MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik. 1906
(in: MWG I/7, hg. von Gerhard Wagner in Zusammenarbeit mit Claudius Härpfer, Tom Kaden, Kai Müller und Angelika Zahn)
Bände

[384][A 143]Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik.a[384] In A folgt: Von MAX WEBER.

Inhalt: I. Zur Auseinandersetzung mit Eduard Meyer, S. 384bFehlt in A; vom Editor ergänzt. . – II. Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung, S. 447cFehlt in A; vom Editor ergänzt..

I. Zur Auseinandersetzung mit Eduard Meyer.

Wenn einer unserer ersten Historiker sich veranlaßt sieht, sich selbst und seinen Fachgenossen über Ziele und Wege seiner Arbeit Rechenschaft zu geben, so muß dies schon deshalb ein über die Fachkreise hinausreichendes Interesse wachrufen, weil er damit den Bereich seiner Einzeldisziplinen überschreitet und das Gebiet erkenntnistheoretischer Betrachtungen betritt. Dies hat freilich zunächst gewisse Konsequenzen negativer Art. Die Kategorien der Logik, welche nun einmal in ihrer heutigen Entwicklung eine Fachdisziplin ist wie andere, erfordern, um wirklich sicher gehandhabt zu werden, ganz ebenso den täglichen Umgang mit ihnen wie diejenigen irgend einer anderen Disziplin; und einen solchen konstanten geistigen Verkehr mit logischen Problemen kann und will selbstverständlich Eduard Meyer, von dessen Schrift: „Zur Theorie und Methodik der Geschichte“ (Halle 1902) hier die Rede ist, für sich ebensowenig in Anspruch nehmen, wie etwa der Schreiber der nachfolgenden Zeilen dies tut. Die erkenntniskritischen Ausführungen jener Schrift sind also, sozusagen, ein Krankheitsbericht nicht des Arztes, sondern des Patienten selbst, und als solcher wollen sie gewürdigt und verstanden werden. Der Logiker und Erkenntnistheoretiker vomdA: von Fach wird daher an zahlreichen Formulierungen M[eyer]s Anstoß nehmen und für seine Zwecke vielleicht nicht eigentlich Neues aus der Schrift erfahren. Allein dies tut ihrer Bedeutung [A 144]für die benachbarten Einzeldisziplinen kei[385]nen Eintrag.1)[385][A 144] Man wird deshalb auch die folgende Kritik, welche absichtlich gerade die Schwächen seiner Formulierungen aufsucht, hoffentlich nicht dem Bedürfnis der „Besserwisserei“ zuschreiben. Die Fehler, die ein hervorragender Schriftsteller macht, sind lehrreicher als die Korrektheiten einer wissenschaftlichen Null. Es ist hier eben nicht die Absicht, Ed[uard] Meyers Leistung positiv gerecht zu werden, sondern gerade umgekehrt: dadurch von seinen Unvollkommenheiten zu lernen, daß wir sehen, wie er sich mit gewissen wichtigen Problemen der Geschichtslogik abzufinden, mit sehr verschiedenem Erfolge, versucht hat. Gerade die bedeutsamsten Leistungen der fachmäßigen Erkenntnistheorie arbeiten mit „idealtypisch“1[385] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 203 ff. geformten Bildern von den Erkenntniszielen und -wegene[385]A: -Wegen der Einzelwissenschaften und fliegen daher über die Köpfe der letzteren so hoch hinweg, daß es diesen zuweilen schwer fällt, mit unbewaffnetem Auge sich selbst in jenen Erörterungen wiederzuerkennen. Zur Selbstbesinnung können ihnen daher methodologische Erörterungen in ihrer eigenen Mitte trotz und in gewissem Sinn gerade wegen ihrer vom Standpunkt der Erkenntnistheorie aus unvollkommenen Formulierung zuweilen leichter dienlich sein. Gerade M[eyer]s Darlegung in ihrer durchsichtigen Verständlichkeit bietet den Fachleuten der Nachbardisziplinen die Möglichkeit, an eine ganze Reihe von Punkten anzuknüpfen, um gewisse ihnen mit den „Historikern“ im engeren Sinne dieses Wortes gemeinsame logische Fragen zum Austrag zu bringen. Dies ist der Zweck der nachfolgenden Erörterungen, welche, zunächst an M[eyer]s Schrift anknüpfend, der Reihe nach eine Anzahl von logischen Einzelproblemen veranschaulichen und von dem so gewonnenen Standpunkt aus alsdann eine Anzahl weiterer neuerer Arbeiten zur Logik der Kulturwissenschaften besprechen wollen. Mit Absicht wird dabei von rein historischen Problemen ausgegangen und erst im späteren Verlauf der Erörterung zu den „Regeln“ und „Gesetze“ suchenden Disziplinen vom sozialen Leben aufgestiegen, nachdem bisher so oft der Versuch gemacht worden ist, die Eigenart der Sozialwissenschaften durch Abgrenzung gegen die „Naturwissenschaften“ zu begrenzen.2 Gemeint ist möglicherweise Gottl, Grenzen, S. VI. Dabei spielte immer die stillschweigende Voraussetzung mit, daß die „Geschichte“ eine rein materialsammelnde,3 Schon Gervinus, Historik, S. 360, hat Kritik am „geistlosen[n] Factensammler“ geübt, „der chronikartig blos zusammenträgt“. oder doch eine [386]rein „beschreibende“4[386] Zur Unterscheidung von (kausaler) Erklärung und Beschreibung vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 175 mit Anm. 1. Disziplin sei, welche günstigenfalls „Tatsachen“ herbeischleppe, die als Bausteine für die nun erst beginnende „eigentliche“ wissenschaftliche Arbeit dienen. Und zwar haben leider gerade auch die Fachhistoriker durch die Art, in welcher sie die Eigenheit der „Geschichte“ im fachlichen Sinn des Wortes zu begründen suchten, nicht wenig zur Befestigung des Vorurteils beigetragen, daß „historische“ Arbeit etwas qualitativ anderes sei als „wissenschaftliche“ Arbeit, weil „Begriffe“ und „Regeln“ die Geschichte „nichts angingen“.5 Möglicherweise referiert Weber auf Below, Methode, S. 241 f.: „Die Geschichtswissenschaft bestreitet immer die Allgemeingiltigkeit der Systeme, der Begriffe. Sie lehrt erkennen, daß die Dinge nicht stabil sind, daß die starren Dogmen und Regeln, die man aufstellt, zum mindesten bedeutenden Einschränkungen unterliegen, zugleich auch, daß es unzulässig ist, für die menschliche Entwicklung Naturgesetze zu dekretieren.“ Da auch unsere Disziplin6 Gemeint ist die Nationalökonomie. heute, unter dem nachhaltigen Einfluß der „historischen Schule“,7 Für Weber sind Wilhelm Roscher, Karl Knies und Bruno Hildebrand die Begründer der „historischen Schule“. Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 42. „geschichtlich“ fundamentiert zu werden pflegt, und da die Beziehung [A 145]zur „Theorie“ noch immer, wie vor 25 Jahren,8 Wahrscheinlich ist der Methodenstreit zwischen der theoretischen Nationalökonomie Carl Mengers und der von Gustav Schmoller fortgeführten historischen Schule gemeint. Vgl. Einleitung, oben, S. 4 f. problematisch geblieben ist, so scheint es richtig, zunächst einmal zu fragen: was denn eigentlich unter „historischer“ Arbeit im logischen Sinne verstanden werden kann, und diese Frage zunächst auf dem Boden der zweifellos und nach allgemeinem Zugeständnis „historischen“ Arbeit auszutragen, diejenige eben, mit welcher sich die hier an erster Stelle kritisierte Schrift befaßt. –

Eduard Meyer beginnt mit einer Warnung vor der Überschätzung der Bedeutung methodologischer Studien für die Praxis der Geschichte: die umfassendsten methodologischen Kenntnisse machen niemand zum Historiker, irrige methodologische Ansichten bedingen nicht notwendig eine falsche wissenschaftliche Praxis, sondern beweisen zunächst nur, daß der Historiker seine eignen richtigen Arbeitsmaximen irrtümlich formuliere oder deute.9 Vgl. Meyer, Theorie, S. 3. Dem ist im wesentlichen beizustimmen: die Methodologie kann immer [387]nur Selbstbesinnung auf die Mittel sein, welche sich in der Praxis bewährt haben, und daß diese ausdrücklich zum Bewußtsein gebracht werden, ist so wenig Voraussetzung fruchtbarer Arbeit, wie die Kenntnis der Anatomie Voraussetzung „richtigen“ Gehens. Ja, wie derjenige, welcher seine Gangart fortlaufend an anatomischen Kenntnissen kontrollieren wollte, in Gefahr käme zu stolpern, so kann das Entsprechende dem Fachgelehrten bei dem Versuche begegnen, auf Grund methodologischer Erwägungen die Ziele seiner Arbeit anderweit zu bestimmen.2)[387][A 145] Dies würde – wie noch zu zeigen – auch bei E[duard] Meyer eintreten, falls er mit manchen seiner Aufstellungen allzu wörtlich Ernst machen wollte. Wenn die methodologische Arbeit, – wie dies natürlich auch ihre Absicht ist, – in irgend einem Punkt der Praxis des Historikers unmittelbar dienen kann, so ist es gerade dadurch, daß sie ihn befähigt, sich durch philosophisch verbrämten Dilettantismus ein für allemal nicht imponieren zu lassen. Nur durch Aufzeigung und Lösung sachlicher Probleme wurden Wissenschaften begründet und wird ihre Methode fortentwickelt, noch niemals dagegen sind daran rein erkenntnistheoretische oder methodologische Erwägungen entscheidend beteiligt gewesen. Wichtig für den Betrieb der Wissenschaft selbst pflegen solche Erörterungen nur dann zu werden, wenn infolge starker Verschiebungen der „Gesichtspunkte“,10[387] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 189 mit Anm. 53. unter denen ein Stoff Objekt der Darstellung wird, die Vorstellung auftaucht, daß die neuen „Gesichtspunkte“ auch eine Revision der logischen Formen bedingen, in denen sich der überkommene „Betrieb“ bewegt hat, und dadurch Unsicherheit über das „Wesen“ der eigenen Arbeit entsteht. Diese Lage ist nun allerdings unstreitig in der Gegenwart für die Geschichte gegeben, und E[duard] M[eyer]s Ansicht über die prinzipielle Bedeutungslosigkeit der Methodologie für die „Praxis“ hat ihn daher mit Recht nicht gehindert, heute selbst Methodologie zu treiben.

Er wendet sich zunächst zu einer Darstellung derjenigen Theorien, welche neuerdings vom methodologischen Gesichtspunkte aus die Ge[A 146]schichtswissenschaft umzugestalten versucht haben und formuliert den Standpunkt, mit welchem er speziell sich kritisch auseinandersetzen will, S. 5 ff.11 Meyer, Theorie, S. 5 ff. dahin, daß

[388]
  • 1. als für die Geschichte bedeutungslos und daher nicht in eine wissenschaftliche Darstellung gehörend anzusehen seien:
  • a) das „Zufällige“,
  • b) der „freie“ Willensentschluß konkreter Persönlichkeiten,
  • c) der Einfluß der „Ideen“ auf das Handeln der Menschen,–
  • daß dagegen
  • 2. als das eigentliche Objekt wissenschaftlichen Erkennens:
  • a) die „Massenerscheinungen“ im Gegensatz zum individuellen Handeln,
  • b) das „Typische“ im Gegensatz zum „Singulären“,
  • c) die Entwicklung der „Gemeinschaften“, speziell der sozialen „Klassen“ oder der „Nationen“ im Gegensatz zum politischen Handeln Einzelner
  • zu gelten hätten, daß endlich
  • 3. die geschichtliche Entwicklung, weil wissenschaftlich nur kausal verständlich, als ein „gesetzlich“ ablaufender Prozeß aufzufassen, also die Auffindung der notwendig „typisch“ sich folgenden „Entwicklungsstufen“ der menschlichen Gemeinschaften und die Eingliederung der geschichtlichen Mannigfaltigkeit in sie der eigentliche Zweck geschichtlicher Arbeit sei.

Es werden nun im folgenden alle diejenigen Punkte in E[duard] M[eyer]s Erörterungen, welche speziell der Auseinandersetzung mit Lamprecht dienen,12[388] Ebd., S. 7 ff. vorläufig einmal ganz beiseite gelassen, und ebenso nehme ich mir die Freiheit, die Argumente E[duard] M[eyer]s dergestalt umzugruppieren und einzelne von ihnen zu gesonderter Erörterung in den weiter folgenden Abschnitten auszuscheiden, wie dies dem Bedürfnisse der folgenden Studien, die ja nicht den Zweck einer bloßen Kritik von E[duard] M[eyer]s Schrift haben, dienlich ist. –

Der von ihm bekämpften Auffassung stellt E[duard] M[eyer] zunächst den Hinweis auf die gewaltige Rolle entgegen, welche „freier Wille“ und „Zufall“, – beides nach seiner Ansicht „vollkommen feste und klare Begriffe“f[388]A: Begriffe.“ – in der Geschichte und im Leben überhaupt spielen.13 Ebd., S. 13.

[389]Was zunächst die Erörterung des „Zufalles“ (S. 17 ff.) anlangt, so versteht E[duard] M[eyer] selbstverständlich diesen Begriff nicht als objektive „Ursachlosigkeit“g[389] Ausführungszeichen fehlt in A. („absoluter“ Zufall im metaphysischen Sinn) und auch nicht als subjektive, aber bei jedem Einzelfall der betreffenden Art (beim Würfelspiel z. B.) notwendig erneut auftretende absolute Unmöglichkeit der Erkenntnis der ursächlichen Bedingungen („absoluter“ Zufall im erkenntnistheoretischen Sinn3)[389][A 146] Dieser „Zufall“ liegt z. B. den sog. „Zufalls“-Spielen, etwa den Würfeln oder [A 147]Auslosungen, zugrunde. Die absolute Unerkennbarkeit des Zusammenhanges zwischen bestimmten Teilen der den konkreten Erfolg bestimmenden Bedingungen mit dem Erfolg ist für die Möglichkeit der „Wahrscheinlichkeitsrechnung“, im strengen Sinne dieses Wortes, konstitutiv.15 Zu den Zufallsspielen sowie zur Unvollkommenheit ontologischen Wissens vgl. Kries, Principien, S. 48 ff., 85 ff.; Kries, Möglichkeit, S. 10 ff. [185 ff.]; Windelband, Zufall, S. 30 f. Zur „absoluten Unerkennbarkeit“ aller (Anfangs-)Bedingungen vgl. Einleitung, oben, S. 20. ), sondern als „relativen“ Zufall im [A 147]Sinn einer logischen Beziehung zwischen gesondert gedachten Ursachenkomplexen, und zwar im ganzen, bei naturgemäß nicht überall „korrekter“ Formulierung, so, wie dieser Begriff von der auch heute noch trotz mancher Fortschritte im einzelnen wesentlich auf Windelbands Erstlingsschrift14[389] Vgl. Windelband, Zufall. Die „Fortschritte“ erkennt Weber vermutlich im Werk von Kries; vgl. Kries, Principien, S. 97 ff., und Kries, Möglichkeit, S. 10 ff. [185 ff.]. zurückgehenden Lehre der Fachlogik akzeptiert wird. In der Hauptsache richtig geschieden wird dann auch 1. dieser kausale Begriff des „Zufalls“ (der sog. „relative Zufall“): – der „zufällige“ Erfolg steht hier im Gegensatz zu einem solchen, welcher nach denjenigen kausalen Komponenten eines Ereignisses, die wir zu einer begrifflichen Einheit zusammengefaßt haben, zu „erwarten“ war, das „Zufällige“ ist das aus jenen allein in Betracht gezogenen Bedingungen nach allgemeinen Regeln des Geschehens nicht kausal Ableitbare, sondern durch Hinzutritt einer „außerhalb“ ihrer liegenden Bedingungen Verursachte (S. 17–19), – von 2. dem davon verschiedenen teleologischen Begriff des „Zufälligen“, dessen Gegensatz das „Wesentliche“ ist, sei es, daß es sich um die zu Erkenntniszwecken vorgenommene Bildung eines Begriffes unter Ausscheidung der für die Erkenntnis „unwesentlichen“ („zufälligen“, „individuellen“) Bestandteile der Wirklichkeit han[390]delt, sei es[,] daß eine Beurteilung gewisser realer oder gedachter Objekte als „Mittel“ zu einem „Zweck“ vorgenommen wird, wobei dann gewisse Eigenschaften als „Mittel“ allein praktisch relevant, die übrigen praktisch „gleichgültig“ werden (S. 20–21).4)[390] Diese „Zufalls“-Begriffe sind aus einer auch nur relativ historischen Disziplin (z. B. der Biologie)17 Für Rickert. Grenzen. S. 268, 270, 278, ist die Mechanik die „letzte Naturwissenschaft“. weil sie „letzte Gesetze“ anstrebt und dabei alles Historische im Sinne von anschaulich Individuellem ausscheidet, mithin außer „Dingbegriffen“ von unanschaulichen „letzten Dingen“ (Atomen) nur noch „Relationsbegriffe“ formuliert. Im Unterschied dazu sind die anderen Naturwissenschaften und somit auch die Biologie relativ historische Disziplinen, weil sie noch Dingbegriffe verwenden, die historische Bestandteile enthalten. nie auszuscheiden. Nur von diesem und dem in Note 6 zu erwähnenden „pragmatischen“ Begriff des „Zufalls“18 Unten. S. 395, Fn. 6. spricht – offenbar im Anschluß an E[duard] Meyer – auch L[udo] M[oritz] Hartmann (Die geschichtliche Entwicklung S. 15, 25),19 Vgl. „Über den Zufall“ in Hartmann, Entwickelung, S. 15 ff. Für Hartmann erscheinen dem Menschen als Zufall sowohl Faktoren der äußeren Natur, die auf historische Vorgänge einwirken, als auch Begebenheiten, die sich nicht mit dem Inhalt seines Willens decken. Auf Meyer verweist er nur, als er ebd., S. 62 ff., mit Bezug auf dessen Geschichte des Altertums das Persische Heer beschreibt. er macht damit also jedenfalls – trotz seiner falschen Formulierung – nicht, wie Eulenburg (Deutsche Literaturzeitung 1905 Nr. 24) meint, das „Ursachlose zur Ursache“.20 Vgl. Eulenburg. Hartmann. S. 1502: „die Ursachlosigkeit (,Zufall‘) als Ursache (,Triebfeder‘) – was soll das heißen?“ Vgl. auch den Brief Max Webers an Franz Eulenburg vom 29. Juni 1905, MWG II/4, S. 491 f. Freilich, die Formulierung (besonders S. 20 unten, wo der Gegensatz als ein solcher von „Vorgängen“ und „Sachen“ gefaßt wird) läßt zu wünschen übrig, und daß das Problem logisch doch nicht ganz in seinen Konsequenzen durchdacht worden ist, wird sich weiterhin bei Erörterung der Stellung E[duard] M[eyer]s zum Entwicklungsbegriff (unten Abschnitt II)16[390] Unten. S. 457 ff., 461, 465. ergeben. Allein was er sagt, genügt im übrigen den Bedürfnissen der historischen Praxis. – Uns interessiert hier jedoch die Art, wie an einer späteren Stelle der Schrift (S. 28) auf den Zufallsbegriff zurückgegriffen wird. „Die Naturwissenschaft“, sagt E[duard] M[eyer] dort, „kann .…. aussprechen, daß, wenn Dynamit entzündet wird, eine Explosion stattfinden werde. Aber vorauszusehen, ob und wann in einem Einzelfalle [A 148]diese Explosion stattfindet, ob dabei ein bestimmter Mensch verwundet, getötet, gerettet wird, das ist ihr unmöglich, denn das hängt vom Zufall und vom freien Willen ab, den sie nicht kennt wohl aber die Geschichte.“ Zunächst ist hier die enge Verkoppelung des [391]„Zufalles“ mit dem „freien Willen“ auffällig. Sie tritt noch deutlicher dadurch hervor, daß E[duard] M[eyer] als zweites Beispiel anführt die Möglichkeit, mit den Mitteln der Astronomie eine Konstellation21[391] Vgl. Weber, Objektivität, oben 177 mit Anm. 9. „sicher“, d. h. unter Voraussetzung des Ausbleibens von „Störungen“ (z. B. durch ein Sich-Verirren fremder Weltkörper in das Sonnensystem)[,] zu „berechnen“, und demgegenüber als „nicht möglich“ erklärt die Voraussage, ob jene berechnete Konstellation nun auch ,,beobachtet“ wird.22 Vgl. Meyer, Theorie, S. 28. Erstens wäre doch auch jenes „Sich-Verirren“ des fremden Weltkörpers nach E[duard] M[eyer]s Voraussetzung „unberechenbar“ – mithin kennt auch die Astronomie, und nicht nur die Geschichte, den „Zufall“ in diesem Sinn, – zweitens ist doch normalerweise sehr leicht „berechenbar“, daß irgend ein Astronom die berechnete Constellation auch zu „beobachten“ versuchen und, wenn keine „zufälligen“ Störungen eintreten, tatsächlich beobachten wird. Es entsteht der Eindruck, daß E[duard] M[eyer], trotzdem der „Zufall“ von ihm durchaus deterministisch interpretiert wird, doch, ohne dies klar auszusprechen, eine besonders enge Wahlverwandtschaft23 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 152 mit Anm. 38. zwischen dem „Zufall“ und einer „Willensfreiheit24 Weber orientiert sich diesbezüglich an Windelband. Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 272, Fn. 18, und unten, S. 396, Fn. 7. vorschwebt, welche eine spezifische Irrationalität des historischen Geschehens bedinge. Sehen wir also zu.

Was E[duard] M[eyer] als „freien Willen“ bezeichnet, enthält, nach ihm (S. 14),h[391]A: ihm, (S. 14) wiederum keineswegs einen Widerspruch gegen den „axiomatischen“ und auch nach seiner Ansicht unbedingt, auch für das menschliche Handeln, geltenden „Satz vom zureichenden Grunde“.25 Schopenhauer, Satz vom Grunde (wie oben, S. 54, Anm. 63), S. 5, 9, bezeichnet diesen Satz als „Axiom“: „Nichts ist ohne Grund warum es sei.“ Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S. 364 mit Anm. 49. Sondern der Gegensatz von „Freiheit“ und „Notwendigkeit“ des Handelns löse sich in einen bloßen Unterschied der Betrachtungsweise auf: im letzten Fall betrachten wir das Gewordene, und dies gelte uns, einschließlich des einmal tatsächlich gefaßten Entschlusses, als „notwendig“, – im ersten Fall betrachten wir den Hergang als „werdend“, also noch nicht vorhan[392]den, also auch noch nicht „notwendig“, sondern als eine von unendlich vielen „Möglichkeiten“. Vom Standpunkt einer „werdenden“ Entwicklung aus aber können wir niemals behaupten, daß ein menschlicher Entschluß nicht auch anders habe ausfallen können, als er (später) tatsächlich ausgefallen ist. „Über das ,ich will‘ kommen wir bei keiner menschlichen Handlung hinaus.“26[392] Meyer, Theorie, S. 15.

Nun entsteht zunächst die Frage: ist E[duard] M[eyer] der Ansicht, daß jener Gegensatz der Betrachtungsweise („werdende“ und deshalb „frei“ gedachte „Entwicklung“ – „gewordene“ und deshalb als „notwendig“ zu denkende „Tatsache“) nur auf das Gebiet menschlicher Motivation, also nicht auf das Gebiet der „toten“ Natur Anwendung finde? Da er (S. 15) bemerkt, daß derjenige, welcher „die Persönlichkeit und die Umstände kenne“, das Ergebnis, – den „werdenden“ Entschluß – „vielleicht mit sehr hoher [A 149]Wahrscheinlichkeit“ voraussehen könne, so scheint er einen solchen Gegensatz nicht anzunehmen. Denn eine wirklich exakte Voraus„berechnung“ eines individuellen Vorgangs aus gegebenen Bedingungen ist auch auf dem Gebiet der „toten“ Natur an die beiden Voraussetzungen geknüpft, daß 1. es sich eben lediglich um „berechenbare“, d. h. quantitativ darstellbare Bestandteile des Gegebenen handelt, und daß 2. „alle“ für den Ablauf relevanten Bedingungen wirklich bekannt und exakt gemessen sind. Im anderen Fall – und dieser ist, sobald es auf die konkrete Individualität des Ereignisses: etwa die Gestaltung des Wetters an einem bestimmten künftigen Tage, ankommt, durchaus die Regel – kommen wir auch dort über Wahrscheinlichkeitsurteile von sehr verschieden abgestufter Bestimmtheit nicht hinaus.27 Vgl. Einleitung, oben, S. 20. Der „freie“ Wille nähme dann keine Sonderstellung ein und jenes „ich will“ wäre nur das formale James’sche „fiat“ des Bewußtseins,28 Vgl. James, William, The Principies of Psychology, Volume 2. – New York: Henry Holt and Comp. 1890, S. 561: „The essential achievement of the will, in short, when it is most ‘voluntary,’ is to ATTEND to a difficult object and hold it fast before the mind. The so-doing is the fiat; and it is a mere physiological incident that when the object is thus attended to, immediate motor consequences should ensue.” welches z. B. auch von den deterministischen Kriminalisten5)[392][A 149] So etwa von Liepmann, Einleitung in das Strafrecht.29 Vgl. Liepmann, Strafrecht. Vgl. auch unten, S. 452 mit Anm. 58. ohne Schaden für die Kon[393]sequenz ihrer Zurechnungs-Theorien30[393] Zur kausalen Zurechnung vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 185 mit Anm. 39. akzeptiert wird. Der „freie Wille“ bedeutete dann nur, daß dem faktisch aus vielleicht nie vollständig zu ermittelnden, jedenfalls aber „zureichenden“ Ursachen entstandenen „Entschluß“ kausale Bedeutung zugeschätzt wird, und dies wird auch kein strikter Determinist ernstlich bestreiten. Wenn es sich um weiter nichts handelte, wäre durchaus nicht abzusehen, warum nicht der gelegentlich der Erörterung des „Zufalls“ erörterte Begriff der Irrationalität31 Meyer, Theorie, S. 13, kommt auf diesen Begriff nur einmal zu sprechen, ohne ihn zu erörtern. des Historischen genügen sollte.

Allein zunächst müßte es im Fall einer solchen Deutung von E[duard] M[eyer]s Ansicht befremden, daß er in diesem Zusammenhang die „Willensfreiheit“ als „Tatsache der inneren Erfahrung“ in ihrer Unentbehrlichkeit für die Verantwortlichkeit des Einzelnen für seine „Willensbetätigung“ zu betonen für nötig findet.32 Vgl. ebd., S. 16. Dazu läge doch eine Veranlassung nur vor, wenn es ihm darauf ankäme, der Geschichte die Aufgabe des „Richters“ über ihre Helden zuzuweisen. Es entsteht die Frage, inwieweit E[duard] M[eyer] tatsächlich auf diesem Standpunkt steht. Er bemerkt (S. 16): „wir suchen die … Motive aufzudecken, welche sie“ – nämlich z. B. Bismarck 186633 Meyer, ebd., S. 17, meint die Frage, „wie Bismarck dazu gekommen ist, den Krieg mit Oesterreich für eine politische Nothwendigkeit zu erkennen“. – „zu ihren Entschlüssen geführt haben und beurteilen danach die Richtigkeit dieser Entschlüsse und den Wert (NB!) ihrer Persönlichkeit.“34 Ebd., S. 16 f. Nach dieser Formulierung könnte man glauben, E[duard] M[eyer] betrachte es als höchste Aufgabe der Geschichte, Werturteile über die „historisch handelnde“ Persönlichkeit zu gewinnen. Nicht nur seine noch zu erwähnende35 Unten, S. 416. Stellung zur „Biographie“ aber (am Schluß der Schrift),36 Meyer, Theorie, S. 55 f. sondern auch die höchst treffenden Bemerkungen über die Inkongruenz von „Eigenwert“37 Meyer verwendet diesen Begriff nicht, sondern spricht ebd., S. 52, von „Bedeutung und Werth der Persönlichkeit an sich“. der geschichtlichen Persönlichkeiten und kausaler Bedeutung derselben (S. 50, 51) lassen es [394]als zweifellos erscheinen, daß unter dem „Wert“ der Persönlichkeit in dem obigen Satz die kausale „Bedeutung“ bestimmter Handlungen oder bestimmter – für eine etwaige [A 150]Wertbeurteilung möglicherweise positive oder auch, wie bei Friedrich Wilhelm IV.,38[394] Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 280 mit Anm. 34, und S. 319, Fn. 56 mit Anm. 89 und 90. negative – Qualitäten jener konkreten Personen gemeint ist oder doch konsequenterweise nur gemeint sein könnte. Was aber die „Beurteilung“ der „Richtigkeit“ jener Entschlüsse anlangt, so kann darunter wiederum verschiedenerlei verstanden sein: entweder 1. wiederum eine Beurteilung des „Werts“ des Zwecks, der dem Entschluß zugrunde lag, etwa des Zwecks der Verdrängung Österreichs aus Deutschland vom Standpunkt des deutschen Patrioten aus, – oder 2. eine Analyse jenes Entschlusses an der Hand der Frage, ob, oder vielmehr – da ja die Geschichte diese Frage mit „ja“ beantwortet hat – warum der Entschluß zum Kriege gerade in jenem Moment das geeignete Mittel war, jenen Zweck: die Einigung Deutschlands, zu erreichen. Es mag dahingestellt bleiben, ob E[duard] M[eyer] diese beiden Fragestellungen subjektiv tatsächlich klar unterschieden hat: in eine Argumentation über historische Kausalität würde offenbar nur die zweite hineinpassen. Denn diese der Form nach „teleologische“ Beurteilung der historischen Situation unter den Kategorien „Mittel und Zweck“ hat offenbar innerhalb einer nicht als Rezeptenbuch für Diplomaten, sondern als „Geschichte“ auftretenden Darstellung lediglich den Sinn, eine Beurteilung der kausalen historischen Bedeutung der Tatsachen zu ermöglichen, – festzustellen also, daß gerade in jenem Moment eine „Gelegenheit“ zu jenem Entschluß nicht „versäumt“ wurde, weil die „Träger“ jenes Entschlusses, – wie E[duard] M[eyer] sich ausdrückt, – die „seelische Kraft“39 Meyer, Theorie, S. 17. besaßen, ihn gegen alle Widerstände festzuhalten: dadurch wird festgestellt, wieviel kausal auf jenen Entschluß und seine charakterologischen und sonstigen Vorbedingungen ,,ankommt“, inwieweit also und in welchem Sinne z. B. das Vorhandensein jener „Charakterqualitäten“40 Meyer, ebd., S. 44, spricht von „Charakteranlagen“. ein „Moment“ von historischer „Tragweite“ war. Solche Probleme der kausalen Zurückführung41 Im Sinne eines kausalen Regressus. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 164 mit Anm. 65. eines bestimmten historischen Gesche[395]hens auf die Handlungen konkreter Menschen sind aber selbstverständlich scharf zu scheiden von der Frage nach Sinn und Bedeutung der ethischen „Verantwortlichkeit“.42[395] In Meyer, Theorie, S. 44, heißt es nur: „Weil wir in jedem Moment an uns selbst erfahren, dass wir trotz aller Abhängigkeit von äusseren Umständen in jeder Willensentscheidung frei sind, deshalb machen wir für jede Bethätigung des Willens uns selbst und jeden anderen Menschen verantwortlich, und nicht die unendliche Causalreihe“.

