteht, die „dementsprechend“ melodisch ausgerichtet gewesen sei und Fakten geschaffen habe, „welche zur Gestaltung einer rein instrumentalen Musik, insbesondere in Gestalt von Suite, Sonate und Symphonie, geführt haben“.
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Allerdings bringt auch die Musik-Studie Fakten, die zumindest gegen den Melodik-Bezug dieser Theorie sprechen, so die tonsystematische Grunderkenntnis, daß gerade die „unchristlichen“ Kulturen, von der hellenischen Antike bis zur indischen und südostasiatischen Inselwelt, genuin melodisch differenzierte Musikkulturen waren bzw. sind – im Unterschied zur „harten Diatonik“, also melodisch recht undifferenzierten Musik des christlichen Mittelalters. Auch entsteht ja gerade aus der Musik des christlichen Mittelalters die akkordharmonische Musik, die ebenfalls im Vergleich mit jenen antiken bzw. außereuropäischen Kulturen, kaum melodisches Raffinement für sich beanspruchen kann. Schließlich kann aus einem Mangel an Rhythmus nicht auf eine melodische Kompensation geschlossen werden. Eindeutig konstatiert Weber hingegen, daß die spätrömische Christen-Gemeinde den asketischen Rationalismus des tanz- und musikfeindlichen römischen Adels übernommen und von „der charismatischen Prophetie angefangen bis zu den größten Neuerungen der Kirchenmusik […] keinerlei irrationales Element aus eigener Initiative der Religiosität oder der Kultur eingefügt“ habe.[111] Honigsheim, Heidelberg, S. 248: „Das Christentum ist die einzige unter den Schriftreligionen, welche nie einen kultischen Tanz gekannt hat. Es perhorreszierte nämlich den Körper. Dadurch wurde eine körperlose Musik möglich, die nicht primär auf Rhythmus eingestellt ist und dementsprechend auf Melodik aus sein kann, und zwar in einem Grade, wie sonst kaum irgendwo.“ Honigsheim erzählt ebd., Weber habe diese Theorie ihm und „wenigen Freunden“ dargelegt, er selbst halte sie „zum mindesten in dieser Form [für] nicht haltbar“.
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In die engeren tonsystematischen Analysen wiederum gehört das kirchliche, „prinzipiell“ bzw. „rational“ allerdings „kaum“ begründbare, Verbot des Tritonus-Intervalls, des „Diabolus in musica“, Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 337.
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während die von Weber im religionssoziologischen Kontext angeführte „bekannte Stellungnahme des Tridentiner Konzils“ sich zunächst gegen eine allzu polyphone, textunverständliche Kirchenmusik, letztlich jedoch gegen die Musik als „Kreaturvergötterung“, als „verantwortungslose Surrogatform des ersten religiösen Erlebens“ richtete. Unten, S. 220.
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Weber, Zwischenbetrachtung, MWG I/19, S. 501. Palestrina wird der Legende nach die „Rettung“ der „alten Kirchenmusik“ zugeschrieben, nachdem das Trienter Konzil (1545–1563) die polyphonen Kompositionen der päpstlichen Kapelle wegen Unverständlichkeit der mehrfach übereinander gelagerten Meß-Texte verbieten bzw. stark vereinfachen wollte. Mit seiner vermutlich um 1562 entstandenen „Missa Papae Marcelli“ habe Palestrina Papst Marcellus, der allerdings im Frühjahr 1555 nur drei [112]Wochen regierte, zu besänftigen versucht. Zur Legendenbildung und -tradierung siehe Hucke, Helmut, Die Messe als Kunstwerk, in: Sabine Ehrmann-Herfort, Ludwig Finscher, Giselher Schubert (Hg.), Europäische Musikgeschichte, Band 1. – Kassel: Bärenreiter-Verlag 2002, S. 239–284.
[112]Besonderes Augenmerk legt Weber auf die protestantische Ethik calvinistischer und puritanischer Provenienz, der er rigoros asketische Züge (auch und gerade) in künstlerischen Dingen zuschreibt. Ein unerbittlicher Gott, der nur ein „schroffes Entweder-Oder: Gnadenstand oder Verwerfung“ kenne und als einzige Gnaden-Chance eine rigoros asketisch-methodische Lebensführung gewähre, zwingt den Calvinisten und Puritaner zu einer „absolut negative[n] Stellung […] zu allen sinnlich-gefühlsmäßigen Elementen in der Kultur“, zu einer „grundsätzlichen Abwendung von aller Sinnenkultur“.
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Künstlerisch schlägt sich der „Haß des Puritaners gegen alles, was nach ‚superstition‘ roch“ in der Verfolgung jeglicher „unbefangene[r] kirchliche[r] Kunstübung“ nieder. Weber, PE II, S. 11, 28, Fn. 53.
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Die Musik-Studie verdeutlicht dieses Spannungsverhältnis an einem instrumentalen und einem biographisch markanten Beispiel: „die Schweizer Reformierten, die Puritaner und fast alle asketischen Sekten [wiesen] auch die Orgel (eben weil sie dem Kunstgesang gedient hatte) ähnlich aus der Kirche […], wie das antike Christentum den Aulos“. Weber, PE, in: GARS I, S. 185. Diese Passage findet sich noch nicht in der frühen Fassung. In einem Exkurs, ebd., Fn. 1 (zu großen Teilen schon in: Weber, PE II, S. 94, Fn. 54), geht Weber auf England ein, wo nach dem elisabethanischen, sogenannten „goldenen“ Zeitalter der Puritanismus ein „Eintrocknen der Lyrik und des Volksliedes, nicht nur des Dramas“ bewirkt habe; seine „nicht unbedeutend[e]“ Rolle in der Musikgeschichte habe England seither ausgespielt und den „Absturz von einer anscheinend ganz guten musikalischen Veranlagung […] zu jenem absoluten Nichts, welches wir bei den angelsächsischen Völkern später und noch heute in dieser Hinsicht bemerken“, zu verkraften. – Die um die Jahrhundertwende in Gang gekommene Renaissance der englischen Musik, vor allem das Schaffen Edward Elgars (1857–1934), Frederick Delius’ (1862–1934), Gustav Holsts (1874–1934) und Ralph Vaughan Williams, (1872–1958) war Weber offenbar wie auch den meisten Zeitgenossen auf dem europäischen Festland unbekannt geblieben.
