MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

Redaktionelle Bemerkung zu vorstehendem Aufsatz [von Gustav Cohn, Über den wissenschaftlichen Charakter der Nationalökonomie]. 1905
(in: MWG I/7, hg. von Gerhard Wagner in Zusammenarbeit mit Claudius Härpfer, Tom Kaden, Kai Müller und Angelika Zahn)
Bände

[237][A 479]Redaktionelle Bemerkung zu vorstehendem Aufsatz.

Zu den Bemerkungen unseres hochverehrten Herrn Mitarbeiters1[237] Gemeint ist Gustav Cohn. über einen Vorgang im Ausschuß des Vereins für Sozialpolitik (S. 461)1)[237][A 479] Auf die Kontroverse über „den wissenschaftlichen Charakter der N[ational]-Ö[konomie]“3 So lautet der Titel von Cohns Aufsatz. gehe ich hier natürlich nicht ein, hoffe vielmehr künftig – vielleicht im nächsten Winter – gelegentlich bei einer Auseinandersetzung mit Stammler und seiner „Schule“ darauf zurückzukommen. ‒4 Weber, Stammler, unten, S. 481–571, sowie ders., Nachtrag zu Stammler, unten, S. 572–617. In beiden Fällen findet sich aber kein expliziter Bezug auf Cohn.
W[erner] Sombart beauftragt mich, von seiner Seite dagegen Verwahrung einzulegen, daß sein vorläufiges Schweigen zu dem Angriffe unseres verehrten Herren Mitarbeiters5 Cohn lehnt Sombarts These ab, daß nur im Rahmen der leistungsfähigsten Organisationsformen des Wirtschaftslebens die Sittlichkeit Wurzeln schlagen könne. Vgl. Cohn, Nationalökonomie, S. 472, mit Bezug auf den Schlußbeitrag Sombarts zur Debatte über „Die Entwicklungstendenzen im modernen Kleinhandel“, in: Verhandlungen der am 25., 26. und 27. September 1899 in Breslau abgehaltenen Generalversammlung des Vereins für Socialpolitik (Schriften des Vereins für Socialpolitik 88). – Leipzig: Duncker & Humblot 1900 (hinfort: Verhandlungen VfSp 1899), S. 246–254, hier S. 253. Vgl. bereits Cohn, Gustav, Ethik und Reaktion in der Volkswirtschaft, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, Band 24, 1900, S. 839–886. – die Folge seiner Beschäftigung mit ganz anderen Problemen – als Zustimmung gedeutet werde. Er ist nach wie vor der Meinung, daß seine Äußerungen gründlich mißverstanden worden sind, sowohl von Gierke6 Otto von Gierke hatte den Vorsitz der Debatte über „Die Entwicklungstendenzen im modernen Kleinhandel“. In seinem Schlußwort widersprach er Sombart: „in der ganzen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, da sollten wirtschaftliche Zustände allein Ursache sein, Rechtszustände und geistige und sittliche Zustände daraus folgen! Wenn das richtig ist, dann wäre unser Verein überflüssig, denn alle Socialpolitik geht doch von einer anderen Auffassung aus“. Vgl. Gierke, Otto, Schlußwort, in: Verhandlungen VfSp 1899 (wie oben, S. 237, Anm. 5), S. 254–259, hier S. 257. wie jetzt von dem Herrn Verfasser.
möge mir, da ich zu jener Mehrheit gehörte, welche die Aufnahme einer (übrigens nach den sorgsamen Prüfungen einer Kommission durchaus minderwertigen) „Berichtigung“ einer großen Verkehrsunternehmung in die Schriften des Vereins ablehnte,2 Max Weber hatte an der betreffenden Sitzung teilgenommen, vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S. 236. zur Rechtfertigung dieser Stellungnahme folgendes zu sagen gestattet sein: Es war, wenigstens bei mir, ebenso aber gewiß bei vielen anderen, sicherlich nicht die Abneigung, „an Stelle unserer [238]sozialpolitischen Parteinahme die Objektivität des in der Generalversammlung üblichen Verfahrens zu setzen“,7[238] Vgl. Cohn, Nationalökonomie, S. 462: „Indessen für den vorliegenden Fall, da die Gelegenheit zu mündlicher Erwiderung fehlte und daher eine schriftliche Erwiderung allein möglich war, wurde der herkömmliche Grundsatz preisgegeben, augenscheinlich deshalb weil die Mehrheit des Ausschusses abgeneigt war, an die Stelle ihrer sozialpolitischen d. h. arbeiterfreundlichen Parteinahme die Objektivität des in den Generalversammlungen herkömmlichen Verfahrens zu setzen.