MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

Agrarpolitik.. Vortragsreihe vom 4. bis 8. Oktober 1897 in Karlsruhe
(in: MWG I/4, hg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Rita Aldenhoff)
Bände

[830]Agrarpolitik

[Berichte der Badischen Landeszeitung]

[Erster Vortragsabend]

[A(1) 2]Alsdann sprach Professor Μ. Weber in zweistündigem außerordentlich klarem Vortrag über Agrarpolitik.

Redner beginnt mit einem Rückblick auf das Werden unserer agrarischen Verhältnisse, der europäischen wie im besonderen der deutschen: dem Übergang von ambulantem zu seßhaftem Ackerbau, der Entstehung der deutschen Dörfer, dem Sieg des Privateigentums über die bis dahin übliche Flurgemeinschaft in einer Zeit, wo das Bevölkerungsproblem immer dringlicher an die „Märker“ herantrat; der Neubildung besitzloser Elemente; dem Übergang von dem demokratischen zum aristokratischen, zum Feudalwesen und dem Ent[A(1) 3]stehen der ersten Berufskriegerschicht, die alsdann die politische Herrschaft über die Waffenlosen an sich reißt. Die Frohnhöfe dieser neuen Feudalherren sind das klassische Beispiel für das Agrarwesen des frühen Mittelalters. Die folgende Zeit bringt dann das erste Eindringen der Geldwirtschaft in das Agrarwesen, das bis dahin ausschließlich naturalwirtschaftlich war. Daneben tritt dann die mittelalterliche Stadt, die nichts anderes als „Markt“ war; dann der sich entwickelnde Antagonismus zwischen Stadt und Grundherren; die Ausbildung der Geldwirtschaft in der Stadt und die Versuche der Grundherren, die Geldwirtschaft sich dienstbar zu machen. Diese Versuche geschehen entweder dadurch, daß der Grundherr die Frohndienste in zu zahlende Renten umwandelt (in Westdeutschland), oder dadurch, daß der Grundherr seinen Landbesitz nunmehr selbst bewirtschaftet und seine Bauern zu Arbeitskräften herabdrückt (im Osten). Auf diesem Unterschied beruhen alle Schwierigkeiten der modernen Agrarpolitik. Es beginnt sodann, im vorigen Jahrhundert, die Einflußnahme des modernen merkantilistischen Staates auf die Agrarverhältnisse, der Schutz des Bauern aus rein egoistischer Staatsraison (Steuern, Rekruten).1[830] In Preußen, d. h. zunächst in Schlesien, wurde der Bauernschutz von Friedrich dem Großen 1749 eingeführt; Maria Theresia führte 1769 den Bauernschutz in Österreich ein. Knapp, Die Bauernbefreiung in Österreich und in Preußen, S. 415. Dann kommt die [831]letzte Stufe der ländlichen Entwickelung: die Bauernbefreiung, Beseitigung der Frohnhofverfassung und des Grundherrn, die sich im Westen leichter als im Osten vollzieht. Der Vortragende geht dann näher auf diese schwierige Auseinandersetzung des östlichen Großgrundbesitzes mit der niederen Landbevölkerung ein und schildert das Vorgehen der liberalen Bureaukratie der 20er Jahre in Preußen gegen die bestehende bäurische Flurverfassung.2[831] Gemeint sind die Gemeinheitsteilungen, Separationen und Verkoppelungen, die in Preußen mit dem Gesetz vom 7. Juni 1821 eingeleitet wurden. Vgl. auch oben, S. 95, Anm. 11. Dadurch wird der Bauer vollständig selbständiger Eigentümer seiner Parzelle. Soweit der geschichtliche Rückblick. Der Vortragende geht zur Besprechung der gegenwärtigen Agrarverfassung über in England, Frankreich und Deutschland. Die Ungleichheit der Agrarverfassung innerhalb Deutschlands erklärt sich aus dem jeweiligen Verhältnis zwischen Bevölkerung und Nahrungsmitteln. Der Vortragende führt als Beispiel u. a. den in der Schrift des Dr. Hecht „Drei Dörfer der badischen Harda[831]A(1): Hardt“ geschilderten Kleinbauern der Umgebung Karlsruhes an3Es handelt sich um eine bei Max Webers Fachkollegen Gerhart von Schulze-Gaevernitz als Dissertation vorgelegte wirtschaftliche und soziale Studie. Sie war von Heinrich Herkner (Karlsruhe) angeregt worden. Vgl. Hecht, Dörfer, S. 1. und weist dann auf den Umstand hin, daß die in der Nähe der großen Marktzentren vorhandene bäurische Geldwirtschaft sich mit der Entfernung von diesen Marktplätzen immer mehr in Naturalwirtschaft verwandelt, wie im Schwarzwald[,] und daß in demselben Maße die soziale Differenzierung zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden wächst. Redner spricht sodann von den noch schwieriger liegenden Verhältnissen im Osten. Der Junker, der Großgrundbesitzer, sei verflochten in die Konjunkturen des Weltmarktes. Er stelle die höchste Stufe in der Stufenleiter der ländlichen Besitzer dar und vereinige mit der Größe des Umsatzes die durch die hypothekarische Belastung bedingte festgeschlossene Einheit und Unteilbarkeit seines Besitzes.