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Johann Sebastian Bach wiederum mußte nicht nur zwischen seinem persönlich-künstlerischen Anspruch und den Erwartungen seiner Obrigkeit an eine gemein(de)verständliche Kirchenmusik, sondern auch zwischen den konträren, zwischen Pietismus und orthodoxem Luthertum konkurrierenden kompositorischen Vorgaben lavieren: „in der lutherischen Kirche [trat] Ende des 17. Jahrhunderts mit dem Vordringen des Pietismus die Katastrophe der alten kirchlichen Kunstmusik ein. Nur die Orthodoxie hielt an einem beträchtlichen Maß kirchlichen Kunstgesanges fest, und es wirkt tragikomisch, daß J, S. Bachs Musik – [113]seiner persönlichen religiösen Stellung entsprechend – trotz streng dogmatischer Gebundenheit – doch einen unverkennbaren Einschlag pietistischen Stimmungsgehaltes trägt, an seinem eigenen Wohnort von den Pietisten beargwöhnt, von den Orthodoxen gewürdigt wurde.“ Unten, S. 268.
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[113] Ebd., S.268 f.
b) Kulturelle Trägerschichten und ihr Ethos
Neben Wahlverwandtschaften von Religionen bzw. religiösen Trägerschichten und Musik thematisiert Weber auch solche zwischen (inner-)kulturellen Trägerschichten und musikalischen Wertschätzungen, mit anderen Worten: nicht nur der Religions-, sondern auch der Herrschaftssoziologe hat die musikalische Sphäre im Blick – allerdings nur sporadisch, nicht systematisch, wie dies sein Vorhaben vom August 1912, „über gewisse soziale Bedingungen“ der Musik arbeiten zu wollen, nahelegt.
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Zu den „typischen“ Bestandteilen „ständische[r] Konventionen“ auf ästhetisch-künstlerischem Terrain, die „namentlich bei den höchstprivilegierten Schichten“ anzutreffen seien, erklärt Weber das „Recht auf bestimmte, nicht erwerbsmäßige, sondern dilettierende Arten der Kunstübung“; so gehört zu den „ständisch akzeptierten Formen der Musikausübung“ das (dilettierende) Spiel „bestimmte[r] Musikinstrumente“. So Webers Brief vom 5. August 1912 an die Schwester Lili (MWG II/7, S. 639).
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Der Instrumental-Teil der Musik-Studie führt einige Beispiele an. Weber, „Klassen“, „Stände“ und „Parteien“, MWG I/22-1, S. 265 f. Daß aus den „höchstprivilegierten“ Schichten in der Regel keine Berufsmusiker bzw. Musikanten hervorgehen konnten, liegt an der Einschätzung „rationaler Erwerbstätigkeit“ als „entehrende[r] Arbeit“, ebd., S. 266, und Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 276.
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Radleier und Trumscheit etwa seien „nie Instrumente vornehmer Dilettanten“, sondern „in den Klöstern des frühen Mittelalters heimisch“ gewesen, daneben auch von fahrenden Spielleuten verwendet worden. Deren typisches Instrument war die Fidel, der genuine „Träger der Volkstanzweisen“. Ein weit höheres Ansehen als sie genoß der angelsächsische Crwth, das „ständespezifische“ Instrument der gälischen Barden. Die „traditionelle Festlegung des sozialen Ranges der einzelnen Instrumente“ macht Weber wiederum dafür verantwortlich, daß die modernen Nachfahren der Fidel, die Violinen, nach ihrer technischen Verfeinerung im 17. Jahrhundert zwar in Opernorchestern, zunächst jedoch noch nicht als Soloinstrumente verwendet wurden: „Der Lautenist war, weil die Laute auch höfisches Dilettanteninstrument war, gesellschaftsfähig, seine Gage betrug in einem Orchester der Königin Elisabeth das Dreifache derjenigen des Violinisten, das fünffache des Dudel[114]sackpfeifers. Der Organist vollends galt als Künstler. Der Violinvirtuose hatte eine solche Stellung erst zu erringen […].“ Die nachfolgenden Zitate siehe unten, S. 255–257 und 262.
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[114] Ebd., S. 262.
Jene Elisabeth sieht Weber im 16. Jahrhundert „an der Spitze“ eines „spezifische[n] Publikum[s]“ stehen, das am Cembalo bzw. Virginal dilettiert und sich „naturgemäß“ und aufgrund des „Binnenraumcharakters“ dieses Tasteninstrumentes aus den „an das Haus gefesselten Volkskreisen“: den Frauen rekrutiert.
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Typische Konsumenten des Cembalos waren neben Orchestern vor allem Patrizier. Der moderne Nachfolger dieses spezifisch häuslichen Instruments, das Klavier, hat im 18. Jahrhundert die wesentlichen Antriebe zur Weiterentwicklung aus den Kantoreien Sachsens, spezifisch „bürgerlichen“ Stätten der Musikbildung, empfangen. Weber nennt es „heute bei uns“, d. h. in der transalpin-nordeuropäischen „Kultur des bürgerlichen ,home‘“, das typische und – als „selbstverständlich“ gewordenes „bürgerliches ,Möbel‘“ – das am meisten verbreitete Instrument. Sein Rang als „Dilettanteninstrument der sozialen Oberschicht“ ist historisch vergleichbar mit demjenigen der antiken Kithara, der „Harfe des Nordens“ und der „Laute des 16. Jahrhunderts“. Unten, S. 272. Auf den klimatisch bedingten, „die Lebensführung und die Arbeitskosten beeinflussende[n]“ „Binnen-Kultur-Charakter“ rekurriert Weber, Schlußwort (wie oben, S. 108, Anm. 10), S. 597, bereits 1910 im Kontext der Frage nach den Entwicklungsbedingungen des modernen Kapitalismus in der „mittelalterlichen, speziell der binnenländischen Stadt und ihres Bürgertums“.
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Schließlich gilt Webers Interesse, glaubt man Paul Honigsheims Erinnerungen, auch statistischen Erhebungen, ja sogar eigenen ,Feldforschungen‘ zur sozialen, ökonomischen und psychologischen Situation von Berufsmusikern seiner Gegenwart Unten, S. 279 f. Das „bürgerliche ,home‘“-ldeal, das Weber, PE II, S. 100, wesentlich von quäkerischen Lebensführungsmomenten geprägt sieht, fehlt der südländisch-italienischen Kultur, so daß diese, obwohl die Entwicklung des Hammerklaviers wesentlich hier ihren Ursprung hat, kein weiteres Interesse am Klavierbau hatte, siehe unten, S. 274 f.