Man könnte diesen letzteren Ausdruck bei E[duard] M[eyer] in dem rein „objektiven“ Sinn von kausaler Zurechnung gewisser Effekte zu den gegebenen „charakterologischen“ Qualitäten und den dadurch und durch zahlreiche Umstände des „Milieus“43 Diesen Begriff verwendet Meyer nicht, aber Weber einige Male. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 170 mit Anm. 87. und der konkreten Situation zu erklärenden „Motiven“ handelnder Persönlichkeiten deuten. Allein dann müßte auffallen, daß E[duard] M[eyer] an einer späteren Stelle seiner Schrift (S. 44, 45) gerade die „Motivenforschung“44 Diesen Begriff verwendet Meyer nicht. Er findet sich aber in einer Rezension Belows: Vgl. Below, Georg von, [Rez.] Eduard Meyer, Zur Theorie und Methodik der Geschichte, in: Historische Zeitschrift, 94. Band, 1905, S. 449–453 (hinfort: Below, Meyer), hier S. 452: „Motivenforschung“. Zum Begriff „Motiv“ vgl. ansonsten Meyer, Theorie, S. 14 ff., 33, 40 ff. als für die Geschichte „sekundär“ bezeichnet.6)[395][A 150] Was unter „Motivenforschung“ zu verstehen sei ist dabei nicht eindeutig gesagt.45 Für Below, Meyer (wie oben, S. 395, Anm. 44), S. 452, geht es der „Motivenforschung“ um die „inneren Kräfte der Geschichte“. Es versteht sich jedenfalls doch wohl von selbst, daß wir den „Entschluß“ einer konkreten „Persönlichkeit“ nur dann als schlechthin „letzte“ Tatsache hinnehmen, wenn er uns als „pragmatisch“ zufällig, d. h. als sinnvoller Deutung nicht [A 151]zugänglich oder nicht wert erscheint: so etwa die vom Wahn eingegebenen wirren Verfügungen Kaiser Pauls.46 Paul I. krönte sich am 17. November 1796, dem Todestag seiner Mutter Katharina d. Gr., zum Kaiser. Seine vierjährige Amtszeit brachte ihm den Ruf eines unberechenbaren Tyrannen ein. Vgl. Schiemann, Theodor, Geschichte Russlands unter Kaiser Nikolaus I., Band 1: Kaiser Alexander I. und die Ergebnisse seiner Lebensarbeit. – Berlin: Georg Reimer 1904, S. 12 ff. Im übrigen aber besteht doch eine der zweifellosesten Aufgaben der Geschichte von jeher gerade darin, die empirisch gegebenen äußeren „Handlungen“ und ihre Ergebnisse aus den historisch gegebenen „Bedingungen“, „Zwecken“ und „Mitteln“ des Handelns zu verstehen. Auch Ed[uard] Meyer verfährt doch nicht anders. Und die „Motivenforschung“ – d. h. die Analyse des wirklich „Gewollten“ und der „Gründe“ dieses Wollens – ist einerseits das Mittel, zu verhüten, daß jene Analyse in eine unhistorische Pragmatik ausarte, andererseits aber einer der Hauptansatzpunkte des „historischen Interesses“:47 Vgl. Meyer, Theorie, S. 37 f. Vgl. auch Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 256 mit Anm. 57. – wir wollen ja (unter anderm) gerade auch sehen, wie das „Wol[396]len“ des Menschen durch die Verkettung der „historischen“ Schicksale in seiner „Bedeutung“ gewandelt wird. Der angeführte Grund, daß sie meist die Grenze des sicher [396][A 151]Erkennbaren überschreite, oft geradezu nur eine „genetische Formulierung“ einer nach Lage des Materials nicht gut erklärbaren, daher als „Tatsache“ einfach hinzunehmenden Handlung sei,48 [396] Vgl. Meyer, Theorie, S. 44 f., „Nicht selten ist der historische Schluss, der die Ursache eines Vorgangs zu ermitteln sucht, nichts als eine unter dem zwingenden Gebot unseres Causalbedürfnisses vorgenommene Umsetzung der Thatsache in eine genetische Formulirung, die uns in Wirklichkeit absolut nichts neues lehrt. […] Daher kann die Darlegung der Motive, die psychologische Analyse, niemals die Hauptaufgabe der Geschichtswissenschaft sein […]. Die Grundlage bleibt immer die Ermittelung der Thatsachen“. ist, so oft dies im einzelnen zutreffen mag, als logisch unterscheidendes Merkmal gegenüber den ebenfalls oft problematischen „Erklärungen“ konkreter „äußerer“ Vorgänge schwerlich festzuhalten. Aber, wie dem sei, in jedem Fall führt diese Anschauung in Verbindung mit der starken Betonung der Bedeutung des rein formalen Momentes des „Willensentschlusses“ für die Geschichte und der zitierten Bemerkung über die „Verantwortlichkeit“49 Oben, S. 395 mit Anm. 42. auf die Vermutung, daß für E[duard] M[eyer] hier in der Tat doch wohl ethische und kausale Betrachtungsweise menschlichen Handelns: „Wertung“ und „Erklärung“, eine gewisse Neigung zeigen, ineinanderzufließen. Denn gleichviel, ob man die Formulierung Windelbands, daß der Gedanke der Verantworthchkeit eine Abstraktion von der Kausalität bedeute, als positive Begründung der normativen Dignität des sittlichen Bewußtseins ausreichend findet7) Windelband (Über Willensfreiheit, letztes Kapitel)51 Vgl. Windelband, Willensfreiheit, S. 203 ff. (Zwölfte Vorlesung. Die Verantwortung). wählt diese Formulierung speziell, um die Frage der „Willensfreiheit“ aus den kriminalistischen Erörterungen auszuscheiden. Allein es fragt sich, ob sie den Kriminalisten genügt, da gerade die Frage nach der Art der kausalen Verknüpfung durchaus nicht irrelevant für die Anwendbarkeit der strafrechtlichen Normen ist., – jedenfalls kennzeichnet diese Formulierung zutreffend die Art, wie sich die Welt der „Normen“ und „Werte“, vom Boden der empirisch-wissenschaftlichen Kausalbetrachtung aus gesehen, gegen diese letztere abgrenzt. Bei dem Urteil, daß ein bestimmter mathematischer Satz „richtig“ sei, kommt es auf die Frage, wie seine Erkenntnis „psychologisch“ zustande gekommen sein mag und ob etwa „mathematische Phantasie“50 Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 317 mit Anm. 81. in höchster Potenz nur als [397]Begleiterscheinung bestimmter anatomischer Abnormitäten des „mathematischen Gehirns“52[397] Möglicherweise Bezug auf die zeitgenössische Hirnforschung, z. B. auf Rudolf Wagner, der u. a. das „Gehirn von Carl Friedrich Gauss“ (tatsächlich das des Mediziners Conrad Heinrich Fuchs) und das „Gehirn des ausgezeichneten Mathematikers Lejeune Dirichlet“ analysiert hat. Vgl. Wagner, Rudolf, Vorstudien zu einer wissenschaftlichen Morphologie und Physiologie des menschlichen Gehirns als Seelenorgan. Erste Abhandlung: Über die typischen Verschiedenheiten der Windungen der Hemisphären und die Lehre vom Hirngewicht, mit besondrer Rücksicht auf die Hirnbildung intelligenter Männer. Mit sechs Kupfertafeln. – Göttingen: Dieterich 1860, S. 79. möglich sei, natürlich gar nichts an. Und ebensowenig bedeutet vor dem Forum des „Gewissens“ die Erwägung, daß das ethisch beurteilte eigne „Motiv“ ja, nach den Lehren der empirischen Wissenschaft, schlechthin kausal bedingt gewesen sei, oder bei Beurteilung des ästhetischen Wertes einer Stümperei [A 152]die Überzeugung, daß ihr Zustandekommen als ebenso determiniert gedacht werden müsse, wie dasjenige der Sixtinischen Kapelle. Die kausale Analyse liefert absolut keine Werturteile8)[397][A 152] Was freilich durchaus nicht besagt, daß nicht für die „psychologische“ Ermöglichung des „Verständnisses“ der Wertbedeutung eines Objektes (z. B. eines Kunstwerks) die kausale Betrachtung seiner Genesis sehr Wesentliches bringen könne. Darauf kommen wir zurück.54 Unten, S. 426 ff. , und ein Werturteil ist absolut keine kausale Erklärung. Und eben deshalb bewegt sich die Bewertung eines Vorganges – etwa der „Schönheit“ eines Naturvorganges – in einer andern Sphäre als seine kausale Erklärungi[397]A: Erklärung, und würde daher auch die Beziehung auf die „Verantwortlichkeit“ des historisch Handelnden vor seinemjA: ihrem Gewissen oder vor dem Richterstuhl irgend eines Gottes oder Menschen und alles andere Hineintragen des philosophischen „Freiheits“-Problems in die Methodik der Geschichte deren Charakter als Erfahrungswissenschaft ganz ebenso aufheben, wie die Einschaltung von Wundern in ihre Kausalreihen. Diese lehnt E[duard] M[eyer] im Anschluß an Ranke (S. 20)53 Für Meyer, Theorie, S. 20, hat Ranke, obwohl er als „strenggläubiger Christ“ gelegentlich Ausdrücke wie „Finger Gottes“ verwendet, doch „niemals einer theologisirenden Auffassung der Geschichte, welche etwa in ihr die Verwirklichung eines göttlichen Planes aufzeigen wollte, Raum gegeben“. Vgl. eine solche Formulierung in Ranke, Leopold von, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535, 1. Band. – Leipzig und Berlin: G. Reimer 1824, S. 139: „In dem entscheidenden Augenblick tritt allemal ein, was wir Zufall oder Geschick nennen, und was Gottes Finger ist.“ unter Berufung auf die „scharfe Grenze zwischen historischer Erkenntnis und reli[398]giöser Weltanschauung“ natürlich ab, und es wäre m. E. besser gewesen, wenn er sich nicht durch Ausführungen Stammler’s, auf die er sich (S. 16 Anm. 2) beruft,55 [398] Meyer, Theorie, S. 16, beruft sich in Anm. 1 auf Stammler, Rudolf, Die Lehre von dem richtigen Rechte. – Berlin: J. Guttentag 1902 (hinfort: Stammler, Lehre), S. 177 ff., wo es um die „Gesetzmäßigkeit der Zwecke“ geht. hätte verführen lassen, die genau gleich scharfe Grenze gegenüber der Ethik zu verwischen. Wie verhängnisvoll diese Vermengung verschiedener Betrachtungsweisen methodologisch werden kann, zeigt sich sofort, wenn E[duard] M[eyer] (weiterhin S. 20)56 Vgl. Meyer, Theorie, S. 16. glaubt, „damit“ – nämlich mit den empirisch gegebenen Freiheits- und Verantwortlichkeitsgedanken – sei im historischen Werden ein „rein individuelles Moment“ gegeben, welches sich „niemals auf eine Formel reduzieren“ lasse, ohne „sein Wesen aufzuheben“, und diesen Satz dann wieder durch die eminente historische (kausale) Bedeutung des individuellen Willensentschlusses einzelner Persönlichkeiten zu illustrieren sucht. Dieser alte Irrtum9)[398] Ich habe denselben eingehend in meinem Aufsatz „Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie“ II in Schmollers Jahrbuch, 1905, 4. Heft kritisiert.57 Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 248 ff. ist deshalb so bedenklich gerade vom Standpunkt der Wahrung der logischen Eigenart der Geschichte aus, weil er Probleme ganz anderer Forschungsgebiete auf das Gebiet der Geschichtswissenschaft überträgt und den Anschein erweckt, als sei eine bestimmte (antideterministische) philosophische Überzeugung Voraussetzung der Geltung der historischen Methode.

Das Irrtümliche aber der Annahme, daß eine, wie immer verstandene „Freiheit“ des Wollens identisch sei mit der „Irrationalität“ des Handelns bezw. daß die letztere durch die erstere bedingt sei, liegt denn doch auf der Hand. Spezifische „Unberechenbarkeit“, gleich groß – aber nicht größer [A 153] – wie diejenige „blinder Naturgewalten“, ist das Privileg des – Verrückten.10)[A 153] Die Handlungen Kaiser Pauls von Rußland im letzten Stadium seines wirren Regiments58 Vgl. oben, S. 395, Fn. 6 mit Anm. 46. nehmen wir, als nicht sinnvoll deutbar und deshalb „unberechenbar“, ebenso hin wie den Sturm, der die spanische Armada zerstörte,59 Im Sommer 1588 tobte ein zweiwöchiger Sturm vor der Küste Nordenglands. Die Hälfte der Schiffe Spaniens, das sich im Krieg mit England befand, sank; ungefähr 12.000 Seeleute ertranken. bei dem einen wie bei dem [399]anderen verzichten wir auf „Motivenforschung“, aber offenbar nicht, weil wir diese Vorgänge als „frei“ deuten, und auch nicht nur[,] weil uns ihre konkrete Kausalität notwendig verborgen bleiben müßte – bei Kaiser Paul könnte ja vielleicht die Pathologie Aufschlüsse geben –[,] sondern weil sie uns historisch nicht hinlänglich interessieren. Darüber Näheres später.60 [399] Unten, S. 416 ff., bes. S. 418. Mit dem höch[399]sten Grad empirischen „Freiheitsgefühls“ dagegen begleiten wir umgekehrt gerade diejenigen Handlungen, welche wir rational, d. h. unter Abwesenheit physischen und psychischen „Zwanges“, leidenschaftlicher „Affekte“ und „zufälliger“ Trübungen der Klarheit des Urteils[,] vollzogen zu haben uns bewußt sind, in denen wir einen klar bewußten „Zweck“ durch seine, nach Maßgabe unserer Kenntnis, d. h. nach Erfahrungsregeln, adäquatesten „Mittel“ verfolgen. Hätte es aber die Geschichte nur mit solchem, in diesem Sinne „freien“, d. h. rationalen Handeln zu tun, so wäre ihre Aufgabe unendlich erleichtert: aus den angewendeten Mitteln wäre ja der Zweck, das „Motiv“, die „Maxime“ des Handelnden eindeutig erschließbar und alle Irrationalitäten, welche das, im vegetativen Sinne des mehrdeutigen Wortes, „Persönliche“ des Handelnsk[399]A: Handels ausmachen, wären ausgeschaltet. Da alles streng teleologisch verlaufende Handeln eine Anwendung von Erfahrungsregeln ist, welche die geeigneten „Mittel“ zum Zwecke angeben, so wäre die Geschichte gar nichts als die Anwendung jener Regeln.11) S[iehe] darüber meine Ausführungen in Schmollers Jahrbuch, Oktoberheft 1905.61 Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 240–327. – Streng rationales Handeln, – so kann man es auch ausdrücken, – wäre glatte und restlose „Anpassung“ an die gegebene „Situation“. Die Mengerschen theoretischen Schemata z. B. enthalten die streng rationale „Anpassung“ an die „Marktlage“ als Voraussetzung in sich und veranschaulichen in „idealtypischer“ Reinheit die Konsequenzen derselben.62 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 201 ff. Die Geschichte wäre in der Tat nichts weiter als eine Pragmatik der „Anpassung“ – wozu L[udo] M[oritz] Hartmann sie umgestalten möchte,63 Für Hartmann, Entwickelung, S. 18 f., 29, 62, besteht die Form historischer Entwicklung aus Prozessen der Anpassung und der Auslese. wenn sie lediglich eine Analyse des Entstehens und Ineinandergreifens von einzelnen „freien“, d. h. teleologisch absolut rationalen Handlungen einzelner Individuen wäre. – Entkleidet man, wie Hartmann es tut, den Begriff der „Anpassung“ dieses teleologisch-rationalen Sinnes, dann wird er, wie weiterhin gelegentlich noch weiter ausgeführt werden soll,64 Weber kommt in seiner Kritik an Meyer nicht mehr auf „Anpassung“ oder Hartmann zu sprechen. Den Begriff „Anpassung“ hat er andernorts als eine „summarische und stumpfe Kategorie“ bezeichnet. Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 266. für das Historische absolut farblos. Daß das [400]Handeln des Menschen nicht so rein rational deutbar ist, daß nicht nur irrationale „Vorurteile“, Denkfehler und Irrtümer über Tatsachen, sondern auch „Temperament“, „Stimmungen“ und „Affekte“ seine „Freiheit“ trüben, daß also auch sein Handeln – in sehr verschiedenem Maße – an der empirischen „Sinnlosigkeit“ des „Naturgeschehens“ teil hatl[400]A: tat, dies gerade bedingt die Unmöglichkeit rein pragmatischer Historik. Allein diese Art von „Irrationalität“ teilt [A 154]das Handeln ja gerade mit den individuellen Naturvorgängen, und wenn also der Historiker von der „Irrationalität“ des menschlichen Handelns als einem bei der Deutung historischer Zusammenhänge störenden Moment spricht, so vergleicht er dabei eben das historisch-empirische Handeln nicht mit dem Geschehen in der Natur, sondern mit dem Ideal eines rein rationalen, d. h. schlechthin zweckbestimmten und über die adäquaten Mittel absolut orientierten Handelns.

Zeigt die Darlegung Eduard Meyers über die der historischen Betrachtung eigentümlichen Kategorien „Zufall“ und „freier Wille“ eine etwas unklare Neigung, heterogene Probleme in die Methodik der Geschichte zu tragen, so ist ferner auch zu konstatieren, daß seine Auffassung von der historischen Kausalität auffallende Widersprüche aufweist. Auf S. 40 wird in nachdrücklicher Weise betont, daß die historische Forschung stets und immer in der Richtung von der Wirkung zur Ursache Kausalreihen aufsuche. Schon dies ist – in E[duard] M[eyer]s Formulierung12)[400][A 154] Er sagt a. a. O. wenig glücklich: „die historische Forschung verfährt in der Folgerung von der Wirkung zur Ursache“.67 Meyer, Theorie, S. 40. – bestreitbar: Es ist an sich durchaus möglich, daß für ein als Tatsache gegebenes oder neubekannt werdendes historisches Ereignis die Wirkungen, die es vielleicht ausgeübt haben könnte, in Form einer Hypothese formuliert und diese alsdann durch Prüfung der „Tatsachen“ verifiziert wird. Gemeint ist, wie sich später zeigen wird,65[400] Unten, S. 434. etwas anderes: das neuerdings sog. Prinzip der „teleologischen Dependenz“,66 Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 300 mit Anm. 97. [401]welches das kausale Interesse der Geschichte beherrscht. – Weiterhin ist es aber natürlich auch unzutreffend, wenn jenes Aufsteigen von der Wirkung zur Ursache als nur der Geschichte eigentümlich angesprochen wird. Die kausale „Erklärung“ eines konkreten „Naturvorganges“ verfährt hierin ganz und gar nicht anders. Und während S. 14 – wie wir sahen –68 [401] Oben, S. 391 f. die Ansicht vertreten wurde, daß das Gewordene uns als schlechthin „notwendig“ und nur das „werdend“ Gedachte als bloße „Möglichkeit“ gelte,69 Vgl. Meyer, Theorie, S. 14 f. wird S. 40 umgekehrt das besonders Problematische des Schlusses von der Wirkung auf die Ursache betont, derart, daß E[duard] M[eyer] selbst das Wort „Ursache“ auf dem Gebiet der Geschichte vermieden sehen möchte und die „Motivenforschung“, wie wir schon sahen,70 Oben, S. 395 mit Anm. 44. bei ihm in Mißkredit steht.71 Vgl. Meyer, Theorie, S. 40 f.

Man könnte in E[duard] M[eyer]s Sinn diesen letzten Widerspruch so lösen wollen, daß das Problematische jenes Schlusses nur in den prinzipiell begrenzten Möglichkeiten unseres Erkennens läge, die Determiniertheit also ideales Postulat bliebe. Allein auch dies weist E[duard] M[eyer] S. 23 entschieden zurück, und es folgt alsdann (S. 24 ff.) eine Auseinandersetzung, die wiederum erhebliche Bedenken erweckt. Eduard Meyer hatte s. Z. in der Einleitung zur Geschichte des Altertums das Verhältnis zwischen „Allgemeinem“ und „Besonderem“ mit dem zwischen „Freiheit“ und „Notwendigkeit“ und beide mit demjenigen des „Einzelnen“ zur „Gesamt[A 155]heit“ identifiziert und war so zu dem Resultat gelangt, daß die „Freiheit“ und deshalb (s. o.)72 Oben, S. 398. das „Individuelle“ im „Detail“, in den „großen Zügen“ des historischen Geschehens aber das „Gesetz“ resp. die „Regel“ herrsche.73 Vgl. Meyer, Geschichte I, S. 14 f. Diese auch bei manchen „modernen“ Historikern74 In seiner Kritik an Roscher, oben, S. 74, Fn. 57, bezeichnet Weber Georg von Below als „moderne[n] Historiker“. Im zweiten Teil seiner Kritik an Meyer, unten, S. 458 f., scheint Weber auch Hans F. Helmolt den „moderne[n] Historiker[n]“ zuzuschlagen. Hier dürfte hingegen Lamprecht, Karl, Moderne Geschichtswissenschaft. Fünf Vorträge. – Freiburg i. B.: Heyfelder 1905, gemeint sein. herrschende, in dieser Formulierung [402]allerdings grundverkehrte Auffassung widerruft er auf S. 25 ausdrücklich, unter Bezugnahme teils auf Rickert, teils auf v. Below. Der letztere hatte speziell an dem Gedanken der „gesetzlichen Entwicklung“ Anstoß genommen und13)[402][A 155] Hist[orische] Zeitschr[ift] 81, 1899, S. 238.78 Below, Methode, S. 238. Der Band ist 1898 erschienen. Vgl. auch Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 74, Fn. 57. gegenüber dem Beispiel E[duard] M[eyer]s: – die Entwicklung Deutschlands zu einer einigen Nation erscheine uns als „geschichtliche Notwendigkeit“, die Zeit und Form der Einigung in einem Bundesstaat mit 25 Gliedern dagegen beruhe auf der „Individualität der geschichtlich wirkenden Faktoren“75 [402] Meyer, Theorie, S. 25. – die Einwendung gemacht: „Konnte es nicht auch anders kommen?“76 Below, Methode, S. 238. Dieser Kritik gibt E[duard] M[eyer] bedingungslos recht.77 Vgl. Meyer, Theorie, S. 25. Allein es scheint mir leicht einzusehen, daß sie – wie immer man jene von Below bekämpfte Formulierung E[duard] M[eyer]s beurteilt – jedenfalls zu viel, und darum eben gar nichts, beweist. Denn der gleiche Einwurf träfe offenbar auch da zu, wo wir alle, sicher auch v. Below und Eduard Meyer, den Begriff der „gesetzmäßigen Entwicklung“ ganz ohne Bedenken anwenden. Daß z. B. aus einem menschlichen Fötus ein Mensch geworden ist oder werden wird, erscheint uns tatsächlich als eine gesetzmäßige Entwicklung – und doch kann es unzweifelhaft auch hier durch äußere „Zufälle“ oder „pathologische“ Veranlagung „anders kommen“. Es kann sich also bei der Polemik gegen die „Entwicklungs“-Theoretiker offenbar nur darum handeln, den logischen Sinn des „Entwicklungs“-Begriffes richtig zu fassen und zu begrenzen – einfach beseitigen läßt er sich durch solche Argumente doch offenbar nicht. Dafür ist E[duard] M[eyer] selbst das beste Beispiel. Denn schon zwei Seiten weiter (S. 27) verfährt er in einer Anmerkung, die den Begriff „Mittelalter“ als einen „festen (?) Begriff“ bezeich[403]net, wieder ganz nach dem in seiner widerrufenen „Einleitung“79 [403] Meyer, Geschichte I, hatte behauptet, die Geschichte setze die Ergebnisse der Anthropologie „als gegeben voraus“. Deren Aufgabe sei es, die „allgemeinen Grundzüge der Entwickelung zu erforschen“ und die „in ihnen herrschenden Gesetze darzulegen“. Die Geschichte beschäftige sich dann „mit einem räumlich und zeitlich bestimmten Volke, das unter dem Einfluss nicht allgemeiner Gesetze, sondern bestimmter, für den einzelnen Fall gegebener Verhältnisse steht“ (ebd., S. 11; mit einer Unterstreichung im Handexemplar, Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München). Das „historische Leben“ entfalte sich schließlich aus einem „Kampfe“ zwischen dem „Einzelnen“ und der „Gesammtheit“, zwischen „Freiheit und Nothwendigkeit“: „In den Grundzügen der Entwickelung erkennen wir die allgemeinen Gesetze, in der Gestaltung des Einzelnen die Wirkung der Individualität des Volkes und der handelnden Person, welche die gegebenen Umstände richtig oder unrichtig verwerthen“ (ebd., S. 14 f.). In Meyer, Theorie, S. 25, werden diese Formulierungen als „unzureichend und zum Teil falsch“ bezeichnet: „sowohl in Betreff der Individuen wie in Betreff der ,allgemeinen Gesetze‘“. niedergelegten Schema[,] und im Text heißt es, daß das Wort „notwendig“ in der Geschichte nur bedeute, daß die „Wahrscheinlichkeit“ (eines historischen Erfolges aus gegebenen Bedingungen) „einen sehr hohen Grad erreicht, daß etwa die ganze Entwicklung auf ein Ereignis hindrängt“.80 Meyer, Theorie, S. 27. Mehr hatte er doch wohl mit seiner Bemerkung über die Einigung Deutschlands auch nicht sagen wollen. Und wenn er dabei betont, daß jenes Ereignis trotz alledem eventuell nicht eintreten könne, so wollen wir uns erinnern, daß er ja sogar für astronomische Berechnungen die Möglichkeit, daß sie durch sich verirrende Weltkörper „gestört“ werden könnten, betont hatte:81 Vgl. ebd., S. 28. Es besteht eben in der Tat in dieser Hinsicht ein Unterschied gegenüber individuellen Naturvorgängen nicht, und auch in der Naturerklärung ist – was näher auszuführen hier zu weit abführte –14)[403] S[iehe] darüber meine Ausführungen in Schmollers Jahrbuch, Oktoberheft 1905.82 Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 275 ff. , sobald es sich um konkrete Ereignisse handelt, das Not[A 156]wendigkeitsurteil keineswegs die einzige oder auch nur die vorwiegende Form, in welcher die Kategorie der Kausalität erscheint. Man geht wohl mit der Annahme nicht fehl, daß E[duard] M[eyer] zu seinem Mißtrauen gegen den „Entwicklungs“-Begriff durch seine Auseinandersetzungen mit J[ulius] Wellhausen gelangt [404]ist,83 [404] Vgl. Meyer, Eduard, Die Entstehung des Judenthums. Eine historische Untersuchung. – Halle a.S.: Max Niemeyer 1896; Wellhausen, Julius, [Rez.] Eduard Meyer, Die Entstehung des Judenthums, in: Göttinger gelehrte Anzeigen, Jg. 159, Band 1, 1897, S. 89–97; Meyer, Eduard, Julius Wellhausen und meine Schrift Die Entstehung des Judenthums. Eine Erwiderung. – Halle a.S.: Max Niemeyer 1897. bei denen es sich wesentlich (nicht: nur) um den Gegensatz handelte: Deutung der „Entwicklung“ des Judentums als einer solchen wesentlich „von Innen heraus“ („evolutionistisch“) oder als durch gewisse von „Außen“ eingreifende konkrete historische Schicksale: insbesondere die Oktroyierung des „Gesetzes“ durch die Perserkönige aus politischen (also in der persischen Politik, nicht in der Eigenart des Judentums liegenden) Gründen, bedingt („epigenetisch“). Wie dem nun aber sei, jedenfalls ist es keine Verbesserung gegenüber der in der „Einleitung“ gebrauchten Formulierung, wenn S. 46 „das Allgemeine“ als die „im Wesentlichen (?) negativ oder, schärfer formuliert, limitierend“ wirkende „Voraussetzung“ erscheint, welche die „Grenze“ setze, „innerhalb deren die unendlichen Möglichkeiten der historischen Entwicklung liegen“, während die Frage, welche von diesen Möglichkeiten „Wirklichkeit“ wird15)[404][A 156] Diese Formulierung erinnert an gewisse, innerhalb der russischen Soziologenschule (Michailowski, Karjejew u. a.) übliche Gedankengänge, mit denen sich ein Aufsatz Th[eodor] Kistiakowskis in den „Problemen des Idealismus“ (hrg. von Nowgorodzew, Moskau 1902) über „die russische Soziologenschule und die Kategorie der Möglichkeit in der sozialwissenschaftlichen Problematik“ auseinandersetzt,85 Kistjakovskij, Russkaja sociologičeskja. auf den wir noch zurückkommen.86 Unten, S. 452, Fn. 31. , von den „höheren (?), individuellen Faktoren des historischen Lebens“ abhänge.84 Meyer, Theorie, S. 46; dort ist von den: „unendlichen Möglichkeiten der historischen Einzelgestaltung“ die Rede. Damit ist ganz offenbar das „Allgemeine“, d. h. nicht etwa das mißbräuchlich zuweilen mit dem „Generellen“ verwechselte „allgemeine Milieu“, sondern (S. 46 oben) die Regel, also ein abstrakter Begriff doch wieder zu einer wirkenden Kraft hinter der Geschichte hypostasiert und die elementare Tatsache verkannt, – welche E[duard] M[eyer] an anderen Stellen klar und scharf betont hatte, – daß Realität nur dem Konkreten, Individuellen zukommt.

Jene bedenkliche Formulierung der Beziehungen zwischen „Allgemeinem“ und „Besonderem“ ist keineswegs nur E[duard] Meyer [405]eigentümlich und keineswegs auf Historiker seines Gepräges beschränkt. Im Gegenteil: sie liegt z. B. auch der populären[,] aber gerade von manchen „modernen“ Historikern – nicht von E[duard] M[eyer] – geteilten Vorstellung zugrunde, als ob man, um den Betrieb der Geschichte als einer „Wissenschaft vom Individuellen“ rational zu gestalten, zunächst die „Übereinstimmungen“ menschlicher Entwicklungen festzustellen habe, worauf alsdann als „Rest“ die „Besonderheiten und Unteilbarkeiten“ als – wie Breysig sich einmal ausdrückt – „feinste Blumen“ übrig bleiben würden.87 [405] Vgl. Breysig, Entstehung, S. 527: „Man verlangt heute zuweilen mit einiger Ungeduld, daß die fortschreitende Forschung die Entstehung der Unterschiede im menschlichen Gesellschaftsleben deute und erkläre. Es scheint, daß für lange Zeit noch notwendig ist, erst die Übereinstimmungen festzustellen. Damit einmal erst erkannt werde, was denn nach Abzug von Allgemeinheit und Gemeingut der Menschen und Völker als Besonderheit und Unteilbarkeit übrig bleibt. Gerade wem der Sinn nach dieser feinsten Blume auf dem Plan der Gesellschaftswissenschaft steht, müßte so, kann nur so verfahren.“ Diese Auffassung stellt gegenüber der naiven Meinung von dem Beruf der Geschichte, eine „systematische Wissenschaft“ zu werden,88 Möglicherweise ist Lamprecht gemeint. Vgl. Lamprecht, Karl, Die kulturhistorische Methode. – Berlin: R. Gaertner 1900, S. 16: „Aufschwung der Geschichtswissenschaft aber heißt Aufschwung der historischen Methode, Aufschwung des systematischen, zu Begriffen hinführenden Denkens auf geschichtlichem Gebiete.“ Vgl. dagegen Meyer, Theorie, S. 1: „Die Geschichte ist keine systematische Wissenschaft.“ natürlich schon einen der historischen [A 157]Praxis näherstehenden „Fortschritt“ dar. Aber allerdings ist sie selbst wiederum eine große Naivität. Das Unternehmen, „Bismarck“ in seiner historischen Bedeutung zu verstehen, indem man das, was er mit allen anderen Menschen gemeinsam hat, subtrahiert, und so dann das „Besondere“ übrigbehält, würde einen für Anfänger ganz lehrreichen und amüsanten Versuch abgeben. Man würde – natürlich (wie bei logischen Erörterungen immer) ideale Vollständigkeit des Materials vorausgesetzt – z. B. als eine jener „feinsten Blumen“ seinen „Daumenabdruck“, jenes von der Technik der Kriminalpolizei entdeckte spezifischste Erkennungszeichen der „Individualität“,89 Die Daktyloskopie hat Galton nach Vorarbeiten von William James Herschel und Henry Faulds wissenschaftlich begründet. Vgl. Galton, Francis, Finger Prints. – London and New York: Macmillan 1892. übrigbehalten, dessen Verlust also für die Geschichte geradezu unersetzlich wäre. Und wenn darauf entrüstet entgegnet würde, [406]daß „natürlich“ doch nur „geistige“ oder „psychische“m[406]A: „physische“ Qualitäten und Vorgänge als „historisch“ in Betracht kommen könnten, so würde sein Alltagsleben, wenn wir es „erschöpfend“ kennten, uns eine Unendlichkeit von Lebensäußerungen bieten, die so, in dieser Mischung und Konstellation, bei schlechthin keinem anderen Menschen vorgefallen sind und an Interesse doch nicht über jenem Daumenabdruck stehen. Wenn dann weiter eingewendet würde, daß ja doch „selbstverständlich“ für die Wissenschaft nur die historisch „bedeutsamen“ Bestandteile von Bismarcks Leben in Betracht kommen, so hätte die Logik darauf zu erwidern: daß eben jenes „selbstverständlich“ das für sie entscheidende Problem enthalte, da sie ja gerade danach fragt: welches denn das logische Merkmal der historisch „bedeutsamen“ Bestandteile ist.

Daß jenes Subtraktionsexempel – absolute Vollständigkeit des Materials vorausgesetzt – auch in der fernsten Zukunft nicht zu Ende zu führen und nach Subtraktion einer vollen Unendlichkeit von „Gemeinsamkeiten“ stets eine weitere Unendlichkeit von Bestandteilen übrig bleiben würde, innerhalb deren man nach einer vollen Ewigkeit eifrigen Subtrahierens der Frage, was von diesen Besonderheiten denn nun eigentlich das historisch „wesentliche“ seinA: seien, noch um keinen Schritt näher gerückt wäre: – dies würde die eine Einsicht sein, welche bei dem Versuch seiner Durchführung herausspringen würde, – die andere aber wäre: daß für jene Subtraktionsmanipulation die absolute Vollständigkeit der Einsicht in den kausalen Ablauf des Geschehens bereits in einem Sinne vorausgesetzt wird, in welchem keine Wissenschaft der Welt sie auch nur als ein ideales Ziel zu erstreben vermag.90 [406] Dieses Ziel erreicht nur der Laplacesche Dämon, der sowohl alle Gesetze (nomologisches Wissen) als auch alle Anfangsbedingungen (ontologisches Wissen) kennt. Vgl. Einleitung, oben, S. 20. In Wahrheit setzt eben jede „Vergleichung“ auf dem Gebiet des Historischen zunächst voraus, daß durch Beziehung auf Kultur-„Bedeutungen“91 Weber spricht auch mit Rickert von Wertbeziehung. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 153 mit Anm. 43; S. 166 mit Anm. 71; S. 189 mit Anm. 53. bereits eine Auslese vollzogen ist, welche, unter Ausschaltung einer vollen Unendlichkeit von sowohl „generellen“ als „individuellen“ [407]Bestandteilen des „Gegebenen“, Zweck und Richtung der kausalen Zurechnung positiv bestimmt. Als ein Mittel dieser Zurechnung, und gewiß auch nach meiner Ansicht als eines der allerwichtigsten, vielfach noch nicht in irgend entfernt ge[A 158]nügendem Maße genutzten, kommt alsdann die Vergleichung „analoger“92 [407] Vgl. Meyer, Theorie, S. 26, 48. Vorgänge in Betracht. Welchen logischen Sinn sie hat, davon später.93 Unten, S. 436 ff.

Eduard Meyer seinerseits teilt, wie seine noch zu besprechende94 Unten, S. 414 f., 435. Bemerkung S. 48 unten zeigt, den Irrtum, daß das Individuelle als solches bereits Objekt der Geschichte sei, nicht, und seine Bemerkungen über die Bedeutung des Generellen für die Geschichte: daß die „Regeln“ und Begriffe nur „Mittel“, „Voraussetzungen“ der historischen Arbeit seien (S. 29 Mitte),95 Meyer, Theorie, S. 29, spricht nur von „Voraussetzung“; an anderen Stellen ist von „Regel“ (ebd., S. 26 ff., 46) und „Mittel“ (ebd., S. 49) die Rede. sind, wie wir sehen werden,96 Unten, S. 413 ff. logisch im wesentlichen korrekt. Allein seine oben kritisierte Formulierung ist,97 Oben, S. 390, 400 ff., 404. wie gesagt, logisch bedenklich und liegt in der gleichen Richtung wie der zuletzt besprochene Irrtum.

Nun wird trotz aller dieser Auseinandersetzungen der Fachhistoriker dennoch den Eindruck behalten, daß auch in den hier kritisierten Ausführungen E[duard] M[eyer]s der bekannte „richtige Kern“ stecke. Und dies ist ja bei einem Historiker dieses Ranges, der über seine eigene Arbeitsweise spricht, in der Tat fast selbstverständlich. In Wahrheit ist er denn auch der logisch zutreffenden Formulierung des Richtigen, was in seinen Ausführungen steckt, mehrfach ziemlich nahe gekommen. So namentlich S. 27 oben, wo von den „Entwicklungsstufen“ gesagt wird, daß sie „Begriffe“ seien, die als „Leitfaden zur Ermittlung und Gruppierung der Tatsachen“ dienen können,98 Vgl. Meyer, Theorie, S. 26 f. und speziell an den zahlreichen Stellen, wo von ihm auf die Kategorie der „Möglichkeit“ operiert wird.99 Vgl. ebd., S. 15, 18, 27, 46, 50. Allein das logische Problem beginnt hier erst: es mußte auf die Frage eingegangen werden, wie denn die Gliederung des Historischen durch den Entwicklungsbegriff erfolge und welches der logische Sinn der „Möglichkeitskategorie“ und die Art ihrer Verwen[408]dung zur Formung des historischen Zusammenhangs sei. Da E[duard] M[eyer] dies unterließ, hat er in Bezug auf die Rolle, welche „Regeln“ des Geschehens in der Arbeit der Geschichte spielen, das Richtige zwar „empfunden“, es aber – wie mir scheint ‒ nicht adäquat zu formulieren vermocht. Dies soll nun in einem besonderen Abschnitt (II)1 [408] Unten, S. 447–480. dieser Studien versucht werden. Hier wenden wir uns nach diesen notgedrungen wesentlich negativen Bemerkungen gegenüber E[duard] M[eyer]s methodologischen Formulierungen vorerst der Betrachtung der namentlich im zweiten (S. 35–54) und dritten (S. 54–56) Teil seiner Schrift niedergelegten Erörterungen über das Problem zu: was „Objekt“ der Geschichte sei, – eine Frage, welche die zuletzt gemachten Ausführungen ja bereits streiften.

Diese Frage nun kann mit E[duard] Meyer auch so formuliert werden: „welche von den Vorgängen, von denen wir Kunde haben, sind ‚historisch‘?“o[408] Ausführungszeichen fehlt in A.2 Vgl. Meyer, Theorie, S. 36: „So erhebt sich die fundamentale Frage: welche unter den Vorgängen, von denen wir Kunde haben, sind historisch?“ Darauf antwortet er zunächst in ganz allgemeiner Form: „historisch ist, was wirksam ist und gewesen ist“.3 Vgl. ebd.: „historisch ist, was wirksam ist oder gewesen ist“. Also: das in einem konkreten, individuellen Zusammenhang kausal Erhebliche ist das „Historische“. Wir stellen alle anderen, hieran anknüpfenden Fragen zurück, um zunächst festzustellen, daß E[duard] M[eyer] diesen auf S. 36 gewonnenen Begriff auf S. 37 bereits wieder preisgibt.