[832][Zweiter Vortragsabend]

[A(1) 3]Den Schluß machte wiederum die Vorlesung des Prof. Μ. Weber aus Freiburg über Agrarpolitik.

Der Vortragende beginnt mit der produktionstechnischen Frage, d. h. unter welchen Verhältnissen am meisten aus dem Boden herausgewirtschaftet werden könne. Der Vortragende geht auf die Einwirkung der Produktion auf die Bevölkerungsdichte ein; er weist nach, daß die Landbevölkerung sich da am engsten zusammenschließe, wo sie am dünnsten gesäet ist. In Preußen sei das Centrum der Seßhaftigkeit der Bevölkerung der Rhein. Je weiter man dann nach Osten geht, desto größer sei die Beweglichkeit in der Bevölkerung. Am Rhein seien gegen 90 Proz.,4[832] In den Landgemeinden der rheinischen Regierungsbezirke betrug der prozentuale Anteil der Kreisgebürtigen an der ortsanwesenden Bevölkerung 1885 zwischen 75,2 (Düsseldorf) und 88,8 (Aachen). Gemeindelexikon, Band 12, S. 250. Vgl. auch die Ausführungen Max Webers sowie die Zahlenangaben in seinem Gutachten über die Einführung eines Heimstättenrechtes, oben, S. 661f. in Ostpreußen nur gegen 50 Proz.5Wie aus Webers Ausführungen, oben, S. 666, hervorgeht, bezieht er sich hier nicht auf die Kreisgebürtigkeit, sondern die Gebürtigkeit in der Heimatgemeinde auf den östlichen Rittergütern. Die Kreisgebürtigkeit lag weit über 50%: In den Landgemeinden Ostpreußens waren 83,2% der ortsanwesenden Bevölkerung 1885 kreisgebürtig; in den Gutsbezirken betrug der prozentuale Anteil 71,1. Gemeindelexikon, Band 1, S. 402. im eigenen Kreise geboren (in Berlin 46 Proz.)6Nach den Angaben im Gemeindelexikon waren in Berlin 42,6% der Wohnbevölkerung und 42,4% der ortsanwesenden Bevölkerung am 1. Dezember 1885 ortsgebürtig. Gemeindelexikon, Band 3, S. 2f. Vgl. auch Max Webers Ausführungen, oben, S. 665. . In den Kreisen des stärksten Fideikommisses sei die Landbevölkerung beinahe wie Flugsand. Es folgt sodann die Erörterung der Vermögensverteilung. Im Westen sitzen die Millionäre in den Städten, im Osten auf dem Lande. Im Westen sind die Vermögensunterschiede auf dem Lande am geringsten, im Osten am stärksten. Der Vortragende geht auf die Einwirkung der ländlichen Vermögensverteilung auf das Kleingewerbe ein. So fehle im Osten auf dem Lande die stetige Kaufkraft, um dem Handwerker die Existenzfähigkeit zu sichern. Im Westen sei das Gegenteil der Fall. Die Einwirkung der ländlichen Vermögensverteilung auf die Großindustrie zeige sich u. a. auch in den Zuständen der Konfektionsindustrie, insbesondere in Berlin, wo die elenden Zustände und der niedrige Stand der Löhne durch das Zuströ[833]men des ländlichen Proletariats des Ostens hervorgerufen würden. Es folgt die Schilderung des ländlichen, in die Städte strömenden Proletariats. Für dies Proletariat sei Ostdeutschland ein ungeheures, unerschöpftes Reservoir, dort, auf dem kärglichsten Boden, sei die Kinderzahl am größten. An Stelle des abgeströmten Proletariats wandere nun der polnische und russische Arbeiter in das östliche Deutschland ein. Unter Miquel sei die Grenze für diesen Zuzug nunmehr völlig geöffnet worden.7[833] Gemeint ist wohl die Öffnung der Grenzen für polnische Wanderarbeiter im Jahre 1890 unter der Kanzlerschaft Leo von Caprivis. Nach Caprivis Sturz im Oktober 1894 wurde diese Grundlinie seiner Politik beibehalten. Nichtweiss, Johannes, Die ausländischen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft der östlichen und mittleren Gebiete des Deutschen Reiches. – Berlin: Rütten & Loening 1959, S. 43f., S. 48f. Jeder, der es einer fremden Rasse, seien es Polen oder Italiener, ermöglicht, sich den niederen Löhnen in Deutschland anzupassen dadurch, daß er dem berechtigten Streben der deutschen Arbeiter nach einem Lohn, wie er deutschen Verhältnissen entspricht, entgegenwirkt, ist ein Feind des Deutschtums; ihn werden wir, nicht als Professoren, sondern als Deutsche, – sei er Professor oder sitze er in der Journalistenstube oder auf dem Ministersessel – stets bekämpfen bis auf’s Messer.b[833] In A(1) folgt: Dieser Satz rief unter den zahlreich anwesenden Zuhörern stürmischen Beifall hervor.