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– ein Interesse, das zwar nicht in die Musik-Studie Eingang gefunden hat, das aber offenbar den Soziologen im engeren Sinne, der be[115]reits 1908 statistische Erhebungen zu Berufswahl und Berufsschicksal der Arbeiterschaft ausgewertet hat, nachhaltig beschäftigt. Honigsheim, Heidelberg, S. 247. Dieser erzählt, ebd., von einem Spaziergang Webers mit einem „Musikwissenschaftler von auswärts“ im Frühjahr 1912, dem Weber „zwei Problemkomplexe“ darlegte, die es „wert [seien], in wissenschaftlich relevanter Weise untersucht zu werden. Einmal: Welches sind die Gründe der Tatsache, daß der einzelne Instrumentalist sich gerade dies sein spezielles Instrument, zum Beispiel Oboe oder Fagott, und nicht etwa ein anderes gewählt hat? Zum andern: Inwieweit hat der einzelne Spieler, der ein Instrument bläst, für welches es nur in begrenztem Maße solistische Kompositionen gibt, etwa der Posaunen- oder Tubabläser, sich mit dieser seiner Situation abgefunden, und inwieweit bedauert er es, nur eben ein solches Instrument zu beherrschen.“
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[115] Webers Fragen zur inneren und äußeren Situation von Berufsmusikern wirken weniger befremdlich, sieht man ihre Verwandtschaft zu den vom Verein für Sozialpolitik durchgeführten „Erhebungen über Auslese und Anpassung (Berufswahl und Berufsschicksal) der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie“ von 1908, in deren „Methodologischer Einleitung“ Weber nach der „psychophysischen und charakterologischen Eigenart der Arbeiterschaft einer Industrie“ und dem Niederschlag dieser Eigenart im „Lebensstil“ fragt (MWG I/11, S. 63–149, hier S. 96).
Zum musikalischen Ethos von Gesellschaftsschichten jenseits konkreter Instrumente und Musikpraktiken macht Weber nur wenige eindeutige Zuschreibungen. Universalhistorisch gesehen sind in den „positiv privilegierten Schichten“ musisch-künstlerische Wertschätzungen Ausdruck eines spezifischen „Würdegefühl[s]“ und diesseitigen Ideals der „kalokagathia“ bzw. eines vornehmen Gentleman-Daseins.
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So pflegte die konfuzianisch geschulte Patrimonialbürokratie Chinas das „pentatonische ,Ethos‘“, während der „,Geist‘ der japanischen Lebensführung“ im „feudalen Charakter der politischen und sozialen Struktur“ der Insel zum Ausdruck kommt, der musikalisch gerade nicht mit der Pentatonik, sondern mit der leidenschaftlichen Chromatik korrespondiert. Weber, „Klassen“, „Stände“ und „Parteien“, MWG I/22-1, S. 263.
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Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 337, und ders., Hinduismus, MWG I/20, S. 433 f., und unten, S. 159 f.
Auch die eigenen „bürgerlichen Klassen“
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bezieht Weber in seine ästhetisch-musikalischen Ethos-Analysen ein. Während er historisch – für die Frage nach der „Entstehung des abendländischen Bürgertums und seiner Eigenart“ „Ich bin ein Mitglied der bürgerlichen Klassen, fühle mich als solches und bin erzogen in ihren Anschauungen und Idealen“, so Weber in seiner Freiburger Antrittsrede, Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, MWG I/4, S. 568.
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– die (pentatonische) Askese des Mönchtums und die allgemeine Kunstferne des asketischen Protestantismus betont, erscheint ihm für seine Gegenwart, für das „moderne Bürgertum“ als deren kultureller Trägerschicht, gerade das Gegenteil ausschlaggebend. Nietzsches Diktum: „Unsere Künste [werden] selber immer intellectualer, unsere Sinne geistiger“, Weber, Vorbemerkung, in: GARS I, S. 10 (MWG I/18).
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verdeutlicht die eine Seite der Weberschen Sicht auf den „Geist“ der modernen Kunst und Musik. Die andere zielt auf eine Kritik an der zeittypisch romantisierenden „Weltflucht“ „unsere[r] modernen Intellektuellen“, Nietzsche, Friedrich, Menschliches, Allzumenschliches, KSA 2, S. 26.
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eine Kritik, die konsequent der Freiburger Einschätzung des klassenbewußten Bürgers, aber auch des „Beruf[s] gerade unserer Wissenschaft“ folgt, „zu sagen, was ungern gehört wird, – nach oben, nach [116]unten, und auch der eigenen Klasse“. Weber, Einleitung, MWG I/19, S. 101.
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Vergleichsweise wertfrei nennt Weber in der Sombart-Replik von 1910 „eine Musik wie die Wagnersche und alles, was ihr gefolgt ist, bis zu Richard Strauß“, also die Musik seiner Gegenwart, eine genuin „tonmalerische“ Musik, deren Charakter „zugleich sinnlich-emotional und intellektualistisch“ ist (und als solche von Weber, wie gesehen, persönlich durchaus genossen und mitunter begeistert aufgenommen wurde).[116] Weber, Antrittsrede, MWG I/4, S. 568.
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In der Musik-Studie überwiegt bereits Skepsis: hier attestiert Weber modernen Komponisten „Ästhetenmanieriertheit“ und „intellektualistische Feinschmeckerei“; dieser korrespondiert auf Seiten des Publikums eine „charakteristische, intellektualisiert-romantische Wendung unseres Genießens auf den Effekt des ‚Interessenten‘ hin“. Weber, Verhandlungen 1910 (Sombart), S. 100. Siehe oben, S. 86, 12 und 26.
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Hinter dieser Wendung ortet Weber die „moderne intellektualistische Romantik des Irrationalen“ als „Grundparole, die man aus allem Empfinden unserer nach […] Erlebnis strebenden Jugend“, aber auch und gerade „manche[r] moderne[r] Intellektuelle[n]“, „heraushört“; Unten, S. 241 und 252.
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sie ist Weber Synonym für die „moderne Großstadt“ mit „all dem wilden Tanz der Ton- und Farbenimpressionen, den auf die Sexualphantasie einwirkenden Eindrücken und den Erfahrungen von Varianten der seelischen Konstitution, die auf das hungrige Brüten über allerhand scheinbar unerschöpfbare Möglichkeiten der Lebensführung und des Glückes hinwirken.“ Weber, Wissenschaft als Beruf, MWG I/17, S. 92 und 108. In der Rede „Politik als Beruf“ (ebd., S. 227 und 250) wendet sich Weber ebenfalls gegen eine „ins Leere verlaufende ‚Romantik des intellektuell Interessanten‘“, insbesondere gegen „Windbeutel“, die sich „an romantischen Sensationen berauschen“.