[A 159]Es ist ihm klar, daß – wie er sich ausdrückt – „auch bei Beschränkung auf das Wirksame“ doch „die Zahl der Einzelvorgänge noch immer unendlich“ bleibt. Wonach richtet sich nun, fragt er mit Recht, die „Auswahl, welche jeder Historiker unter ihnen vornimmt“? Antwort: „nach dem historischen Interesse“.4 Ebd., S. 37. Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 256 mit Anm. 57. Für dieses aber gebe es, fügt er nach einigen Ausführungen, die wir später betrachten werden,5 Vom historischen Interesse ist im Folgenden mehrmals die Rede. hinzu, keine „absolute Norm“, und daß dies nicht der Fall sei, erläutert er uns in einer Weise, welche, wie gesagt, seine eigene Beschränkung des „Historischen“ auf das „Wirksame“ [409]wieder aufgibt. Anknüpfend an Rickerts exemplifikatorische Bemerkung: „daß … Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone ablehnte, ist ein ,historisches‘ Ereignis, aber es ist vollkommen gleichgültig, welche Schneider seine Röcke gemacht haben“,6 [409] Meyer, Theorie, S. 37, mit Bezug auf Rickert, Grenzen, S. 325 f. ‒ bemerkt er (S. 37 unten): „Für die politische Geschichte freilich wird der betreffende Schneider historisch meist immer vollkommen gleichgültig bleiben, aber wir können uns sehr wohl vorstellen, daß wir trotzdem an ihm ein historisches Interesse nähmen, etwa in einer Geschichte der Moden oder des Schneidergewerbes oder der Preise u.ä.“ Das ist gewiß zutreffend, – allein es könnte bei näherer Erwägung E[duard] M[eyer] doch kaum entgehen, daß das „Interesse“, welches wir im einen[,] und das, welches wir im anderen Falle nehmen, erhebliche Verschiedenheiten der logischen Struktur enthält und daß, wer diese nicht beachtet, in Gefahr kommt, zwei ebenso grundverschiedene, wie oft zusammengeworfene Kategorien miteinander zu verwechseln: „Realgrund“ und „Erkenntnisgrund“.7 Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 53 f. mit Anm. 63. Machen wir uns den Gegensatz, da der Fall in dem Beispiel jenes Schneiders nicht ganz eindeutig liegt, zunächst an einem anderen Fall klar, welcher jene Vermischung besonders deutlich zeigt.

K[urt] Breysig hat in einem Aufsatz über die „Entstehung des Staats … bei Tlinkit und Irokesen“16)[409][A 159] Schmollers Jahrbuch 1904 S. 483 f.10 Vgl. ebd., S. 483–527. Auf den sachlichen Wert der Arbeit gehe ich natürlich in keiner Weise ein, die Richtigkeit aller Br[eysig]schen Aufstellungen wird vielmehr hier wie in allen ähnlichen Exemplikationen vorausgesetzt. versucht, darzutun, daß gewisse, bei jenen Volksstämmen sich findende Vorgänge, welche er als „Entstehung des Staats aus der Geschlechterverfassung“ deutet, „artvertretende Wichtigkeit“ haben:8 Breysig, Entstehung, S. 503. – daß sie m.a. W. die „typische“ Form der Staatenbildung darstellen, – und deshalb, wie er sagt: „Geltung“, ja „fast weltgeschichtliche Bedeutung“ gewinnen.9 Ebd., S. 508.

Nun liegt – natürlich unter Voraussetzung der Richtigkeit von Br[eysig]s Aufstellungen – die Sache offenbar so, daß die Tatsache der Entstehung dieser Indianer-„Staaten“ und die Art, wie sie sich vollzog, für den kausalen Zusammenhang der universalhistori[410]schen Entwicklung von ganz ungemein geringer „Bedeutung“ geblieben ist. Keine einzige „erheb[A 160]liche“ Tatsache der späteren politischen oder kulturellen Gestaltung der Welt ist durch sie beeinflußt, d. h. läßt sich auf sie als „Ursache“ zurückführen. Für die Gestaltung der politischen und kulturlichen Verhältnisse der heutigen Vereinigten Staaten war die Art des Entstehens jener Staaten und wohl auch die Existenz dieser selbst, „gleichgültig“, d. h. es besteht kein erweislicher ursächlicher Zusammenhang beider, während z. B. die Nachwirkung gewisser Entschlüsse des Themistokles noch heute fühlbar ist, – so ärgerlich uns dies bei dem Versuch einer recht eindrucksvoll einheitlichen „entwicklungsgeschichtlichen“ Geschichtsschreibung auch in die Quere kommen möge. Dagegen wäre allerdings – wenn Br[eysig] Recht hat – die Bedeutung der durch seine Analyse gewonnenen Kenntnis von dem Hergang jener Staatenbildung für unser Wissen von der Art, wie generell Staaten entstehen, von, nach seiner Meinung, epochemachender Bedeutung. Wir würden – wenn nämlich Br[eysig]s Auffassung des Hergangs als „Typus“ zutrifft und ein „neues“ Wissen darstellt – in den Stand versetzt, bestimmte Begriffe zu bilden, welche, von ihrem Erkenntniswert für die Begriffsbildung der Staatslehre auch ganz abgesehen, zum mindesten als heuristisches Mittel bei der kausalen Deutung anderer historischer Hergänge verwendet werden könnten. M.a. W.: als historischer Realgrund bedeutet jener Hergang nichts, – als möglicher Erkenntnisgrund bedeutet (nach Br[eysig]) seine Analyse ungemein viel. Dagegen bedeutet die Kenntnis jener Entschlüsse des Themistokles z. B. für die „Psychologie“ oder irgend welche andere begriffsbildende Wissenschaft gar nichts: daß ein Staatsmann in jener Situation sich so entschließen „konnte“, verstehen wir ohne alle Beihilfe von „Gesetzeswissenschaften“, und daß wir es verstehen, ist zwar Voraussetzung der Erkenntnis des konkreten kausalen Zusammenhangs, bedeutet aber keinerlei Bereicherung unseres gattungsbegrifflichen Wissens.

Nehmen wir ein Beispiel aus dem „Natur“gebiet: jene konkreten X-Strahlen, welche Röntgen auf seinem Schirm aufblitzen sah,11 [410] Röntgen hat die nach ihm benannten Strahlen am 8. November 1895 in seinem Labor an der Universität Würzburg entdeckt. Vgl. Röntgen, Wilhelm Conrad, Eine neue Art von Strahlen, 2. Aufl. – Würzburg: Stahel 1896. [411]haben bestimmte konkrete Wirkungen hinterlassen, die, nach dem Energiegesetz, noch heute im kosmischen Geschehen irgendwo nachwirken müssen. Aber nicht in dieser Eigenschaft als kosmische Realursache liegt die „Bedeutung“ jener konkreten Strahlen in Röntgens Laboratorium. Jener Vorgang kommt vielmehr – ebenso wie jedes „Experiment“ – nur als Erkenntnisgrund bestimmter „Gesetze“ des Geschehens in Betracht.17)[411][A 160] Damit ist nicht gesagt, daß jene konkreten Röntgenstrahlen nicht auch als „historische“ Tatsache figurieren könnten: in einer Geschichte der Physik. Diese würde sich u. a. immerhin auch dafür interessieren können, welche „zufälligen“ Umstände an jenem Tage in Röntgens Laboratorium die Konstellation herbeiführten, welche jenes Aufblitzen veranlaßtep[411]A: veranlaßten und damit – wie wir hier einmal annehmen wollen – die Entdeckung des betreffenden „Gesetzes“ kausal herbeiführteqA: herbeiführten. Es ist klar, wie völlig dadurch die logische Stellung jener konkreten Strahlen verändert wird. [A 161]Möglich ist dies dadurch, daß sie hier in einem Zusammenhang eine Rolle spielen, der an Werten („Fortschritt der Wissenschaft“) verankert ist. Man wird vielleicht annehmen, dieser logische Unterschied sei nur die Folge davon, daß hier in das sachliche Gebiet der „Geisteswissenschaften“ übergesprungen worden sei: die kosmischen Wirkungen jener konkreten Strahlen sind ja außer Betracht gelassen. Allein ob das „gewertete“ konkrete Objekt, für welches jene Strahlen kausal „bedeutungsvoll“ waren, „physischer“ oder „psychischer“ Natur war, ist irrelevant, wofern es nur seinerseits uns etwas „bedeutet“, d. h. „gewertet“ wird. Die faktische Möglichkeit eines darauf gerichteten Erkennens einmal vorausgesetzt, könnten (theoretisch) auch die konkreten kosmischen (physikalischen, chemischen usw.) Wirkungen jener konkreten Strahlen „historische Tatsache“ werden: aber nur dann, wenn, – was freilich sehr schwer konstruierbar ist – der kausale Progressus13 Während man beim kausalen Regressus eine Wirkung auf ihre Ursachen zurückführt (vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 164 mit Anm. 65), ordnet man beim kausalen Progressus einer Ursache Wirkungen zu. Vgl. auch Einleitung, oben, S. 18 mit Anm. 28. von ihnen aus letztlich auf ein konkretes Ergebnis führte, welches „historisches Individuum“ wäre, d. h. in seiner individuellen Eigenart von uns als universell bedeutsam „gewertet“ würde. Nur weil dies in keiner Weise ersichtlich ist, würde, selbst wenn wir ihn durchführen könnten, jener Versuch eine Sinnlosigkeit sein. [A 161]Ganz genau so liegt es natürlich in den Fällen, die E[duard] Meyer in einer Fußnote zu der hier kritisierten Stelle aufführt (Anm. 2 auf S. 37):12 [411] Meyer, Theorie, S. 37, Anm. 2. Er erinnert daran, daß „die gleichgültigsten Personen, von denen wir zufällig (in Inschriften oder Urkunden) Kenntnis erlangen, ein historisches Interesse gewinnen, weil wir durch sie die Zustände der Vergangenheit kennen lernen.“ Und noch deutlicher liegt die gleiche Verwechslung vor, wenn – falls mich mein Gedächtnis nicht täuscht ‒ wiederum Breysig (an anderer Stelle, die ich im Augenblick nicht finde) die Tatsache, daß die Stoffauslese der Geschichte sich auf [412]das „Bedeutsame“, individuell „Wichtige“ richtet, durch den Hinweis darauf aus der Welt schaffen zu können glaubt, daß die Forschung aus „Tonscherben“ u. dgl. manche ihrer wichtigsten Ergebnisse gezeitigt habe.14[412] Vgl. Breysig, Kurt, Einzigkeit und Wiederholung geschichtlicher Tatsachen, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 28. Band, 1904, S. 1–45, hier S. 8: „Gibt es etwas Nichtigeres, Gleichgültigeres als Scherben- und Abfallhaufen – und man weiß doch, daß solcher Küchenwegwurf Jahrtausende nach seiner doch wahrlich alltäglichen Entstehung wieder aufgefunden, ein wichtiges Zeugnis für die Kenntnis des vorgeschichtlichen Menschen von Europa geworden ist.“ Ähnliche Argumente sind heute ziemlich „populär“, und die Verwandtschaft mit jenen „Röcken“ Friedrich Wilhelms IV. und den „gleichgültigen Personen“ auf den Inschriften bei E[duard] M[eyer] liegt auf der Hand. Aber zugleich auch jene Verwechslung, um die es sich auch hier wieder handelt. Denn, wie gesagt: die „Tonscherben“ Breysigs und die „gleichgültigen Personen“ E[duard] M[eyer]s werden doch nicht – ebensowenig wie die konkreten X-Strahlen in Röntgens Laboratorium – als kausales Glied in den historischen Zusammenhang eingeordnet, sondern gewisse Eigenarten ihrer sind Erkenntnismittel für gewisse historische Tatsachen, welche alsdann ihrerseits, je nachdem, sowohl für die „Begriffsbildung“, also wiederum als Erkenntnismittel, z. B. für den gattungsmäßigen „Charakter“ bestimmter künstlerischer „Epochen“, oder zur kausalen Deutung konkreter historischer Zusammenhänge wichtig werden können. Dieser Gegensatz der logischen Verwendung von gegebenen Tatsachen der Kulturwirklichkeit: 1. Begriffsbildung unter exempli[A 162]fikatorischer Verwendung der „Einzeltatsache“ als eines „typischen“ Repräsentanten eines abstrakten Begriffes, d. h. also als Erkenntnismittel[,] auf der anderen Seite – 2. Einfügung der „Einzeltatsache“ als Glied, also als „Realgrund“, in einen realen, also konkreten Zusammenhang, unter Verwendung – unter anderem auch – der Produkte der Begriffsbildung als heuristischen Mittels auf der einen, als Darstellungsmittels auf der andern Seite, – enthält jenen Gegensatz, der von Windelband als „nomothetisch“,15 Vgl. Windelband, Geschichte, S. 12. von Rickert als „naturwissenschaftlich“16 Mit Bezug auf Windelband vgl. Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S. 10, Anm. 62), S. 38 f., und Rickert, Grenzen, S. 302 f. bezeichneten Prozedur (ad 1) gegenüber dem logischen Zwecke der „historischen Kulturwissenschaften“ (ad 2). Er [413]enthält zugleich den einzig berechtigten Sinn, in dem man die Geschichte eine Wirklichkeitswissenschaft17 [413] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 174 mit Anm. 97. nennen kann. Für sie kommen – dies allein kann jener Ausdruck besagen wollen – individuelle Einzelbestandteile der Wirklichkeit nicht nur als Erkenntnismittel, sondern schlechthin als Erkenntnisobjekt, und konkrete kausale Beziehungen nicht als Erkenntnis-, sondern als Realgrund in Betracht. Denn im übrigen werden wir noch sehen, wie wenig die populäre naive Vorstellung, die Geschichte sei „bloße“ Beschreibung vorgefundener Wirklichkeiten, oder einfache Wiedergabe von „Tatsachen“, in Wahrheit zutrifft.18)[413][A 162] In jenem hier eben wiedergegebenen Sinne ist aber der Ausdruck „Wirklichkeitswissenschaft“ auch durchaus dem logischen Wesen der Geschichte entsprechend. Das Mißverständnis, welches die populäre Deutung dieses Ausdrucks auf bloße voraussetzungslose „Beschreibung“ enthält, haben Rickert und Simmel bereits genügend abgefertigt.19 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 174 mit Anm. 97.

Wie mit den Tonscherben und den inschriftlich erhaltenen „gleichgültigen Persönlichkeiten“, so steht es auch mit jenen von E[duard] M[eyer] kritisierten „Schneidern“ Rickerts.18 Vgl. oben, S. 409 mit Anm. 6. Auch für den kulturhistorischen kausalen Zusammenhang der Entwicklung der „Mode“ und des „Schneidergewerbes“ ist die Tatsache, daß bestimmte Schneider dem König bestimmte Röcke geliefert haben, vermutlich von ganz geringer kausaler Bedeutung, – sie wäre es nur dann nicht, wenn gerade aus dieser konkreten Lieferung historische Wirkungen hervorgegangen wären, wenn also etwa die Persönlichkeit dieser Schneider, das Schicksal gerade ihres Geschäftes unter irgend einem Gesichtspunkt kausal für die Umgestaltung der Mode oder der Gewerbeverfassung „bedeutsam“ gewesen und wenn diese historische Stellung gerade durch die Lieferung gerade jener Röcke kausal mit bedingt worden wäre. – Als Erkenntnismittel für die Feststellung der Mode etc. dagegen kann die Façon der Röcke Friedrich Wilhelms IV. und die Tatsache, daß dieselben aus bestimmten (z. B. Berliner) Werkstätten stammten, gewiß von ebensolcher „Bedeutung“ werden, wie irgend etwas, was uns sonst als Material zur Ermittlung der Mode jener Zeit zugänglich ist. Die Röcke des Königs kommen aber eben in diesem Fall als Exemplar eines zu bildenden Gattungs[A 163]begriffs, als Mittel der Erkenntnis, in [414]Betracht, – die Ablehnung der Kaiserkrone dagegen, mit der sie verglichen wurden,20 [414] Vgl. Rickert, Grenzen, S. 325 f. als konkretes Glied eines historischen Zusammenhanges, als reale Wirkung und Ursache innerhalb bestimmter realer Veränderungsreihen. Das sind für die Logik grundstürzende Unterschiede und werden es ewig bleiben. Und mögen sich, – was durchaus vorkommt und Quelle der interessantesten methodischen Probleme ist, – jene beiden toto coelo21 Lat.: himmelweit. differierenden Gesichtspunkte in der Praxis des Kulturforschers in noch so mannigfacher Verschlingung kreuzen: – das logische Wesen der „Geschichte“ wird niemand verstehen, der sie nicht sorgsam zu scheiden weiß.

Eduard Meyer hat nun über das Verhältnis dieser beiden logisch verschiedenen Kategorien der „historischen Wichtigkeit“22 Meyer, Theorie, S. 39, verwendet diesen Begriff nicht, sondern spricht nur von einer „historisch wichtigen Entwickelungsreihe“. zweierlei miteinander nicht vereinbare Ansichten vorgetragen. Auf der einen Seite vermischt sich ihm, wie wir sahen,23 Oben, S. 408 ff. das „historische Interesse“ an dem geschichtlich „Wirksamen“, d. h. den realen Gliedern historischer Kausalzusammenhänge (Ablehnung der Kaiserkrone)[,] mit denjenigen Tatsachen (Röcke Friedrich Wilhelms IV., Inschriften usw.), die als Erkenntnismittel für den Historiker erheblich werden können. Auf der anderen Seite aber – und davon ist nunmehr zu reden – steigert sich ihm der Gegensatz des „historisch Wirksamen“ gegen alle übrigen Objekte unseres faktischen oder möglichen Wissens derart, daß er Behauptungen über die Grenzen des wissenschaftlichen „Interesses“ des Historikers aufstellt, deren etwaige Durchführung in seinem eigenen großen Werk alle Freunde des letzteren lebhaft bedauern müßten. Er sagt nämlich (S. 48 unten): „Ich habe lange geglaubt, daß für die Auswahl, die der Historiker zu treffen hat, das Charakteristische (d. h. das spezifisch Singuläre, wodurch sich eine Institution oder eine Individualität von allen analogen unterscheidet) maßgebend sei. Das ist ja auch unleugbar der Fall; aber es kommt doch für die Geschichte nur insofern in Betracht, als wir nur durch die charakteristischen Züge die Eigenart einer Kultur … erfassen können; und so ist es historisch immer nur ein Mittel, welches uns ihre histo[415]rische Wirksamkeit erst … begreiflich macht“.24 [415] Meyer, Theorie, S. 48 f. Dies ist, wie alle bisherigen Ausführungen zeigen, durchaus korrekt, und ebenso die daraus gezogenen Folgerungen: daß die populäre Formulierung der Frage nach der „Bedeutung“ des Individuellen und der Persönlichkeiten für die Geschichte schief gestellt sei, daß die „Persönlichkeit“25 Vgl. ebd., S. 49 ff. keineswegs in ihrer Totalität, sondern nur in ihren kausal relevanten Äußerungen in den historischen Zusammenhang, wie ihn die Geschichte konstruiert, „eingeht“,26 Vgl. ebd., S. 46. daß historische Bedeutung einer konkreten Persönlichkeit als kausaler Faktor und allgemein „menschliche“ Bedeutung derselben nach ihrem „Eigenwert“ nichts miteinander zu tun haben, daß gerade auch die „Unzulänglichkeiten“ einer in maßgebender Position befindlichen Persönlichkeit kausal bedeutsam werden können.27 Meyer verwendet die Begriffe „Eigenwert“ und „Unzulänglichkeiten“ nicht. Vgl. oben, S. 393 mit Anm. 37. Das Alles ist vollkommen [A 164]zutreffend. Und trotzdem bleibt die Frage zu beantworten, ob, oder sagen wir lieber gleich: in welchem Sinn es richtig ist, daß die Analyse von Kulturinhalten – vom Standpunkt der Geschichte aus – nur den Zweck habe, die betreffenden Kulturvorgänge in ihrer Wirksamkeit begreiflich zu machen. Welche logische Tragweite die Frage hat, ergibt sich alsbald bei Betrachtung der Konsequenzen, welche E[duard] M[eyer] aus seiner These zieht. Zunächst (S. 48) folgert er daraus, daß „bestehende Zustände an sich niemals Objekte der Geschichte sind, sondern nur insoweit dazu werden, als sie historisch wirksam sind“.28 Meyer, Theorie, S. 47. Ein Kunstwerk, ein litterarisches Produkt, staatsrechtliche Einrichtungen, Sitten u. dgl. „allseitig“ zu analysieren sei in einer historischen (auch literar- und kunsthistorischen) Darstellung gar nicht möglich und am Platz: denn immer müßten dabei Bestandteile mit aufgenommen werden, welche „zu keiner historischen Wirkung gelangt“ seien, – während andererseits der Historiker vieles „in einem System“ (z. B. des Staatsrechts) „untergeordnet erscheinende Detail“ wegen seiner kausalen Tragweite in seine Darstellung aufnehmen müsse.29 Ebd., S. 48. Und insbesondere folgert er deshalb aus jenem historischen Ausleseprinzip auch [416](S. 55), daß die Biographie eine „philologische“ und keine historische Disziplin sei. Warum? „Ihr Objekt ist die betreffende Persönlichkeit an sich in ihrer Totalität, nicht als historisch wirksamer Faktor, – daß sie das gewesen ist, ist hier nur Voraussetzung, der Grund, weshalb ihr eine Biographie gewidmet wird.“30 [416] Ebd., S. 56. So lange die Biographie eben Biographie und nicht eine Geschichte der Zeit ihres Helden sei, könne sie die Aufgaben der Geschichte: Darstellung eines historischen Vorganges, nicht erreichen.31 Vgl. ebd. Dem gegenüber fragt man: warum diese Sonderstellung der „Persönlichkeiten“? „Gehören“ denn die „Vorgänge“, z. B. die Schlacht bei Marathon oder die Perserkriege überhaupt in ihrer „Totalität“, also nach Art der homerischen Schilderungen,32 Webers Handbibliothek (Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München) enthält Homers Odyssee. In neuer Übersetzung von Oskar Hubatsch. – Bielefeld und Leipzig: Velhagen & Klasing 1892, und Homers Ilias. In neuer Übersetzung von Oskar Hubatsch, ebd. 1894. mit allen specimina fortitudinis33 Lat.: Beispiele der Tapferkeit und Stärke. Vgl. z. B. Meineke, August, Nicephori Bryennii Commentarii. – Bonn: Weber 1836, S. 25. Meyer verwendet diese Formulierung nicht. beschrieben, in eine historische Darstellung? Doch offenbar auch hier nur die für den historischen Kausalzusammenhang entscheidenden Vorgänge und Bedingungen. Seit Heldenmythos und Geschichte sich geschieden haben, ist dies doch zum wenigsten dem logischen Prinzip nach so. – Und wie steht es nun damit in der „Biographie“? Es ist doch offenbar falsch (resp. eine sprachliche Hyperbel), daß einfach „alle die Einzelheiten … … des äußeren und inneren Lebens ihres Helden“34 Meyer, Theorie, S. 56. in eine solche hineingehören, so sehr etwa die Goethe-„Philologie“, an welche E[duard] M[eyer] vielleicht denkt, den Anschein davon erwecken könnte. Allein hier handelt es sich um Materialsammlungen, welche bezwecken, alles zu erhalten, was möglicherweise für die Geschichte Goethes, sei es als direkter Bestandteil einer Kausalreihe, – also als historisch relevante „Tatsache“ ‒[,] sei es als Erkenntnismittel historisch relevanter Tatsachen, als „Quelle“, irgendwie Bedeutung gewinnen könnte. In eine wissenschaftliche Goethe-Biographie [A 165]aber gehören als Bestandteile der Darstellung offenbar doch nur solche Tatsachen hinein, welche „bedeutungsvoll“ sind.

[417]Aber hier stoßen wir nun freilich auf eine Duplizität des logischen Sinnes dieses Wortes, welche der Analyse bedarf, und welche, wie sich zeigen wird, den „berechtigten Kern“ der Ansicht E[duard] M[eyer]s, zugleich aber auch die Unzulänglichkeit in der Formulierung seiner Theorie von dem „historisch Wirksamen“35 [417] Vgl. oben, S. 408 f. mit Anm. 3. als dem Objekt der Geschichte aufzuhellen geeignet ist.

Nehmen wir zur Veranschaulichung der verschiedenen logischen Gesichtspunkte, unter welchen „Tatsachen“ des Kulturlebens wissenschaftlich in Betracht kommen können, ein Beispiel: Goethes Briefe an Frau v. Stein.36 Goethe, Johann Wolfgang von, Briefe an Frau von Stein, hg. von Adolf Schöll, 2 Bände, 3., umgearbeitete Aufl. – Frankfurt am Main: Rütten & Loening 1899–1900. Als „historisch“ kommt an ihnen jedenfalls – um dies vorwegzunehmen – nicht das als wahrnehmbare „Tatsache“ Vorliegende: das beschriebene Papier in Betracht, sondern dies ist natürlich nur Erkenntnismittel für die andere „Tatsache“, daß Goethe die darin ausgesprochenen Empfindungen gehabt, niedergeschrieben und Frau v. Stein zugestellt, und von ihr Antworten erhalten hat, deren ungefährer Sinn aus dem richtig gedeuteten „Inhalt“ der Goetheschen Briefe sich vermuten läßt. Diese, durch eine, eventuell mit „wissenschaftlichen“ Hilfsmitteln vorzunehmende „Deutung“ des „Sinnes“ der Briefe, zu erschließende, in Wahrheit von uns unter jenen „Briefen“ verstandene „Tatsache“, könnte nun ihrerseits zunächst 1. direkt, als solche, in einen historischen Kausalzusammenhang eingereiht werden: die mit einer unerhört gewaltigen Leidenschaft verbundene Askese jener Jahre z. B. hat in der Entwicklung Goethes selbstverständlich gewaltige Spuren hinterlassen, die nicht erloschen, auch als er unter dem Himmel des Südens sich wandelte: diesen Wirkungen in Goethes literarischer „Persönlichkeit“ nachzugehen, ihre Spuren in seinem Schaffen aufzusuchen und durch Aufweis des Zusammenhanges mit den Erlebnissen jener Jahre, so weit als dies eben möglich ist, kausal zu „deuten“, gehört zu den zweifellosen Aufgaben der Literaturgeschichte: die Tatsachen, welche jene Briefe bekunden, sind hier „historische“ Tatsachen, das heißt, wie wir sahen: reale Glieder einer Kausalkette. Nun wollen wir aber einmal annehmen – auf die Frage der Wahrscheinlichkeit dieser und aller weiterhin gemachten Annahmen kommt hier natürlich abso[418]lut nichts an – es ließe sich irgendwie positiv nachweisen, daß jene Erlebnisse auf die persönliche und literarische Entwicklung Goethes gar keinen Einfluß geübt hätten, d. h. aber: daß schlechterdings keine seiner uns „interessierenden“ Lebensäußerungen durch sie beeinflußt sei. Dann könnten 2. jene Erlebnisse trotzdem unser Interesse als Erkenntnismittel auf sich ziehen: sie könnten zunächst etwas für die historische Eigenart Goethes – wie man zu sagen pflegt – „Charakteristisches“37 [418] Vgl. oben, S. 414 f. mit Anm. 24. darstellen. Das heißt aber: wir könnten vielleicht – ob wirklich, ist hier nicht die Frage – aus ihnen Einsichten in eine Art von Lebensführung und Lebensauffassung gewinnen, welche ihm dauernd oder doch [A 166]während geraumer Zeit eigen war und welche seine uns historisch interessierenden Lebensäußerungen persönlicher und literarischer Art bestimmend beeinflußt hat. Die „historische“ Tatsache, welche als reales Glied in den Kausalzusammenhang seines „Lebens“ eingefügt wird, wäre dann eben jene „Lebensauffassung“ – ein kollektivbegrifflicher Zusammenhang ererbter und durch Erziehung, Milieu und Lebensschicksale erworbener persönlicher „Qualitäten“ Goethes und (vielleicht) bewußt angeeigneter „Maximen“,38 Vgl. Goethes „Maximen und Reflexionen“, in: Goethe, Johann Wolfgang, Gedichte. Vierter Teil, in: ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden, Band 4, hg. von Eduard von der Hellen. – Stuttgart und Berlin: J. G. Cotta Nachf. o. J., S. 199–252. nach denen er lebte und welche sein Verhalten und seine Schöpfungen mit bedingten. Die Erlebnisse mit Frau v. Stein wären in diesem Falle zwar – da ja jene „Lebensauffassung“ ein begriffliches Kollektivum ist, welches in den einzelnen Lebensvorgängen sich „äußert“ – auch reale Bestandteile eines „historischen“ Tatbestandes, aber für unser Interesse kämen sie – unter den gemachten Voraussetzungen – offenbar nicht wesentlich als solche in Betracht, sondern als „Symptome“ jener Lebensauffassung, d. h. aber: als Erkenntnismittel; ihre logische Beziehung zum Erkenntnisobjekt hat sich also verschoben. – Nehmen wir nun weiter an, auch dies sei nicht der Fall. Jene Erlebnisse enthielten in keiner Hinsicht etwas, was gerade Goethe im Gegensatz zu anderen Zeitgenossen charakteristisch gewesen wäre, sondern seien lediglich etwas durchaus einem „Typus“39 Hier in dem Sinne gemeint, den Rickert, Grenzen, S. 362, am Beispiel Goethes und Bismarcks als das „mit Allen Gemeinsame“ – im Unterschied zum „für Alle Bedeutsamen“ – bezeichnete. der Lebensführung gewisser deutscher Kreise in jener [419]Zeit Entsprechendes. Alsdann würden sie uns für die historische Erkenntnis Goethes nichts Neues sagen, wohl aber könnten sie 3. unter Umständen als ein bequem zu verwertendes Paradigma40 [419] Lat. paradigma, griech. parádeigma: Beispiel, Muster. Lichtenberg hat den Begriff in die Wissenschaft eingeführt. Vgl. Lichtenberg, Georg Christoph, Geologisch-Meteorologische Phantasien, in: ders., Vermischte Schriften. Nach dessen Tode gesammelt und hg. von Ludwig Christian Lichtenberg, Band 7. – Göttingen: Heinrich Dieterich 1804, S. 191–239, hier S. 203 f. jenes „Typus“ unser Interesse erregen, als ein Erkenntnismittel also der „charakteristischen“ Eigenart des geistigen Habitus jener Kreise. Die Eigenart dieses damals für jene Kreise – nach unserer Voraussetzung – „typischen“ Habitus und, als seiner Äußerungsform, jener Lebensführung in ihrem Gegensatz gegen die Lebensführung anderer Zeiten, Nationen und Gesellschaftsschichten, wäre dann die „historische“ Tatsache, welche in einen kulturgeschichtlichen Kausalzusammenhang als reale Ursache und Wirkung eingeordnet würde und nun in ihrem Unterschied etwa vom italienischen Cicisbeat41 Cicisbeat, auch Cicisbeo oder cavalier servente, bezeichnet „einen Cavallier, welchen eine Dame dazu ausersehen hat, um sich seiner Dienstleistungen bey unterschiedenen Vorfällen zu bedienen, sie z. B. auf Spaziergänge, in den Wagen, in die Kirche etc. zu begleiten, sie zu unterhalten, und wider das Unangenehme der langen Weile zu schützen“. Vgl. Cicisbeo, in: Krünitz, Johann Georg (Hg.), Oekonomische Encyclopaedie, oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- u. Landwirthschaft in alphabetischer Ordnung, Band 8. – Berlin: Joachim Pauli 1776, S. 122–128, hier S. 122. u. dergl. historisch durch eine „deutsche Sittengeschichte“42 Möglicherweise referiert Weber auf Scherr, Johannes, Geschichte deutscher Cultur und Sitte. In drei Büchern dargestellt. – Leipzig: Otto Wigand 1852. Das Buch ist ab 1858 unter dem Titel „Deutsche Kultur- und Sittengeschichte“ in mehreren Auflagen erschienen. oder, soweit solche nationalen Abweichungen nicht bestehen sollten, durch eine allgemeine Sittengeschichte der damaligen Zeit kausal zu „deuten“ wäre. – Gesetzt nun ferner, auch für diesen Zweck sei der Inhalt jener Briefe nicht verwertbar, es würde sich dagegen zeigen, daß Erscheinungen von – in gewissen „wesentlichen“ Punkten – gleicher Art sich unter gewissen Kulturbedingungen regelmäßig einstellten, daß also in diesen Punkten eine Eigenart der deutschen oder der ottocentistischen43 Von ital. ottocento: 19. Jahrhundert. Kultur in jenen Erlebnissen gar nicht zutage träte, sondern eine allen Kulturen[,] unter gewissen, begrifflich bestimmt zu formulierenden Bedingungen, gemeinsame Erscheinung, – so wäre 4. für diese [420]Bestandteile es Aufgabe etwa einer „Kulturpsychologie“ oder „Sozialpsychologie“, die Bedingungen, unter welchen sie aufzu[A 167]treten pflegten, durch Analyse, isolierende Abstraktion und Generalisierung44 [420] Vgl. Einleitung, oben, S. 16 f. festzustellen, den Grund der regelmäßigen Abfolge zu „deuten“ und die so gewonnene „Regel“ in einem genetischen Gattungsbegriff zu formulieren.45 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 203 mit Anm. 6, S. 207 mit Anm. 15, und S. 217 ff. Diese durchaus gattungsmäßigen, für seine individuelle Eigenart dagegen höchst irrelevanten Bestandteile jener Erlebnisse Goethes wären alsdann insoweit lediglich als Mittel zur Gewinnung dieses Gattungsbegriffes von Interesse. – Und endlich 5. muß a priori es als möglich gelten, daß jene „Erlebnisse“ ganz und gar nichts für irgend eine Bevölkerungsschicht oder Kulturepoche Charakteristisches enthielten; dann könnte auch beim Fehlen aller jener Anlässe eines „kulturwissenschaftlichen“ Interesses denkbarerweise – ob wirklich, ist hier wiederum gleichgültig – etwa ein an der Psychologie der Erotik interessierter Psychiater46 Möglicherweise referiert Weber auf Freud, Sigmund, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. – Leipzig und Wien: Franz Deuticke 1905, S. 1 ff. zu „sexuellen Abirrungen“. sie als „idealtypisches“ Beispiel für bestimmte asketische „Verirrungen“ unter allerhand „nützlichen“ Gesichtspunkten ebenso abhandeln, wie zweifellos z. B. Rousseaus Confessions47 Rousseau, Bekenntnisse. für den Nervenarzt Interesse haben. Natürlich ist dabei noch die Wahrscheinlichkeit in Betracht zu ziehen, daß die Briefe sowohl für alle jene verschiedenen – natürlich die „Möglichkeiten“ absolut nicht erschöpfenden – wissenschaftlichen Erkenntniszwecke durch verschiedene Bestandteile ihres Inhalts, als auch durch die gleichen Bestandteile für verschiedene von ihnen in Betracht kommen.19)[420][A 167] Dies würde selbstverständlich nicht etwa beweisen, daß die Logik im Unrecht sei, wenn sie diese – eventuell selbst innerhalb einer und derselben wissenschaftlichen Darstellung sich findenden – verschiedenen Gesichtspunkte streng scheidet, wie dies die Voraussetzung mancher gegen Rickert gemachten verkehrten Einwendungen ist.48 Nicht belegt.

