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Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[487][A 94]R. Stammlers „Überwindung“ der materialistischen Geschichtsauffassung*)[487][A 94] Rudolf Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung. Zweite verbesserte Auflage. Leipzig, Veit & Co. 702 S. 80.2Stammler, Wirtschaft2..a[487] In A folgt: Von MAX WEBER.

Inhalt: 1. Vorbemerkungen. S. 487. – 2. Stammlers Darstellung des Geschichtsmaterialismus. S. 490. – 3. Stammlers „Erkenntnistheorie“. S. 501. – 4. Analyse des Begriffs der „Regel“. S. 530. – „Regel“ als „Regelmäßigkeit“ und als „Norm“. Begriff der „Maxime“[.] S. 531. – Spielregel[.] S. 547. – Rechtsregel. S. 553. – Juristische und empirische Begriffe[.] S. 556.

1.

Es ist ein mißliches Unternehmen, der „zweiten verbesserten Auflage“1[487] Die erste Auflage zu Stammler, Wirtschaft2, war bereits 1896 unter demselben Titel erschienen. Vgl. Stammler, Wirtschaft1. eines Buches, welches ganz unleugbar einen großen, überwiegend verwirrenden, daneben aber auch unzweifelhaft höchst anregenden Einfluß auf die Diskussion prinzipieller Fragen der Sozialwissenschaft geübt hat, nicht viel weniger als die wissenschaftliche Existenzberechtigung überhaupt abzustreiten. Wenn dies hier dennoch geschieht, und zwar mit rücksichtsloser Offenheit, so bedarf dies einerseits einiger Vorbehalte und dann einer vorerst nur ganz allgemeinen kurzen Begründung. Zunächst sei auf das bedingungsloseste anerkannt, daß in Stammlers Werk ein hohes Maß nicht nur von Belesenheit, Scharfsinn und idealistischem Erkenntnisstreben, sondern auch von „Geist“ entwickelt ist. Allein das Monströse an dem Buch ist grade das Mißverhältnis, in welchem die erzielten brauchbaren Ergebnisse zu den mit ungeheurer Ostentation aufgewendeten Mitteln stehen: es ist beinahe so, als wenn ein Fabrikant alle Errungenschaften der Technik, gewaltige [488]Kapitalmittel und zahllose Arbeitskräfte in Bewegung setzte, um in einer mächtigen Fabrik allermodernster Konstruktion – atmosphärische Luft (gasförmige, nicht: flüssige!) zu produzieren. „Beinahe“ so, – damit ist, als zweiter Vorbehalt, schon gesagt, daß das Buch ganz zweifellos [A 95]einzelne dauernd wertvolle Bestandteile enthält, deren man sich freuen darf, und diese sollen gegebenen Orts nach bestem Gewissen herausgehoben und nach Möglichkeit unterstrichen werden. Allein, wie hoch man auch ihren Wert einschätzen möge, – im Verhältnis zu den gradezu maßlosen Ansprüchen, mit denen das Werk auftritt, sind sie, leider, doch von nur recht begrenzter Bedeutung. Sie hätten einenteils in einer Spezialuntersuchung etwa über die Beziehungen zwischen juristischer und ökonomischer Begriffsbildung, anderenteils in einer Spezialuntersuchung über die formalen Voraussetzungen sozialer Ideale Platz gefunden, die beide gewiß auch dauernd nützlich und anregend bleiben würden, aber freilich nicht so viel Aufsehens gemacht hätten, wie dies auf mächtigem Kothurn3[488] Von griech.: kóthornos, Schnürstiefel mit hohen Sohlen, die bei der Aufführung von antiken Tragödien getragen wurden. daherschreitende Buch. In diesem aber verschwinden sie in einem wahren Dickicht von Scheinwahrheiten, Halbwahrheiten, falsch formulierten Wahrheiten und hinter unklaren Formulierungen versteckten Nicht-Wahrheiten, von scholastischen Fehlschlüssen und Sophismen, welche die Auseinandersetzung mit dem Buche zu einem, schon des wesentlich negativen Ergebnisses wegen, unerfreulichen, dabei unendlich lästigen und höchst weitläufigen Geschäft machen. Und doch ist die Zergliederung einer größeren Anzahl auch von einzelnen Formulierungen ganz unerläßlich, wenn man einen Eindruck von der vollkommenen Nichtigkeit grade solcher Argumente gewinnen will, die bei Stammler mit der verblüffendsten Sicherheit vorgetragen werden. – Nun ist es sicherlich durchaus wahr: peccatur intra muros et extra.4 Vgl. Horatius Flaccus, Die Episteln des Horatius Flaccus. Lateinisch und deutsch mit Erläuterungen von F. S. Feldbausch, Band 1: Die Episteln des ersten Buches. – Leipzig und Heidelberg: Winter 1860, S. 24 f.: „Seditione, dolis, scelere atque libidine et ira / Iliacos intra muros peccatur et extra.