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Die orchestral-„tonmalerisch“ überaus üppige und tonal denkbar modulationsreiche Musik Wagners und Strauss’ ist, so lassen sich Webers kultursoziologischen Wahlverwandtschaftsanalysen auffassen, das musikalisch-künstlerische Pendant dieser großstädtischen, mit „unerschöpflichen Möglichkeiten“ oder zumindest ihrer Illusion aufwartenden Zivilisation und ihrer Trägerschicht, dem modernen Bürgertum. Weber, Verhandlungen 1910 (Sombart), S. 98. In hämischem Tonfall schreibt Weber, Einleitung, MWG I/19, S. 101, „unsere[n] modernen Intellektuellen“ das „Bedürfnis“ zu, „neben allerlei andern Sensationen auch die eines ,religiösen‘ Zustandes als ,Erlebnis‘ zu genießen, gewissermaßen um ihr inneres Ameublement stilvoll mit garantiert echten alten Gerätschaften auszustatten […].“ Das erinnert wiederum an die Charakterisierung des Klaviers als „selbstverständlich“ gewordenem „bürgerlichen ,Möbel‘“, mit der Weber in Anlehnung an Oscar Bie wohl nicht nur höchste künstlerische Attribute ausdrücken wollte, siehe unten, S. 280 und oben, S. 70 f., Anm. 120.
[117]c) Die „rationalistische“ Kunst der Renaissance und ihre Träger
Jene „Entdeckung“ des spezifisch okzidentalen Rationalismus, die Marianne Weber „etwa um 1910“ datiert und unmittelbar mit der Musik- und Kultursoziologie in Verbindung bringt,
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vertieft Weber in den drei Jahre später begonnenen Studien zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“, pointiert überdies in „Wissenschaft als Beruf“, indem er nach den Entstehungsbedingungen und Trägerschichten dieser spezifisch okzidentalen: rationalen „Denkart“ fragt. Zentrale Bedeutung mißt er dabei der „rationalistischen“ Kunst und Kunstauffassung der Renaissance zu; sie hat das neue rationale, insbesondere das empirische wissenschaftliche Denken des Okzidents initiiert. Charakteristikum der Epoche ist das „rationale Experiment“ als „Mittel zuverlässig kontrollierter Erfahrung“ und „spezifisch moderne[s] Element aller naturalistischen Disziplinen“; ohne es wäre, wie Weber in seiner Rede „Wissenschaft als Beruf“ ausführt, „die heutige empirische Wissenschaft unmöglich“.[117] Weber, Marianne, Lebensbild, S. 349.
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Bezeichnenderweise entsteht es nicht in den Wissenschaften selbst, sondern wird „aus der Kunst geboren“, von deren Boden aus es „auf den der Wissenschaft überging“: dies „war das für den Occident Entscheidende“. So Weber in „Wissenschaft als Beruf“ (MWG I/17, S. 90) und in der Konfuzianismus-Studie, MWG I/19, S. 343.
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So Weber in der abschließenden Anmerkung seiner Hinduismus- und Buddhismus-Studie, MWG I/20, S. 543, Fn. 203.
Als soziologisches bzw. sozialpsychologisches Movens dieser Entwicklung identifiziert Weber das „auf handwerksmäßiger Grundlage erwachsene empirische Können der okzidentalen Künstler“ mit ihrem „kulturhistorisch und sozial bedingten rationalistischen Ehrgeiz: ihrer Kunst Ewigkeitsbedeutung und sich selbst soziale Geltung dadurch zu gewinnen, daß sie sie zum gleichen Rang wie einer ,Wissenschaft‘ erhöben“.
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Die eigentlichen Träger des neuen Denkens aber sind die „großen“, von einem „stürmische[n] rationalen Entdeckungsstreben“ getriebenen „musikalischen Experimentatoren der Renaissancezeit“: „Lionardo und seinesgleichen, vor allem charakteristisch die Experimentatoren in der Musik des 16. Jahrhunderts“, die – scheinbar paradox zum „rationalen“ Vorgehen – alle von dem Wunsch beherrscht sind, „,Leidenschaft‘ musikalisch formen zu können“, Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 343.
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und zwar vor allem durch „Experimentier-Klaviaturen“, die in Anlehnung an antike Intervallgebräuche enharmonisch gestimmt waren. Von diesen erwähnt Weber in der Konfuzianismus-Studie die Versuche Giosef[118]fo Zarlinos, Weber, Wertfreiheit, S. 70 f., und ders., Wissenschaft als Beruf, MWG I/17, S. 90.
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die Musik-Studie führt Einzelheiten aus: „Das 16. Jahrhundert [war] die Zeit des allgemeinen Experimentierens mit der Herstellung von reingestimmten Instrumenten für vielstimmige Kompositionen – die Theoretiker ließen sich namentlich klavierartige Instrumente zum Experimentieren speziell bauen […].“[118] Weber, Konfuzianismus, MWG I/19, S. 343. Siehe dazu auch das Personenverzeichnis, unten, S. 298. Zu den unterschiedlichen Fassungen dieser Passage der Konfuzianismus-Studie siehe den Editorischen Bericht, unten, S. 133.
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Vgl. unten, S. 273. Namentlich Zarlino war ein Verfechter der reinen Stimmung, siehe dazu unten, S. 278 und die vorherige Anm. Weber hat, wie aus den Quellen seiner Gewährsmänner hervorgeht (siehe ebd.), zusätzlich Nicola Vicentino und wohl auch Vincenzo Galilei im Sinn. Der Name Galilei steht für die einzigartige Verbindung von experimentellem musikalischem und naturwissenschaftlichem Denken der Renaissance: Während Vincenzo den tonphysikalischen Grundstein für die moderne Akkordharmonik legt, begründet sein Sohn die moderne Physik.
Ein auf Experimentieren gegründetes Kunsthandwerk sieht Weber auch bei den europäischen, insbesondere italienischen Geigenbauern: die „Benutzung des rein empirisch, in allmählicher Entwicklung gewonnenen Wissens der Vergangenheit“ über die zahlreichen Einzelteile der Violine, vor allem das „rein empirische Erproben der besten Qualitäten des Holzes und vermutlich auch des Lacks“ scheint Weber eigentümlich für das im engeren Sinne „handwerkliche“ Können der Geigenbauerdynastien der Amati sowie – im 17. und 18. Jahrhundert – der Guarneri und Stradivari.
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Allerdings: es fehlte ihnen bzw. ihren Instrumenten „eine rationale Fundamentierung, wie sie die Orgel, das Klavier und seine Vorgänger, ebenso die Blasinstrumente […] sehr deutlich erkennen lassen“, denn ihr wesentliches Augenmerk galt „der Tonschönheit und daneben der Handlichkeit im Interesse der möglichsten Bewegungsfreiheit des Spielers“. Unten, S. 260 f.
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Rationales instrumentaltechnisches Arbeiten ist also in Webers Augen primär nicht auf ästhetische oder spieltechnische Gesichtspunkte ausgerichtet, sondern auf tonsystematische, d. h. (in erster Linie) auf „Stimmungsprobleme“, wie sie jene Experimentatoren der Renaissance, Zarlino vor allem, im Blick hatten, ebenso die großen Cembalobauer, etwa die belgische Familie Ruckers, und die großen deutschen Orgelbauer, von denen Weber Arnolt Schlick und die dem „bürgerlichen“ Boden Sachsens entstammende Orgelbauerfamilie Silbermann erwähnt, bis zu Cristofori, dem Erfinder des Hammerklaviers. Ebd.