Blicken wir zurück, so haben wir bisher also jene Briefe an Frau v. Stein, d. h. den aus ihnen zu gewinnenden Gehalt an Äußerungen [421]und Erlebnissen Goethes, „Bedeutung“ gewinnen sehen – vom letzten zum ersten Fall zurückschreitend: a) in den letzten beiden Fällen (4, 5) als Exemplar einer Gattung und deshalb Erkenntnismittel ihres generellen Wesens (Nr. 4, 5), – b) als „charakteristischen“ Bestandteil eines Kollektivumsr[421]A: Kollektivum und deshalb Erkenntnismittel seiner individuellen Eigenart (Nr. 2, 3)20)[421] Die Erörterung dieses Spezialfalles wird uns in einem späteren Abschnitt näher beschäftigen.50 Unten, S. 431 f. Es bleibt daher hier absichtlich dahingestellt, inwieweit er als etwas logisch Eigenartiges anzusehen ist. Festgestellt sei hier nur, der größeren Sicherheit wegen, daß er natürlich in keiner Weise die Klarheit des logischen Gegensatzes zwischen historischer und nomothetischer Verwendung der „Tatsachen“ stört. Denn die konkrete Tatsache wird bei ihm jedenfalls nicht „historisch“ in dem hier festgehaltenen Sinn: als Glied einer konkreten KausalweisetZu erwarten wäre: Kausalkette, verwendet., – c) als kausalen Bestandteil eines historischen Zusammenhangs (Nr. 1). In den Fällen ad a (oben Nr. 4 u. 5) besteht eine „Bedeutung“ für die Geschichte [A 168]nur insofern, als der mit Hilfe dieses Einzelexemplars gewonnene Gattungsbegriff unter Umständen – darüber später49 [421] Unten, S. 424 ff. ‒ für die Kontrolle der historischen Demonstration wichtig werden kann. Dagegen kann, wenn E[duard] M[eyer] den Umkreis des „Historischen“ auf das „Wirksame“ beschränkt, – also auf Nr. 1 (= c) der vorstehenden Staffel, – dies doch unmöglich bedeuten sollen, daß die Berücksichtigung der zweiten Kategorie von Fällen von „Bedeutsamkeit“ (litt. b) außerhalb des Gesichtskreises der Geschichte läge, daß also Tatsachen, welche nicht selbst Bestandteile historischer Kausalreihen sind, sondern nur dazu dienen, die in solche Kausalreihen einzufügenden Tatsachen zu erschließen, ‒ z. B. also solche Bestandteile jener Goetheschen Korrespondenz, welche etwa Goethes für seine literarische Produktion entscheidende „Eigenart“, oder die für die Entwicklung der Sitten wesentlichen Seiten der ottocentistischen gesellschaftlichen Kultur „illustrieren“, d. h. zur Erkenntnis bringen, von der Geschichte – wenn nicht (wie bei Nr. 2) von einer „Geschichte Goethes“sAusführungszeichen fehlt in A. , dann (bei Nr. 3) von einer „Sittengeschichte“ des 18. Jahrhunderts – ein für allemal vernachlässigt werden dürften. Sein eigenes Werk muß ja fortgesetzt mit derartigen Erkenntnismitteln arbeiten. Gemeint [422]kann hier also nur sein, daß es sich dabei eben um „Erkenntnismittel“, nicht um „Bestandteile des historischen Zusammenhanges“ handelt: – aber in einem anderen Sinn verwendet doch auch die „Biographie“ oder die „Altertumskunde“ derartige „charakteristische“ Einzelheiten nicht. Nicht hier also liegt offenbar der Stein des Anstoßes für E[duard] Meyer.

Nun aber steigt über allen jenen bisher analysierten Arten der „Bedeutung“ noch eine höchste auf: jene Erlebnisse Goethes, um im Beispiel zu bleiben, „bedeuten“ uns ja nicht nur als „Ursache“ und „Erkenntnismittel“ etwas, sondern, – ganz gleichgültig, ob wir aus ihnen für die Erkenntnis der Lebensauffassung Goethes, der Kultur des 18. Jahrhunderts, des „typischen“ Ablaufes von Kulturvorgängen usw. irgend etwas Neues, nicht ohnehin Bekanntes erfahren, ganz gleichgültig ferner, ob sie kausal irgend welchen Einfluß auf seine Entwicklung gehabt haben: – der Inhalt dieser Briefe ist uns, so wie er ist und ohne alles Schielen nach irgendwelchen außer ihnen liegenden, nicht in ihnen selbst beschlossenen „Bedeutungen“ – in seiner Eigenart ein Objekt der Bewertung, und sie würden dies sein, auch wenn von ihrem Verfasser sonst nicht das geringste bekannt wäre. Was uns nun hier zunächst interessiert, ist zweierlei: einmal der Umstand, daß diese „Bewertung“ sich an die Eigenart, das Unvergleichliche, Einzigartige, literarisch Unersetzliche des Objekts knüpft, und dann, daß diese Wertung des Objekts in seiner individuellen Eigenart – das ist das zweite – Grund dafür wird, daß es für uns Gegenstand des Nachdenkens und der gedanklichen – wir wollen absichtlich noch vermeiden zu sagen: der „wissenschaftlichen“ – Bearbeitung: der Interpretation, [A 169]wird. Diese „Interpretation“[,] oder, wie wir sagen wollen: „Deutung“, kann nun zwei faktisch fast immer verschmolzene, logisch aber scharf zu scheidende Richtungen einschlagen: Sie kann und wird zunächst „Wert-Interpretation51 [422] Diesen Begriff verwendet Rickert nicht. sein, das heißt: uns den „geistigen“ Gehalt jener Korrespondenz „verstehen“ lehren, also das, was wir dunkel und unbestimmt „fühlen“, entfalten und in das Licht des artikulierten „Wertens“ erheben. Sie ist zu diesem Zweck keineswegs genötigt, selbst ein Werturteil abzugeben oder zu „suggerieren“. Was sie tatsächlich analysierend „suggeriert“, sind vielmehr Möglichkeiten [423]von Wertbeziehungen52 [423] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 153 mit Anm. 43, S. 166 mit Anm. 71, und S. 189 mit Anm. 53. des Objektes. Die „Stellungnahme“53 Vgl. ebd., oben, S. 189 mit Anm. 51. ferner, welche das gewertete Objekt bei uns hervorruft, muß natürlich durchaus nicht ein positives Vorzeichen haben: schon zu dem Verhältnis Goethes zu Frau v. Stein wird sich z. B. der übliche moderne Sexualbanause ebenso wie etwa ein katholischer Moralist,54 Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 95, Fn. 93 mit Anm. 47 und 48. wenn überhaupt „verstehend“, dann wesentlich ablehnend verhalten. Und wenn wir uns als Objekt der Interpretation nach einander Karl Marx’ „Kapital“ oder den Faust oder die Decke der Sixtinischen Kapelle oder Rousseaus Confessions55 Auf Marx, Kapital, Goethe, Faust I–II, und die „Gemälde der sixtinischen Kapelle“ kommt Meyer, Theorie, S. 30, 48, zu sprechen. Zu Rousseau, Bekenntnisse, vgl. oben, S. 420. oder die Erlebnisse der heiligen Teresa oder Mme Roland oder Tolstoi oder Rabelais oder Marie Bashkirtseff oder etwa die Bergpredigt denken, dann ergibt sich eine endlose Mannigfaltigkeit „wertender“ Stellungnahme, und die „Interpretation“ dieser höchst verschiedenwertigen Objekte hat, wenn sie für „lohnend“ gehalten und unternommen wird, – was wir hier für unsere Zwecke einmal voraussetzen –[,] nur das formale Element gemeinsam, daß ihr Sinn darauf geht, uns eben die möglichen „Standpunkte“ und „Angriffspunkte“ der „Wertung“ aufzudecken. Eine bestimmte Wertung als die allein „wissenschaftlich“ zulässige uns zu oktroyieren vermag sie nur, wo, wie etwa bei dem Gedankengehalt von Marx’ Kapital, Normen (in diesem Fall solche des Denkens) in Betracht kommen. Aber auch hier ist eine objektiv gültige „Wertung“ des Objekts (in diesem Falle also die logische „Richtigkeit“ Marxscher Denkformen) nicht etwas, was notwendig im Zweck einer „Interpretation“ läge, und vollends wäre dies da, wo es sich nicht um „Normen“[,] sondern um „Kulturwerte“ handelt, eine das Gebiet des „Interpretierens“ überschreitende Aufgabe. Es kann jemand, ohne allen logischen und sachlichen Widersinn – und nur darauf kommt es hier an – alle Produkte der dichterischen und künstlerischen Kultur des Altertums oder etwa die religiöse Stimmung der Bergpredigt als für sich „ungültig“ ablehnen, ebensogut wie jene Mischung von glühender Leidenschaft auf der einen Seite und Askese auf der anderen mit [424]allen jenen für uns feinsten Blüten56 [424] Meyer, Theorie, S. 31, spricht mit Bezug auf „Helmolt’s Weltgeschichte“ von „seltsame[n] Blüthen“. Breysig, Entstehung, S. 527, spricht von einer „feinsten Blume“. Vgl. oben, S. 405 mit Anm. 87. des Stimmungslebens, wie sie unser Beispiel: die Briefe an Frau v. Stein, enthalten. Jene „Interpretation“ aber wird für ihn dadurch allein noch keineswegs „wertlos“, denn sie kann trotzdem, ja gerade deshalb, auch für ihn „Erkenntnis“ enthalten in dem Sinn, daß sie, wie wir zu sagen pflegen, sein eigenes „inneres Leben“, seinen „geistigen Horizont“ erweitert, [A 170]ihn fähig macht, Möglichkeiten und Nüancen des Lebensstils57 Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S. 348 mit Anm. 94. als solche zu erfassen und zu durchdenken, sein eigenes Selbst intellektuell, ästhetisch, ethisch (im weitesten Sinn) differenziierend zu entwickeln, seine „Psyche“ – sozusagen – „wertempfindlicher“ zu machen. Die „Interpretation“ der geistigen, ästhetischen oder ethischen Schöpfung wirkt eben hier wie diese letztere selbst wirkt, und die Behauptung, daß die „Geschichte“ in gewissem Sinn „Kunst“ sei,58 Möglicherweise referiert Weber auf Croce, Aesthetik, S. 27. Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S. 332 mit Anm. 15. Vgl. auch die Auseinandersetzung mit ähnlichen Vorstellungen Lamprechts in Meyer, Theorie, S. 12. hat hier ihren „berechtigten Kern“, nicht minder wie die Bezeichnung der „Geisteswissenschaften“ als „subjektivierend“:59 Weber referiert auf Münsterberg, Psychologie, S. XXIV, 34 ff. Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 282 mit Anm. 38. es ist hier aber zugleich die äußerste Grenze dessen erreicht, was noch als „denkende Bearbeitung des Empirischen“60 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 184 mit Anm. 30. bezeichnet werden kann, und es handelt sich nicht mehr um, im logischen Sinn, „historische“ Arbeit.

Es ist wohl klar, daß E[duard] M[eyer] mit dem, was er (S. 55) „philologische Betrachtung der Vergangenheit“ nennt,61 Vgl. Meyer, Theorie, S. 54. diese Art der Interpretation, welche von den ihrem Wesen nach zeitlosen Beziehungen „historischer“ Objekte: ihrer Wertgeltung, ausgeht und diese „verstehen“ lehrt, gemeint hat. Das ergibt seine Definition dieser Art der wissenschaftlichen Tätigkeit S. 55, welche, nach ihm, „die Produkte der Geschichte in die Gegenwart versetzt und daher zuständlich behandelt“, das Objekt „nicht als werdend und historisch wirkend, sondern als seiend“ und daher im Gegensatz zur Geschichte „allseitig“ behandelt, eine „erschöpfende Interpre[425]tation der einzelnen Schöpfungen“, zunächst der Literatur und Kunst, aber, wie E[duard] M[eyer] ausdrücklich hinzufügt, auch der staatlichen und religiösen Institutionen, der Sitten und Anschauungen, „und schließlich der gesamten Kultur einer als Einheit zusammengefaßten Epoche“ bezweckt. Natürlich ist diese Art der „Deutung“ nichts „Philologisches“ im Sinn einer sprachwissenschaftlichen Fachdisziplin. Die Deutung des sprachlichen „Sinns“ eines literarischen Objekts und die „Deutung“ seines „geistigen Gehalts“, seines „Sinns“ in dieser, an Werten orientierten Bedeutung des Wortes, möge faktisch noch so oft und aus guten Gründen Hand in Hand gehen: sie sind dennoch logisch grundverschiedene Vorgänge, der eine, die sprachliche „Deutung“[,] ist die – nicht etwa dem Wert und der Intensität der dazu erforderlichen geistigen Arbeit, wohl aber dem logischen Sachverhalt nach – elementare Vorarbeit für alle Arten der wissenschaftlichen Bearbeitung und Verwertung des „Quellenmaterials“, sie ist, vom Standpunkt der Geschichte aus gesehen, ein technisches Mittel, „Tatsachen“ zu verifizieren: sie ist Handwerkszeug der Geschichte (wie zahlreicher anderer Disziplinen). Die „Deutung“ im Sinn der „Wertanalyse“62 [425] Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S. 350 mit Anm. 4. – wie wir den oben zuletzt beschriebenen Vorgang ad hoc einmal nennen wollen20a)[425][A 170] Wesentlich, um diese Art der „Interpretation“ von der nur sprachlichen zu scheiden. Daß faktisch diese Scheidung regelmäßig nicht stattfindet, darf die logische Unterscheidung nicht hindern. – steht jedenfalls in dieser Relation zur Geschichte [A 171]nicht. Und da diese Art der „Deutung“ auch weder auf die Ermittelung „kausal“, für einen historischen Zusammenhang, relevanter Tatsachen, noch auf die Abstraktion von „typischen“, für die Bildung eines Gattungsbegriffes verwertbaren Bestandteilen gerichtet ist, da sie, im Gegensatz hierzu, vielmehr ihre Objekte, also, um bei E[duard] M[eyer]s Beispiel zu bleiben, die „gesamte Kultur“,63 Meyer, Theorie, S. 55. etwa der hellenischen Blütezeit, als Einheit aufgefaßt – „um ihrer selbst willen“64 Vgl. Rickert, Grenzen, S. 435, 469. betrachtet, und in ihren Wertbeziehungen zum Verständnis bringt, so gehört sie eben auch unter keine der anderen Kategorien des Erkennens, deren direkte oder indirekte Bezie[426]hungen zum „Historischen“ dort erörtert wurden. Sie kann aber insbesondere auch nicht eigentlich als „Hilfswissenschaft“ der Geschichte in Betracht kommen – wie E[duard] M[eyer] S. 54 unten von seiner „Philologie“65 [426] Meyer, Theorie, S. 54 f. meint – denn sie behandelt ja ihre Objekte von ganz anderen Gesichtspunkten aus als die Geschichte. Wäre der Gegensatz beider Betrachtungsweisen nur darin zu suchen, daß die eine (die „Wertanalyse“) die Objekte „zuständlich“,66 Ebd., S. 55. die andere (die Geschichte) als „Entwicklung“ betrachtete, die eine Quer-, die andere Längsschnitte durch das Geschehene legte, dann wäre er natürlich von ganz geringem Belang: auch der Historiker, z. B. E[duard] Meyer selbst in seinem Werke, muß[,] um seinen Faden anzuspinnen, von gewissen „gegebenen“ Anfangspunkten, die er „zuständlich“ schildert, ausgehen, und wird die „Ergebnisse“ der „Entwicklung“ im Verlaufe seiner Darstellung immer wieder einmal als „Zustand“ im Querschnitte zusammenfassen. Eine monographische Darstellung etwa der sozialen Zusammensetzung der athenischen Ekklesie67 Zur Volksversammlung Athens vgl. Meyer, Geschichte II, S. 329 ff. in einem bestimmten Zeitpunkt, zu dem Zwecke, deren ursächliche historische Bedingtheit einerseits, ihre Wirkung auf die politischen „Zustände“ Athens andererseits verdeutlichen zu helfen, ist auch nach E[duard] M[eyer] sicherlich eine „historische“ Leistung. Sondern der Unterschied liegt doch wohl für E[duard] M[eyer] darin, daß für jene „philologische“ („wertanalysierende“) Arbeit zwar möglicher- und wohl normalerweise auch die für die „Geschichte“ relevanten, daneben aber eventuell ganz andere Tatsachen in Betracht kommen, als für die „Geschichte“, solche also, die weder 1. selbst Glieder einer historischen Kausalkette sind, noch 2. als Erkenntnismittel für Tatsachen der ersten Kategorie verwertet werden, also überhaupt in keiner der bisher betrachteten Relationen zum „Historischen“ stehen. In welcher anderen aber? Oder steht diese „wertanalysierende“ Betrachtung außerhalb jeder Beziehung zu irgend welcher historischen Erkenntnis? – Kehren wir, um vorwärtszukommen, wieder zu unserem Beispiel von den Briefen an Frau v. Stein zurück und nehmen wir als zweites Beispiel Karl Marx’ „Kapital“ dazu. Beide Objekte können offenbar Gegenstand [427]der „Interpretation“ werden, nicht nur der „sprachlichen“, von der wir ja hier nicht reden wollen, sondern auch der „wertanalysierenden“, die uns ihre Wertbeziehungen zum „Verständnis“ bringt, welche also die Briefe anu[427]A: von Frau v. Stein ähnlich analysiert und „psycho[A 172]logisch“ interpretiert, wie man etwa den „Faust“ „deutet“ – das Marxsche Kapital also auf seinen Gedankengehalt hin untersucht und in seinem gedanklichen – nicht: geschichtlichen – Verhältnis zu anderen Gedankensystemen über die gleichen Probleme zur Darstellung bringt. Die „Wertanalyse“ behandelt ihre Objekte zu diesem Behufe, nach E[duard] Meyers Terminologie, zunächst „zuständlich“,68 [427] Meyer, Theorie, S. 55. d. h., richtiger formuliert: sie geht von ihrer Eigenschaft als eines von jeder rein historisch-kausalen Bedeutung unabhängigen, insofern also für uns jenseits des Historischen stehenden „Wertes“ aus. – Aber bleibt sie dabei stehen? Sicherlich nicht, eine Interpretation jener Goetheschen Briefe so wenig wie eine solche des „Kapitals“ oder des Faust oder dervA: des Orestie oder der Sixtinischen Deckengemälde.69 Zu den genannten Beispielen – außer: Aischylos, Orestie – vgl. oben, S. 423 mit Anm. 55. Sie wird vielmehr, schon um ihren eigenen Zweck ganz zu erreichen, sich darauf besinnen müssen, daß jenes ideale Wertobjekt historisch bedingt war, daß zahlreiche Nüancen und Wendungen des Denkens und Empfindens „unverständlich“ bleiben, wenn die allgemeinen Bedingungen, z. B. das gesellschaftliche „Milieu“ und die ganz konkreten Vorgänge der Tage, an denen jene Goetheschen Briefe geschrieben wurden, nicht bekannt sind, wenn die historisch gegebene „Problemlage“ zur Zeit, als Marx sein Buch schrieb, und seine Entwicklung als Denker unerörtert bleiben, – und die „Deutung“ fordert so zu ihrem Gelingen eine historische Untersuchung der Bedingungen, unter denen diese Briefe zustande kamen, aller jener kleinsten sowohl wie umfassendsten Zusammenhänge in Goethes rein persönlich-„häuslichem“ und im Kulturleben der gesamten damaligen „Umwelt“ im weitesten Sinne, welche für ihre Eigenart von kausaler Bedeutung – „wirksam“ im Sinne E[duard] Meyers – gewesen sind. Denn die Kenntnis aller dieser kausalen Bedingungen lehrt uns ja die seelischen Konstellationen, aus denen heraus jene Briefe [428]geboren wurden, und damit diese selbst erst wirklich „verstehen“21)[428][A 172] Gegen seinen Willen legt davon doch auch Voßler in seiner Analyse einer La Fontaineschen Fabel in der ebenso glänzend geschriebenen wie absichtsvoll einseitigen Schrift: „Die Sprache als Schöpfung und Entwicklung“ (Heidelberg 1905 S. 84 f.) Zeugnis ab.70 [428] Voßler, Sprache. Einzige „legitime“ Aufgabe der „ästhetischen“ Deutung ist ihm (wie B[enedetto] Croce, mit dem er sich nahe berührt)71 Für Croce, Aesthetik, S. 16, liegt der „ästhetische Vorgang“ „in der Form und ist nichts als Form“. der Nachweis, daß und inwieweit die literarische „Schöpfung“ adäquater „Ausdruck“ sei.72 Vgl. Voßler, Sprache, S. 18 f. Allein er selbst muß zu einer Bezugnahme auf ganz konkrete „psychische“ Eigenarten La Fontaines (S. 93) und, noch darüber hinaus, zum „Milieu“ und zur „Rasse“ (S. 94) seine Zuflucht nehmen, und es ist nicht abzusehen, warum nicht diese kausale Zurechnung, die Erforschung des Gewordenseins, welche stets auch mit generalisierenden Begriffen arbeitet (davon später),w[428]A: arbeitet, (davon später)73 Unten, S. 462 f. gerade an dem Punkte abbrechen und ihre Weiterführung für die „Interpretation“ wertlos werden sollte, wo dies in seiner höchst erziehenden und lehrreichen Skizze geschieht. Wenn Voßler jene Zugeständnisse dadurch wieder beseitigt, daß er (S. 95) nur für den „Stoff“ die „zeitliche“ und „räumliche“ Be[A 173]dingtheit zugibt, von der ästhetisch allein wesentlichen „Form“ aber sagt, sie sei „freie Schöpfung des Geistes“, so muß man sich erinnern, daß er hier eine der Croceschen ähnliche Terminologie befolgt: „Freiheit“ ist hier gleich „Normgemäßheit“[,] und „Form“ ist richtiger Ausdruck im Croceschen Sinn74 Vgl. auch Croce, Aesthetik, S. 59. und als solcher mit dem ästhetischen Wert identisch. Diese Terminologie hat aber das Bedenkliche, daß sie zur Ineinanderschiebung von „Sein“ und „Norm“ führt. – Es ist das große Verdienst von Voßlers sprühender Schrift, daß sie gegenüber den reinen Glottologen75 Von ital. glottològo: Sprachforscher. und Sprach-Positivisten wieder stärker betont, daß 1. es neben Sprachphysiologie und -psychologie, neben „historischen“ und „lautgesetzlichen“ Untersuchungen die durchaus selbständige wissenschaftliche Aufgabe der Interpretation der „Werte“ und „Normen“ literarischer Schöpfungen gibt, und daß 2. ferner das eigene Verständnis und „Erleben“ dieser „Werte“ und Normen auch für die kausale Deutung des Herganges und der Bedingtheit geistigen Schaffens unentbehrliche Voraussetzung ist, da eben der Schöpfer des literarischen Produktes oder des sprachlichen Ausdrucks sie „erlebt“. Allein wohlgemerkt: in diesem letzteren Fall, wo sie Mittel des kausalen Erkennens und nicht Wertmaßstäbe sind, kommen sie, logisch angesehen, nicht als „Normen“, sondern vielmehr in reiner Faktizität als „mögliche“ empirische Inhalte eines „psychischen“ Geschehens in Betracht, „prinzipiell“ nicht anders wie die Wahnidee eines Paralytikers. Ich glaube, daß seine und Croces Terminologie, welche immer wieder zu einem logischen Ineinanderschieben des „Wertens“ und des „Erklärens“ und zu einer Negierung der Selbständigkeit des letzteren neigt, die überzeugende Kraft der Argumentation abschwächt. Jene Aufgaben rein empirischer Arbeit bleiben eben neben derjenigen, die Voßler als „Ästhetik“ bezeichnet, ihrerseits auch, und zwar sachlich und logisch durchaus selbständig, bestehen: daß man diese kausale Analyse heute als „Völkerpsychologie“76 Da Weber von „heute“ spricht, spielt er wahrscheinlich an auf Wundt, Völkerpsy[429]chologie I,1 und I,2. Die einschlägigen Arbeiten zur Völkerpsychologie von Moritz Lazarus und Heymann Steinthal stammen aus den 1860er Jahren bzw. von 1890 und können daher kaum gemeint sein. oder überhaupt als „Psychologie“ bezeichnet, ist Folge einer modischen Terminologie, ändert aber an der sachlichen Berechtigung auch dieser Art der Behandlung doch schließlich nichts., [429]so wahr es andererseits na[A 173]türlich ist, daß die kausale „Erklärung“ hier wie überall, allein für sich genommen und à la Düntzer77 Vgl z. B. Düntzer, Heinrich, Abhandlungen zu Goethes Werken und Leben, 2 Bände. – Leipzig: Ed. Wartig (Ernst Hoppe) 1885. betrieben, nur die „Teile in ihrer Hand“ hält.78 Vgl. Goethe, Faust I, S. 77: „Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben, Sucht erst den Geist heraus zu treiben, Dann hat er die Teile in seiner Hand, Fehlt leider! nur das geistige Band.“ Und selbstverständlich ist nun jene Art der „Deutung“, welche wir hier als „Wertanalyse“ bezeichnet haben,79 Oben, S. 425 mit Anm. 62. die Wegweiserin dieser anderen, der „historischen“, d. h. kausalen „Deutung“. Die Analyse jener wies die „gewerteten“ Bestandteile des Objektes auf, deren kausale „Erklärung“ das Problem dieser ist, jene schuf die Anknüpfungspunkte, an denen der kausale Regressus80 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 164 mit Anm. 65. sich anspinnt[,] und gab ihm so die entscheidenden „Gesichtspunkte“ mit auf den Weg, ohne welche er ja ohne Kompaß ins Uferlose steuern müßte. Nun kann jemand – und viele werden es tun – für sich das Bedürfnis ablehnen, den ganzen Apparat der historischen Arbeit aufgeboten zu sehen für die historische „Erklärung“ einer Reihe von „Liebesbriefen“, und seien sie noch so sublim. Gewiß, – aber das Gleiche gilt, so despektierlich es scheint, für das „Kapital“ von Karl Marx und überhaupt für alle Objekte histo[A 174]rischer Arbeit. Die Kenntnis davon, aus welchen Bausteinen Marx sein Werk schuf und wie die Genesis seiner Gedanken historisch bedingt war, und ebenso jede historische Kenntnis der politischen Machtkonstellation der Gegenwart, oder des Werdens des deutschen Staatswesens in seiner Eigenart, kann jemandem eine überaus fade und öde oder doch eine sehr subalterne, ja, um ihrer selbst willen betrieben, sinnlose Sache scheinen, ohne daß die Logik oder die wissenschaftliche Erfahrung ihn zu „widerlegen“ vermöchte, wie E[duard] M[eyer] ausdrücklich, in freilich etwas kurz angebundener Form, zugegeben hat.81 Nicht belegt.

Für unseren Zweck lohnt es, noch einen Augenblick bei dem logischen Wesen jener „Wertanalyse“ zu verweilen. Man hat allen Ernstes den von H[einrich] Rickert sehr klar entwickelten Gedan[430]ken, daß die Bildung des „historischen Individuums“ durch „Wertbeziehung“ bedingt werde,82 [430] Vgl. Rickert, Grenzen, S. 368: „Die Begriffsbestimmung des historischen Individuums ist in drei Stufen erfolgt. Zuerst war das Historische das Wirkliche schlechthin, das überall individuell im Sinne von einzigartig ist, und dieser Begriff genügte, um die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung klar zu legen. Sodann wurde das Historische das von einem wollenden Wesen mit einem Werth verbundene und in seiner Einzigartigkeit zugleich einheitliche Wirkliche, und damit lernten wir die Wirklichkeitsauffassung des praktischen Lebens kennen. Endlich konnten wir das historische Individuum als die Wirklichkeit bestimmen, die sich durch Beziehung auf einen allgemeinen Werth zu einer einzigartigen und einheitlichen Mannigfaltigkeit für Jeden zusammenschliessen muss, und die dann so, wie sie unter dem Gesichtspunkt dieser bloss theoretischen Betrachtung in wesentliche und unwesentliche Bestandtheile zerfällt, dargestellt werden kann.“ dahin verstanden oder dadurch zu „widerlegen“ versucht, daß diese „Wertbeziehung“ identisch sei mit einer Subsumtion unter generelle Begriffe:22)[430][A 174] So Schmeidler in Ostwalds „Annalen der Naturphilosophie“ III S. 24 f.84 Vgl. Schmeidler, Begriffsbildung, S. 24–70, hier bes. S. 41 ff. „Staat“, „Religion“, „Kunst“ etc.[,] und ähnliche „Begriffe“ seien ja doch die „Werte“, um die es sich handle, und der Umstand, daß die Geschichte ihre Objekte auf sie „beziehe“ und dadurch spezifische „Gesichtspunkte“ gewinne, sei also – so ist hinzugefügt worden – nur dasselbe wie die gesonderte Behandlung der „chemischen“, „physikalischen“ etc. „Seite“ der Vorgänge in den Naturwissenschaften.23) So zu meinem Erstaunen auch Franz Eulenburg in dem Aufsatz in der vorigen Nummer dieser Zeitschrift.85 Vgl. Eulenburg, Gesellschaft, S. 524 ff., erschienen im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“. Seine Polemik gegen Rickert „und die Seinen“ (?) ist m. E. nur möglich, weil er gerade das Objekt, um dessen logische Analyse es sich handelt: die „Geschichte“, aus seinen Betrachtungen ausscheidet.86 Für Eulenburg ist „Gesetze zu finden“ das „apriorisch anzunehmende Ziel“ jeder systematischen Wissenschaft: „Ich halte dies auch gegenüber dem neuerlichen Versuch H. Rickerts (Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung I, 1896), einen wissenschaftlichen Dualismus zwischen Kultur- und Naturwissenschaft konstruieren zu wollen, principiell aufrecht.“ Vgl. Eulenburg, Franz, Über die Möglichkeit und die Aufgaben einer Socialpsychologie. Akademische Antrittsrede, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 24. Jg., 1900, S. 201–238, hier S. 213 f. Vgl. auch die Briefe Max Webers an Franz Eulenburg vom 6. Sept. 1905, MWG II/4, S. 521, und vom 8. Sept. 1905, ebd., S. 522 f. Dies sind merkwürdige Mißverständnisse dessen, was unter einer „Wertbeziehung“ verstanden ist und allein verstanden werden kann.83 Vgl. auch Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 62 mit Anm. 97. Ein aktuelles „Werturteil“ über ein konkretes Objekt oder die theoretische Aufstellung „möglicher“ Wertbezie[431]hungen desselben heißt doch nicht, daß ich dasselbe unter einen bestimmten Gattungsbegriff: „Liebesbrief“, „politisches Gebilde“, „ökonomische Erscheinung“ subsumiere. Sondern das „Werturteil“ heißt: daß ich zu ihm in seiner konkreten Eigenart in bestimmter konkreter Art „Stellung nehme“[,] und die subjektiven Quellen dieser meiner Stellungnahme, meiner dafür entscheidenden „Wertgesichtspunkte“,87 [431] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 189 mit Anm. 53. sind doch erst recht nicht ein „Begriff“ und vollends ein „abstrakter Begriff“, sondern ein durchaus konkretes, höchst individuell geartetes und zusammengesetztes „Fühlen“ und „Wollen“ oder aber, unter Umständen, das Bewußtsein eines bestimmt und wiederum konkret gearteten „Sollens“. Und wenn ich nun aus dem Stadium des aktuellen Bewertens der Objekte in dasjenige der theoretisch-interpretativen Überlegung der möglichen Wertbeziehungen trete, also aus den Objekten „historische Individuen“ bilde, [A 175]so bedeutet dies, daß ich die konkrete, individuelle und deshalb in letzter Instanz einzigartige Form, in welcher sich – um zunächst einmal eine metaphysische Wendung zu brauchen – „Ideen“88 Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 71 f. mit Anm. 25 und 30; Weber, Objektivität, oben, S. 148 mit Anm. 29, und S. 202 mit Anm. 2. in dem betreffenden politischen Gebilde (z. B. dem „Staat Friedrichs des Großen“)[,] der betreffenden Persönlichkeit (z. B. Goethe oder Bismarck), dem betreffenden Literaturprodukt (dem „Kapital“ von Marx) „verkörpert“89 Zur Verkörperung von Ideen vgl. Gervinus, Historik, S. 375, 383. haben oder „auswirken“, mir und anderen interpretierend zum Bewußtsein bringe. Oder, unter Beseitigung der stets bedenklichen und überdies entbehrlichen metaphysischen Ausdrucksweise formulirt: daß ich die Gesichtspunktex[431]A: Begriffspunkte für mögliche „wertende“ Stellungnahmen, welche der betreffende Ausschnitt aus der Wirklichkeit aufweist, und um derentwillen er eine mehr oder minder universelle ,,Bedeutung“ beansprucht, – die von kausaler „Bedeutung“ scharf zu scheiden ist, – in artikulierter Form entwickele. Das „Kapital“ von Karl Marx teilt die Qualität als „Literaturprodukt“ mit jedem der allwöchentlich im Brockhausschen Verzeichnis90 Möglicherweise sind die „Blätter für literarische Unterhaltung“ gemeint, die 1826 bis 1898 wöchentlich im Brockhaus-Verlag erschienen. stehenden Kombinationen von Druckerschwärze und Papier, – was es für uns zu einem [432]„historischen“ Individuum macht, ist aber doch nicht etwa jene Zugehörigkeit zur Gattung, sondern umgekehrt der durchaus einzigartige „geistige Gehalt“, den „wir“ in ihm „niedergelegt“ finden. Ebenso: die Qualität des „politischen“ Vorgangs teilt das Kannegießern91 [432] Stammtischgerede. Vgl. Holberg, Ludvig, Der politische Kannegießer. Komödie in fünf Akten. Aus dem Dänischen von Robert Prutz. – Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut 1872. eines Philisters beim Dämmerschoppen mit demjenigen Komplex von bedrucktem und beschriebenem Papier, Schallwellen, Körperbewegungen auf Exerzierplätzen, gescheiten oder auch törichten Gedanken in den Köpfen von Fürsten, Diplomaten, usw., welcheny[432]A: welche „wir“ zu dem individuellen Gedankengebilde „Deutsches Reich“ zusammenschließen, weil „wir“ ihm ein bestimmtes für „uns“ durchaus einzigartiges, an zahllosen „Werten“ (nicht nur „politischen“) verankertes „historisches Interesse“ zuwenden. Diese „Bedeutung“ – denzA: der „Inhalt“ des Objektes, etwa des „Faust“, an möglichen Wertbeziehungen, oder, anders geredet, den „Inhaltunseres Interesses am historischen Individuum – durch einen Gattungsbegriff ausdrückbar zu denken, ist ein offenbarer Widersinn: gerade die Unausschöpfbarkeit seinesaA: ihres „Inhalts“ an möglichen Anknüpfungspunkten unseres Interesses ist das dem historischen Individuum „höchsten“ Ranges Charakteristische. Daß wir gewisse „wichtige“ Richtungen der historischen Wertbeziehung klassifizieren und diese Klassifikation dann der Arbeitsteilung der Kulturwissenschaften zur Grundlage dient, ändert natürlich daran nichts24) [432][A 175] Wenn ich die sozial-ökonomischen Determinanten der Entstehung einer konkreten „Ausprägung“ des „Christentums“ oder etwa der provençalischen Ritterpoesie92 Mittelalterliches Genre der Dichtkunst der Minnesänger und Troubadoure, das sich den Themen Kampf und Frauenverehrung widmete. Seine Ursprünge lagen in Frankreich. untersuche, so mache ich damit doch diese letzteren nicht zu Erscheinungen, welche um ihrer ökonomischen Bedeutung willen „gewertet“ werden. Die aus rein technischen Gründen der Arbeitsteilung hervorgegangene Art, wie der einzelne Forscher oder die einzelne traditionell unterschiedene „Disziplin“ ihr „Gebiet“ abgrenzen, ist natürlich auch hier logisch von keinem Belang., daß der Gedanke: [A 176]ein „Wert“ von „allgemeiner (= universeller) Bedeutung“ sei ein „allgemeiner“ (= genereller) Begriff, ähnlich seltsam ist, wie etwa die Meinung, man könne „die Wahrheit“ in [433]einem Satz aussprechen, oder „das Sittliche“ in einer Handlung vollbringen, oder „das Schöne“ in einem Kunstwerk verkörpern. – Doch kehren wir zu Eduard Meyer und seinen Versuchen, dem Problem der historischen „Bedeutung“ beizukommen, zurück. Die vorstehenden Betrachtungen verließen ja das methodologische und streiften das geschichtsphilosophische Gebiet.93[433] Der Untertitel von Meyer, Theorie, lautet „Geschichtsphilosophische Untersuchungen“. Auch Rickerts Theorie historischer Begriffsbildung ist in eine Geschichtsphilosophie eingebettet. Vgl. Rickert, Grenzen, S. 600 ff.: Rickert, Geschichtsphilosophie (wie oben, S. 350, Anm. 2). Für die strikt auf dem Boden der Methodik verweilende Betrachtung ist der Umstand, daß gewisse individuelle Bestandteile der Wirklichkeit als Objekt historischer Betrachtung ausgelesen werden, schlechterdings nur durch den Hinweis auf dies faktische Vorhandensein eines entsprechenden Interesses zu begründen: mehr kann ja die „Beziehung auf Werte“ für eine solche Betrachtung, die nach dem Sinn dieses Interesses nicht fragt, in der Tat nicht besagen, und so beruhigt sich denn auch E[duard] M[eyer] dabei, indem er, von diesem Standpunkt aus mit Recht, meint, für die Geschichte genüge die Tatsache der Existenz jenes Interesses, möge man es noch so niedrig veranschlagen.94 Für Meyer, Theorie, S. 38, genügt es, „dass es vorhanden ist“. Aber gewisse Unklarheiten und Widersprüche in seinen Ausführungen zeigen doch die Folgen jenes Mangels an geschichtsphilosophischer Orientierung deutlich genug.