[Dritter Vortragsabend]

[A(1) 2]Prof. Weber („Agrarpolitik“) wendet sich zunächst gegen den „unverständigen Teil“ der hiesigen Presse, der den Kursus mit abfälligen Glossen begleite.8Gemeint ist vermutlich die konservative Badische Landpost. Dies geht aus dem Artikel Ernst Lehmanns, Der Karlsruher sozialwissenschaftliche Kursus, in: Mitteilungen des Evangelisch-sozialen Kongresses, Nr. 8 von November–Dezember 1897, S. 5, hervor. Die Badische Landpost des Jahrgangs 1897 ist verschollen. Der Vortragende ging auf die Zwecke und auf die Formen des Kredites ein, des Realkredites, des Rentenkredites und des Besitzkredites. Die Mehrzahl der ländlichen Schulden beruhe [834]auf dem Besitzkredit, in Kaufschulden, Erbschulden u.s.w. Bei der Besprechung der landwirtschaftlichen Realverschuldung wird das Grundbuch in seiner Einrichtung dargelegt, ferner das Wesen der Hypotheken, in seiner außerordentlich vollkommenen Ausbildung im Osten und in seiner juristisch unvollkommeneren im Westen.9[834] In Preußen wurde das Grundbuch mit dem Gesetz vom 5. Mai 1872 eingeführt. Im Gegensatz zu dem in Frankreich und den deutschen Ländern französischen Rechts geltenden Trans- und Inskriptionssystem und dem u. a. in Bayern und Württemberg geltenden Hypothekenbuchsystem wurde nach dem Grundbuchsystem der gesamte dingliche Rechtszustand im Grundbuch festgehalten. Die Reform des Zwangsvollstreckungsrechts vom 13. Juli 1883 gewährte dem Hypothekengläubiger in Preußen zusätzliche Sicherheit. GS 1872, S. 446–472; GS 1883, S. 138f.; Schollmeyer, Hypotheken- und Grundbuchwesen, in: HdStW 42, 1900, S. 1268f. Die hypothekarische Belastung werde, je weiter nach Osten, desto schwerer empfunden. Dies beruhe auf der Agrarverfassung. Die Bedeutung der Erbschulden sei im Westen und Süden am geringsten. Beim westphälischen Anerbenrecht beginne die Erbverschuldung schon typisch zu werden; die weichenden Erben seien gegen die bleibenden Anerben stark benachteiligt, und daher seien hier die Erbschulden noch nicht so bedeutend. Weiter nach Osten ist die Bevorzugung des Anerben geringer und daher die Erbverschuldung weit größer. Der noch westdeutsche Großbauer sei Aristokrat (Immermanns „Oberhof“).10Anspielung auf eine Episode im Rahmen der Münchhausengeschichten Karl Leberecht Immermanns. Sie handelt von einem westfälischen Hofschulzen, dem Besitzer des „Oberhofs“, d. h. des ältesten Bauernhofs innerhalb der Bauernschaft, der