59
Unten, S. 274–277. Siehe dazu jeweils das Personenverzeichnis.
Die rationale, methodisch-systematische Art, wie diese vorwiegend an Tasteninstrumenten arbeitenden Kunsthandwerker tonphysikalisch-tonsystematische Fragen angegangen sind, ist universalhistorisch einzigartig. [119]Sie wiederum führte letztlich zur Etablierung des nur im modernen Europa vorhandenen Tonsystems der „gleichschwebend temperierten Stimmung“, die mit der Einteilung der Oktave in zwölf gleich große Halbtonstufen alle jene mit der kommatischen Bestimmtheit der natürlich-rein bemessenen Töne einhergehenden Stimmungsprobleme beseitigte.
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Zwar hat weltweit in allen Hochkulturen „unausgesetzt und in den verschiedensten Formen“ der „Rationalismus der von der mathematischen Theorie herkommenden Musikreformatoren“ an den Stimmungsproblemen gearbeitet, aber man erzielte außerhalb des modernen Europa – so etwa in der „virtuosenhaft verfeinerten chinesischen Kunst“ oder auch in der nicht weniger subtilen arabischen und südostasiatischen Musik – nur Scheinlösungen wie eine nur „gleich gedachte, aber nicht wirklich so behandelte“, mit zahlreichen „Irrationalitäten“ und subjektiven „Willkürlichkeiten“ durchsetzte Oktaveinteilung bzw. Saiteneinteilung auf den Instrumenten.[119] Zu den historischen Vorläufern und der Entwicklung von der mittelalterlichen, aus der Antike übernommenen pythagoreisch-quintenbestimmten Intervallbemessung (als Grundlage einer vorwiegend melodisch-einstimmigen Musik) zur natürlich-reinen, „harmonischen“ Stimmung und den Kompromissen der ungleichschwebend-temperierten Stimmungen, die je nach Zielvorgabe bestimmte Vor- und Nachteile, d. h. mehr oder minder starke Verstimmungen bestimmter Intervalle mit sich brachten, bis hin zur gleichschwebenden Temperatur siehe unten, S. 248–250 sowie das Glossar.
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Nur der Okzident kennt seit der Renaissance ein wirklich „rationales Resultat“, manifestiert im Bau der Tasteninstrumente, vor allem im gleichschwebend temperiert gestimmten Klavier. Zum China-Rekurs siehe MWG I/19, S. 344 und oben, S. 109 f.
7. Sozialpsychologische Fortschreibungen
Schon die Rückverweise des „Werturteils“-Gutachtens und „Kategorien“-Aufsatzes von 1913 sowie der in diesem Jahr in Angriff genommenen Abhandlungen zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ auf die Musik-Studie, seien es rationalitätstheoretische oder Trägerschicht-bezogene, zeigen, daß Weber seine musiktheoretischen Interessen 1912 bzw. Anfang 1913, als er die Musik-Studie zur Seite legt, weiter verfolgt.
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Die Studie selbst hat er nur provisorisch ad acta gelegt und – wenn auch nicht systematisch, sondern nur sporadisch – weitergeführt, wie der Auskunft ih[120]res Erstherausgebers Theodor Kroyer von 1921 zu entnehmen ist, der von „flüchtigen“ Zusätzen spricht, die Weber in die „ältere Maschinenschrift“ eingefügt habe. Gerade auch die (weitere) Verzahnung von Religions- und Musiksoziologie in der „Zwischenbetrachtung“, MWG I/19, S. 499–502, zeigt dies, vor allem im Thema des gemeinsamen kultischen Ursprungs von religiöser und musikalischer Rationalisierung durch „stereotypierte“ und „kanonisierte“, von einem „Zauberer“ bzw. kultischen „Sänger“ vorgetragene Tonformeln, siehe dazu die parallelen Ausführungen z. B. in Weber, Religiöse Gemeinschaften, MWG I/22-2, S. 266 f., und der Musik-Studie, unten, S. 187 f., sowie die Einzelheiten hier in der Einleitung, oben, S. 72 f.
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Darüber hinaus aber plant Weber ihre inhaltliche Fortführung. Dies legen zum einen interne Verweise auf „spätere“, jedoch nicht mehr eingelöste Darlegungen nahe – etwa auf die „dem Norden charakteristische, später zu erörternde Entwicklung zur Terz“, auf die „später hypothetisch zu erwähnen[de]“ Rolle von Instrumenten bei der Herausbildung der regional verschiedenen hellenischen Tonarten und vor allem auf die „Entwicklung des Rhythmus“, die Weber explizit noch einmal thematisieren möchte.[120] Siehe dazu den Abdruck seines Vorwortes, unten, S. 142, sowie den Editorischen Bericht, unten, S. 130. Sollte Weber die Studie bereits vor dem August 1912 zur Seite gelegt haben, so wäre auch der Hinweis auf die „jetzt“, also 1913, erschienene Notenschrift-Abhandlung von Johannes Wolf ein solcher „Zusatz“, vgl. unten den Editorischen Bericht, ebd.
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(Umgekehrt zeigen die zahlreichen eingelösten Vor- und Rückverweise – neben der dreiteiligen Grundstruktur, in der Anfang und Schluß aufeinander Bezug nehmen und einen historischen Mittelteil einschließen –, daß die Konzeption der Musik-Studie, vor allem des „rationalen“ Teils, relativ weit gediehen war). Unten, S. 163, 200 und 236.