„Die Auswahl“ (der Geschichte) „beruht auf dem historischen Interesse, welches die Gegenwart an irgendeiner Wirkung, einem Ergebnis der Entwicklung hat, so daß sie das Bedürfnis empfindet, den Anlässen nachzuspüren, welche es herbeigeführt haben“, sagt E[duard] M[eyer] (S. 37) und interpretiert dies später (S. 45) dahin, daß der Historiker „aus sich selbst die Probleme, mit denen er an das Material herantritt“, nehme, welche ihm dann den „Leitfaden, an dem er die Ereignisse ordnet“, gebenb[433]A: gebe. Das stimmt durchaus mit dem Gesagten zusammen und ist überdies zugleich der einzig mögliche Sinn, in welchem die früher kritisierte Äußerung E[duard] M[eyer]s über das „Aufsteigen von der Wirkung zur Ursache“95 Oben, S. 400, Fn. 12 mit Anm. 67. richtig ist: es handelt sich dabei nicht, wie er annimmt, um eine der [434]Geschichte eigentümliche Art der Handhabung des Kausalitätsbegriffes, sondern darum, daß „historisch bedeutsam“ eben nur diejenigen „Ursachen“ sind, welche der von einem „gewerteten“ Kulturbestandteil ausgehende Regressus als unentbehrliche Bestandteile seiner in sich aufnehmen muß: das Prinzip der „teleologischen Dependenz“,96[434] Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 300 mit Anm. 97. wie man es mit einem allerdings mißverständlichen Ausdruck genannt hat. Nun aber fragt sich: muß dieser Ausgangspunkt des Regressus stets ein Bestandteil der Gegenwart sein, wie man nach der oben zuerst zitierten Äußerung E[duard] M[eyer]s97 Oben, S. 433. als seine Ansicht ansehen könnte? E[duard] M[eyer] hat hierzu in Wahrheit keine ganz sichere Stellung. Es fehlt eben, das zeigte schon das bisher Gesagte, bei ihm jede klare Angabe darüber, was er unter seinem „historisch Wirksamen“ eigentlich versteht. Denn [A 177]– wie ihm dies schon von anderer Seite vorgehalten ist98 Möglicherweise referiert Weber auf Ratzel, Friedrich, Geschichte, Völkerkunde und historische Perspektive, in: Historische Zeitschrift, Band 93, N. F. Band 57, 1904, S. 1–46, hier S. 21 ff. – wenn nur das in die Geschichte gehört, was „wirkt“, so muß für jede historische Darstellung, z. B. für seine Geschichte des Altertums,99 Vgl. Meyer, Geschichte I–V. Alle fünf Bände der 1. Auflage sind als Handexemplare Webers überliefert (Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München). die Kardinalfrage sein: welcher Endzustand und welche Bestandteile desselben sollen als das durch die darzustellende historische Entwicklung „Bewirkte“ zugrunde gelegt werden und also darüber entscheiden, ob eine Tatsache, weil sie für keinen Bestandteil jenes Endresultats eine erweisliche kausale Bedeutung hatte, als historisch unwesentlich ausgeschieden werden muß. Manche Äußerungen E[duard] M[eyer]s können zunächst den Anschein erwecken, als ob in der Tat die objektive „Kulturlage“ – wie wir einmal kurz sagen wollen – der Gegenwart hier entscheiden sollte: nur Tatsachen, deren Wirkung noch heute, in unseren gegenwärtigen politischen, wirtschaftlichen, sozialen, religiösen, ethischen, wissenschaftlichen Zuständen oder irgendwelchen anderen Bestandteilen unseres Kulturlebens von kausaler Bedeutung sind, deren „Wirkung“ wir in der Gegenwart unmittelbar wahrnehmen (s[iehe] S. 37 oben),1 Vgl. Meyer, Theorie, S. 36 f. gehörten dann in eine „Geschichte des Alter[435]tums“, gänzlich irrelevant aber wäre es, ob eine Tatsache für die Eigenart der Kultur des Altertums von noch so fundamentaler Bedeutung wäre (s[iehe] S. 48 unten).2[435] Vgl. ebd., S. 48 f. E[duard] M[eyer]s Werk würde arg zusammenschrumpfen – man denke etwa an den Band über Ägypten3 Vgl. Meyer, Geschichte I, S. 29 ff., 253 ff., 311 ff., 380 ff., 425 ff., 561 ff. – wenn er damit Ernst machen wollte[,] und viele würden gerade das nicht darin finden, was sie in einer Geschichte des Altertums erwarten. Aber er läßt (S. 37 oben)4 Meyer, Theorie, S. 37. einen anderen Ausweg offen: „wir können es“ – nämlich was historisch „wirksam“ gewesen ist – „auch an der Vergangenheit erfahren, indem wir irgendeinen Moment derselben als gegenwärtig fingieren.“ Damit kann nun allerdings jeder beliebige Kulturbestandteil als von einem irgendwie gewählten Standpunkt aus „wirksam“ in eine Geschichte des Altertums hinein-„fingiert“ werden, – es entfiele aber damit eben gerade die Begrenzung, welche E[duard] M[eyer] erstrebt. Und es entstände trotzdem die Frage: welchen „Moment“ nimmt z. B. eine „Geschichte des Altertums“ zum Maßstab des für den Historiker Wesentlichen? Bei E[duard] M[eyer]s Betrachtungsweise müßte man annehmen: das „Ende“ der antiken Geschichte, d. h. der Einschnitt, der uns als geeigneter „Endpunkt“ erscheint: also etwa die Regierung des Kaisers Romulus, oder die Regierung Justinians, oder – wohl besser – die Regierung Diocletians? In diesem Fall gehörte zunächst jedenfalls alles, was für diese Schlußepoche, dies „Greisenalter“5 Vgl. Mommsen, Theodor, Römische Geschichte, Band 5: Die Provinzen von Caesar bis Diocletian. – Berlin: Weidmann 1885, S. 4: „Das Greisenalter vermag nicht neue Gedanken und schöpferische Thätigkeit zu entwickeln, und das hat auch das römische Kaiserregiment nicht gethan“. der Antike, „charakteristisch“ ist, zweifelsohne in vollem Umfang in die Darstellung als deren Abschluß hinein, weil eben diese Charakteristik ja das Objekt der historischen Erklärung formte, ferner, vor allem anderen, alle die Tatsachen, welche eben für diesen Prozeß der „Vergreisung“ kausal wesentfich („wirksam“) waren, – auszuscheiden wäre dagegen z. B. bei der Schilderung der griechischen Kultur alles, was damals (zur Zeit des Kaisers Romulus oder Diocletians) keine „Kulturwirkungen“ mehr übte, [A 178]und das wäre bei dem damaligen Zustand der Literatur, der Philosophie, der allgemeinen Kultur ein erschrec[436]kend großer Teil gerade dessen, was uns eine „Geschichte des Altertums“ überhaupt „wertvoll“ macht, und was wir, glücklicherweise, in E[duard] M[eyer]s eigenem Werke nicht vermissen.

Eine Geschichte des Altertums, welche nur das auf irgend eine spätere Epoche kausal Wirkende enthalten wollte, würde, – zumal wenn man die politischen Verhältnisse als das eigentliche Rückgrat des Historischen ansieht,6[436] Zur Bedeutung des Politischen vgl. Meyer, Theorie, S. 28, 30. durchaus ebenso leer erscheinen, wie eine „Geschichte“ Goethes, welche ihn selbst, nach Rankeschem Ausdruck, zugunsten seiner Epigonen „mediatisiert“,7 Für Ranke, Epochen (wie oben, S. 72, Anm. 30), S. 4 f., wird im „Fortschritt“ eine Generation „mediatisirt“, wenn man sie nur als „die Stufe der nachfolgenden Generation“ betrachtet, die sie vollkommen übertrifft. Vgl. auch im Kontext seiner Diskussion des Fortschrittsbegriffs Rickert, Grenzen, S. 469: „Dies Verfahren würde aber, um ein Wort Ranke’s zu gebrauchen, die früheren Perioden zu Gunsten der späteren mediatisiren“. d. h. nur die Bestandteile seiner Eigenart und seiner Lebensäußerungen feststellt, welche in der Literatur „wirksam“ geblieben sind: die wissenschaftliche „Biographie“ unterscheidet sich da prinzipiell nicht von anders abgegrenzten historischen Objekten. E[duard] M[eyer]s These ist in der von ihm gegebenen Formulierung nicht durchführbar. – Oder gibt es auch hier einen Ausweg aus dem Widerspruch zwischen dieser seiner Theorie und seiner eigenen Praxis? Wir hörten E[duard] M[eyer] sagen, daß der Historiker „aus sich“ seine Probleme nehme, und dieser Bemerkung fügt er hinzu: „die Gegenwart des Historikers ist ein Moment, das aus keiner Geschichtsdarstellung ausgeschieden werden kann“.8 Meyer, Theorie, S. 45. Sollte etwa jene „Wirksamkeit“ einer „Tatsache“, welche sie zu einer „historischen“ stempelt, schon dann vorliegen, wenn ein moderner Historiker sich für diese Tatsache in ihrer individuellen Eigenart und ihrem So-und-nicht-anders-Gewordensein interessiert und seine Leser dafür zu interessieren versteht? – Offenbar sind tatsächlich in E[duard] M[eyer]s Ausführungen (S. 36 unten einerseits, S. 37 und 45 andererseits) zwei verschiedene Begriffe von „historischen Tatsachen“ ineinander geschoben: einmal solche Bestandteile der Wirklichkeit, welche, man kann sagen: „um ihrer selbst willen“, in ihrer konkreten Eigenart als Objekte unseres Interesses „gewertet“ werden, auf der anderen solche, auf welche unser Bedürfnis, jene „gewerteten“ [437]Bestandteile der Wirklichkeit in ihrer historischen Bedingtheit zu verstehen, beim kausalen Regressus als „Ursachen“, als historisch „wirksam“ in E[duard] M[eyer]s Sinn, stößt. Man kann die ersteren historische Individuen, die letzteren historische (Real-)Ursachen nennen und sie mit Rickert als „primäre“ und „sekundäre“ historische Tatsachen scheiden.9[437] Rickert, Grenzen, S. 475 f., hat, „um die logische Struktur der Darstellung historischer Entwicklungsreihen zu verstehen“, zwischen „zwei Arten von historischen Individuen“ unterschieden: „Die einen haben eine direkte, die anderen eine indirekte Beziehung auf den leitenden Werthgesichtspunkt, und so können wir von primären und sekundären historischen Individuen sprechen.“ Diese Unterscheidung sei eindeutig, wenn man daran festhalte, „dass für einen bestimmten leitenden Werthgesichtspunkt die eine Art der Objekte unmittelbar durch die Eigenart ihrer inhaltlichen Mannigfaltigkeit sich zu In-dividuen zusammenschliesst, bei der anderen dagegen das historische Interesse an ihnen nur durch das Mittel der kausalen Verbindung entsteht, die zwischen ihnen und den unmittelbar wesentlichen Individuen vorhanden ist.“ Eine strikte Beschränkung einer historischen Darstellung auf die historischen „Ursachen“, die „sekundären“ Tatsachen Rickerts, die „wirksamen“ Tatsachen E[duard] M[eyer]s, ist uns natürlich nur möglich, wenn bereits eindeutig feststeht, um die kausale Erklärung welches historischen Individuums es sich ausschließlich handeln soll. Wie umfassend alsdann dieses primäre Objekt auch gewählt werden möge, – nehmen wir an, als solches gelte z. B. die gesamte „moderne“, d. h. unsere von Europa „ausstrahlende“ christlich-kapitalistisch-rechtsstaatliche „Kultur“ in ihrem Gegenwartsstadium, also ein ungeheuerer Knäuel von „Kultur[A 179]werten“, welche unter den allerverschiedensten „Gesichtspunkten“ als solche betrachtet werden, – so wird der kausale Regressus, welcher sie historisch „erklärt“, dennoch, wenn er bis ins Mittelalter oder gar bis ins Altertum gelangt, eine ungeheuere Fülle von Objekten, mindestens teilweise, als kausal unwesentlich, beiseite lassen müssen, welche unser „wertendes“ Interesse „um ihrer selbst willen“ in hohem Maße erregen, also ihrerseits „historische Individuen“ werden können, an welche sich ein „erklärender“ kausaler Regressus anknüpft. Gewiß ist dabei zuzugeben, daß dies „historische Interesse“, infolge des Fehlens der kausalen Bedeutung für eine Universalgeschichte der heutigen Kultur, ein spezifisch geringeres ist. Die Kulturentwicklung der Inkas und Azteken hat historisch relevante Spuren in – verhältnismäßig! – überaus geringem Maße hinterlassen, dergestalt, daß eine Universalgeschichte der Genesis der heutigen Kultur in E[duard] M[ey[438]er]s Sinne von ihnen vielleicht ohne Schaden geradezu schweigen darf. Ist dem so, – wie wir einmal annehmen wollen, – dann kommt das, was wir von ihrer Kulturentwicklung wissen, in erster Linie weder als „historisches Objekt“, noch als „historische Ursache“, sondern wesentlich als „Erkenntnismittel“ für die Bildung kulturtheoretischer Begriffe in Betracht: positiv: z. B. für die Bildung des Begriffes des Feudalismus, als ein eigenartig spezifiziertes Exemplar desselben, oder negativ, um gewisse Begriffe, mit denen wir in der europäischen Kulturgeschichte arbeiten, gegen jene heterogenen Kulturinhalte abzugrenzen und so im Wege der Vergleichung die historische Eigenart der europäischen Kulturentwicklung genetisch schärfer zu fassen. Ganz das Gleiche ist natürlich bezüglich solcher Bestandteile der antiken Kultur der Fall, welche E[duard] M[eyer], als historisch „nicht wirksam“ geworden, aus einer an dem Bestande der Gegenwartskultur orientierten Geschichte des Altertums streichen – müßte, wenn er konsequent wäre. – Allein offenbar ist bezüglich der Inkas und Azteken10[438] Vgl. Haebler, Konrad, Amerika, in: Helmolt, Hans F. (Hg.), Weltgeschichte, Band 1: Allgemeines – Die Vorgeschichte – Amerika – Der Stille Ozean. – Leipzig und München: Bibliographisches Institut 1899, S. 181–574, hier S. 307 ff. zu den Inkas, S. 272 ff. zu den Azteken. Weber kommt unten, S. 458 f., Fn. 33 mit Anm. 96, auf dieses Sammelwerk zu sprechen. es trotz alledem in keiner Weise weder logisch noch sachlich ausgeschlossen, daß gewisse Inhalte ihrer Kultur in ihrer Eigenart zum historischen „Individuum“ gemacht, d. h. also zunächst auf ihre „Wert“beziehungen hin „deutend“ analysiert und daraufhin wieder zum Gegenstand „historischer“ Untersuchung werden, so daß nun der kausale Regressus nach Tatsachen ihrer Kulturentwicklung ausgreift, welche mit Bezug auf jenes Objekt „historische Ursachen“ werden. Und wenn jemand eine „Geschichte des Altertums“ komponiert, so ist es eben eitel Selbsttäuschung zu glauben, diese enthielte nur kausal auf unsere heutige Kultur „wirksame“ Tatsachen, weil sie allerdings nur von Tatsachen handelt, welche uns entweder „primär“ als gewertete „historische Individuen“, oder „sekundär“ als kausal (mit Beziehung auf diese oder andere „Individuen“), als „Ursachen“, bedeutsam erscheinen. Unser an „Werten“ orientiertes Interesse, nicht die sachliche Ursachenbeziehung unserer Kultur zu der hellenischen allein, wird den Umkreis [A 180]der für eine Geschichte der hellenischen Kultur maßgebenden Kulturwerte [439]bestimmen. Jene Epoche, welche wir zumeist – durchaus „subjektiv“ wertend – als „Höhepunkt“ der hellenischen Kultur ansehen, also etwa die Zeit zwischen Äschylos und Aristoteles, kommt mit ihren Kulturgehalten als „Eigenwert“ in jeder „Geschichte des Altertums“, auch derjenigen E[duard] M[eyer]s in Betracht,11[439] Vgl. Meyer, Geschichte IV, S. 85 ff., über „Die Cultur des perikleischen Zeitalters“, dort: „Das ist die Geburtsstunde einer neuen Cultur, welche auf Jahrhunderte hinaus dem Denken und Empfinden des Volkes die Richtung weist“ (ebd., S. 85). und das könnte sich erst ändern, falls irgend eine Zukunft zu jenen Kulturschöpfungen ebensowenig eine unmittelbare „Wertbeziehung“ zu gewinnen vermöchte, wie zu dem „Gesang“ und der „Weltanschauung“ eines innerafrikanischen Volkes, die unser Interesse als Artrepräsentanten, als Mittel der Begriffsbildung also, oder als „Ursachen“ erregen. – Dies also: daß wir Gegenwartsmenschen Wertbeziehungen irgendwelcher Art zu der individuellen „Ausprägung“ antiker Kulturinhalte besitzen, ist der allein mögliche Sinn, den man E[duard] M[eyer]s Begriff des „Wirksamen“ als des „Historischen“ geben kann.12 Für Meyer, Theorie, S. 36, gilt: „historisch ist, was wirksam ist oder gewesen ist“. Wie sehr dagegen E[duard] M[eyer]s eigener Begriff des „Wirksamen“ aus heterogenen Bestandteilen zusammengesetzt ist, zeigt schon seine Motivierung des spezifischen Interesses, welches die Geschichte den „Kulturvölkern“ entgegenbringt. „Das beruht“, meint er (S. 47)[,] „darauf, daß diese Völker und Kulturen in unendlich viel höherem Grade wirksam gewesen sind und noch auf die Gegenwart wirken“. Das ist zweifelsohne richtig, aber keineswegs der einzige Grund unseres für ihre Bedeutung als historische Objekte entscheidenden „Interesses“, und namentlich läßt sich daraus nicht ableiten, daß, wie E[duard] M[eyer] (a. a. O.) sagt, jenes Interesse um so stärker wird, „je höher sie (die historischen Kulturvölker) stehen“.13 Ebd., S. 47. Denn die Frage des „Eigenwerts“ einer Kultur, die hier angeschnitten ist, hat mit derjenigen ihrer historischen „Wirksamkeit“ nichts zu tun: es ist hier bei E[duard] M[eyer] eben „wertvoll“ und „kausal wichtig“ verwechselt. So unbedingt es richtig ist, daß jede „Geschichte“ vom Standpunkt der Wertinteressen der Gegenwart geschrieben wird, und daß also jede Gegenwart neue Fragen an das historische Material stellt oder doch stellen kann, weil eben ihr durch Wertideen14 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 182 mit Anm. 28. [440]geleitetes Interesse wechselt, so sicher ist, daß dieses Interesse auch schlechthin „vergangene“ Kulturbestandteile, d. h. solche, auf welche ein Kulturbestandteil der Gegenwart im kausalen Regressus nicht zurückgeführt werden kann, „wertet“ und zu historischen „Individuen“ macht, im kleinen Objekte wie die Briefe an Frau v. Stein, im großen auch jene Bestandteile der hellenischen Kultur, deren Einwirkung die Kultur der Gegenwart längst entwachsen ist. E[duard] M[eyer] hat, wie wir sahen,15[440] Oben, S. 434 f. das ja selbst, nur ohne die Konsequenzen zu ziehen, durch die von ihm angenommene Möglichkeit eingeräumt: daß ein Moment der Vergangenheit, wie er sich ausdrückt, als gegenwärtig „fingiert“ werde (S. 47 oben)16 Vgl. Meyer, Theorie, S. 37. , – was ja nach den Bemerkungen auf S. 55, Mitte, doch eigentlich nur die „Philologie“ tun dürfte. In Wahrheit ist damit eben zugestanden, daß auch „vergangene“ Kulturbestandteile ohne [A 181]Rücksicht auf das Vorhandensein einer noch fühlbaren „Wirkung“ historische Objekte sind, in einer „Geschichte des Altertums“ z. B. also auch die „charakteristischen“ Werte des Altertums selbst für die Auswahl der Tatsachen und die Richtung der historischen Arbeit maßgebend werden. – Ja noch mehr.

Wenn E[duard] M[eyer] als Grund dafür, daß die Gegenwart nicht Gegenstand der „Geschichte“ werde, ausschließlich geltend macht, daß man noch nicht wisse und nicht wissen könne, welche Bestandteile ihrer sich in Zukunft als „wirksam“ erweisen,17 Vgl. ebd., S. 39. so ist jene Behauptung von der (subjektiven) Ungeschichtlichkeit der Gegenwart wenigstens in bedingtem Maße zutreffend. Über die kausale Bedeutung der Tatsachen der Gegenwart als „Ursachen“ „entscheidet“ endgültig erst die Zukunft. Allein dies ist nicht die einzige Seite des Problems, auch wenn man, wie hier selbstverständlich, von solchen äußerlichen Momenten, wie dem Mangel der archivalischen Quellen etc., absieht.18 Vgl. ebd., S. 42. Die wirklich unmittelbare Gegenwart ist nicht nur noch nicht geschichtliche „Ursache“ geworden, sondern sie ist auch noch nicht geschichtliches „Individuum“, so wenig wie ein „Erlebnis“ in dem Augenblick, in welchem es sich „in mir“ und „um mich“ vollzieht, Objekt empirischen [441]„Wissens“ ist. Alle historische „Wertung“ umschließt ein, um es so auszudrücken: „kontemplatives“ Moment, sie enthält nicht nur und nicht in erster Linie das unmittelbare Werturteil des „stellungnehmenden Subjektes“, sondern ihr wesentlicher Gehalt ist, wie wir sahen,19[441] Oben, S. 422 ff. ein „Wissen“ von möglichen „Wertbeziehungen“, setzt also die Fähigkeit voraus, den „Standpunkt“ dem Objekt gegenüber wenigstens theoretisch zu wechseln: man pflegt dies so auszudrücken, daß wir einem Erlebnis gegenüber erst „objektiv werden müssen“, ehe es, als Objekt, „der Geschichte angehört“, – was hier ja aber gerade nicht bedeutet, daß es kausal „wirksam“ ist. – Doch sollen diese das Verhältnis von „Erleben“ und „Wissen“ betreffenden Erörterungen hier nicht weitergesponnen werden: genug, daß mit allen diesen umständlichen Darlegungen wohl klar geworden ist, nicht nur daß, sondern auch warum der E[duard] Meyersche Begriff des „Historischen“ als des „Wirksamen“ unzulänglich ist. Es fehlt vor allem die logische Scheidung des „primären“ historischen Objekts, jenes „gewerteten“ Kulturindividuums, an welches sich das Interesse für die kausale „Erklärung“ seines Gewordenseins haftet, und der „sekundären“ historischen „Tatsachen“, der Ursachen, denen die „gewertete“ Eigenart jenes „Individuums“ im kausalen Regressus zugerechnet wird. Diese Zurechnung wird mit dem prinzipiellen Ziel vorgenommen, „objektiv“ als Erfahrungswahrheit gültig zu sein mit derselben Unbedingtheit, wie irgend welche Erfahrungserkenntnis überhaupt, und nur die Zulänglichkeit des Materials entscheidet über die, nicht logische, sondern nur faktische Frage, ob sie dies Ziel erreicht, ganz ebenso wie dies auf dem Gebiet der Erklärung eines konkreten Naturvorgangs der Fall ist. „Subjektiv“ in einem bestimmten hier nicht [A 182]nochmals zu erörternden Sinn ist nicht die Feststellung der historischen „Ursachen“ bei gegebenem Erklärungs-„Objekt“, sondern die Abgrenzung des historischen „Objektes“, des „Individuums“ selbst, denn hier entscheiden Wertbeziehungen, deren „Auffassung“ dem historischen Wandel unterworfen ist. Es ist deshalb auf der einen Seite unrichtig, wenn E[duard] M[eyer] (S. 45, Mitte) meint, wir vermöchten „niemals“ zu einer „absoluten und unbedingt gültigen“ Erkenntnis von etwas Historischem zu gelangen: das trifft für die „Ursachen“ nicht zu; – ebenso unrichtig aber ist [442]es, wenn alsdann gesagt wird, es stehe um die Geltung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis „nicht anders“20[442] Vgl. Meyer, Theorie, S. 45. als um die historische: das trifft für die historischen „Individuen“, d. h. für die Art, in welcher „Werte“ in der Geschichte eine Rolle spielen[,] und auf die Modalität dieser Werte nicht zu, (gleichviel wie man über die „Geltung“ jener „Werte“ als solcher denkt, die ja jedenfalls etwas gegenüber der Geltung einer ursächlichen Beziehung als Erfahrungswahrheit prinzipiell heterogenes ist, sollten auch etwa philosophisch beide in letzter Instanz als normgebunden gedacht werden müssen). Denn die an „Werten“ orientierten „Gesichtspunkte“, unter denen wir Kulturobjekte betrachten, unter denen sie für uns überhaupt „Objekte“ der historischen Forschung werden, sind wandelbar, und weil und so lange sie dies sind, werden – bei Annahme unveränderten „Quellenmaterials“, von der wir hier, bei logischen Erörterungen, ein für allemal ausgehen – stets neue „Tatsachen“ und stets in neuer Art historisch „wesentlich“. Diese Art der Bedingtheit durch „subjektive Werte“ ist aber jedenfalls solchen Naturwissenschaften, welche dem Typus der Mechanik21 Für Rickert, Grenzen, S. 80, 104 ff., 264 ff., ist die Mechanik die letzte Naturwissenschaft, weil in ihren Begriffen nichts mehr von der Anschaulichkeit der Wirklichkeit enthalten ist. Als Ideal der Naturwissenschaften ist sie reine Begriffswissenschaft. zustreben, durchaus fremd und bildetc[442]A: bilden gerade den spezifischen Gegensatz des Historischen gegen sie.22 Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 45 ff. und 48.

Fassen wir zusammen: Soweit die „Deutung“ eines Objekts im gewöhnlichen Sinne des Wortes „philologische“ Deutung, z. B. des sprachlichen „Sinnes“ ist, ist sie für die „Geschichte“ technische Vorarbeit. Soweit sie das für die Eigenart bestimmter „Kulturepochen“ oder bestimmter Persönlichkeiten, oder bestimmter Einzelobjekte (Kunstwerke, literarischer Objekte) Charakteristische „deutend“ analysiert, steht sie im Dienst der historischen Begriffsbildung. Und zwar, logisch betrachtet, entweder dienend, indem sie kausal relevante Bestandteile eines konkreten historischen Zusammenhangs als solche erkennen hilft, – oder umgekehrt leitend und wegweisend, indem sie den Gehalt eines Objekts: – des „Faust“, der Orestie, des Christentums einer bestimmten Epoche usw. – an mög[443]lichen Wertbeziehungen „deutet“ und so der kausalen Arbeit der Geschichte „Aufgaben“ stellt, also ihre Voraussetzung wird. Der Begriff der „Kultur“ eines konkreten Volkes und Zeitalters, der Begriff des „Christentums“, des „Faust“, aber – was leichter übersehen wirdd[443]A: wird, – auch z. B. der Begriff „Deutschland“ usw. sind, als Objekte historischer Arbeit gebildet, individuelle Wertbegriffe, d. h. durch Beziehungen zu Wertideen geformt.

[A 183]Wenn wir nun, um auch dies zu berühren, diese Wertungen selbst, mit denen wir an die Tatsachen treten, zum Gegenstand der Analyse machen, so treiben wir – je nach dem Erkenntnisziel – entweder Geschichtsphilosophie23[443] Vgl. oben, S. 433 mit Anm. 93. oder Psychologie des „historischen Interesses“. Wenn wir dagegen ein konkretes Objekt „wertanalysierend“ behandeln, d. h. in seiner Eigenart derart „interpretieren“, daß uns die möglichen Wertungen seiner „suggestiv“ nahegebracht werden, ein „Nacherleben“,24 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 178 mit Anm. 16. wie man es (freilich sehr inkorrekt) zu nennen pflegt, einer Kulturschöpfung beabsichtigt wird, so ist das – darin steckt der „berechtigte Kern“ von E[duard] M[eyer]s Formulierung – noch keine „historische“ Arbeit, aber es ist allerdings die ganz unvermeidliche „forma formans“25 Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 93, Fn. 87 mit Anm. 33. für das historische „Interesse“ an einem Objekt, für dessen primäre begriffliche Formung als „Individuum“ und für die dadurch erst sinnvoll mögliche kausale Arbeit der Geschichte. In noch so vielen Fällen mögen – wie dies bei politischen Gemeinschaften, zumal dem eigenen Staat, am Anfang aller „Geschichte“ geschieht – die anerzogenen Alltags-Wertungen das Objekt geformt und der historischen Arbeit ihre Straße gepflastert haben, und der Historiker mag also glauben, bei diesen handfesten „Objekten“, die anscheinend – aber auch freilich eben nur dem Anschein nach und nur für den gewöhnlichen „Hausgebrauch“ – keiner besonderen „Wert-Interpretation“ mehr bedürfen, auf seinem „eigentlichen“ Gebiet zu sein: so bald er die breite Landstraße verlassen und große neue Einsichten auch in die politische „Eigenart“ eines Staates oder politischen Genius gewinnen will, muß er auch hier, dem logischen Prinzip nach, gerade so verfahren wie ein Faust-Interpret. [444]Aber freilich, darin hat E[duard] M[eyer] Recht: wo die Analyse im Stadium einer solchen „Deutung“ des „Eigenwertes“ des Objekts bleibt, die kausale Zurechnungsarbeit beiseite gelassen und das Objekt auch nicht der Fragestellung: was es kausal, mit Rücksicht auf andere, umfassendere, gegenwärtigere, Kulturobjekte kausal „bedeutet“, unterzogen wird, – da ist die historische Arbeit nicht ins Rollen gekommen[,] und der Historiker kann hier nur Bausteine zu historischen Problemen sehen. Nur die Art der Begründung seines Standpunktes ist meines Erachtens nicht haltbar. Wenn E[duard] M[eyer] insbesondere in der „zuständlichen“,26[444] Vgl. Meyer, Theorie, S. 55. „systematischen“27 Für Meyer, ebd., S. 1, ist die Geschichte „keine systematische Wissenschaft“. Behandlung eines Stoffes den prinzipiellen Gegensatz gegen die Historik erblickt und wenn z. B. auch Rickert – nachdem er früher in dem „Systematischen“ das spezifisch „Naturwissenschaftliche“, auch auf dem Gebiet des „sozialen“ und „geistigen“ Lebens, im Gegensatz zu den „historischen Kulturwissenschaften“, erblickt hatte,28 Möglicherweise referiert Weber auf Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S. 10, Anm. 62), S. 9: Rickert, Grenzen, S. 188 f., 247. Vgl. auch ebd., S. 24, wo Rickert feststellt, daß es ihm „nicht um eine systematische Logik der historischen Wissenschaften oder um ein System der Geschichtsphilosophie im Sinne einer Philosophie als Wissenschaftslehre“ gehe. Vgl. auch oben, S. 405 mit Anm. 88. – neuerdings den Begriff der „systematischen Kulturwissenschaften“ aufgestellt hat,29 Für Rickert, Geschichtsphilosophie (wie oben, S. 350, Anm. 2), S. 88, „kann das Kulturleben trotz der Wertbeziehung einer generalisierenden Darstellung unterworfen werden. Ja, ganz abgesehen von der Psychologie, sind viele der sogenannten Geisteswissenschaften, wie z. B. die Sprachwissenschaft, die Jurisprudenz, die Nationalökonomie, wenigstens zum Teil, gewiß nicht historische, sondern systematische Kulturwissenschaften, deren Methode nicht mit der der generalisierenden Naturwissenschaften zusammenzufallen braucht“. Vgl. den Brief Max Webers an Heinrich Rickert vom 28. April 1905, MWG II/4, S. 476–479, hier S. 478 f. – so wird es die Aufgabe sein, weiterhin in einem besonderen Abschnitt30 Ein entsprechender Text ist nicht überliefert: zu den weiteren Schreibabsichten vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 382. die Frage aufzuwerfen: was eigentlich „Systematik“ alles bedeuten kann und in welchen verschiedenen Beziehungen ihre verschiedenen Arten zur ge[A 184]schichtlichen Betrachtung und zu den „Naturwissenschaften“ stehen.24a)[444][A 184] Dann erst treten wir auch in eine Erörterung der verschiedenen möglichen Prinzipien einer „Klassifikation“ der „Wissenschaften“ ein. Die von E[duard] M[eyer] als „philologische [445]Methode“31[445] Vgl. Meyer, Theorie, S. 54 ff. bezeichnete Behandlung der Kultur des Altertums, speziell der hellenischen, die Form der „Altertumskunde“[,] ist ja zunächst durch die sprachlichen Voraussetzungen der Materialbeherrschung praktisch herbeigeführt. Aber sie ist nicht nur durch sie bedingt, sondern auch durch die Eigenart bestimmter hervorragender Forscher und vor allem durch die „Bedeutung“, welche die Kultur des klassischen Altertums bisher für unsere eigene Geistesschulung gehabt hat. Versuchen wir, uns diejenigen Standpunkte, welche gegenüber der Kultur des Altertums prinzipiell möglich sind, in radikaler und deshalb auch rein theoretischer Fassung zu formulieren. 1. Die eine würde die Vorstellung von der absoluten Wertgeltung der antiken Kultur sein, deren Ausprägungen im Humanismus, dann etwa bei Winckelmanne[445]A: Winkelmann32 Vgl. z. B. Winckelmann, Johann Joachim, Geschichte der Kunst des Alterthums, 2 Bände. – Dresden: Walther 1764. und schließlich in allen Spielarten des sogenannten „Klassizismus“ hier nicht zu untersuchen sind. Antike Kulturbestandteile sind nach dieser Auffassung, wenn wir sie in ihre letzten Konsequenzen treiben, – soweit nicht entweder die „Christlichkeit“ unserer Kultur oder die Produkte des Rationalismus „Ergänzungen“ und „Umbildungen“ gebracht haben, – wenigstens virtuelle Bestandteile „der“ Kultur schlechthin, nicht weil sie „kausal“ in E[duard] M[eyer]s Sinn gewirkt haben, sondern weil sie in ihrer absoluten Wertgeltung kausal, auf unsere Erziehung, wirken sollen. Daher ist die antike Kultur in erster Linie Objekt der Interpretation in usum scholarum,33 Lat.: im Schulgebrauch, in den Schulen. zur Erziehung der eigenen Nation zum Kulturvolk: Die „Philologie“, in ihrem umfassendsten Begriff, als „Erkenntnis des Erkannten“,34 Für Boeckh „ist die Philologie – oder, was dasselbe sagt, die Geschichte – Erkenntnis des Erkannten. Unter dem Erkannten sind dabei auch alle Vorstellungen begriffen: denn häufig sind es nur Vorstellungen, die wiedererkannt werden, z. B. in der Poesie, in der Kunst, in der politischen Geschichte, worin nur theilweise, wie in der Wissenschaft, Begriffe, im Uebrigen aber Vorstellungen niedergelegt sind, die der Philologe wiederzuerkennen hat.“ Vgl. Boeckh, August, Encyclopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hg. von Ernst Bratuscheck. – Leipzig: Teubner 1877, S. 11. erkennt im Altertum etwas prinzipiell Überhistorisches, zeitlos Geltendes. 2. Die andere, moderne, würde radikal [446]entgegengesetzt stehen: die Kultur des Altertums in ihrer wahren Eigenart steht uns so unendlich fern, daß es ganz sinnlos ist, den „Vielzuvielen“35[446] Vgl. Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen. – Leipzig: C. G. Naumann 1901, S. 70: „Viel zu Viele werden geboren: für die Überflüssigen ward der Staat erfunden! Seht mir doch, wie er sie an sich lockt, die Viel-zu-Vielen! Wie er sie schlingt und kaut und wiederkäut!“ einen Einblick in ihr wahres „Wesen“ geben zu wollen: sie ist ein sublimes Objekt der Wertung für die Wenigen, die in eine für immer dahingegangene, in keinem wesentlichen Punkte jemals wiederholbare, höchste Form des Menschentums sich versenken, sie gewissermaßen „künstlerisch genießen“ wollen25)[446] Dies dürfte wohl die „esoterische“ Lehre von U[lrich] v. Wilamowitz sein,37 Den Begriff „esoterische Lehre” verwendet Wilamowitz-Moellendorf, Tragoedie (wie oben, S. 3, Anm. 13), S. 162, 230. Vgl. auch Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von, Aristoteles und Athen, Band 1. – Berlin: Weidmann 1893, S. 320. gegen den sich ja E[duard] M[eyer]s Angriff in erster Linie richtet.38 Vgl. Meyer, Theorie, S. 54 f. Vgl. schon Below, Meyer (wie oben, S. 395, Anm. 44), S. 452: „S. 54 f. verwirft Μ. aufs entschiedenste die Vereinigung der alten Geschichte mit der klassischen Philologie unter der Firma der ,Altertumswissenschaft‘. Seine Polemik richtet sich, wie man leicht erkennt, gegen U. v. Wilamowitz-Möllendorf und gegen Einrichtungen der Berliner Universität.“ . Und endlich 3. kommt die altertumskundliche Behandlung einer wissenschaftlichen Interessenrichtung entgegen, welcher der Quellenschatz des Altertums in erster Linie ein ungewöhnlich reichhaltiges ethnographisches Material für die Gewinnung allgemeiner Begriffe, Analogien und Entwicklungsregeln, für die Vorgeschichte nicht nur unserer, sondern „jeder“ Kultur darbietet: man denke etwa an die Entwicklung der vergleichenden Religionskunde,36 Vgl. z. B. die Studie des Begründers der vergleichenden Religionswissenschaft: Müller, Friedrich Max, Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft. – Straßburg: Trübner 1874. Vgl. auch Hardy, Edmund, Zur Geschichte der vergleichenden Religionsforschung, in: Archiv für Religionswissenschaft, Band 4, 1901, S. 45–66, 97-135, 193–228. deren heutiger Auf[A 185]schwung ohne Ausbeutung der Antike mit Hilfe streng philologischer Schulung unmöglich gewesen wäre. Die Antike kommt hier insofern in Betracht, als ihr Kulturgehalt als Erkenntnismittel zur Bildung von generellen „Typen“ geeignet ist, dagegen weder, wie für die erste „Auffassung“, als dauernd gültige Kulturnorm noch, wie für die zweite, als absolut einzigartiges Objekt individueller, contemplativer Wertung.