den anderen Bauern mit Rat und Hilfe beisteht. Vgl. Immermanns ausgewählte Werke in sechs Bänden, 4. Band. – Stuttgart: Cotta o. J., S. 127–224. Der Bauer des Ostens sei, unter dem Junker, nichts weniger als Aristokrat und teile daher viel eher gleichmäßig unter seinen Kindern. Die Kaufschulden sind dort, wo Geldwirtschaft und häufiger Besitzwechsel stattfinden, am größten. Der Kaufspreis richtet sich meistens nach dem Verkehrswert, nicht nach dem Ertragswert. Insbesondere werde beim preußischen Gutsbesitzer beim Verkauf die soziale Position des „Rittergutsbesitzers“ mit bezahlt. Ein preußisches Rittergut sei ein klassisches Beispiel einer Grundlage für Kapitalanlage in hypothekarischer Form. Die Hypothek im Osten ist weit größer und von weit größerer Lebensdauer als im Westen. Im Osten gehört der Hypothekengläubiger in die Agrarverfassung hinein. Der Vortragende geht auf die Wirkungen der hypothekarischen Belastung ein, inbesondere die Zwangsvollstreckungen. Diese sind zahlreich bei den kleinen und am häufigsten bei [835]den größten Besitzungen, am geringsten bei den mittleren. Bei den großen Besitzungen verursachen viel mehr allgemeine als persönliche Gründe die Zwangsversteigerung; umgekehrt bei den kleinen Besitzungen.11[835] Zur Frage der Häufigkeit von Zwangsversteigerungen und deren Ursachen in bezug auf die einzelnen Besitzgrößen siehe Max Webers Gutachten über die Frage: Empfiehlt sich die Einführung eines Heimstättenrechtes, insbesondere zum Schutz des kleinen Grundbesitzes gegen Zwangsvollstreckung? oben, insbesondere S. 648–650. Der Kampf gegen die ländliche Verschuldung ist die Parole der Agrarier. Der Vater aller der Gedanken, die von den Agrarreformern verarbeitet werden, ist Schäffle mit seiner Schrift über die „Inkorporation des Hypothekarkredites“. Der Vortragende geht auf die Grundideen dieser Schrift ein: es sollen vereinigt werden die Bauern Deutschlands zwangsweise zu gewaltigen Korporationen, die das Monopol der Kreditgewährung erhalten; der Besitzkredit ist abzuschaffen, ebenso die Zwangsversteigerungen.12Schäffle, Inkorporation, bes. S. 6–8. Schäffle wollte damit das platte Land gegen die Stadt13Das heißt, gegen die bürgerlichen Hypothekengläubiger. mobilisieren; es soll keine Abhängigkeit eines Einzelnen mehr von fremdem Kapital geben.

[Vierter Vortragsabend]

[A(1) 2]Es folgte die Fortsetzung der Vorlesungen über Agrarpolitik durch Prof. Weber.