“ – „Durch Zwietracht, Hinterlist, Frevel, Sinneslust und Zorn wird in den Mauern Iliums gefehlt und außerhalb derselben.“ Man kann in den Arbeiten ausnahmslos aller Schriftsteller Punkte auffinden, wo das berührte Problem nicht zu Ende gedacht, die Formulierung nachlässig, nicht klar oder direkt falsch ist. Und [489]dies ist zumal da der Fall, wo wir Nicht-Fachlogiker im sachlichen Interesse unsrer Spezialdisziplinen zu logischen Erörterungen genötigt werden. Es ist unvermeidlich, daß alsdann, besonders an solchen Punkten, die uns für unser jeweiliges konkretes Problem unwesentlich oder minder wesentlich waren, die Sicherheit in der Handhabung des Gedankenapparates der Fachlogik leicht versagt, mit dem wir eben nicht in jenem alltäglichen Verkehr uns befinden, der allein jene Sicherheit schaffen kann. Allein erstens will Stammler nun einmal grade als „Erkenntnistheoretiker“5[489] Stammler verwendet diese Bezeichnung nicht. auftreten, ferner handelt es sich – wie sich ergeben wird – um solche Bestandteile seiner Argumentation, auf welche er selbst den Hauptnachdruck legt, und dann – nicht zu vergessen – haben wir es mit einer zweiten Auflage zu tun, an die wir doch wohl mit Recht durchaus andere Anforderungen stellen als an einen „ersten Wurf“. Daß Stammler uns eine solche in dem Zustand zu bieten sich gestattet, in welchem sie sich befindet, – dies eben ist es, was die allerschärfste Kritik direkt herausfordert. Nicht der Existenz des Buches, sondern der Existenz einer derartigen zweiten Auflage gilt die Schärfe der Ablehnung. Bei einem „ersten Wurf“, wie ihn die erste Auflage darstellte,6 Stammler, Wirtschaft1. [A 96]werden wir des Satzes gern eingedenk sein, daß Kritisieren einer Leistung stets leichter ist, als selbst etwas zu leisten. Bei einer nach fast einem Jahrzehnt erscheinenden zweiten „verbesserten“ Auflage7 Die erste Auflage war 1896, die zweite 1906 erschienen. verlangen wir aber vom Autor Kritik an sich selbst und finden es namentlich unentschuldbar, wenn bei logischen Erörterungen die Arbeiten der Fachlogiker an ihm so spurlos vorüber gegangen sind wie an Stammler. Und endlich noch Eins: Stammler tritt als Vertreter des „kritischen Idealismus“8 Stammler verwendet diese auf Kant zurückgehende Bezeichnung nicht, die darauf abzielt, die Gegenstände der äußeren und inneren Wahrnehmung nicht als Dinge an sich, sondern als Erscheinungen dieser jeweiligen Wahrnehmung zu bestimmen. Im sechsten Abschnitt der Antinomie der Kritik der reinen Vernunft spricht Kant vom „transscendentalen Idealismus“, in den Prolegomena will er ihn „den kritischen genannt wissen“. Vgl. Kant, Kritik, S. 427–432 (B 519–B 525), S. 428, und ders., Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können, hg. von Karl Schulz. – Leipzig: Philipp Reclam jun. [1888], S. 72; dort im Handexemplar (Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München) „transscendentalen Idealismus“ unterstrichen. auf: sowohl auf ethischem wie auf erkenntnistheoretischem Gebiet [490]wünscht er sich als echtesten Jünger Kants anerkannt zu sehen.9[490] Stammler, Wirtschaft2, S. 17, formuliert, daß Kants „Erkenntniskritik“ für seinen Plan „von bestimmendem Einflusse gewesen“ sei. Es wird nun nicht möglich sein, im Rahmen der folgenden Auseinandersetzung auch noch des Näheren zu erörtern, wo jene gröblichen Mißverständnisse der Kantschen Lehre liegen, auf welche er diesen seinen Anspruch stützt. Aber jedenfalls haben grade Anhänger des „kritischen Idealismus“ alle Ursache, diese Leistung von ihren Rockschößen zu schütteln. Denn ihre Eigenart ist nur zu sehr geeignet, den alten naturalistischen Glauben zu nähren, die Kritik der Erkenntnistheoretiker am naturalistischen Dogmatismus habe stets nur die Wahl zwischen zwei Arten der Beweisführung: „entweder ein faustdicker Trugschluß oder eine haarfeine Erschleichung“.10 Als Zitat nicht belegt. Zu „Erschleichung“ vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 215 mit Anm. 35.