Man sieht alsbald, daß alle drei hier, wie gesagt, „theoretisch“ formulierten Auffassungen für ihre Zwecke an der Behandlung der [447]antiken Geschichte in Form der „Altertumskunde“ interessiert sind, und sieht auch ohne Kommentar, daß das Interesse des Historikers bei jeder von ihnen in der Tat zu kurz kommt, da sie alle drei etwas anderes als „Geschichte“ zum primären Zweck haben. Allein wenn andrerseits E[duard] M[eyer] ernstlich alles vom Standpunkt der Gegenwart aus historisch nicht mehr „Wirksame“ aus der Geschichte des Altertums ausmerzen wollte, würde gerade er, in den Augen aller derjenigen, welche im Altertum mehr als nur eine historische „Ursache“ suchen, seinen Gegnern recht geben. Und alle Freunde seines großen Werkes werden es erfreulich finden, daß er mit jenem Gedanken gar nicht Ernst machen kann, und hoffen, daß er nicht etwa einer irrtümlich formulierten Theorie zuliebe auch nur den Versuch dazu unternimmt26)[447][A 185] Die Breite der vorstehenden Erörterungen steht offenbar in durchaus gar keinem Verhältnis mit dem, was unmittelbar praktisch für die „Methodologie“ dabei „herauskommt“. Wer sie aus diesem Grund für „müßig“ hält, dem kann nur empfohlen werden, die Frage nach dem „Sinn“ des Erkennens einfach beiseite zu lassen und sich zu begnügen, durch praktische Arbeit „wertvolle“ Erkenntnisse zu gewinnen. Es sind nicht die Historiker, welche jene Fragen aufgerollt haben, sondern diejenigen, welche die verkehrte Behauptung aufstellten und noch jetzt fortgesetzt variieren, „wissenschaftliche Erkenntnis“ sei mit „Findung von Gesetzen“ identisch.40 Weber meint u. a. Eulenburg. Vgl. oben, S. 430, Fn. 23 mit Anm. 86. Das ist nun einmal eine Frage nach dem „Sinn“ des Erkennens..

II. Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung.

„Der Ausbruch des zweiten punischen Krieges“, sagt Eduard Meyer (S. 16),39[447] Meyer, Theorie, S. 16. Der Zweite Punische Krieg begann 218 v. Chr., der Siebenjährige Krieg 1756. „ist die Folge eines Willensentschlusses Hannibals, der des Siebenjährigen Krieges Friedrichs des Großen, der des Krieges von 1866 Bismarcks. Sie alle hätten sich auch anders entscheiden können, und andere Persönlichkeiten würden …. sich anders entschieden haben; die Folge würde gewesen sein, daß der Verlauf der Geschichte ein anderer geworden wäre.“ „Damit soll“ – fügt er in der Fußnote 2 hinzu, „weder behauptet noch bestritten werden, daß es in diesem Fall nicht zu den betreffenden Kriegen gekommen wäre; das ist eine völlig unbeantwortbare und müßige [448]Frage.“ Abgesehen von dem schiefen Ver[A 186]hältnis, in welchem der zweite Satz gegen E[duard] M[eyer]s früher besprochene Formulierungen über die Beziehungen von „Freiheit“ und „Notwendigkeit“ in der Geschichte steht,41[448] Oben, S. 390 ff. ist hier vor allem die Ansicht zu beanstanden, daß Fragen, welche wir nicht oder nicht sicher beantworten können, um deswillen schon „müßige“ Fragen seien. Es stände übel auch um die empirische Wissenschaft, wenn jene höchsten Probleme, auf welche sie keine Antwort gibt, niemals aufgeworfen worden wären. Um solche „letzten“ Probleme handelt es sich hier nun freilich nicht, sondern allerdings um eine einerseits durch die Ereignisse „überholte“, andererseits nach Lage unseres wirklichen und möglichen Wissens in der Tat positiv nicht eindeutig zu beantwortende Frage, welche überdies, vom strikt „deterministischen“42 Zu dem von Laplace begründeten Determinismus vgl. Einleitung, oben, S. 2. Standpunkt aus betrachtet, die Folgen von etwas erörtert, was „unmöglich“ war nach Lage der „Determinanten“. Und trotz alledem ist diese Fragestellung: was hätte werden können, wenn z. B. Bismarck den Entschluß zum Kriege nicht gefunden hätte, durchaus keine „müßige“. Denn eben sie betrifft ja das für die historische Formung der Wirklichkeit Entscheidende: welche kausale Bedeutung diesem individuellen Entschluß innerhalb der Gesamtheit der unendlich zahlreichen „Momente“,43 Vgl. Kries, Möglichkeit, S. 22 [197]. die alle gerade so und nicht anders gelagert sein mußten, damit gerade dies Resultat daraus entstand, eigentlich zuzuschätzen ist und welche Stelle ihm also in der historischen Darstellung zukommt. Will die Geschichte über den Rang einer bloßen Chronik44 Über die „endlose Manier der Chronik“ vgl. schon Gervinus, Historik, S. 382. merkwürdiger Begebenheiten und Persönlichkeiten sich erheben, so bleibt ihr ja gar kein anderer Weg, als die Stellung ebensolcher Fragen. Und sie ist auch, solange sie Wissenschaft ist, so verfahren. Dies ist ja an E[duard] M[eyer]s früher wiedergegebener Formulierung:45 Oben, S. 391 f. daß die Geschichte die Ereignisse vom Standpunkt des „Werdens“ aus betrachte und daher ihr Objekt der „Notwendigkeit“, die dem „Gewordenen“ eigne, nicht unterstehe, das Richtige, daß der Historiker bei der Würdigung der kausalen Bedeutung eines konkreten Ereignisses ähnlich verfährt, wie der stellungnehmende und wol[449]lende historische Mensch, der niemals „handeln“ würde, wenn ihm sein eigenes Handeln als „notwendig“ und nicht als nur „möglich“ erschiene27)[449][A 186] Dies bleibt gegenüber der Kritik Kistiakowskis a.a. O. S. 39348 Kistjakovskij, Russkaja sociologičeskja. Vgl. oben, S. 404, Fn. 15 mit Anm. 85. richtig, welche diesen Begriff der „Möglichkeit“ gar nicht trifft.. Der Unterschied ist nur dieser: der handelnde Mensch erwägt, soweit er streng „rational“ handelt – was wir hier annehmen –, die „außerhalb“ seiner liegenden, nach Maßgabe seiner Kenntnis in der Wirklichkeit gegebenen, „Bedingungen“ der ihn interessierenden Zukunftsentwicklung und schaltet nun gedanklich verschiedene „mögliche“ Arten seines eigenen Verhaltens und deren, in Verbindung mit jenen „äußeren“ Bedingungen zu erwartendenf[449]A: erwartende Erfolge in den Kausalnexus ein, um dann je nach dengA: dem dergestalt (gedanklich) ermittelten „möglichen“ Ergebnissen sich für die eine oder die andere [A 187]Verhaltungsweise, als die seinem „Zweck“ entsprechende, zu entscheiden. Der Historiker nun ist seinem Helden zunächst darin überlegen, daß er jedenfalls a posteriori weiß, ob die Abschätzung der gegebenen „außerhalb“ desselbenhA: derselben vorhanden gewesenen Bedingungen auch tatsächlich den Kenntnissen und Erwartungen, welche der Handelnde hegte, entsprachen: dies lehrt ja der faktische „Erfolg“ des Handelns. Und bei demjenigen idealen Maximum an Kenntnis jener Bedingungen, welches wir hier, wo es sich ja lediglich um die Aufhellung logischer Fragen handelt, einmal theoretisch zugrunde legen wollen und dürfen, – mag es in Wirklichkeit noch so selten, vielleicht nie, erreichbar sein46[449] Im Unterschied zum Laplaceschen Dämon kann der menschliche Geist die Anfangsbedingungen nie alle kennen. Sein ontologisches Wissen bleibt stets unvollständig. Vgl. Einleitung, oben, S. 20. – kann er die gleiche gedankliche Erwägung, welche sein „Held“ mehr oder minder klar stellte oder „hätte stellen können“, seinerseits rückblickend vollziehen und also z. B. mit wesentlich günstigeren Chancen47 Vgl. unten, S. 472 mit Anm. 41. als Bismarck selbst die Frage aufwerfen: welche Folgen wären bei Fassung eines anderen Entschlusses zu „erwarten“ gewesen. Es leuchtet ein, daß diese Betrachtung sehr weit davon entfernt ist, „müßig“ zu sein. E[duard] M[eyer] selbst [450]wendet (S. 43) genau dies Verfahren auf jene beiden Schüsse an, welche in den Berliner Märztagen49[450] Meyer, Theorie, S. 43, spricht von „Berliner Märzrevolution“ 1848. Vgl. aber Busch, Wilhelm, Die Berliner Märztage. Die Ereignisse und ihre Überlieferung. – München und Leipzig: R. Oldenbourg 1899. den Ausbruch des Straßenkampfes unmittelbar provozierten. Die Frage nach ihrer Entstehung, meint er, sei „historisch irrelevant“. Warum irrelevanter als die Erörterung der Entschlüsse Hannibals, Friedrichs des Großen, Bismarcks? „Die Dinge lagen so, daß irgendein beliebiger Zufall den Konflikt zum Ausbruch bringen mußte“(!).50 Meyer, Theorie, S. 43 (ohne Hervorhebung). Man sieht, hier ist von E[duard] M[eyer] selbst die angeblich „müßige“ Frage beantwortet, was ohne jene Schüsse geschehen „wäre“, und dadurch ist deren historische „Bedeutung“ (in diesem Fall: ihre Irrelevanz) entschieden worden. Bei den Entschlüssen Hannibals, Friedrichs, Bismarcks „lagen“ dagegen offenbar, wenigstens nach E[duard] M[eyer]s Ansicht, „die Dinge“ anders und zwar nicht so, daß der Konflikt, sei es überhaupt, sei es unter den damaligen konkreten politischen Konstellationen,51 Zum Begriff „Konstellation“ vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 177 mit Anm. 9. welche seinen Verlauf und Ausgang bestimmten, zum Ausbruch gekommen wäre, wenn der Entschluß anders ausfieli[450] Zu erwarten wäre: ausgefallen wäre. Denn sonst wäre ja dieser Entschluß historisch so bedeutungslos wie jene Schüsse. Das Urteil, daß, wenn eine einzelne historische Tatsache in einem Komplex von historischen Bedingungen fehlend oder abgeändert gedacht wird,52 Vgl. unten, S. 456 ff. dies einen in bestimmten, historisch wichtigen Beziehungen abgeänderten Verlauf der historischen Ereignisse bedingt haben würde, scheint also doch für die Feststellung der „historischen Bedeutung“ jener Tatsache von erheblichem Wert zu sein, mag auch der Historiker in praxi nur ausnahmsweise, nämlich im Fall der Strittigkeit eben jener „historischen Bedeutung“, veranlaßt sein, jenes Urteil bewußt und ausdrücklich zu entwickeln und zu begründen. Es ist klar, daß dieser Umstand zu einer Betrachtung des logischen Wesens solcher Urteile, welche aussagen, welcher Erfolg bei Fortlassung oder Abänderung einer kausalen Einzelkomponente aus einem Komplex von Bedingungen zu er[A 188]warten gewesen „wäre“, und ihrer [451]Bedeutung für die Geschichte hätte auffordern müssen. Wir wollen versuchen, uns darüber etwas klarer zu werden.

Wie sehr die Geschichtslogik28)[451][A 188] Die weiterhin erörterten Kategorien finden, wie ausdrücklich bemerkt sein mag, nicht etwa nur auf dem Gebiet der üblicherweise so genannten Fachdisziplin der „Geschichte“ ihre Anwendung, sondern bei der „historischen“ Zurechnung jedes individuellen Ereignisses, auch eines solchen der „toten Natur“. Die Kategorie des „Historischen“ ist hier ein logischer, nicht fachtechnischer Begriff. noch im argen liegt, zeigt sich u. a. auch darin, daß über diese wichtige Frage weder Historiker, noch Methodologen der Geschichte, sondern Vertreter weit abliegender Fächer die maßgebenden Untersuchungen angestellt haben.

Die Theorie der sogenannten „objektiven Möglichkeit“, um welche es sich hier handelt, beruht auf den Arbeiten des ausgezeichneten Physiologen v. Kries29) Über den Begriff der objektiven Möglichkeit und einige Anwendungen desselben, Leipzig 1888.55 Kries, Möglichkeit. Weber benutzt einen Separatdruck, der mit dem Abdruck in der Zeitschrift text-, aber nicht seitenidentisch ist. Die Seiten werden daher durchweg doppelt nachgewiesen: die der Zeitschrift in eckigen Klammern. Wichtige Ausgangspunkte dieser Erörterungen sind von v. Kries zuerst in seinen „Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung“ niedergelegt worden.56 Kries, Principien. Es sei hier von vornherein bemerkt, daß nach der Natur des historischen „Objekts“ nur die allerelementarsten Bestandteile der v. Kriesschen Theorie für die Geschichtsmethodologie Bedeutung haben. Die Übernahme von Prinzipien der im strengen Sinn sogen. „Wahrscheinlichkeitsrechnung“ kommt für die kausale Arbeit der Geschichte nicht nur, selbstverständlich, nicht in Betracht, sondern schon der Versuch einer analogen Verwertung ihrer Gesichtspunkte erheischt große Vorsicht.57 Kries, ebd., entwickelt seine Theorie mit Bezug auf Zufallsspiele wie dem Würfeln. Solche Spiele sind für ihn nicht nur das „eigentliche Haupt-Gebiet der Wahrscheinlichkeits-Rechnung“ (ebd., S. 37), sondern auch „ideale Fälle“ (ebd., S. 82), mit deren Hilfe sich andere Bereiche der Wirklichkeit verstehen lassen. Kries will herausfinden, „ob irgend welche andere[n] Gebiete etwas Aehnliches zeigen“, ob sie sich, mit anderen Worten, „einem gewöhnlichen Zufalls-Spiele analog verhalte[n]“ (ebd., S. 73, 140; vgl. auch S. 24, 47). Die Anwendung seiner Theorie impliziert also in jedem Fall Analogien. und die gebräuchliche Verwendung dieses Begriffs auf den an v. Kries sich anschließenden oder ihn kritisierenden Arbeiten in erster Linie kriminalistischer, in zweiter andererj[451]A: andere juristischer Schriftsteller, speziell Merkel,53[451] Vgl. Merkel, Adolf, Lehrbuch des deutschen Strafrechts. – Stuttgart: Ferdinand Enke 1889, S. 99 ff. Rümelin,54 Vgl. Rümelin, Max, Der Zufall im Recht. Akademische Antrittsrede. – Freiburg i. B. und Leipzig: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1896. [452]Liepmann,58[452] Vgl. Liepmann, Strafrecht, S. 67 ff. und neustens, Radbruch.30)[452] Die am tiefsten eingreifende Kritik hat bisher Radbruch (Die Lehre von der adäquaten Verursachung, Bd. 1 N. F. Heft 3 der Abhandlungen des v. Lisztschen Seminars; – bei ihm die wichtigste sonstige Literatur)59 Radbruch, Verursachung. an der Verwertung der v. Kriesschen Theorie für juristische Probleme geübt. Seiner prinzipiellen Zergliederung des Begriffes der „adäquaten Verursachung“ wird erst weiterhin Rechnung getragen werden können, nachdem zunächst die Theorie in möglichst einfacher (und deshalb, wie sich zeigen wird, nur provisorischer, nicht endgültiger) Formulierung vorgetragen ist. In der Methodologie der Sozialwissenschaften ist bisher die Kriessche Gedankenreihe vorerst nur in der Statistik übernommen worden.31) Sehr eng berührt sich mit den statistischen Theorien von v. Kries unter den Theoretikern der Statistik L[adislaus] v. Bortkiewitsch, Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Conrads Jahrbücher, 3. Folge XVII60 Bortkiewicz, Grundlagen. (vgl. auch Bd. XVIII)61 Bortkiewicz, Entgegnung. und: Die Theorie der Bevölkerungs- und Moralstatistik nach Lexis (ebenda Bd. XXVII).62 Bortkiewicz, Theorie. Auf dem Boden der v. Kriesschen Theorie steht ferner A[lexander] Tschuprow, dessen Artikel über Moralstatistik im Brockhaus-Ephronschen Enzyklopädischen [A 189]Wörterbuch mir leider nicht zugänglich war.63 Čuprov, Nravstvennaja statistika. Weber bat am 26. Oktober 1905 Bortkiewicz, ihm einen Sonderabzug dieses Artikels zu leihen (vgl. MWG II/4, S. 574). Am 2. November 1905 antwortete er Bortkiewicz, er sehe, daß er sich die Lektüre dieses Artikels sparen könne (vgl. ebd., S. 583). Vgl. seinen Artikel über die Aufgaben der Theorie der Statistik in Schmollers Jahrbuch 1905 S. 421 f.64 Tschuprow, Aufgaben, S. 421–480. Der Kritik Th[eodor] Kistiakowskis (in dem früher angeführten Aufsatz in den „Problemen des Idealismus“ S. 378 ff.),65 Kistjakovskij, Russkaja sociologičeskja. Vgl. oben, S. 404, Fn. 15 mit Anm. 85. die freilich vorerst nur, unter Vorbehalt der näheren Ausführung, skizziert vorliegt, kann ich nicht beitreten.66 Weber teilte Bortkiewicz mit, daß er diese Kritik an Kries unzulänglich finde. Vgl. den Brief von Max Weber an Ladislaus von Bortkiewicz vom 26. Okt. 1905, MWG II/4, S. 574. Er wirft (S. 379) der Theorie zunächst die Verwendung eines falschen, auf der Millschen Logik beruhenden Ursachenbegriffes vor, speziell den Gebrauch der Kategorie der „zusammengesetzten“ und der „Teilursache“, welcher seinerseits wieder auf einer anthropomorphen Deutung der Kausalität (im Sinn des „Wirkens“) beruhe (das letztere deutet auch Radbruch a. a. O. S. 22 an).67 Vgl. Radbruch, Verursachung, S. 22. Allein der Gedanke des „Wirkens“ oder, wie man es farbloser, aber dem Sinn nach durchaus identisch, auch ausgedrückt hat: des „kausalen Bandes“,68 Vgl. Rickert, Grenzen, S. 420. Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S. 365 mit Anm. 54 und 55. ist von jeder Kausalbetrachtung, welche auf individuelle qualitative Veränderungsreihen reflektiert, durchaus unzertrennlich. Davon, daß er nicht mit unnötigen und bedenklichen metaphysischen Voraussetzungen belastet werden darf (und auch [453]nicht muß), wird später die Rede sein.69[453] Unten, S. 477 ff. (Siehe über Ursachenpluralität und Elementarursachen die Darlegungen Tschuprows a.a. O. S. 436).70 Vgl. Tschuprow, Aufgaben, S. 435 f. Hier sei nur noch bemerkt: die „Möglichkeit“ ist eine „formende“ Kategorie, d. h. sie tritt in der Art in Funktion, daß sie die Auslese der in die historische Darstellung aufzunehmenden kausalen Glieder bestimmt. Der historisch geformte Stoff enthält dagegen an „Möglichkeit“ wenigstens dem Ideal nach nichts: die geschichtliche Darstellung gelangt zwar subjektiv nur sehr selten zu Notwendigkeits-Urteilen,71 Für Kries kann der menschliche Geist aufgrund der Unvollständigkeit seines ontologischen Wissens die Notwendigkeit des Eintritts eines Ereignisses nie feststellen. Vgl. Einleitung, oben, S. 20. aber sie steht, objektiv, zweifellos stets unter der Voraussetzung: daß die „Ursachen“, welchen der Erfolg „zugerechnet“72 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 185 mit Anm. 39. wird, – wohlgemerkt natürlich: in Verbindung mit jener Unendlichkeit von „Bedingungen“, welche als wissenschaftlich, „interesselos“ in der Darstellung nur summarisch angedeutet sind – als schlechthin „zureichende Gründe“ seines Eintrittes zu gelten haben. Daher involviert die Verwendung jener Kategorie nicht im geringsten die von der Kausalitätstheorie längst überwundene Vorstellung, als ob irgend welche Glieder realer Kausalzusammenhänge bis zu ihrem Eintritte in die ursächliche Verkettung gewissermaßen „in der Schwebe“ gewesen wären. Den Gegensatz seiner Theorie gegen diejenige J[ohn] St[uart] Mills hat v. Kries selbst (a. a. O. S. 107)73 Vgl. Kries, Möglichkeit, S. 107 ff. [397 ff.]. in m. E. durchaus überzeugender Weise dargelegt. Darüber s. weiter unten.74 Unten, S. 476 f. Richtig ist nur, daß auch Mill die Kategorie der objektiven Möglichkeit erörtert und dabei gelegentlich auch (s[iehe] Werke, deutsche Ausg[abe] v[on] Gomperz, III S. 262) den Begriff der „adäquaten Verursachung“ gebildet hat.75 Vgl. Mill, System II, S. 262: „Für Jeden, der da glaubt, daß jedes Ereigniß von Ursachen abhängt, ist die Thatsache, daß etwas ein Mal geschehen ist, ein Grund es wieder zu erwarten, einfach darum, weil dies beweist, daß eine seiner Erzeugung adäquate Ursache vorhanden ist oder eventuell vorhanden sein wird.“ Daß [A 189]gerade die [453]Juristen, in erster Linie die Kriminalisten, das Problem behandelten, ist naturgemäß, da die Frage nach der strafrechtlichen Schuld, insoweit sie das Problem enthält: unter welchen Umständen man behaupten könne, daß jemand durch sein Handeln einen bestimmten äußeren Erfolg „verursacht“ habe, reine Kausalitätsfrage ist, – und zwar offenbar von der gleichen logischen Struktur, wie die historische Kausalitätsfrage. Denn ebenso wie die Geschichte sind die Probleme der praktischen sozialen Beziehungen der Menschen zueinander und insbesondere der Rechtspflege „anthropozentrisch“ orientiert, d. h. sie [A 190]fragen nach der kausalen Bedeutung menschlicher „Handlungen“. Und ebenso wie bei der Frage nach der ursächlichen Bedingtheit eines konkreten, eventuell strafrechtlich zu sühnenden oder zivilrechtlich zu ersetzenden schädigenden [454]Erfolges, richtet sich auch das Kausalitätsproblem des Historikers stets auf die Zurechnung76[454] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 185 mit Anm. 39. konkreter Erfolge zu konkreten Ursachen, nicht auf die Ergründung abstrakter „Gesetzlichkeiten“.77 Im Gefolge von Windelband und Rickert sind laut Weber für die Geschichts- und die Kulturwissenschaft Gesetze nicht Zweck, sondern Mittel der Erkenntnis. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 181, 185. Dasselbe gilt für Idealtypen. Vgl. ebd., oben, S. 206. Vgl. auch den Brief von Max Weber an Willy Hellpach vom 9. April 1905, MWG II/4, S. 454 f., hier S. 454. Von dem gemeinsamen Wege biegt die Jurisprudenz, speziell die Kriminalistik[,] zu einer ihr spezifischen Problemstellung allerdings wieder ab infolge des Hinzutretens der weiteren Frage: ob und wann die objektive, rein kausale, Zurechnung des Erfolges zu der Handlung eines Individuums auch zu deren Qualifizierung als seiner subjektiven „Schuld“ ausreichend sei. Denn diese Frage ist nicht mehr ein rein kausales, durch bloße Feststellung „objektiv“, durch Wahrnehmung und kausale Deutung, zu ermittelnder Tatsachen lösbares Problem, sondern ein solches der an ethischen und anderen Werten orientierten Kriminalpolitik.78 Vgl. oben, S. 396, Fn. 7, mit Bezug auf Windelband, Willensfreiheit, S. 203 ff. Denn es ist a priori möglich und tatsächlich häufig, heute regelmäßig, der Fall, daß der ausdrücklich ausgesprochene oder durch Interpretation zu ermittelnde Sinn der Rechtsnormen dahin geht, daß das Vorhandensein einer „Schuld“ im Sinne des betreffenden Rechtssatzes in erster Linie von gewissen subjektiven Tatbeständen auf Seite des Handelnden (Absicht, subjektiv bedingtes „Voraussehenkönnen“ des Erfolges u. dgl.) abhängen solle, und dadurch kann die Bedeutung der kategorialen Unterschiede der kausalen Verknüpfungsweise erheblich alteriert werden.32)[454][A 190] Das moderne Recht richtet sich gegen den Täter, nicht die Tat (cf. Radbruch a. a. O. S. 62)79 Radbruch, Verursachung, S. 62. und fragt nach der subjektiven „Schuld“, während die Geschichte, solange sie empirische Wissenschaft bleiben will, nach den „objektiven“ Gründen konkreter Vorgänge und nach der Folge konkreter „Taten“ fragt, nicht aber über den „Täter“ zu Gericht sitzen will. Die Kritik Radbruchs gegen v. Kries fußt ganz mit Recht auf jenem grundlegenden Prinzip des modernen – nicht jeden – Rechts. Daher gesteht er aber selbst in den Fällen der sogen. Erfolgsdelikte (S. 65), der Haftung wegen „abstrakter Einwirkungsmöglichkeit“ (S. 71), der Haftung für Gewinnausfälle, und der Haftung von „Zurechnungsunfähigen“, d. h. überall da, wo lediglich die „objektive“ Kausalität in Frage kommt (S. 80), die Geltung der Kriesschen Lehre zu. In gleicher logischer Lage mit jenen Fällen befindet sich aber eben die Geschichte. Allein auf den ersten Stadien der [455]Erörterung hat dieser Unterschied des Untersuchungszwecks noch keine Bedeutung. Wir fragen zunächst, durchaus gemeinsam mit der juristischen Theorie: wie ist eine Zurechnung eines konkreten „Erfolges“ zu einer einzelnen „Ursache“ überhaupt prinzipiell möglich und vollziehbar angesichts dessen, daß in Wahrheit stets eine Unendlichkeit von ursächlichen Momenten80[455] Vgl. oben, S. 448 mit Anm. 43. das Zustandekommen des einzelnen „Vorgangs“ bedingt hatk[455]A: haben, und daß für das Zustandekommen des Erfolges in seiner konkreten Gestalt ja [A 191]schlechthin alle jene einzelnen ursächlichen Momente unentbehrlich waren?81 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 184 mit Anm. 34.

Die Möglichkeit einer Auslese unter der Unendlichkeit derlA: des Determinanten ist nun zunächst durch die Art unseres historischen Interesses82 Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 256 mit Anm. 57. bedingt. Wenn man sagt, daß die Geschichte die konkrete Wirklichkeit eines „Ereignisses“ in seiner Individualität kausal zu verstehen habe, so ist damit, wie wir schon sahen,83 Oben, S. 405 ff. selbstverständlich nicht gemeint, daß sie dasselbe in der Gesamtheit seiner individuellen Qualitäten unverkürzt zu „reproduzieren“ und kausal zu erklären habe: das wäre eine nicht nur faktisch unmögliche, sondern prinzipiell sinnlose Aufgabe. Sondern es kommt der Geschichte ausschließlich auf die kausale Erklärung derjenigen „Bestandteile“ und „Seiten“ des betreffenden Ereignisses an, welche unter bestimmten Gesichtspunkten von „allgemeiner Bedeutung“ und deshalb von historischem InteressemA: Intesesse sind, genau ebenso, wie für die Erwägungen des Richters nicht der gesamte individuelle Ablauf des Geschehnisses, sondern die für die Subsumtion unter die Normen wesentlichen Bestandteile desselben allein in Betracht kommen. Ihn interessiert, – ganz abgesehen von der Unendlichkeit „absolut“ trivialer Einzelheiten – nicht einmal alles, was für andere naturwissenschaftliche, historische, künstlerische Betrachtungsweisen von Interesse sein kann: nicht, ob der tödliche Stich den Tod unter Nebenerscheinungen „herbeiführte“, die für den Physiologen recht interessant sein mögen, nicht[,] ob die Pose des Toten oder des Mörders ein geeigneter Gegenstand künstleri[456]scher Darstellung hätte sein können, nicht, ob etwa der Tod einem unbeteiligten „Hintermann“ in der Beamtenhierarchie zum „Aufrücken“ half, also, von dessen Standpunkt aus, kausal „wertvoll“ wurde, oder aber etwa Anlaß zu bestimmten sicherheitspolizeilichen Anordnungen wurde, vielleicht gar internationale Konflikte schuf und sich so „historisch“ bedeutsam zeigte.84[456] Vgl. Kries, Möglichkeit, S. 24 [190 f.]: „Gegenstand unserer Fragestellung ist also nicht der factisch eingetretene Erfolg in seiner vollen concreten Bestimmtheit, wie wir ihn aus dem factischen Laufe der Ereignisse durch blosse Aussonderung eines Theiles abgrenzen könnten, sondern eine verallgemeinerte Vorstellung, welche wir uns aus diesem bilden. Wir fragen, ob ein Moment für Jemandes Tod causal gewesen sei, und wünschen zu wissen, ob ohne dasselbe der Betreffende gleichfalls gestorben wäre, nicht aber, ob er in genau derselben Körperhaltung, an genau derselben Stelle des Zimmers gestorben wäre, nicht, mit einem Worte, ob der Vorgang des Sterbens sich in genau derselben Weise, wie es factisch der Fall war, abgespielt haben würde.“ Das für ihn allein Relevante ist: ob die Kausalkette zwischen Stich und Tod derart gestaltet und der subjektive Habitus des Täters und sein Verhältnis zur Tat ein solches war, daß eine bestimmte strafrechtliche Norm anwendbar wird. Den Historiker andererseits interessieren z. B. am Tode Caesars weder die kriminalistischen noch die medizinischen Probleme, die der „Fall“ dargeboten haben könnte, noch die Einzelheiten des Hergangs – soweit sie nicht etwa entweder für die „Charakteristik“ Caesars, oder für die „Charakteristik“ der Parteilage in Rom – also als „Erkenntnismittel“ – oder endlich für den „politischen Effekt“ seines Todes – also als „Realursache“ ‒ von Erheblichkeit sind.85Zur Unterscheidung von Erkenntnisgrund und Realgrund vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 53 mit Anm. 63. Sondern ihn beschäftigt daran zunächst allein der Umstand, daß der Tod gerade damals[,] unter einer konkreten politischen Konstellation, eintrat[,] und er erörtert die daran anknüpfende Frage, ob dieser Umstand etwa bestimmte für den Ablauf der „Weltgeschichte“ erhebliche „Folgen“ gehabt hat.