Der Vortragende setzt die Erörterung des Schäffle’schen Projektes fort. Ohne Beseitigung der vorhandenen Schulden konnte aber an die Ausführung nicht gedacht werden. Der Entwurf eines österreichischen Anerbengesetzes wollte die Zwangskorporationen einführen;14Gemeint ist der 1890 von der österreichischen Regierung vorgelegte Gesetzentwurf zur Einführung von Zwangsgenossenschaften der Landwirte, die bei Zwangsversteigerungen zugunsten der Schuldner intervenieren sollten. Sering, Max, Die Entwürfe für eine neue Agrargesetzgebung in Österreich, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 18. Jg., 1894, S. 383–407; Ogris, Werner, Die Rechtsentwicklung in Cisleithanien 1848–1918, in: Habsburger Monarchie 1848–1918, hg. von Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch, 2. Band: Verwaltung und Rechtswesen. – Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1975, S. 628f. er enthieltc[835]A(1): erhielt für die Beseitigung der vorhandenen Schulden [836]Bestimmungen, die praktisch ausgeführt etwas ganz anderes erzielt haben würden als sie sollten.15[836] Die Landesgenossenschaften sollten bei Zwangsversteigerungen ggf. die betreffenden Bauerngüter erwerben und in Rentengüter umwandeln. Diese Rentengüter sollten der Kontrolle der Genossenschaft unterstellt werden und durften sich nicht erneut verschulden. Die Dispositionsfreiheit des Eigentümers war in weit größerem Maße eingeschränkt, als dies bei preußischen Rentengütern der Fall war. Agrarexperten befürchteten daher, diese bürokratische Bevormundung würde die wirtschaftliche Lage der Bauern eher schwächen als stärken. Sering, Entwürfe (wie Anm. 14), S. 407. Ernster waren die preußischen Gesetzentwürfe zur Ausführung des Projekts. Auch hier mußte die Schuldenbeseitigung erstrebt werden. Zur Beratung des Projekts ward eine Agrarkonferenz berufen.16Gemeint ist die preußische Agrarkonferenz, die vom 28. Mai bis zum 2. Juni 1894 unter der Leitung des preußischen Landwirtschaftsministers tagte. Vgl. Max Webers Artikel über die Agrarkonferenz, oben, S. 483–499. Aber die preußischen Großgrundbesitzer lehnten es ab, auf der beratenden Konferenz auf Verhandlungen mit Gläubigerkonsortien einzugehen.17Der Rittergutsbesitzer Bernhard von Puttkamer-Plauth lehnte den auf der Konferenz von dem Agrarwissenschaftler Max Sering entwickelten Plan eines genossenschaftlichen Zusammenschlusses des Grundbesitzes, etwa in Gestalt von Landwirtschaftskammern, zur Organisation des ländlichen Kredits und zur Ersteigerung verschuldeten Grundbesitzes, ab. Agrarkonferenz, S. 12f., 117. In Bezug auf Anerbenrecht und Anerbenfolge machte die Konferenz den Vorschlag, das in Westdeutschland hergebrachte Anerbenrecht zu verallgemeinern.18 Siehe die Debatte ebd., S. 201–260. Der Vortragende giebt im weiteren die Einzelheiten der Vorschläge jener Konferenz: so sollte für jedes Gut eine Verschuldungsgrenze ermittelt werden, bis zu welcher Hypotheken eingetragen werden dürften.19Siehe die Debatte über die Einführung einer Verschuldungshöchstgrenze ebd., S. 261–319. Die Schuldenabgrenzung würde aber die ökonomisch schwächlichsten Elemente geschützt haben. Der Vortragende weist weiter nach, daß diese Verschuldungsgrenze eine ganz bedeutende Entvölkerung des plattend[836]A(1): glatten Landes zur Folge gehabt haben würde. Eine Agrarpolitik auf solcher Grundlage aber könne nicht wohl ausführbar scheinen. Es folgt die Erörterung der Erleichterung der Fideikommißbildung. Zur Zeit scheine wieder ein derartiges Projekt in der Luft zu schweben.20Siehe oben, S. 796, Anm. 1. Der Vortragende erläutert den Begriff des Fideikommisses, das zur Konservierung der alten Adelsgeschlechter an Stelle der alten Lehensverfassung getreten sei. [837]Das Fideikommiß habe bisher nur eine Minimalgrenze.21[837] Diese lag in Preußen bei einem jährlichen Reinertrag von 7500 Mark. Diese scheine gegenwärtig herabgesetzt werden zu sollen, desgleichen der Fideikommißstempel, während gleichzeitig auch eine Maximalgrenze geplant zu sein scheine, die früher von liberalen Blättern verlangt worden sei.22Welche liberalen Zeitungen eine Maximalgrenze für Fideikommisse gefordert haben, konnte nicht ermittelt werden. Die preußischen Junkerbesitzungen seien vielfach zu klein, um eine Herrenexistenz zu begründen und eine entsprechende Lebenshaltung zu gewähren. Durch Herabminderung der Minimalgrenze des Fideikommisses suche man hier zu helfen, aber das werde vergeblich sein. Auch werde dann nicht der überschuldete Adel die neugeschaffenen Fideikommisse in die Hände bekommen, sondern das städtische, das Börsenkapital. Der Vortragende bezeichnet als weitere Folge die Entvölkerung und Befriedigunge[837] Textverderbnis nicht aufklärbar; gemeint ist möglicherweise: Befriedung des Ostens.