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Solche „später zu erörternden“ und auch wirklich erörterten Verweise gelten der „von durchaus außermusikalischen Grundlagen her vorgenommenen Rationalisierung“ (unten, S. 155 f. und 243 f.), der „Ausgleichung der aus der Unsymmetrie der Oktave folgenden Unstimmigkeiten“ (unten, S. 172, 201 f. und 243), dem „Gedanke[n], das Tonmaterial auf kleinste, gleich große Distanzen zurückzuführen" (unten, S. 175 und 246 f.). den „Experimente[n] mit der […] arabischen Skala“ (unten, S. 178 und 243 f.), den „allerirrationalsten Intervallen in der Melodik“ (unten, S. 198 und 240 f.), der Existenz zweier verschiedener Arten neutraler Terzen in der arabischen Skala (unten, S. 203 und 244 f.). Umgekehrt-analoges gilt für die „schon früher erwähnten“ Darlegungen etwa zur Verwandtschaft von Synagogenmusik mit den Kirchentönen (unten, S. 197), zur Vormachtstellung von Quint und Quart (ebd.), zur „erwähnten starken Neigungen der Stimme zu distonieren“ (unten, S. 199), zur „eingangs […] wiedergegebenen akkordharmonisch strengen Theorie“ (unten, S. 211), zu dem in außereuropäischen Kontexten als „schön“ empfundenen Dur-Dreiklang (unten, S. 213), zum „tonal, wie wir sahen, schwankenden Fundamente der ,Kirchentöne‘“ (unten, S. 222), zur neutralen Terz in mehrstimmigen Musiken (unten, S. 231), zur „schon erwähnte[n] melodiöse[n] Nachgiebigkeit“ der Kirchentöne (unten, S. 239), zum arabischen Musiksystem, „dessen äußere Schicksale früher erörtert worden sind“ (unten, S. 243 f.), zu den universalhistorischen Versuchen, einen Distanznenner für die Intervalle der Oktave zu schaffen (unten, S. 246) und schließlich zu den erwähnten Fällen der „außermusikalischen Vergewaltigung“ (unten, S. 248). Im weitaus provisorischeren instrumentaltechnischen Teil existiert nur ein einziger Rückverweis (am Ende), und zwar auf bereits vorher diskutierte klimatisch ungünstige Bedingungen, die der Verbreitung des Klaviers im Land seiner Erfindung: Italien, im Wege gestanden haben, siehe unten, S. 279.
Zum anderen gibt ein werkgeschichtlich vorletzter, zentraler Komplex Hinweise. Er gilt dem „Sinn der ,Wertfreiheit‘ der soziologischen und öko[121]nomischen Wissenschaften“, den Weber in der gleichnamigen Logos-Abhandlung von 1917 diskutiert.
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Kultur- bzw. musiksoziologisch zeigt sich Weber dieser „Sinn“ im Begriff des „technische[n] ,Fortschritt[s]‘“ als Maßgabe einer genuin „empirische[n] Musikgeschichte“.[121] Weber, Wertfreiheit. Erweitert ist die Wertfreiheits-Abhandlung im Vergleich zu Weber, Werturteilsstreit, vor allem um die musik- und kunstbezogenen Passagen. Siehe dazu: Weber, Wertfreiheit, S. 68–72 und 79 f.
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Deren Aufgabe: „ohne ästhetische Bewertung der musikalischen Kunstwerke“, gleichwohl von der „Wertbezogenheit“ des „Interesses des modernen europäischen Menschen“ geleitet, die „,Fortschritte‘ der technischen Mittel der Musik“ darzulegen, „welche deren Geschichte sehr stark bestimmt haben“, Weber, Wertfreiheit, S. 71.
68
– diese charakteristische musikhistorische Aufgabe hat Weber bereits auf dem Frankfurter Soziologentag vorgestellt. Ebd., S. 70 f.
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Allerdings unterscheiden sich beide Ausführungen in einem wesentlichen Punkt. Dies ist nicht die explizit „wert“-spezifische Problematik, die in Frankfurt nur angedeutet, hier aber als Leitthema dient, sondern die thematische Verlagerung jener beiden Pole des genuin musikhistorischen Verhältnisses von Kunstwollen und den technischen Mitteln zu seiner Realisierung. Spricht Weber in Frankfurt ersterem noch die Priorität zu – entsprechend der von ihm postulierten „Regel“ Siehe dazu oben, S. 86.
70
– so hat sich ihm sieben Jahre später das Verhältnis umgekehrt. Mit dem Beispiel des leidenschaftlichen, in diffizilen chromatischen Stufen sich manifestierenden Ausdrucksstrebens sowohl in Hellas wie in der Renaissance liefert er die Begründung dafür, daß es sich „primär um rein technisch rationale ,Fortschritts‘-Probleme“ handelt: „Denn daß z. B. Chromatik längst vor der harmonischen Musik, als Mittel der Darstellung von ,Leidenschaft‘ bekannt war, zeigt die antike chromatische (angeblich sogar: enharmonische) Musik zu den leidenschaftlichen Dochmien des neuerdings entdeckten Euripidesfragments. Nicht in dem künstlerischen Ausdruckswollen also, sondern in den technischen Ausdrucksmitteln lag der Unterschied dieser antiken Musik gegen jene Chromatik, welche die großen musikalischen Experimentatoren der Renaissancezeit in stürmischem rationalen Entdeckungsstreben schufen, und zwar ebenfalls: um ,Leidenschaft‘ musikalisch formen zu können.“ Weber, Verhandlungen 1910 (Sombart), S. 100.
71
Weber, Wertfreiheit, S. 70 f. Zum Argumentationsschema, das der Parallelisierung von Hellas und Renaissance zugrunde liegt, siehe oben, S. 68 f. Zum Euripides-Fragment, das Weber auch in der Musik-Studie nennt, unten, S. 168.
Woher kommt Webers Argumentationswandel bzw. „Erkenntnisfortschritt“? Die Musik-Studie als werkgeschichtliches Mittelglied zwischen den Ausführungen von 1910 und 1917 gibt die Antwort. Sie thematisiert [122]nahezu ausschließlich technische Ausdrucksmittel, unter ihnen auch die spezifisch harmonische Chromatik bzw. die unterschiedliche Struktur, in denen das Ausdrucksstreben der hellenischen bzw. Renaissance-Chromatik eingebettet und wirksam wurde.
72
Damit gibt sie sich als jene empirisch verfahrende Musikgeschichte zu erkennen, die Weber im „Wertfreiheits“-Aufsatz vorstellt: hier führt er auch – erstmals – ihre Ergebnisse an,[122] Unten, S. 171.
73
und zwar als „rein technisch rationale ,Fortschritts‘-Probleme“ bzw. deren „Lösungen“, angefangen von der „Entstehung der Terz in deren harmonischer Sinndeutung“ über die „Schaffung der rationalen Notenschrift“, den „rational polyphonen Gesang“ und die harmonisch gedeutete Chromatik der Renaissance bis zur „Entwicklung des Klaviers“ als eines „der wichtigsten technischen Träger der modernen musikalischen Entwicklung und ihrer Propaganda im Bürgertum“, der im „spezifischen Binnenraum-Charakter der nordeuropäischen Kultur“ wurzelte. Ein weiteres und letztes Mal in der „Vorbemerkung”, siehe im Anschluß.
74
Weber, Wertfreiheit, S. 70 f.
Doch faßt die „Wertfreiheits“-Abhandlung nicht nur zusammen; sie bringt auch neue musik- und kultursoziologische Themen und Gesichtspunkte. Das gilt zunächst für die auf „guten und schlechten Taktteile[n]“ statt „metronomischer Taktierung“ basierende „moderne musikalische Rhythmik“, auf die Weber schon in der Musik-Studie zurückkommen wollte.