[A 192]Wie für die juristische, so ergibt sich auch für die historische Zurechnungsfrage dadurch die Ausscheidung einer Unendlichkeit von Bestandteilen des wirklichen Herganges als „kausal irrelevant“, denn ein einzelner Umstand ist, wie wir sehen, nicht nur dann unerheblich, wenn er mit dem zur Erörterung stehenden Ereignis in gar keiner Beziehung stand, dergestalt, daß wir ihn wegdenken können, ohne daß irgendeine Änderung des tatsächlichen Verlaufes eingetreten „wäre“, sondern schon dann, wenn die in [457]concreto wesentlichenn[457]A: wesentliche und allein interessierendenoA: interessierende Bestandteile jenes Verlaufes durch ihn nicht mitverursacht erscheinen.

Unsere eigentliche Frage ist ja nun aber: durch welche logischenpA: logische Operationen gewinnen wir die Einsicht und vermögen wir sie demonstrierend zu begründen, daß eine solche Kausalbeziehung zwischen jenen „wesentlichen“ Bestandteilen des Erfolges und bestimmten Bestandteilen aus der Unendlichkeit determinierender Momente vorliegt. Offenbar nicht durch einfache „Beobachtung“86[457] Weber folgt hier Kries, Möglichkeit, S. 22 [197]. des Herganges, – dann jedenfalls nicht, wenn man darunter ein „voraussetzungsloses“,87 Zur „Voraussetzungslosigkeit“ vgl. auch Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 100 mit Anm. 67. geistiges „Photographieren“ aller in dem fraglichen Raum- und Zeitabschnitt vorgefallenen physischen und psychischen Hergänge versteht – selbst wenn ein solches möglich wäre. Sondern die kausale Zurechnung vollzieht sich in Gestalt eines Gedankenprozesses, welcher eine Serie von Abstraktionen enthält.88 Vgl. Einleitung, oben, S. 16 f. Die erste und entscheidende ist nun eben die, daß wir von den tatsächlichen kausalen Komponenten des Verlaufs eine oder einige in bestimmter Richtung abgeändert denken und uns fragen, ob unter den dergestalt abgeänderten Bedingungen des Hergangs der (in den „wesentlichen“ Punkten) gleiche Erfolg oder welcher andere „zu erwarten gewesen“ wäre.89 Kries, Möglichkeit, S. 23 [198] unterscheidet, ob es sich bei der jeweiligen Bedingung um einen „realen Gegenstand“ oder um ein „Verhalten“ handelt. Einen Gegenstand kann man „einfach fortdenken“; ein Verhalten muß „abgeändert gedacht werden“: „an Stelle der Bedingungen X, welche thatsächlich vorhanden waren, sollen die Bedingungen X‘ gedacht werden, welche sich aus jenen durch eine bestimmte Modification ergeben würden. […] Gegenstand der Frage ist nun hier fast immer, ob die in der besagten Weise modificirten Bedingungen den Erfolg ebenfalls herbeigeführt haben würden oder nicht. […] Wir werden das Moment ein für den Erfolg causales nennen, wenn sich behaupten lässt, dass der Erfolg ,ohne dasselbe‘, wie wir kurz zu sagen pflegen, d. h. bei der betreffenden Variirung der Bedingungen nicht eingetreten wäre.“ Nehmen wir ein Beispiel aus Eduard Meyers eigener Praxis. Niemand hat so plastisch und klar wie er die welthistorische „Tragweite“ der Perserkriege für die abendländische Kulturentwicklung klargelegt.90 Vgl. Meyer, Geschichte III, S. 237 ff. Wie aber geschieht dies, logisch betrachtet? Im wesentlichen, indem [458]entwickelt wird, daß zwischen den beiden „Möglichkeiten“: Entfaltung einer theokratisch-religiösen Kultur, deren Ansätze in den Mysterien und Orakeln vorlagen, unter der Ägide des persischen Protektorats, welches möglichst überall, so bei den Juden, die nationale Religion als Herrschaftsmittel nutzte, auf der einen Seite, und dem Siege der diesseitig gewendeten, freien hellenischen Geisteswelt, welche uns jene Kulturwerte schenkte, vonq[458]A: an denen wir noch heute zehren, die „Entscheidung“ fiel durch ein Gefecht von den winzigen Dimensionen der „Schlacht“ bei Marathon,91[458] Zur Schlacht bei Marathon (490 v. Chr.) vgl. ebd., S. 295 ff. welche ja die unerläßliche „Vorbedingung“ der Entstehung der attischen Flotte und also des weiteren Verlaufes des Freiheitskampfes, der Rettung der Selbständigkeit der hellenischen Kultur, der positiven Anregung zu dem Beginn der spezifisch abendländischen Historiographie, der Vollentwicklung des Dramas und all jenes einzigartigen Geisteslebens darstellte, welches auf dieser – rein quantitativ gemessen – Duodezbühne der Weltgeschichte sich abspielte.

[A 193]Und daß jene Schlacht die „Entscheidung“ zwischen jenen „Möglichkeiten“ brachte oder doch sehr wesentlich beeinflußte, ist offenbar der schlechthin einzige Grund, weshalb unser – die wir keine Athener sind – historisches Interesse überhaupt an ihr haftet. Ohne Abschätzung jener „Möglichkeiten“ und der unersetzlichen Kulturwerte, welche für unsere rückschauende Betrachtung an jener Entscheidung „hingen“, wäre eine Feststellung ihrer „Bedeutung“ unmöglich[,] und es wäre dann in der Tat nicht abzusehen, weshalb wir nicht sie mit einer Prügelei zwischen zwei Kaffern- oder Indianerstämmen gleichwerten und also mit den stumpfsinnigen „Grundgedanken“ der Helmoltschen „Weltgeschichte“ wirklich und gründlicher Ernst machen sollten, als es in diesem „modernen“ Sammelwerk33)[458][A 193] Selbstredend gilt dies Urteil nicht den einzelnen in diesem Werk92 Die von Hans F. Helmolt herausgegebene „Weltgeschichte“ erschien in 1. Auflage in neun Bänden (1899–1907) und erlebte zahlreiche Auflagen. enthaltenen Aufsätzen, unter denen sich vortreffliche, aber dann auch in der „Methode“ durchaus „altmodische“ Leistungen finden. Der Gedanke einer Art von „sozialpolitischer“ Gerechtigkeit aber, der die so schnöde vernachlässigten Indianer- und Kaffernstämme in der Geschichte gern – endlich, endlich! – doch mindestens ebenso wichtig nehmen [459]möchte, wie etwa die Athener, und der, um diese Gerechtigkeit auch recht deutlich zu markieren, zu einer geographischen Stoffanordnung greift, ist eben kindlich.96 Tatsächlich hat Helmolt, Weltgeschichte, S. 15, sein Konzept nicht „sozialpolitisch“, sondern methodologisch begründet: „In der Kette der gegenseitigen Beeinflussungen darf keine Lücke sein. […] Völker haben auf Nachbarn Wirkungen ausgestrahlt, von der oberflächliche Betrachtung nichts ahnt. […] Daß man von Südseeinsulanern und Negern bisher nicht viel hat wissen wollen, ist begreiflich, weil die Rollen, die diese im Drama der Menschheit gespielt haben, nicht gerade die glänzendsten gewesen sind; nicht zu entschuldigen aber ist das Verfahren, Indien, ja sämtliche Völker Ostasiens von dem Plan einer wirklichen Weltgeschichte auszuschließen und die Entwickelung Amerikas kurzer Hand unter Kennworten wie ,Entdeckungsgeschichte’, ,Unabhängigkeitskrieg’ unterzubringen. Das sind Verlegenheitsauskünfte, die mangelhaften Kenntnissen oder beschränktem Blick ihr Dasein verdanken“. geschehen ist. Wenn also moderne [459]Historiker,93[459] Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 74, Fn. 57; oben, S. 401 mit Anm. 74. sobald sie durch eine Sache genötigt werden, die „Bedeutung“ eines konkreten Ereignisses durch ausdrückliche Überlegung und Darlegung der „Möglichkeiten“ der Entwicklung zu umgrenzen, sich wegen ihrer Verwendung dieser scheinbar antideterministischen Kategorie zu entschuldigen pflegen, so ist das logisch ganz unbegründet. Wenn z. B. K[arl] Hampe in seinem „Conradin“ nach einer sehr lehrreichen Darlegung der historischen „Bedeutung“ der Schlacht bei Tagliacozzor[459]A: Togliacozzo,94 Niederlage Konradins von Hohenstaufen im Kampf gegen Karl von Anjou um das Königreich Sizilien am 23. August 1268. an der Hand der Erwägung der verschiedenen „Möglichkeiten“, zwischen welchen ihr rein „zufälliger“, d. h. durch ganz individuelle taktische Vorgänge bestimmter, Ausgang „entschied“, plötzlich einlenkend beifügt: „Aber die Geschichte kennt keine Möglichkeiten“,95 Hampe, Konradin, S. 327: „Freilich, die Geschichte kennt kein ,wenn‘.“ – so ist darauf zu antworten: Das, unter deterministischen Axiomen „objektiviert“ gedachte, „Geschehen“ „kennt“ sie nicht, weil es eben überhaupt keine Begriffe „kennt“, – die „Geschichte“ kennt sie immer, vorausgesetzt, daß sie Wissenschaft sein will. In jeder Zeile jeder historischen Darstellung, ja in jeder Auswahl von Archivalien und Urkunden zur Publikation, stecken „Möglichkeitsurteile“ oder richtiger: müssen sie stecken, wenn die Publikation „Erkenntniswert“ haben soll.

[460]Was heißt es denn nun aber, wenn wir von mehreren „Möglichkeiten“ sprechen, zwischen denen jene Kämpfe „entschieden“ haben sollen? Es bedeutet zunächst jedenfalls die Schaffung von ‒ sagen wir ruhig: – Phantasiebildern97[460] Zu „Phantasie“ vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 186 mit Anm. 44; und bzgl. der von Weber als Gedankenbilder bzw. Idealbilder bezeichneten Idealtypen vgl. ebd., oben, S. 205 und 208. durch Absehen von einem oder mehreren der in der Realität faktisch vorhanden gewesenen Bestandteile der „Wirk[A 194]lichkeit“ und durch die denkende Konstruktion eines in bezug auf eine oder einige „Bedingungen“ abgeänderten Herganges. Schon der erste Schritt zum historischen Urteil ist also – darauf liegt hier der Nachdruck – ein Abstraktionsprozeß, der durch Analyse und gedankliche Isolierung der Bestandteile des unmittelbar Gegebenen, – welches eben als ein Komplex möglicher ursächlicher Beziehungen angesehen wird, – verläuft und in eine Synthese des „wirklichen“ ursächlichen Zusammenhanges ausmünden soll.98 Weber beschreibt hier die analytisch-synthetische Methode. Vgl. Einleitung, oben, S. 15 ff. Schon dieser erste Schritt verwandelt mithin die gegebene „Wirklichkeit“, um sie zur historischen „Tatsache“ zu machen, in ein Gedankengebilde:99 Zum Zusammenhang von objektiver Möglichkeit und dem Idealtypus als Gedankengebilde vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 205 und 208. in der „Tatsache“ steckt eben, mit Goethe zu reden, „Theorie“.1 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang, Schriften zur Naturwissenschaft. Erster Teil, in: ders., Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 40 Bänden, Band 39, hg. von Eduard von der Hellen. – Stuttgart und Berlin: J. G. Cotta Nachf. o. J., S. 72: „Das Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.“ Zitiert als Motto des ersten Kapitels („Die begriffliche Erkenntniss der Körperwelt“) in Rickert, Grenzen, S. 31.

Betrachtet man nun aber diese „Möglichkeitsurteile“ – d. h. die Aussagen über das, was bei Ausschaltung oder Abänderung gewisser Bedingungen geworden „wäre“ – noch etwas genauer und fragt zunächst danach: wie wir denn eigentlich zu ihnen gelangen? – so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß es sich durchweg um Isolationen und Generalisationen handelt,2 Gemeint sind isolierende und generalisierende Abstraktionen. Vgl. Einleitung, oben, S. 16 f. d. h. daß wir das „Gegebene“ so weit in „Bestandteile“ zerlegen, bis jeder von diesen in eine „Regel der Erfahrung“ eingefügt und also festgestellt werden [461]kann, welcher Erfolg von jedem einzelnen von ihnen, bei Vorhandensein der anderen als „Bedingungen“, nach einer Erfahrungsregel zu „erwarten“ gewesen „wäre“. Ein „Möglichkeits“urteil in dem Sinne, in welchem der Ausdruck hier gebraucht ist, bedeutet also stets die Bezugnahme auf Erfahrungsregeln. Die Kategorie der „Möglichkeit“ kommt also nicht in ihrer negativen Gestalt zur Verwendung, in dem Sinne also, daß sie ein Ausdruck unseres Nicht- resp. Nichtvollständig-Wissens im Gegensatz zum assertorischen oder apodiktischen Urteil ist,3[461] Sigwart, Logik I (wie oben, S. 5, Anm. 30), S. 230, zufolge meint das „assertorische Urtheil“ die „Behauptung A ist B“, während das „apodiktische“ meint, „es ist nothwendig zu behaupten, dass A B ist“. sondern gerade umgekehrt bedeutet sie hier die Bezugnahme auf ein positives Wissen von „Regeln des Geschehens“, auf unser „nomologisches“ Wissen, wie man zu sagen pflegt.4 Zur Unterscheidung von nomologischem und ontologischem Wissen vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 186 mit Anm. 41. Tatsächlich kommt die Kategorie der objektiven Möglichkeit ebenso wie die der Wahrscheinlichkeit durchaus auch in ihrer negativen Gestalt zur Verwendung, denn sie ist für Kries, Möglichkeit, S. 13 [189], stets Ausdruck der „Unkenntniss“ der „individuellen“ oder „ontologischen Verhältnisse des Einzelfalls“. Vgl. in diesem Sinne auch Kries, Principien, S. 86 f., und Windelband, Zufall, S. 30 f.

Wenn auf die Frage, ob ein bestimmter Eisenbahnzug eine Station bereits passiert habe, geantwortet wird: „es ist möglich“, so bedeutet diese Aussage die Feststellung, daß der Betreffende subjektiv keine Tatsache kenne, welche diese Annahme ausschließe, aber auch ihre Richtigkeit zu behaupten nicht in der Lage sei: „Nichtwissen“ also. Wenn aber Eduard Meyer urteilt, daß eine theokratisch-religiöse Entwicklung in Hellas zur Zeit der Schlacht bei Marathon „möglich“ oder unter gewissen Eventualitäten „wahrscheinlich“ gewesen sei,5 Vgl. Meyer, Geschichte III, S. 420. Vgl. auch ebd., S. 237 ff., 295 ff., 418 ff. so bedeutet dies dagegen die Behauptung, daß gewisse Bestandteile des historisch Gegebenen objektiv vorgelegen haben, und das heißt: objektiv gültig feststellbar seien, welche, wenn wir die Schlacht bei Marathon (und, natürlich, noch eine erhebliche Anzahl anderer Bestandteile des faktischen Verlaufs) wegdenken oder anders ablaufend denken, nach allgemeinen Erfahrungsregeln eine solche Entwicklung herbeizuführen positiv „geeignet“ waren, wie wir in Anlehnung an eine in der [A 195]Kriminalistik gebräuchliche Wendung vorerst einmal sagen [462]wollen.6[462] Vgl. Kries, Möglichkeit, S. 25 [200 f.]: „Wo es festgestellt ist, dass ein Moment für einen Erfolg causal war, da unterscheidet man doch noch, ob der Zusammenhang desselben mit dem Erfolge ein zu verallgemeinernder oder nur eine Eigenthümlichkeit des vorliegenden Falles ist, ob das Moment, wie man wohl zu sagen pflegt, allgemein geeignet ist, eine Tendenz besitzt, einen Erfolg solcher Art hervorzubringen, oder ob es nur in zufälliger Weise die Veranlassung desselben geworden ist.“ Kries, ebd., S. 26 f. [202], verwendet „geeignet“ und „begünstigend“ synonym. Vgl. unten, S. 472 f. Auf wen in der Kriminalistik Weber verweist, ist nicht belegt, möglicherweise auf Glaser, Julius, Beiträge zur Lehre vom Beweis im Strafprozess. – Leipzig: Duncker & Humblot 1883, S. 6, 47. Das „Wissen“, auf welches ein solches Urteil zur Begründung der „Bedeutung“ der Schlacht bei Marathon sich stützt, ist nach allem bisher Ausgeführten einerseits Wissen von bestimmten quellenmäßig erweislichen zur „historischen Situation“ gehörigen „Tatsachen“ („ontologisches“ Wissen),7 Vgl. Einleitung, oben, S. 19 f. andererseits – wie wir schon sahen8 Oben, S. 461 mit Anm. 4. – Wissen von bestimmten bekannten Erfahrungsregeln, insbesondere über die Art, wie Menschen auf gegebene Situationen zu reagieren pflegen („nomologisches Wissen“). Die Art der „Geltung“ dieser „Erfahrungsregeln“ werden wir später betrachten.9 Unten, S. 469 ff. Jedenfalls steht fest: Um seine für die „Bedeutung“ der Schlacht bei Marathon entscheidende These zu erweisen, müßte E[duard] M[eyer], im Falle ihrer Bestreitung, jene „Situation“ so weit in ihre „Bestandteile“ zergliedern,10 Im Sinne von Analyse. Vgl. Einleitung, oben, S. 16. daß unsere „Phantasie“ auf dieses „ontologische“ Wissens[462]A: Wissen, unser aus der eigenen Lebenspraxis und der Kenntnis von dem Verhalten anderer geschöpftes „nomologisches“ Erfahrungswissen anwendentZu erwarten wäre: anwenden könnte und wir alsdann positiv urteilen könnten, daß das Zusammenwirken jener Tatsachen – unter den in bestimmter Art abgeändert gedachten Bedingungen – den als „objektiv möglich“ behaupteten Erfolg herbeiführen „konnte“, d. h. aber nur: daß, wenn wir ihn uns als faktisch eingetreten „denken“, wir die in jener Art abgeändert gedachten Tatsachen als „zureichende Ursachen“ anerkennen würden.

Die im Interesse der Unzweideutigkeit notgedrungen etwas umständliche Formulierung dieses einfachen Sachverhaltes zeigt, daß sich die Formulierung des historischen Kausalzusammenhan[463]ges nicht nur der Abstraktion in ihren beiden Wendungen: Isolierung und Generalisierung,11[463] Vgl. ebd., S. 16 f. bedient, sondern daß das einfachste historische Urteil über die geschichtliche „Bedeutung“ einer konkreten „Tatsache“, weit entfernt, eine einfache Registrierung des „Vorgefundenen“ zu sein, vielmehr nicht nur ein kategorial geformtesu[463]A: kategorialgeformtes Gedankengebilde darstellt, sondern auch sachlich nur dadurch Gültigkeit empfängt, daß wir zu der „gegebenen“ Wirklichkeit den ganzen Schatz unseres „nomologischen“ Erfahrungswissens hinzubringen.

Der Historiker wird gegenüber dem Gesagten nun geltend machen,34)[463][A 195] Ausführliches über das im folgenden Gesagte s. meine Ausführungen in Schmollers Jahrbuch, Januarheft 1906.14 Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S. 328–379. daß der faktische Hergang der historischen Arbeit und der faktische Gehalt der historischen Darstellung ein anderer sei. Der „Takt“12 Eine im 19. Jahrhundert verbreitete Bezeichnung nicht nur des Sinns für das Schickliche, sondern auch des Sinns für das Wesentliche. Für Gervinus, Historik, S. 383, 385, wählt der Geschichtsschreiber mit „sicherem historischen Takte“ aus der „Fülle der Thatsachen“ das aus, was zur Darstellung einer „Idee“ als „wichtig“ erscheint. In Helmholtz, Verhältniss (wie oben, S. 247, Anm. 23), S. 171 f., 175, ist vom „psychologischen Tacte“ die Rede, der auch „künstlerischer Tact“ genannt und mit einer nicht „logischen“, sondern „künstlerische[n] Induction“ in Zusammenhang gebracht wird, die für die „Geisteswissenschaften“ typisch sei. Für Windelband, Geschichte, S. 23, haben Historiker „durch natürliche Menschenkenntniss, durch Takt und geniale Intuition gerade genug gewusst, um ihre Helden und deren Handlungen zu verstehen“. Für Rickert, Grenzen, S. 385, ist es „Sache des Taktes und des Geschmackes, wie weit man im Interesse der Anschaulichkeit über die teleologisch nothwendigen Bestandtheile hinausgehen und Details berücksichtigen will, die eine Beziehung zu den leitenden Werthen nicht besitzen“. Sombart, Moderner Kapitalismus I (wie oben, S. 14, Anm. 94), S. XXIII, meint, daß der „intellektuelle Takt ein so notwendiges Requisit für den Theoretiker ist, wie etwa das feine Gehör für den Musiker“. oder die „Intuition“13 Vgl. Windelband, Geschichte, S. 23. Zu „Intuition“ bei Croce vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S. 332 mit Anm. 15. Hellpach, Wissenschaftslehre, S. 177 f., spricht von der „Intuition, die dem Chemiker eine Synthese, dem Geometer eine Konstruktion schenkt“, aber nicht „in die Methoden der Chemie oder Geometrie eingeht“. des Historikers, nicht aber Generalisationen und Besinnung auf „Regeln“ seien es, welche die Kausalzusammenhänge erschlössen: der Unterschied gegen die naturwissenschaftliche Arbeit bestehe ja gerade darin, daß der [464]Historiker es mit der Erklärung von Vorgängen und Persönlichkeiten zu tun habe, welche unmittelbar nach Analogie unseres eigenen geistigen Wesens „gedeutet“ und „verstanden“ würden; und in der Dar[A 196]stellung des Historikers vollends komme es wiederum auf den „Takt“ an, auf die suggerierende Anschaulichkeit seines Berichts, welcher den Leser das Dargestellte „nacherleben“ lasse, ähnlich wie es die Intuition des Historikers selbst erlebt und erschaut, nicht aber räsonierend erklügelt habe. Überdies aber sei jenes objektive Möglichkeitsurteil über das, was nach allgemeinen Regeln der Erfahrung geschehen „wäre“, wenn eine kausale Einzelkomponente ausgeschaltet oder abgeändert gedacht wird, sehr oft höchst unsicher und oft genug überhaupt nicht zu gewinnen, so daß diese Unterlage der historischen „Zurechnung“ faktisch permanent dem Versagen ausgesetzt sei, also unmöglich für den logischen Wert der historischen Erkenntnis konstitutiv sein könne. – In solchen Argumentationen ist nun zunächst verschiedenerlei verwechselt, nämlich der psychologische Hergang der Entstehung einer wissenschaftlichen Erkenntnis und die im Interesse der „psychologischen“ Beeinflussung des Lesers gewählte „künstlerische“ Form der Darbietung des Erkannten auf der einen Seite mit der logischen Struktur der Erkenntnis auf der anderen.

Ranke „erriet“15[464] Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 317 mit Anm. 82. die Vergangenheit, und auch um die Fortschritte des Erkennens eines Historikers minderen Ranges ist es übel bestellt, wenn er über diese Gabe der „Intuition“ gar nicht verfügt: dann bleibt er eine Art historischer Subalternbeamter. ‒ Aber mit den wirklich großen Erkenntnissen der Mathematik und Naturwissenschaft steht es absolut nicht anders: sie alle blitzen16 Eine seit der Romantik auch in den Wissenschaften verbreitete Metapher. Vgl. z. B. Helmholtz, Hermann von, Goethe’s Vorahnungen kommender naturwissenschaftlicher Ideen. Rede, gehalten in der Generalversammlung der Goethe-Gesellschaft zu Weimar 1892, in: ders., Vorträge und Reden, Band 2, 5. Aufl. – Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn 1903, S. 336–361, hier S. 344. als Hypothese „intuitiv“ in der Phantasie auf und werden alsdann an der Tatsache „verifiziert“, d. h. unter Verwertung des bereits gewonnenen Erfahrungswissens auf ihre „Gültigkeit“ untersucht und logisch korrekt „formuliert“. Ganz ebenso in der Geschichte: wenn hier die Gebundenheit der Erkenntnis des „Wesentlichen“ an die Verwendung des Begriffes der objektiven Möglichkeit [465]behauptet wurde, so sollte damit nichts über die psychologisch interessante, aber uns hier nicht beschäftigende Frage: wie eine historische Hypothese im Geist des Forschers entsteht, ausgesagt werden, sondern über die Frage, in welcher logischen Kategorie sie im Zweifels- und Bestreitungsfalle als gültig zu demonstrieren sei, denn das bestimmt ihre logische „Struktur“. Und wenn in der Form seiner Darstellung der Historiker das logische Resultat seiner historischen Kausalurteile dem Leser ohne Vorrechnung der Erkenntnisgründe mitteilt, ihm den Hergang „suggeriert“ statt pedantisch zu „räsonieren“, so wäre seine Darstellung doch ein historischer Roman und keine wissenschaftliche Feststellung, wenn das feste Skelett der kausalen Zurechnung hinter der künstlerisch geformten Außenseite fehlte. Auf dieses Skelett kommt es der trockenen Betrachtungsweise der Logik nun einmal allein an, denn auch die historische Darstellung beansprucht „Geltung“ als „Wahrheit“[,] und diese Geltung erlangt diejenige wichtigste Seite ihrer Arbeit, die wir bisher allein betrachteten, der kausale Regressus,17[465] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 164 mit Anm. 65. eben lediglich, wenn er im Bestreitungsfalle die [A 197]Probe jener Isolation und Generalisation der kausalen Einzelkomponenten unter Benutzung der Kategorie der objektiven Möglichkeit und der so ermöglichten zurechnenden Synthese18 Zur analytisch-synthetischen Methode vgl. Einleitung, oben, S. 15 ff. bestanden hat.

Es ist nun aber klar, daß ganz in derselben Weise, wie die kausale Entwicklung der „historischen Bedeutung“ der Schlacht bei Marathon durch Isolierung, Generalisierung und Konstruktion von Möglichkeitsurteilen auch die kausale Analyse persönlichen Handelns logisch vor sich geht. Nehmen wir gleich einen Grenzfall: die denkende Analyse des eigenen Handelns, von welcher das logisch ungeschulte Empfinden zu glauben geneigt ist, daß sie doch sicherlich keinerlei „logische“ Probleme darbiete, da sie ja unmittelbar im Erlebnis gegeben und – geistige „Gesundheit“ vorausgesetzt – ohne weiteres „verständlich“, daher natürlich auch alsbald in der Erinnerung „nachbildbar“19 Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 281, Fn. 25. sei. Sehr einfache Erwägungen zeigen, daß dem eben doch nicht so ist, daß die „gültige“ Antwort auf die Frage: weshalb habe ich so gehandelt? ein kategorial geformtes, nur unter Verwendung von Abstraktionen in die Sphäre des [466]demonstrierbaren Urteils zu erhebendes, Gebilde darstellt, – trotzdem hier ja die „Demonstration“ vor dem eigenen Forum des „Handelnden“ geführt wird.

Nehmen wir an, eine temperamentvolle junge Mutter wird durch gewisse Ungebärdigkeiten ihres Kleinen ennuyiert, und, als gute Deutsche, welche nicht der Theorie jener schönen Buschschen Worte huldigt: „Oberflächlich ist der Hieb, – nur des Geistes Kraft allein – dringet in die Seele ein,“20[466] Vgl. Busch, Wilhelm, Abenteuer eines Junggesellen. – München: Bassermann 1883, S. 28. – versetzte sie ihm eine gründliche Ohrfeige. Nehmen wir nun aber weiter an, sie sei immerhin soweit „von des Gedankens Blässe angekränkelt“,21 Vgl. Shakespeare, William, Hamlet, Prinz von Dänemark, in: Shakespeare’s dramatische Werke. Uebersetzt von August Wilhelm von Schlegel, ergänzt und erläutert von Ludwig Tieck. Sechster Theil. – Berlin: G. Reimer 1831, S. 77–196, hier S. 128: „So macht das Gewissen Feige aus uns allen; Der angebornen Farbe der Entschließung wird des Gedankens Blässe angekränkelt; Und Unternehmungen voll Mark und Nachdruck, Durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt. Verlieren so der Handlung Namen.“ um sich nachträglich sei es über die „pädagogische Zweckmäßigkeit“, sei es über die „Gerechtigkeit“ der Ohrfeige oder wenigstens der dabei entwickelten erheblichen „Kraftentfaltung“ einige Sekunden lang „Gedanken zu machen“, oder – noch besser – nehmen wir an, das Geheul des Kindes löse in dem pater familias, der, als Deutscher, von seinem überlegenen Verständnis aller Dinge, und so auch der Kindererziehung, überzeugt ist, das Bedürfnis aus, „ihr“ unter „teleologischen“ Gesichtspunkten Vorhaltungen zu machen; – dann wird „sie“ z. B. etwa die Erwägung anstellen und zu ihrer Entschuldigung geltend machen, daß, wenn sie in jenem Augenblick nicht, nehmen wir an: durch einen Zank mit der Köchin, „aufgeregt“ gewesen wäre, jenes Zuchtmittel entweder gar nicht oder doch „nicht so“ appliziert worden wäre[,] und dies ihm zuzugestehen geneigt sein: „er wisse ja, sie sei sonst nicht so“. Sie verweist ihn damit auf sein „Erfahrungswissen“ über ihre „konstanten Motive“,22 Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 251 mit Anm. 41. welche unter der überwiegenden Zahl aller überhaupt möglichen Konstellationen einen anderen, weniger irrationellen Effekt herbeigeführt haben würden. Sie nimmt, mit anderen Worten, für sich in Anspruch, daß jene Ohrfeige ihrerseits eine „zufällige“, nicht eine „adäquat“ verursachte Reaktion auf das Verhalten [A 198]ihres Kin[467]des gewesen sei, wie wir in Vorwegnahme der gleich zu erörternden Terminologie sagen wollen.

Schon jene eheliche Zwiesprache hat also genügt, um aus jenem „Erlebnis“ ein kategorial geformtesv[467]A: kategorialgeformtes „Objekt“ zu machen, und wenn auch die junge Frau, falls ihr ein Logiker eröffnet, sie habe eine „kausale Zurechnung“ nach Art des Historikers vollzogen, sie habe zu diesem Zweck „objektive Möglichkeitsurteile“ gefällt und sogar mit der gleich näher zu besprechenden Kategorie der „adäquaten Verursachung“23[467] Zur Unterscheidung von adäquater und zufälliger Verursachung vgl. Einleitung, oben, S. 23. operiert, sicherlich ganz ebenso erstaunt sein würde, wie jener Philister bei Molière, der zu seiner freudigen Überraschung erfährt, daß er zeitlebens „Prosa“ gesprochen habe,24 Vgl. Molière, Der bürgerliche Edelmann, in: Molière’s Lustspiele übersetzt von Wolf Grafen Baudissin, Band 3. – Leipzig: S. Hirzel 1866, S. 213–346, hier S. 247: „Jourdain: Mein’ Seel, seit länger als vierzig Jahren also spreche ich Prosa und habe nichts davon gewußt.“ – vor dem Forum der Logik ist es nun einmal nicht anders. Nie und nirgends ist eine gedankliche Erkenntnis selbst eines eigenen Erlebnisses ein wirkliches „Wiedererleben“ oder eine einfache „Photographie“ des Erlebten, stets gewinnt das „Erlebnis“, zum „Objekt“ gemacht, Perspektiven und Zusammenhänge, die im „Erleben“ eben nicht „gewußt“ werden. Das Sich-Vorstellen einer vergangenen eigenen Handlung im Nachdenken darüber verhält sich dabei in dieser Hinsicht durchaus nicht anders als das Sich-Vorstellen eines vergangenen, selbst „erlebten“ oder von anderen berichteten konkreten „Naturvorganges“. Es wird wohl nicht nötig sein, die Allgemeingültigkeit dieses Satzes an komplizierteren Beispielen weiter zu erläutern35)[467][A 198] Nur noch ein Beispiel, welches K[arl] Voßler a. a. O. S. 101 f.25 Voßler, Sprache, S. 101 f. analysiert, um die Ohnmacht der „Gesetzes“bildung zu illustrieren, sei hier kurz betrachtet. Er erwähnt gewisse Spracheigenheiten, welche innerhalb seiner Familie, „einer italienischen Sprachinsel im Meer der deutschen Rede“, von seinen Kindern ausgebildet und von den Eltern im Sprechen mit den Kindern nachgeahmt wurden und deren Entstehung auf ganz konkrete Anlässe, die in der Erinnerung völlig klar zutage liegen, zurückgehenwA: zurückgeht, – und fragt: „was will an diesen Fällen sprachlicher Entwicklung die Völkerpsychologie“ (und, dürfen wir in seinem Sinn hinzusetzen, jede „Gesetzeswissenschaft“) [468]„noch erklären“? – Der Vorgang, für sich allein betrachtet, ist in der Tat prima facie durchaus zureichend erklärt, und dennoch ist damit nicht gesagt, daß er gar kein Objekt einer weiteren Bearbeitung und Verwertung mehr darstellen könne. Zunächst könnte der Umstand, daß hier das Kausalverhältnis bestimmt feststellbar ist (denkbarerweise, denn darauf kommt es ja hier allein an)[,] als heuristisches Mittel verwendet werden, um andere Vorgänge der Sprachentwicklung daraufhin zu prüfen, ob die gleiche Kausalbeziehung bei ihnen wahrscheinlich gemacht werden kann: dies erfordert aber, logisch betrachtet, die Einfügung des konkreten Falles in eine allgemeine Regel. Voßler selbst hat denn auch (S. 102) diese Regel dahin formuliert: „die häufiger gebrauchten Formen attrahieren die selteneren“. Aber damit nicht genug. Die Kausalerklärung des vorliegenden Falls genügt, sagten wir, „prima facie“. Aber es darf nicht vergessen werden, daß jeder, auch der scheinbar „einfachste“ individuelle Kausalzusammenhang ins Unendliche hinein zergliedert und gespalten werden kann26[468] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 184 mit Anm. 34. und es nur eine Frage der Grenzen [A 199]unseres jeweiligen kausalen Interesses ist, an welchem Punkt wir Halt machen. Und im vorliegenden Fall ist an sich durchaus nicht gesagt, daß unser kausales Bedürfnis27 Vgl. ebd., oben, S. 169 mit Anm. 80. sich mit dem angegebenen „tatsächlichen“ Verlauf zufrieden geben müsse. Genaue Beobachtung würde möglicherweise z. B. lehren, daß jene „Attraktion“, welche die kindliche Sprachumbildung bedingte, und ebenso die elterliche Nachahmung dieser kindlichen Sprachschöpfungen bei verschiedenen Wortformen in sehr verschiedenem Grade stattgefunden hat[,] und es würde die Frage erhoben werden können, ob sich nicht etwas darüber aussagen lasse, warum die eine oder die andere häufiger oder seltener oder überhaupt nicht aufgetreten ist. Wir würden alsdann in unserm Kausalbedürfnis erst dann beruhigt sein, wenn die Bedingungen dieses Auftretens in der Form von Regeln formuliert wären und der konkrete Fall als eine besondere Konstellation, hervorgehend aus dem „Zusammenwirken“ solcher Regeln unter konkreten „Bedingungen“, „erklärt“ wäre. Damit hätte denn Voßler die verabscheute Gesetzesjägerei, Isolation und Generalisation,28 Vgl. oben, S. 460 mit Anm. 2. mitten in seinem traulichen Heim. Und zwar noch dazu durch eigene Schuld. Denn seine eigene allgemeine Fassung: „Analogie ist psychische Machtfrage“, zwingt doch ganz unbedingt zu der Frage, ob sich denn nun rein gar nichts Generelles über die „psychischen“ Bedingungen solcher „psychischen Machtverhältnisse“ ermitteln und aussagen lasse, und auf den ersten Blick zieht sie also – in dieser Formulierung – anscheinend gerade Voßlers Hauptfeindin: die „Psychologie[,] geradezu mit Gewalt in diese Fragen hinein. Wenn wir im konkreten Fall uns mit der einfachen Darstellung des konkreten Hergangs begnügen, so wird der Grund ein doppelter sein: einmal „daß jene Regeln“, die sich etwa durch weitere Analyse ermitteln ließen, im konkreten Fall wohl keine für die Wissenschaft neuen Einsichten bieten würden: – daß also das konkrete Ereignis als „Erkenntnismittel“ keine erhebliche Bedeutung besitzt, und ferner, daß das konkrete Ereignis selbst, weil nur im engen Kreise wirksam geworden, keine universelle Tragweite für die Sprachentwicklung gewonnen hat, daß es auch als historische „Realursache“29 Vgl. oben, S. 456 mit Anm. 85. bedeutungslos blieb. Nur die Schranke unseres Interesses also, nicht die logische Sinnwidrigkeit bedingen es, daß jener Vorgang in Voßlers Familie von der „Begriffsbildung“ vermutlich verschont bleibt. und ausdrücklich fest[A 199]zustellen, daß wir bei der Analyse eines Entschlusses Napole[468]ons oder Bismarcks logisch ganz ebenso verfahren, wie unsere deutsche Mutter im Beispiel. Der Unterschied, daß ihr die „Innen[469]seite“ der zu analysierenden Handlung in der eigenen Erinnerung gegeben ist, während wir die Handlung eines Dritten von „außen“ her „deuten“ müssen, ist, entgegen dem naiven Vorurteil, lediglich ein gradueller Unterschied in der Zugänglichkeit und Vollständigkeit des „Materials“: – wir sind eben, wenn wir die „Persönlichkeit“ eines Menschen „kompliziert“ und schwer zu deuten finden, immer wieder geneigt zu glauben, er selbst müsse doch, falls er nur aufrichtig wolle, darüber bündige Auskunft zu erteilen in der Lage sein. Daß und warum dies nicht, ja oft das gerade Gegenteil der Fall ist, ist hier nicht weiter auszuführen.