[A(1) 3]Nach einer einstündigen Pause begann um 8 Uhr c.t. die Diskussion über die Agrarpolitik.

Der Referent, Professor Weber, besprach die durch den Fragekasten vermittelten Anfragen. Er wies darauf hin, daß z. B. in Mannheim nur ganz geringfügige Mengen badischen Getreides auf dem Markt erschienen und daß alle die in der Getreideversorgung von Mannheim abhängigen Städte auf Importgetreide angewiesen seien.23Mannheim war der bedeutendste Weizenhandelsplatz im westlichen Deutschland. Während die östlichen Provinzen Preußens einen Getreideüberschuß produzierten, hingen die westlichen Provinzen sowie Südwestdeutschland von Getreideimporten ab. Die moderne Zollpolitik, deren Schlagwort „Deutsches Getreide für das deutsche Volk“ sei,24Als Zitat nicht nachgewiesen. habe gerade das Gegenteil erreicht. Die Kornzölle, die ursprünglich eine wirtschaftliche Einheit aus Deutschland schmieden wollen, funktionieren seit Aufhebung des Identitätsnachweises nur dahin, daß sie den inländischen Kornpreis um den Zollwert gegen den Weltmarktpreis erhöhen.25Der bei Rohstoffen oder Halbfabrikaten, die zur Weiterverarbeitung in das Deutsche Reich eingeführt wurden, erhobene Schutzzoll wurde beim Export der Fertigware zurückerstattet, wenn die Identität der ein- und ausgeführten Produkte nachgewiesen werden konnte. Dieser Identitätsnachweis wurde 1894 bei Getreide abgeschafft. Somit wurde der Getreideexport in Höhe der bestehenden Getreidezölle de facto staatlich subventioniert. Als Folge davon ergab sich die Tendenz, die Ausfuhr aus den ausfuhrfähigen Provinzen solange fortzusetzen, bis der Inlandspreis um den Zollbetrag über den Weltmarktpreis gestiegen war. Lexis, Wilhelm, Identitätsnachweis, in: HdStW 42,1900, S. 1315–1320. Der Zu[838]stand, daß Deutschland auf die Getreideeinfuhr angewiesen ist, sei in Westdeutschland schon seit dem Mittelalter bestanden. In Beantwortung einer weiteren Anfrage schildert der Referent in einigen Zügen die durch die Förderung des Deutschtums im Osten geschaffenen Rentengüter.26[838] Seit dem Ansiedlungsgesetz vom 26. April 1886 konnten in Posen und Westpreußen Rentengüter errichtet werden. 1890 und 1891 folgte die Rentengutsgesetzgebung für ganz Preußen. Die betreffenden Güter konnten zu festen Geldbeträgen, also Renten, die nicht den Schwankungen des Kapitalmarkts unterlagen, erworben werden. Es kommt auch der Unterschied der Betriebskosten in der Getreideproduktion zwischen Deutschland und Amerika zur Beantwortung, wo es weder für Arbeiterwohnungen noch für Scheunen Ausgaben gebe. Ferner die Erörterung der Fideikommisse im Süden und Westen. Im Osten liegen die Fideikommisse in den günstiger gelegenen Thälern; je höher hinauf, desto kleiner die Bauern; im Westen umgekehrt – die Fideikommisse auf den weniger günstigen Höhen. Zur Besprechung kommt dann noch einmal der Satz aus dem Vortrag des Referenten, daß auf dem Boden, wo die Naturalwirtschaft herrsche, eine dichter geschlossene Bevölkerung existieren könne, wie auf dem Boden der landwirtschaftlichen Geldwirtschaft.