74a
Sie gilt ihm als wesentliche Existenzbedingung der „modernen Instrumentalmusik“, beruht diese doch auf der „Übernahme und Rationalisierung des Tanztakts […], des Vaters der in die Sonate ausmündenden Musikformen“. Siehe unten, S. 236.
75
Vor allem aber argumentiert Weber im „Wertfreiheits“-Artikel im Vergleich zur Musik-Studie und zu den Frankfurter Ausführungen verstärkt soziologisch. Zunächst sozusagen „äußerlich“ mit Blick auf bestimmte Trägerschichten im Sinn jener „soziale[n] Bedingungen“ der spezifisch okzidentalen Musik, von denen er im Brief vom August 1912 spricht. Weber, Wertfreiheit, S. 70 f. Hier tauchen, wenn auch nicht in religionssoziologischem Zusammenhang, die Elemente jener von Honigsheim, Heidelberg, S. 248, übermittelten „Theorie“ wieder auf – „die Faktoren betreffend, welche zur Gestaltung einer rein instrumentalen Musik, insbesondere in Gestalt von Suite, Sonate und Symphonie, geführt haben – eine Theorie, die in dem hinterlassenen Manuskript ‚Musiksoziologie‘ nicht enthalten ist.“ Siehe dazu oben, S. 111, Anm. 25.
75a
Schon jene Entwicklung des Tanztaktes sieht er „bedingt durch bestimmte gesellschaftliche Lebensformen der Renaissance-Gesellschaft“. Explizit findet der Hauptträger der okzidental-mittelalterlichen Musik hier jene Würdigung, die in jenem Brief nur angedeutet ist: „Den Hauptanteil an diesen Leistungen“ – gemeint ist die „Schaffung der ratio[123]nalen Notenschrift […] und, schon vorher, bestimmter zur harmonischen Deutung musikalischer Intervalle drängender Instrumente und vor allem: des rational polyphonen Gesanges“ – „aber hatte im frühen Mittelalter das Mönchtum des nordisch-abendländischen Missionsgebiets, welches ohne eine Ahnung von der späteren Tragweite seines Tuns die volkstümliche Polyphonie für seine Zwecke rationalisierte, statt, wie das byzantinische, sich seine Musik vom hellenisch geschulten Melopoiós herrichten zu lassen.“ Brief Webers an Lili Schäfer vom 5. August 1912, MWG II/7, S. 639.
76
[123] Weber, Wertfreiheit, S. 71.
Welches waren die „inneren“ bzw. sozialpsychologischen Motive und Bedingungen dieses mönchisch-kirchlichen Handelns? Die Frage zielt auf die genuin musiksoziologische Argumentation Webers bzw. das Soziologische innerhalb seiner musikhistorischen Interessen.
77
Die Begriffe, mit denen er die Frage angeht – ohne sie zu beantworten –, verweisen auf jene Vosslerschen, von Weber explizit hochgeschätzten Kategorien des zeit- und schichtenspezifischen „Gefühls- und Gedankenstockes“, der „seelischen Provinzen“ und „Gefühlsinhalte“ von Kulturerscheinungen und ihrer Trägerschichten: „Durchaus konkrete, soziologisch und religionshistorisch bedingte, Eigentümlichkeiten der äußeren und inneren Lage der christlichen Kirche im Okzident ließen dort [im nördlichen Missionsgebiet] aus einem nur dem Mönchtum des Abendlandes eignen Rationalismus diese musikalische Problematik entstehen, welche ihrem Wesen nach ‚technischer‘ Art war.“ Die oben, S. 114, diskutierten statistischen Fragen Webers nach der äußeren und inneren, psychologischen und charakterologischen, Situation der Berufsmusiker der Gegenwart zielen in die gleiche „soziologische“ Richtung.
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Weber, Wertfreiheit, S. 71. Die Tatsache, daß Weber hier zusammenfassend ohne nähere Erläuterungen von jenen „konkreten Eigentümlichkeiten“ spricht, läßt auf eine geplante detaillierte Schilderung schließen. Im übrigen zeigt dieser Mönchtums-Rekurs von 1917 – wiederum leider nur in Andeutungen – die subtile Verzahnung von Webers grundlegenden Argumentationsebenen des Rationalen, Technischen und Sozialen bzw. Sozialpsychologischen.
In analogen Kontexten anderer „Culturinhalte“ verdeutlicht Weber die spezifisch soziologische bzw. sozialpsychologische Fragerichtung (und zeigt so überdies, daß er der geplanten Kultursoziologie neue Beachtung schenkt). Ähnlich ausführlich wie auf dem Frankfurter Soziologentag stellt zunächst Weber die „Entstehung der Gotik“ als „Resultat der technisch gelungenen Lösung eines an sich rein bautechnischen Problems der Überwölbung von Räumen bestimmter Art“ vor – als Beispiel einer ästhetisch wertfreien Betrachtung der „rein technischen Mittel […], welche ein bestimmtes Kunstwollen für eine fest gegebene Absicht verwendet“.
79
Innerlich bzw. sozialpsychologisch daran anschließend diskutiert er erst[124]mals die Plastik, deren Entwicklung durch den technischen Rationalismus der „gotischen“ Architekten „in die Bahn eines primär durch die ganz neuen Raum- und Flächenformungen […] geweckten neuen ‚Körpergefühls‘“ geriet. Hier wird denn auch (wieder) die Vosslersche Begriffsbildung sichtbar: „Daß diese primär technisch bedingte Umwälzung zusammenstieß mit bestimmten in starkem Maße soziologisch und religionsgeschichtlich bedingten Gefühlsinhalten, bot die wesentlichen Bestandteile jenes Materials an Problemen dar, mit welchen das Kunstschaffen der gotischen Epoche arbeitete.“ Methodisch die historische und soziologische Dimension resümierend sieht Weber, indem „die kunstgeschichtliche und kunstsoziologische Betrachtungen diese sachlichen, technischen, gesellschaftlichen, psychologischen Bedingungen des neuen Stils aufzeigt, […] ihre rein empirische Aufgabe [erschöpft]“. Ebd., S. 69.
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Nicht zufällig verweist Weber schließlich gerade für die „psychologische“ – d. h. in seinem und Vosslers Sinn: genuin kunstsoziologische – Betrachtungsweise von Stilepochen „für das Gebiet der Entwicklung der Malerei“ auf „die vornehme Bescheidenheit der Fragestellung in Wölfflins ,Klassischer Kunst‘“ – „ein ganz hervorragendes Beispiel der Leistungsfähigkeit empirischer Arbeit“.[124] Ebd., S. 69 f.