“ welche diese Haltung herbeiführte. Sondern wir waren der Meinung, daß, wenn der Verein f[ür] Soz[ial]-Polit[ik] dazu übergehen wollte, in seinen Schriften den Interessenten Raum zur Kritik seiner Publikationen zur Verfügung zu stellen, dies nur dann geschehen dürfe, wenn nicht nur jedem, der eine solche Kritik zu üben sich berufen haltea[238]A: halte, ‒ Gelehrten, politischen und wirtschaftlichen Interessenten des In- und Auslandes ‒[,] ohne weiteres dieser Raum zur Verfügung stände, sondern wenn ferner auch der Verein selbst für eine allseitige Kritik Sorge zu tragen in der Lage sei. Weder das erstere noch vollends das letztere schien uns nach der Natur der Publikationen des Vereins auch nur rein technisch möglich, denn es würde offenbar zum mindesten die Schaffung eines als „Sprechsaal“8 Möglicherweise eine polemische Bezeichnung von Cohns Vergleich des Vereins für Socialpolitik mit einem Parlament. Vgl. Cohn, Nationalökonomie, S. 461 f.: „Der Verein gibt herkömmlich durch die tatsächliche Öffentlichkeit seiner Generalversammlungen jedermann Gelegenheit, seinen Standpunkt gegen irgend einen anderen in den Schriften oder sonstwo geäußerten Standpunkt mündlich geltend zu machen, weil er der Ansicht ist, daß die sozialpolitische Tendenz aller oder der Mehrzahl seiner Mitglieder kein Hindernis sein darf gegen die freie Äußerung anders gerichteter Anschauungen. Diese Tradition verdankt der Verein teils seiner nahen Berührung mit der Wissenschaft und ihren Lebensbedingungen, teils dem Vorbilde parlamentarischer Versammlungen, die jedem ihrer Mitglieder – in den Grenzen der Geschäftsordnung – Redefreiheit gewähren.“ Die Formulierung „Sprechsaal“ findet sich später, im Zuge der Kontroversen nach der Mannheimer Generalversammlung, als Schmoller-Zitat im Brief Max Webers an denselben vom 26. Oktober 1905, MWG II/4, S. 577–579, hier S. 578, sowie in einem Brief Gustav Schmollers an Max Weber und andere Ausschußmitglieder vom 29. Oktober 1905, zitiert ebd., Anm. 6: der Verein solle „ein freier wissenschaftlicher Sprechsaal“ bleiben. dienenden Organs voraussetzen. Ohne ein solches und ohne planmäßig organisierte allseitige Kritik der Vereinspublikationen darin würde ‒ nach unserer Ansicht ‒ der Abdruck von Elaboraten solchen Charakters, wie es die in Frage stehende „Berichtigung“ war, lediglich ein einseitiges Privileg derjenigen kapitalistischen Unterneh[239]mungen bedeuten, welche sich „wissenschaftliche“ Hilfskräfte zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung halten, ihre vom Interessenstandpunkt aus an den Schriften des Vereins geübten „Kritik“ in diesen Schriften publiziert zu sehen. Das schien uns unbillig und auch der „Objektivität“ nicht zuträglich, da diesen Interessenten ohnedies die Presse in bevorzugtem Maße zur Verfügung steht, und da einer wirklich eindringenden sachlichen Kritik – gleichviel von welchem Standpunkt aus – keine wissenschaftliche Zeitschrift unseres Faches ihre Spalten verschließen wird.b[239] In A folgt: Max Weber. |