In der weiteren Diskussion ergriff Major Kreßmann das Wort, erörtert die vor sich gehenden Änderungen in den ländlichen Besitzverhältnissen des Ostens, wo an Stelle der alten besitzenden Familien der Kapitalist tritt, und fragt, ob nicht in den großen landwirtschaftlichen Betrieben die Intelligenz dieselben Erfolge erringen könne, wie in der deutschen Industrie; es sei vielleicht kein Unglück, daß jener Besitzwechsel in den ländlichen Betrieben erfolge; es könnten dann, wie bei der Industrie die reich bezahlten Direktoren, landwirtschaftliche Betriebsleiter die Führung der Güter, die sich im Besitze von Banken befinden müßten, übernehmen; sie würden im stande sein, durch Verbesserung der Technik die östliche Landwirtschaft wieder zur Blüte zu bringen.

Der Referent Prof. Weber betont, daß vielfach ein viel zu ungünstiges Urteil über die technischen Kenntnisse und die landwirtschaftliche Tüchtigkeit der östlichen Junker bestehe; andererseits lassen sich gegen die vorgetragenen Zukunftsgedanken mancherlei Bedenken geltend machen; auch durch Administration ließen sich die Güter nicht hochbringen; auf diesem Wege könne nur der Staat als Besitzer etwas erreichen.

Hiernach sprach Dr. Knoderer über die süddeutschen landwirtschaftlichen Verhältnisse, die gleichfalls einen Preisrückgang aufzeigen, und schildert in Einzelzügen [839]die badischen Verhältnisse; er weist zugleich auf die Erörterungen des Finanzministers Buchenberger über die landwirtschaftlichen Fragen hin und empfiehlt die Selbsthilfe.

Nach einem Dankeswort des Majors Kreßmann an den Referenten wendet sich dieser noch einmal zur Erörterung der Ungunst der Verhältnisse, mit denen die östliche Landwirtschaft zu kämpfen hat, nicht ganz ungünstig lägen die Bedingungen zum Übergang zur Viehwirtschaft, die aber eine Entvölkerung mit sich bringen würde; ein mäßiger Getreidebau würde, vom nationalen Standpunkt aus, viel wünschenswerter sein.

[Fünfter Vortragsabend]