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Und ebenfalls nicht zufälligerweise erinnert die Wertschätzung des Basler und Berliner Kunsthistorikers, der 1888 mit „Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur“ promovierte und Stilepochen und deren Wandel einfühlungspsychologisch zu deuten suchte, an Webers Hochachtung der Vosslerschen subtilen soziologischen bzw. sozialpsychologischen Analysen zur Entstehung der französischen Schriftsprache. Ebd., S. 71. Gemeint ist Heinrich Wölfflins 1899 erschienenes, dem Andenken seines Lehrers Jacob Burckhardt gewidmetes Werk „Die klassische Kunst“. Bereits 1913 rekurriert Weber, Werturteilsstreit, S. 110, auf Wölfflins Werk. Zusätzlich hat Weber vermutlich auch Wölfflins „Renaissance und Barock“ von 1888 und die „Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe“ von 1915 rezipiert.
Die „Wertfreiheits“-Abhandlung ist nach der Musik-Studie das bedeutendste, wenn auch nicht das letzte kultursoziologische Zeugnis Webers. Nach mehreren Vorträgen in privatem Kreis und im Seminar der Münchener Universität
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faßt Weber noch ein zweites und letztes Mal in der „Vorbemerkung“ zu den „Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie“ seine Musik-Studie und darüber hinaus seine gesamten universalhistorischen Studien der letzten anderthalb Jahrzehnte zusammen. Unter der Fragestellung nach den Entstehungsbedingungen spezifisch okzidentaler Kulturerscheinungen – u. a. der empirischen Wissenschaft, des rationalen Anstaltsstaates und vor allem des modernen betrieblich organisierten Kapita[125]lismus – räumt er auch der Kunst respektive Musik einen eigenen Platz im prominenten Werküberblick ein – werkgeschichtlich konsequent und notwendig, hat Weber doch zunächst und gerade hier, auf dem Boden des genuin irrationalsten und innerlichsten „Culturinhaltes“, jene Entdeckung des spezifisch okzidentalen Rationalismus gemacht. Siehe dazu den Editorischen Bericht, unten, S. 132 f.
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Wie 1917, so geht Weber nun, im Winter 1919/20, erneut auf die spezifisch okzidentale „rationale Verwendung des gotischen Gewölbes als Mittel der Schubverteilung“ ein.[125] Siehe dazu oben, S. 100 f. und 117.
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Neu ist allerdings der bautechnische Vergleichspunkt des Orients, dem „angeblich auch das Spitzbogen-Kreuzgewölbe […] nicht unbekannt“ war und der auch „die technischen Grundlagen“ jener „Lösung des Kuppelproblems“ besaß. Fremd waren diesem hingegen nicht nur die eigentliche „Lösung“ des Problemes, sondern überhaupt „jene Art von ,klassischer‘ Rationalisierung der gesamten Kunst – in der Malerei durch rationale Verwendung der Linear- und Luftperspektive – welche die Renaissance bei uns schuf“; darüber hinaus kennt der Orient nicht die Bildung „eines die Skulptur und Malerei einbeziehenden Stils“, wie er die Kunst im Okzident seit dem Mittelalter bestimmt. Weber, Vorbemerkung, GARS I, S. 2 (MWG I/18).
84a
Ebd., S. 2 f.
Wie bereits im „Wertfreiheits“-Aufsatz nennt Weber auch jetzt in der „Vorbemerkung“ unter dem zentralen Stichwort „rationale harmonische Musik“ durchaus neue Gesichtspunkte, die bislang, auch in der Musik-Studie, nicht diskutiert worden sind, so die orchestrale „Organisation des Ensembles der Bläser“ und – im Bereich der Gattungen – neben der „Sonate“ nun auch „Symphonien“ und „Opern“: Letztere sind ihm spezifisch okzidentale Errungenschaften, „obwohl es Programmusik, Tonmalerei, Tonalteration und Chromatik als Ausdrucksmittel in den verschiedensten Musiken gab.“
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Inwiefern bei diesen neuen Stichworten von einem neuen Kenntnisstand Webers und damit von einer wirklichen Fortführung der Studie gesprochen werden kann – zumindest die außereuropäische „Programmusik“ und „Tonmalerei“ hat Weber bei seinen „alten“ Gewährsleuten [126]finden können Ebd., S. 2. In der Aufzählung sind wiederum die ersten beiden Stichworte neu. Dies gilt auch für die klärende Charakterisierung der im Instrumentalteil der Musik-Studie diskutierten spezifisch okzidentalen Streich- und Tasteninstrumente. Nennt er sie hier noch charakteristische „Binnenraum“-Instrumente (womit auch die Frage beantwortet ist, warum Weber keine Blasinstrumente mit aufgenommen hat), so spricht er nun von „unsre[n] Grundinstrumente[n]: Orgel, Klavier, Violine: dies alles gab es nur im Okzident“ (ebd., S. 2). Und dies, so muß ergänzt werden, trifft nicht für die Blasinstrumente zu, die, wie Weber z. B. Sachs, Real-Lexikon, Art. „Horn oder Trompete“, S. 189 f., hat entnehmen können, nichts spezifisch Okzidentales sind.
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–, darüber kann allenfalls der Brief vom 10. August 1919 Auskunft geben, in dem Weber, gerade nach München berufen, Mina Tobler gegenüber zwar von der „Möglichkeit der Fortsetzung“ spricht – der „Gegenstand ist schön und interessierte mich doch wieder sehr“; letztlich aber schlägt er resignierte Töne an, nicht nur, weil das Thema „den ganzen Menschen [erfordert] und den habe ich jetzt nicht mehr: für nichts mehr, übrig. Denn das ,Dozieren‘-Müssen wird Alles verschlingen“; sondern auch, „da so viel Neues erschienen ist an Litteratur und die Arbeit jetzt nicht mehr so dringlich ist: das entscheidende Problem ist inzwischen sicher von Anderen aufgeworfen worden.“[126] So analysieren z. B. Hornbostel/Abraham, Japaner, S. 338, die Musik im japanischen Theater „joruri“ als eine, die sich „eng dem Gang der Handlung an[schließt] und wesentlich zur Stimmungs-Malerei bei[trägt], ähnlich wie in unserem Melodrama. Hier zeigt sich die Kunst der Japaner, mit den einfachsten Mitteln eine Stimmung zu erzeugen, welche auch den europäischen Hörer lebhaft ergreift.“
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Zwar irrt Weber in dieser Vermutung, doch ändert dies nichts an der Tatsache, daß er in dem ihm verbleibenden halben Lebensjahr weder zur Fortführung der Studie noch zu einer ersten und eigenständigen Fixierung der geplanten Kultursoziologie kommt. Brief Max Webers an Mina Tobler vom 10. August 1919 (Privatbesitz; MWG II/10).