[A 200]Vielmehr wenden wir uns einer näheren Betrachtung der bisher nur in sehr allgemeiner Weise in ihrer Funktion gekennzeichneten Kategorie der „objektiven Möglichkeit“ zu, und zwar speziell der Frage nach der Modalität der „Geltung“ der „Möglichkeitsurteile“. Liegt nicht der Einwand nahe, daß die Einführung von „Möglichkeiten“ in die „Kausalbetrachtung“ den Verzicht auf kausale Erkenntnis überhaupt bedeute, daß, – trotz all dessen, was oben über die „objektive“ Unterlage des Möglichkeitsurteils gesagt wurde,30[469] Oben, S. 461 f. – faktisch, da die Feststellung des „möglichen“ Herganges stets der „Phantasie“ überlassen werden müsse, doch die Anerkennung der Bedeutung dieser Kategorie eben das Geständnis bedeute, daß subjektiver Willkür in der „Geschichtsschreibung“ Tür und Tor offen stehen und sie eben deshalb keine „Wissenschaft“ sei? In der Tat: was geworden „wäre“, wenn ein bestimmtes mitbedeutendes Moment in bestimmter Art abgeändert gedacht wird, – diese Frage ist positiv oft auch bei jener „idealen“ Vollständigkeit des Quellenmaterials31 Vgl. oben, S. 449 mit Anm. 46. durchaus nicht aus allgemeinen Erfahrungsregeln mit irgend erheblicher Wahrscheinlichkeit zu beantworten.35a)[469][A 200] Der Versuch, das[,] was geworden „wäre“[,] positiv zu konstruieren, kann, wenn er gemacht wird, zu monströsen Resultaten führen. Allein dies ist auch nicht unbedingt erforderlich. – Die Erwägung der kausalen Bedeutung eines historischen Faktums wird zunächst mit der Fragestellung beginnen: ob bei Ausschaltung desselben aus dem Komplex der als mitbedingend in Betracht gezogenen Faktoren seiner oder Abänderung in einem bestimmten Sinne, der Ablauf [470]der Geschehnisse nach allgemeinen Erfahrungsregeln eine in den für unser Interesse entscheidenden Punkten irgendwie anders gestaltete Richtung hätte einschlagen können, – denn nur darauf, wie jene uns interessierenden „Seiten“ der Erscheinung durch die einzelnen mitbedingenden Momente berührt werden, kommt es uns ja an.32[470] Vgl. oben, S. 455 ff. Ist freilich auch auf diese wesentlich negative Fragestellung ein entsprechendes „objektives Möglichkeitsurteil“ nicht zu gewinnen, war also – was dasselbe besagt – nach Lage unseres Wissens auch bei Ausschaltung oder Abänderung jenes Faktums der Ablauf in den „historisch wichtigen“, d. h. uns interessierenden, Punkten nach allgemeinen Erfahrungsregeln gerade so, wie er abgelaufen ist, „zu erwarten“, dann ist jenes Faktum eben auch in der Tat kausal bedeutungslos und gehört absolut nicht in die Kette hinein, welche der kausale Regressus der Geschichte herstellen will und soll.

Die beiden Schüsse in der Berliner Märznacht gehören nach E[duard] M[eyer] annähernd in diese Kategorie,33 Vgl. oben, S. 450 mit Anm. 49. – vollständig möglicherweise deshalb nicht, weil auch bei seiner Auffassung denkbarerweise doch wenigstens der Zeitpunkt des Ausbruches durch sie mitbedingt war, und ein späterer Zeitpunkt auch einen anderen Verlauf bedeutet haben könnte.

[A 201]Ist jedoch nach unserem Erfahrungswissen eine kausale Relevanz eines Moments mit Bezug auf die für die konkrete Betrachtung erheblichen Punkte anzunehmen, dann ist das objektive Möglichkeitsurteil, welches diese Relevanz aussagt, einer ganzen Skala von Graden der Bestimmtheit fähig. Die Ansicht E[duard] M[eyer]s, daß Bismarcks „Entschluß“ in anderem Sinn als jene beiden Schüsse den Krieg von 1866 „herbeigeführt“ habe,34 Vgl. Meyer, Theorie, S. 16. Vgl. oben, S. 393. involviert die Behauptung, daß bei Ausschaltung35 Tatsächlich kann man, weil er ein „Verhalten“ ist, diesen Entschluß nicht „einfach fortdenken“; vielmehr müßte er „in einer gewissen Hinsicht abgeändert gedacht werden“. Vgl. Kries, Möglichkeit, S. 23 [198]. dieses Entschlusses die sonst vorhandenen Determinanten uns einen „hohen Grad“ von objektiver Möglichkeit einer (in den „wesentlichen“ Punkten!) anderen Entwicklung, – etwa: Ablauf des preußisch-italienischen Vertrages, friedliche Abtretung Venetiens, Koalition Österreichs mit Frank[471]reich oder doch eine Verschiebung der politischen und militärischen Lage, welche Napoleon36[471] Gemeint ist Napoleon III. faktisch zum „Herrn der Situation“ machte, – annehmen lassen müssen. Das objektive „Möglichkeits“-Urteil läßt also seinem Wesen nach Gradabstufungen zu, und man kann sich die logische Beziehung in Anlehnung an Prinzipien, welche bei der logischen Analyse der „Wahrscheinlichkeitsrechnung“ zur Anwendung kommen,37 Kries, Principien, S. 24 ff., und ders., Möglichkeit, S. 7 [183], spricht in diesem Zusammenhang von einem Spielraum. Vgl. Einleitung, oben, S. 20 f. so vorstellen, daß man jene kausalen Komponenten, auf deren „möglichen“ Erfolg sich das Urteil bezieht, isoliert der Gesamtheit aller übrigen als mit ihnen zusammenwirkend überhaupt denkbaren Bedingungen gegenübergestellt denkt und fragt, wie sich der Umkreis aller derjenigen Bedingungen, bei deren Hinzutritt jene isoliert gedachten Komponenten den „möglichen“ Erfolg herbeizuführen „geeignet“38 Vgl. oben, S. 461 f. mit Anm. 6. waren, und denx[471]A: zu dem Umkreis aller derjenigen, bei deren Hinzutritt sie ihn „voraussichtlich“ nicht herbeigeführt hätten, zu einander verhalten. Ein in irgendeinem Sinn „zahlenmäßig“ zu schätzendes Verhältnis beider „Möglichkeiten“ gewinnt man durch diese Operation natürlich in absolut gar keiner Weise. Derartiges gibt es nur auf dem Gebiet des „absoluten Zufalls“39 Vgl. Kries, Möglichkeit, S. 11 f. [187]: „Wir nennen diejenigen Ereignisse absolut oder schlechthin zufällig, für welche sich allgemein wohl gewisse Möglichkeiten angeben lassen, deren Stattfinden oder Ausbleiben aber von den unserer Kenntniss sich durchaus entziehenden Besonderheiten des Verhaltens in jedem Einzelfalle abhängt.“ (im logischen Sinn), d. h. in Fällen, wo – wie z. B. beim Würfeln, bei der Ziehung von Kugeln verschiedener Farbe aus einer Urne, die stets die gleiche Mischung derselben enthält – bei einer sehr großen Zahl von Fällen bestimmte einfache und eindeutige Bedingungen sich absolut gleich bleiben, alle übrigen aber in einer unserer Kenntnis absolut entzogenen Weise variieren, und wo diejenige „Seite“ des Erfolges, auf die es ankommt: beim Würfeln die Zahl der Augen, beim Ziehen aus der Urne die Farbe der Kugel – in ihrer „Möglichkeit“ durch jene konstanten und eindeutigen Bedingungen (Beschaffenheit des Würfels, Verteilung der Kugeln) dergestalt bestimmt wird, daß alle sonst denkbaren Umstände gar keine in einen generellen Erfahrungssatz zu [472]bringende kausale Beziehung zu jenen „Möglichkeiten“ aufweisen. Die Art, wie ich den Würfelbecher ergreife und rüttle, ehe ich werfe, ist eine absolut determinierende Komponente für die Zahl der Augen, die ich in concreto werfe,40[472] Zu den konstanten und variablen Bedingungen beim Würfeln vgl. Kries, Principien, S. 54, 84, und Windelband, Zufall, S. 30 f. Vgl. auch Einleitung, oben, S. 21. – aber es gibt trotz alles „Knobler“-Aberglaubens keinerlei Möglichkeit, einen Erfahrungssatz auch nur zu denken, [A 202]der ausspräche, daß eine bestimmte Art, beides zu vollziehen, „geeignet sei“, das Werfen einer bestimmten Anzahl von Augen zu begünstigen: diese Kausalität also ist absolut „zufällige“ Kausalität, d. h. wir sind zu der Aussage berechtigt, daß die physische Art des Würflers die Chancen,41 Der Begriff „Chance“ ist hier im Singular zu verstehen. Dieser Begriff findet sich bereits in der Frühzeit der Wahrscheinlichkeitstheorie im Zusammenhang mit Zufallsspielen. Vgl. Moivre, Abraham de, The Doctrine of Chances: or, A Method of Calculating the Probability of Events in Play. – London: W. Pearson 1718, und Cumberland, Richard, A Philosophical Enquiry into the Laws of Nature. – Dublin: Samuel Powell 1750, S. 193 f.: „it is more natural to suppose, that six will not turn up at the first cast of a Die, than that six will; because there are five possible Chances against such a Cast, and but one Chance for it.“ Diese eine Chance meint Kries, wenn er mit dem Begriff „Chance“ die Wahrscheinlichkeit eines Ergebnisses bezeichnet, wie man sie von Zufallsspielen her kennt. Tatsächlich ist „Chance“ für Kries, Principien, S. 95 f., nicht „Wahrscheinlichkeit schlechtweg“, d. h. „Wahrscheinlichkeiten“, die „nur von individueller Bedeutung sind und durch Vermehrung der Kenntniss sich verändern können“, sondern „allgemein giltige Wahrscheinlichkeit“, weil sie wie bei Zufallsspielen für Jeden und für alle Fälle auf ein für allemal feststehenden „Grössen-Relationen ontologischer Verhaltungs-Spielräume“ beruht, wie z. B. auf der Relation 1/6 beim Wurf eines Würfels, auf der Relation 1/36 beim Wurf zweier Würfel, usw. In diesem Sinne bezeichnet Kries die „allgemein gütige Wahrscheinlichkeit“, mit der ein Ergebnis eintritt, als „Chance“ oder „objective Chance“ (ebd., S. 95 f.), und weist darauf hin, daß sie „in nahe Beziehung zu dem Begriff des Zufalls“ tritt (ebd., S. 96), eben weil ein Ergebnis dann zufällig ist, „wenn es die unserer Kenntniss entzogenen genaueren ontologischen Bestimmungen der bedingenden Umstände sind, von welchen das Stattfinden oder Ausbleiben abhängt“ (ebd., S. 99). eine bestimmte Zahl von Augen zu werfen, „generellnicht beeinflußt: bei jeder Art gelten uns die „Chancen“ für jede der sechs möglichen Würfelseiten, nach oben zu fallen, als „gleich“.42 Vgl. Einleitung, oben, S. 21. Dagegen gibt es einen generellen Erfahrungssatz, welcher aussagt, daß bei exzentrischer Lage des Würfelschwerpunktes eine „Begünstigung“43 Vgl. ebd., oben, S. 23. einer bestimmten Seite dieses „falschen“ Würfels, nach oben zu kommen, bei Hinzutritt beliebiger anderer konkreter Determinanten besteht[,] und wir können das Maß dieser „Begünstigung“, der „objektiven Möglich[473]keit“, durch hinlänglich häufige Wiederholung des Würfelns, sogar zahlenmäßig zum Ausdruck bringen. Trotz der Warnungstafel,44[473] Anspielung auf Windelband: „Nicht umsonst pflanzt die Geschichte neben den Irrtümern, von denen sie zu erzählen hat, ihre Warnungstafeln auf: ,Dies ist ein Holzweg‘“. Vgl. Windelband, Wilhelm, Geschichte der Philosophie, in: ders. (Hg.), Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer. – Heidelberg: Winter 1905, S. 175–199, hier S. 179; vgl. dazu Weber, Beitrag zur Werturteildiskussion im Ausschuß des Vereins für Sozialpolitik, MWG I/12, S. 378 mit Hg.-Anm. 45. die mit vollem Recht vor der Übertragung der Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf andere Gebiete aufgerichtet zu werden pflegt,45 Vgl. bereits Kries, Principien, S. 261 ff. ist es nun klar, daß dieser letztere Fall seine Analogien auf dem Gebiet aller konkreten Kausalität hat und so auch der historischen,46 Vgl. Einleitung, oben, S. 23 f. nur daß eben die zahlenmäßige Bestimmbarkeit, welche erstens den „absoluten Zufall“ und zweitens bestimmte zählbare „Seiten“ oder Ergebnisse als alleinigen Gegenstand des Interesses voraussetzt, hier durchweg fehlt.47 Selbst für die „Massenerscheinungen der menschlichen Gesellschaft“ kommt Kries, Principien, S. 239, zufolge „nur eine ganz allgemeine Heranziehung des Principes der Spielräume“ ohne jede „numerische Bezeichnung irgend einer bestimmten Wahrscheinlichkeit“ in Frage, denn: „Wo de facto nicht genau gleichartige, sondern nur mehr oder weniger ähnliche Dinge sich räumlich oder zeitlich wiederholen, und auch das Ausdehnungs-Verhältniss, in welchem ihr Vorhandensein und Fehlen mit einander abwechselt, kein bestimmtes, sondern ein mehr oder weniger schwankendes ist, da kann der Natur der Sache nach eine bestimmte Zahl als genauer und richtiger Wahrscheinlichkeits-Ausdruck gar nicht angegeben werden“ (ebd., S. 263). Dieses Argument findet sich bereits bei Kries’ Lehrer Helmholtz. Vgl. Helmholtz, Verhältniss (wie oben, S. 247, Anm. 23), S. 169 ff. Allein trotz dieses Fehlens können wir nicht nur sehr wohl generell gültige Urteile dahin fällen, daß durch bestimmte Situationen eine in gewissen Merkmalen gleiche Art des Reagierens seitens der ihnen gegenübergestellten Menschen in mehr oder minder hohem Grade „begünstigt“ werde, sondern wir sind, wenn wir eineny[473]A: eine solchen Satz formulieren, auch in der Lage, eine ungeheuere Masse von möglicherweise hinzutretenden Umständen als solche zu bezeichnen, durch welche jene generelle „Begünstigung“ nicht alteriert wird. Und wir können endlich den Grad der Begünstigung eines bestimmten Erfolges durch bestimmte „Bedingungen“ zwar in durchaus [474]keiner Weise eindeutig oder etwa gar nach Art einer Wahrscheinlichkeitsrechnung abschätzen, – wohl aber können wir, durch den Vergleich mit der Art, in welchem andere, abgeändert gedachtez[474]A: gedachten Bedingungen ihn „begünstigt“ haben „würden“, den relativen „Grad“ jener generellen Begünstigung einschätzen, und wenn wir diesen Vergleich in der „Phantasie“48[474] Vgl. oben, S. 460 mit Anm. 97. durch hinreichend viele denkbare Abänderungen der Konstellationen durchführen, dann ist ein immerhin erhebliches Maß von Bestimmtheit für ein Urteil über den „Grad“ der objektiven Möglichkeit wenigstens prinzipiell – und diese Frage allein beschäftigt uns hier zunächst – denkbar. Nicht nur im Alltagsleben, sondern auch und gerade in der Geschichte verwenden wir nun solche Urteile über den „Grad“ der „Begünstigung“ konstant, ja ohne sie wäre eine Scheidung von kausal „Wichtigem“ und „Unwichtigem“ einfach gar nicht möglich, und auch E[duard] Meyer hat in seiner hier besprochenen Schrift49 Meyer, Theorie. unbedenklich davon Gebrauch gemacht. [A 203]Wenn jene mehrfach erwähnten beiden Schüsse50 Oben, S. 450, 470. kausal „unwesentlich“ waren, weil „irgend ein beliebiger Zufall“ nach E[duard] M[eyer]s hier sachlich nicht zu kritisierender Ansicht „den Konflikt zum Ausbruch bringen mußte“,51 Vgl. Meyer, Theorie, S. 43. so heißt das doch, daß in der gegebenen historischen Konstellation bestimmte „Bedingungen“ gedanklich isolierbar sind, welche bei einer ganz überwältigend großen Überzahl von, als möglicherweise hinzutretend, denkbaren, weiteren Bedingungen, eben jenen Effekt herbeigeführt haben würden, während der Umkreis solcher denkbarer ursächlichen Momente, bei deren Hinzutreten ein (in den „entscheidenden“ Punkten!) anderer Erfolg uns als wahrscheinlich gelten würde, uns als ein, relativ, sehr begrenzter erscheint: daß er nach E[duard] M[eyer]s Ansicht geradezu gleich Null gewesen sei, wollen wir, trotz des Ausdrucks: „mußte“, bei seiner sonstigen starken Betonung der Irrationalität des Historischen nicht annehmen.

Solche Fälle der Beziehung bestimmter, von der geschichtlichen Betrachtung zu einer Einheit zusammengefaßter und isoliert [475]betrachteter Komplexe von „Bedingungen“ zu einem eingetretenen „Erfolg“, welche diesem letztgenannten logischen Typus entsprechen, wollen wir im Anschluß an den seit den Kriesschen Arbeiten feststehenden Sprachgebrauch der juristischen Kausalitätstheoretiker „adäquate“ Verursachung52[475] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 186 f. mit Anm. 43. (jener Bestandteile des Erfolges durch jene Bedingungen) nennen und, ganz ebenso wie dies E[duard] Meyer – der nur eben diesen Begriff nicht klar bildet – ja auch tut,53 Vgl. Meyer, Theorie, S. 16. von „zufälliger“ Verursachung da sprechen, wo für die historisch in Betracht kommenden Bestandteile des Erfolges Tatsachen wirksam wurden, die einen Erfolg herbeiführten, welcher einem zu einer Einheit zusammengefaßt gedachten Bedingungskomplex nicht in diesem Sinne „adäquat“ war.

Um also zu den früher verwendeten Beispielen zurückzukehren,54 Oben, S. 416, 458, 461 ff. Vgl. auch die „Nervi“-Notizen im Anhang, unten, S. 664. so würde die „Bedeutung“ der Schlacht bei Marathon nach Ed[uard] Meyers Ansicht nun logisch dahin zu bestimmen sein: nicht: daß ein Sieg der Perser eine bestimmte ganz andersartige Entwicklung der hellenischen und damit der Weltkultur hätte zur Folge haben müssen – ein solches Urteil wäre schlechthin unmöglich –, sondern: – daß jene andersartige Entwicklung die „adäquate“ Folge eines solchen Ereignisses gewesen „wäre“. Und jenen Ausspruch E[duard] Meyers über die Einigung Deutschlands, den v. Below beanstandet,55 Vgl. oben, S. 402, Fn. 13 mit Anm. 75 und 76. werden wir logisch korrekt ebenfalls dahin fassen: daß jene Einigung als die „adäquate“ Folge gewisser vorangegangener Ereignisse und ebenso, daß die Märzrevolution in Berlin als die adäquate Folge gewisser allgemeiner sozialer und politischer „Zustände“ aus allgemeinen Erfahrungsregeln verständlich gemacht werden kann. Wenn dagegen z. B. glaubhaft zu machen wäre, daß ohne jene beiden Schüsse vor dem Berliner Schloß eine Revolution nach allgemeinen Erfahrungsregeln mit einem entschieden überwiegenden Maß von Wahrscheinlichkeit „hätte“ vermieden werden können, weil [A 204]nachweislich die Kombination der sonstigen „Bedingungen“ ohne den Hinzutritt jener Schüsse eine solche nach allgemeinen Erfahrungsregeln nicht oder doch nicht erheblich „begünstigt“ hätten – in dem früher entwickelten Sinne [476]dieser Wendung –,56[476] Oben, S. 472 mit Anm. 43. dann würden wir von „zufälliger“ Verursachung sprechen und also die Märzrevolution in diesem, freilich schwer auszudenkenden, Fall kausal eben jenen beiden Schüssen „zurechnen“ müssen. Bei jenem Beispiel von der Einigung Deutschlands ist also als Gegensatz von „zufällig“ nicht, wie v. Below annahm, zu setzen: „notwendig“, sondern: „adäquat“ in dem vorstehend im Anschluß an v. Kries entwickelten Sinn.36)[476][A 204] Ob und welche Mittel wir haben, den „Grad“ der Adäquanz zu schätzen,a[476]A: schützen und ob und welche Rolle dabei, speziell bei der Zerlegung komplexer „Gesamtursachen“ in ihre „Komponenten“ – wofür uns ja ein „Teilungsschlüssel“ objektiv gar nicht gegeben ist –[,] die sog. „Analogien“ spielen, davon später.58 Ein entsprechender Text ist nicht überliefert; vermutlich Teil von Webers Schreibabsichten, vgl. dazu den Editorischen Bericht, oben, S. 382. Die Formulierung ist hier notgedrungen provisorisch. Und es ist streng daran festzuhalten, daß es sich bei diesem Gegensatz niemals um Unterschiede der „objektiven“ Kausalität des Ablaufs der historischen Vorgänge und ihrer Kausalbeziehungen, sondern stets lediglich darum handelt, daß wir einen Teil der im „Stoff“ des Geschehens vorgefundenen „Bedingungen“ abstrahierend isolieren und zum Gegenstande von „Möglichkeitsurteilen“ machen, um so an der Hand von Erfahrungsregeln Einsicht in die kausale „Bedeutung“ der einzelnen Bestandteile des Geschehens zu gewinnen. Um die wirklichen Kausalzusammenhänge zu durchschauen, konstruieren wir unwirkliche.

Daß es sich um Abstraktionen handelt, wird besonders häufig in einer ganz spezifischen Art und Weise verkannt, welche in bestimmten, auf Ansichten J[ohn] St[uart] Mills ruhenden Theorien einzelner juristischer Kausalitätstheoretiker ihr Analogon findet, die in der früher zitierten v. Kriesschen Arbeit ebenfalls bereits überzeugend kritisiert sind.37) Der Umfang, in welchem hier wieder, wie schon in vielen vorstehenden Ausführungen v. Kries’ Gedanken „gegliedert“ werden, ist mir fast genant, zumal die Formulierung vielfach notgedrungen an Präzision hinter der von Kries gegebenen zurückbleiben muß. Allein für den Zweck dieser Studie ist beides unvermeidlich. 57 In Kries, Möglichkeit, S. 106 ff. [396 ff.], zitiert, oben, S. 451, Fn. 29, werden Karl Binding, Maximilian von Buri, Heinrich Lammasch und Eduard Hertz genannt. Im Anschluß an Mill, welcher glaubte, daß der mathematische Wahrscheinlichkeitsquotient das Verhältnis bedeute zwischen denjenigen einen Erfolg „herbeiführenden“ und [477]den ihn „verhindernden“ Ursachen, die in dem gegebenen Zeitpunkt („objektiv“) existieren,59[477] Vgl. Kries, Möglichkeit, S. 107 [397], mit Bezug auf Mill, System II, S. 264. Mill hat die Prognose der Altersentwicklung bestimmt als Berechnung des Verhältnisses der „Ursachen, […] die das Leben […] zu verlängern und jenen, die es zu einem früheren Ende zu bringen streben“. nimmt auch Binding an, daß zwischen den „zu einem Erfolg hinstrebenden“ und den ihm „widerstrebenden“ Bedingungen ein (in einzelnen Fällen) zahlenmäßig oder doch schätzungsweise bestimmbares Verhältnis, unter Umständen einb[477]A: im „Gleichgewichtszustand“ objektiv bestehe und daß der Hergang der Verursachung der sei, daß die ersteren zum Übergewicht gelangen.38)[477] Binding, Die Normen und ihre Übertretung I S. 41 f.61 Vgl. Binding, Normen, S. 41: „Nun ist jede Veränderung in der Welt das Resultat eines siegreichen Kampfes einer Kraft über die andere, der die Gegenwart zerstörenden Elemente über die sie zu erhalten oder sie nach anderer Richtung fortzureissen bestrebten.“ v. Kries a.a. O. S. 107.62 Kries, Möglichkeit, S. 107 [397]. Es [A 205]ist wohl klar, daß hier das bei der Erwägung von menschlichen „Handlungen“ sich als unmittelbares „Erlebnis“ einstellende Phänomen des „Kampfes der Motive“60 Vgl. Nietzsche, Friedrich, Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile. – Leipzig: C. G. Naumann 1900, S. 128 f. (129. Aphorismus: „Der angebliche Kampf der Motive“). zur Basis der Kausalitätstheorie gemacht worden ist. Welche allgemeine Bedeutung man jenemcA: jenen Phänomen nun auch beilegen möge,39)[A 205] H[einrich] Gomperz (Über die Wahrscheinlichkeit der Willensentscheidungen, Wien 1904, Separatabdruck aus den Sitzungsberichten der Wiener Akademie,dA: Akademie- Phil[osophisch]-hist[orische] Kl[asse] Bd. 149)63 Gomperz, Wahrscheinlichkeit. hat dasselbe zur Grundlage einer phänomenologischen Theorie des „Entschlusses“ gemacht. Über den Wert seiner Darstellung des Herganges möchte ich mir kein Urteil erlauben. Immerhin scheint mir, auch abgesehen hiervon, daß Windelbands – für seinen Zweck absichtlich – rein begriffsanalytische Identifikation des „stärkeren“ Motives mit demjenigen, zu dessen Gunsten schließlich der Entschluß „ausschlägt“ (Über Willensfreiheit S. 36 f.),64 Vgl. Windelband, Willensfreiheit, S. 35: „Wo zwei Begierden allein im Gegensatz gegeneinander tätig sind, vorausgesetzt, daß alle Nebengedanken und Nebenmotive als ausgeschlossen gelten dürfen, da versteht es sich ganz von selbst, daß die Wahl für das stärkere Motiv ausfällt: für das stärkere allein, wenn beide sich in ihren Handlungen völlig ausschließen, für das stärkere zuerst, wenn es möglich erscheint, beide nacheinander zu befriedigen.“ nicht die einzig mögliche Art der Behandlung des Problems ist. so ist doch sicher, daß keine strenge Kausalbetrachtung, auch nicht die histo[478]rische, diesen Anthropomorphismus akzeptieren kann.40)[478] Insoweit hat Kistiakowski a. a. O. durchaus recht.67 Kistjakovskij, Russkaja sociologičeskja. Vgl. oben, S. 404, Fn. 15 mit Anm. 85, und S. 452, Fn. 31 mit Anm. 65. Nicht nurist die Vorstellung von zwei „entgegengesetzt“ wirkenden „Kräften“ ein körperlich-räumliches Bild, welches nur bei solchen Vorgängen – speziell mechanischer und physikalischer Art41) S[iehe] v. Kries a.a. O. S. 108.68 Kries, Möglichkeit, S. 108 [398]. – ohne Selbsttäuschung verwertbar ist, wo von zwei im physischen Sinne „entgegengesetzten“ Erfolgen der eine durch die eine, der andre durch die andre herbeigeführt werden würde. Sondern vor allem ist ein für allemal festzuhalten, daß ein konkreter Erfolg nicht als das Ergebnis eines Kampfes von einigen zu ihm hinstrebenden und anderen ihm entgegenstrebenden Ursachen angesehen werden kann, sondern daß die Gesamtheit aller Bedingungen, auf welche der kausale Regressus von einem „Erfolge“ aus führt, so und nicht anders „zusammenwirken“ mußte, um den konkreten Erfolg so und nicht anders zustande kommen zu lassen[,] und daß der Eintritt des Erfolges für jede kausal arbeitende empirische Wissenschaft nicht erst von einem bestimmten Moment an, sondern „von Ewigkeit her“ feststand.65[478] Im Sinne des Determinismus von Laplace, Wahrscheinlichkeiten (wie oben, S. 2, Anm. 8), S. 4, demzufolge wir „den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines früheren Zustandes und andererseits als die Ursache dessen, der folgen wird, betrachten“ müssen. Wenn also von „begünstigenden“ und „hemmenden“ Bedingungen eines gegebenen Erfolges gesprochen wird, so kann damit nicht gemeint sein, daß bestimmte Bedingungen im konkreten Fall den schließlich herbeigeführten Erfolg vergebens zu hindern versucht, andere ihn jenen zum Trotz schließlich erreicht haben, sondern jene Wendung kann ausnahmslos und immer nur dies bedeuten: daß gewisse Bestandteile der dem Erfolg zeitlich vorangehenden Wirklichkeit, isoliert gedacht, nach allgemeinen Erfahrungsregeln generell einen Erfolg der betreffenden Art zu „begünstigen“, das heißt aber, wie wir wissen: ihn in der Überzahl der als möglich gedachten Kombinationen mit anderen Bedingungen herbeizuführen pflegen, gewisse andere generell nicht diesen, sondern einen anderen. Es handelt sich um eine isolierende und [A 206]generalisierende Abstraktion,66 Vgl. Einleitung, oben, S. 16 f. nicht um Wiedergabe eines fak[479]tisch stattgehabten Ablaufs von Vorgängen, wenn wir z. B. Eduard Meyer von Fällen sprechen hören, wo (S. 27) „Alles auf einen bestimmten Erfolg hindrängt“:69[479] Vgl. Meyer, Theorie, S. 27: „dass etwa die ganze Entwickelung auf ein Ereigniss hindrängt“. gemeint ist damit doch, logisch korrekt formuliert, lediglich, daß wir kausale „Momente“ feststellen und gedanklich isolieren können, zu welchen der erwartete Erfolg als im Verhältnis der Adäquanze[479]A: Adäquenz stehend gedacht werden muß, weil relativ wenige Kombinationen jener isoliert herausgehobenen mit anderen kausalen „Momenten“ vorstellbar sind, von welchen wir nach allgemeinen Erfahrungsregeln ein anderes Ergebnis „erwarten“ würden. Wir pflegen in Fällen, wo die Sache für unsere „Auffassung“ so liegt, wie es E[duard] Meyer mit jenen Worten beschreibt, von dem Vorhandensein einer auf den betreffenden Erfolg gerichteten „Entwicklungstendenz“ zu sprechen.42)[479][A 206] Die Unschönheit des Wortes ändert an der Existenz des logischen Sachverhaltes nichts.

Dies, ebenso wie die Verwendung von Bildern wie: „Treibende Kräfte“ oder wie, umgekehrt: „Hemmungen“ einer Entwicklung, – z. B. des „Kapitalismus“, – nicht minder aber die Wendung, daß eine bestimmte „Regel“ des ursächlichen Zusammenhanges in einem konkreten Fall „aufgehoben“ sei durch bestimmte ursächliche Verkettungen oder (noch ungenauer) ein „Gesetz“ durch ein anderes „Gesetz“, – alle solche Bezeichnungen sind dann unbedenklich, wenn man sich ihres gedanklichen Charakters bewußt bleibt, wenn man also im Auge behält, daß sie auf der Abstraktion von gewissen Bestandteilen der realen ursächlichen Verkettung, auf der gedanklichen Generalisation der übrigen in Form objektiver Möglichkeitsurteile und auf der Verwendung dieser zur Formung des Geschehens zu einem ursächlichen Zusammenhang von bestimmter Gliederung beruhen.43) Nur wo dies vergessen wird, – wie es freilich oft genug geschieht, – sind die Bedenken Kistiakowskis a.a. O.70 Kistjakovskij, Russkaja sociologičeskja. betreffend des „metaphysischen“ Charakters dieser Kausalbetrachtung begründet. Und uns genügt dabei in diesem Falle nicht, daß man zugesteht und sich bewußt bleibt, daß alle unsere „Erkenntnis“ sich auf eine kategorial geformtefA: kategorialgeformte Wirklichkeit bezieht, daß also z. B. die „Kausalität“ eine Kategorie „unse[480]res“ Denkens sei. Denn mit der „Adäquanz“g[480]A: „Adäquenz“ der Verursachung hat es in dieser Hinsicht noch seine besondere Bewandtnis.44)[480] Auch hierfür sind sowohl bei Kries a.a. O.71[480] Vgl. Kries, Möglichkeit. wie z. B. bei Radbruch a. a. O.72 Vgl. Radbruch, Verursachung. die entscheidenden Gesichtspunkte bereits teils ausdrücklich dargelegt, teils gestreift. So wenig eine erschöpfende Analyse dieser Kategorie hier beabsichtigt ist, so wird es doch nötig sein, wenigstens dies in Kürze festzustellen, um zunächst die lediglich relative, durch den [A 207]jeweiligen konkreten Erkenntniszweck bedingte Natur des Gegensatzes „adäquater“ und „zufälliger Verursachung“ klarzulegen und weiterhin verständlich zu machen, wie der in zahlreichen Fällen nur höchst unbestimmte Inhalt der in einem „Möglichkeitsurteil“ enthaltenen Aussage mit ihrem trotzdem bestehenden Anspruch auf „Geltung“ und ihrer trotzdem bestehenden Verwertbarkeit zur Formung der historischen Kausalreihe zusammenstimmt.hIn A folgt: (Ein weiterer Aufsatz folgt.)73 Ein entsprechender Text ist nicht überliefert: vgl. den Editorischen Bericht, oben, S. 382.