[A(1) 1]Prof. Weber sprach in der Agrarpolitik über das Projekt des Anerbenrechtes, d. h. der geschlossenen Erbfolge statt Naturalteilung, unter Benachteiligung der weichenden Erben, wie sie je mehr nach Osten desto mehr die Regel ist, weil dort der Geldumschlag fehlt. Dies Recht habe eine Verdünnung und eine verstärkte Beweglichkeit der Landbevölkerung zur Folge, durch Abzug der benachteiligten weichenden Erben. Eine Parzellierung des Ostens nach Art der rheinischen und badischen Landwirtschaft würde ein kulturfeindliches Bauerntum erzeugen, das, abgeschlossen von allem Verkehr, nichts kauft, das der Hausindustrie (Textilindustrie u.s.w.) verfiele. Die Verteidiger des Anerbenrechts stützen sich auf diese Argumente: es lasse sich im Westerwald und andern dem Verkehr verschlossenen Gegenden einführen. Aber die Hunderttausende von Bauern der norddeutschen Tiefebene lassen sich nicht dem Anerbenrecht unterwerfen; das würde eine weite Entvölkerung der Ebene zur Folge haben. Das aber widerspricht vollkommen dem nationalen Interesse der Stärkung der Landbevölkerung. Das moderne Agrarproblem sei lediglich ein Teil des großen wirtschaftlichen Problems der deutschen Zukunft. Deutschland sei wirtschaftspolitisch keine Einheit, es bestehe aus zwei grundverschiedenen ökonomischen Gebieten. Der Vortragende erläutert den Begriff „Agrarstaat“. Der Osten war früher agrarisches Exportgebiet, ist es aber nicht mehr. Die damals entstandene Agrarverfassung hat sich daher heute über[840]lebt. Begünstigt ist im Osten die kleine bäuerliche Naturalwirtschaft, geschädigt die auf den Absatz angewiesenen Besitzer mit Ausnahme der größten Besitzer. [A(1) 2]Bei der Naturalwirtschaft der kleinen Bauern daher starke Bevölkerungszunahme, Kleinbauern von slavischer Provenienz. Die mittlere Schicht, das eigentliche Junkertum, habe am härtesten unter dem Notstand zu leiden. Es werde nicht möglich sein, das Junkertum noch auf lange hinaus in seiner bisherigen Stellung zu erhalten. Das Gefährliche dabei sei, daß es nicht freiwillig sich den modernen Erwerbsbedingungen anpassen werde. Mit Bleischwere lasten die Hypotheken aus alter Zeit auf dem Agrarsystem und hindern den Junker, sich den veränderten Existenzbedingungen zu fügen. Ein systematischer An- und Auskauf der Güter, wie bei der Ansiedelungskommission,27[840] Mit dem Ansiedlungsgesetz vom 26. April 1886 wurde eine Ansiedlungskommission für Posen und Westpreußen eingerichtet, die, mit einem Fonds von 100 Millionen Mark ausgestattet, polnische Güter aufkaufte und auf den parzellierten Grundstücken deutsche Bauern ansiedelte. habe indessen ihre Achillesferse, während der Staat durch Ankauf und Verpachtung an Domänenpächter einen Teil des gegenwärtig gefährdeten Grundbesitzes würde erhalten können. Das Trübsinnige an dem Problem sei, daß der Osten nicht die Chance hat, ein Industriegebiet zu werden mit kaufkräftiger Bevölkerung. Die russische Zollgrenze, das große, russische Industriegebiet von Lodz schneide den preußischen Osten vom Hinterlande ab. Das östliche Agrarproblem sei nicht glatt zu lösen, es sei hoffnungslos. Es könne nur das Möglichste durch Unterstützung durch die übrigen Landesteile über Wasser gehalten werden. Der Vortragende wendet sich mit einigen Schlußworten über das Experiment des sozial-wissenschaftlichen Kursus an die Zuhörer, indem er im besonderen dem Komitee den Dank ausspricht.f[840] In A(1) folgt: Lauter Beifall.

[Fünfter Vortragsabend]

[A(3) 1][Bericht der Heidelberger Zeitung]

Wiederum vor einer bedeutenden Zuhörerschaft sprach der Favoritredner des Kurses, Prof. Weber.

Nachdem er die verschiedenen Hilfsvorschläge für die Landwirthschaft erörtert und [A(3) 2]dargelegt hatte, daß die unteren Landwirthschaftsschichten, die Kleinbauern, mit ihren kongruentena[841]A(2): concurrenten Produktions- und Konsumverhältnissen,bA(2): Consumverhältnissen und die oberste, die Magnaten und Latifundienbesitzer,cA(2): Latifundienbesitzer von der Krisis in ihrer äußersten Konsequenz nicht berührt werden, sprach er die Überzeugung aus, daß die kleineren und mittleren Rittergüter eine weichende Kategorie bilden, der man kaum mehrdA(2): noch helfen kann. Um nicht mißverstanden zu werden, betonte er, daß er nicht aus Animosität spreche. Er habe vor dem typischen „Junker“eA(2): Junker wegen dessen nobler Eigenschaften die größte Hochachtung, und wenn er zu wählen habe zwischen dem in vornehmer Gesinnung großgewordenen Junkerthum undfA(2): aus dem feudalisirten Neuadel, so werdegA(2): würde er sich ohne Bedenken für ersteres entscheiden. Er schloß mit einem Dankeswort an die Unternehmer des Kurses.