2.

Stammlers Werk1)[490][A 96] Die nachfolgende Kritik geberdet sich, um in sich zusammenhängend zu sein, äußerlich so, als seien die teilweise sehr elementaren Ausführungen, die sie bringt, hier zum ersten Mal vorgetragen. Das ist natürlich bezüglich mancher Punkte absolut nicht [491]der Fall, wie, obwohl es der Kundige weiß, auch ausdrücklich bemerkt sei. Von der Stellungnahme früherer Kritiker Stammlers wird gelegentlich die Rede sein.14 Entsprechende Ausführungen sind nicht belegt. will, wie wiederholt darin betont ist, die „materialistische Geschichtsauffassung“ wissenschaftlich „überwinden“.11 Davon ist explizit nur an einer Stelle die Rede, und das indirekt bezüglich sogenannter „Revisionisten“, denen es „noch nicht geglückt“ sei, „den sozialen Materialismus wissenschaftlich zu überwinden und sich eine bessere und richtige andere Grundlage zu erwerben“. Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 636, Anm. 29. Die dort aufgestellte Aussage Stammlers, er habe durch seine Untersuchungen „verschiedene Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung zu weiteren Studien angeregt“, versieht Weber im Handexemplar mit einem Fragezeichen und dem Kommentar: „zu viel behauptet“. Folglich fragt man vor allem anderen 1) nach der Art, wie er diese Geschichtsauffassung seinerseits wiedergibt, und alsdann weiter 2) an welchem Punkt sein wissenschaftlicher Dissens ihr gegenüber einsetzt. Um beides möglichst anschaulich festzustellen, lohnt es, einen kleinen Umweg einzuschlagen.12 Möglicherweise inspiriert durch das „Zwiegespräch“, das Stammler zwischen „Bürger“ und „Sozialist“ inszeniert. Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 51 ff. Darauf kommt Weber unten, S. 499, Fn. 2 mit Anm. 45, zu sprechen.

[491]Nehmen wir an, es träte demnächst – in unserer Zeit stark zunehmender Beachtung der Tragweite religiöser Momente für die Kulturgeschichte – ein Autor auf und behauptete: „Die Geschichte ist nichts anderes als ein Ablauf religiöser Stellungnahmen und Kämpfe der Menschheit. In letzter Instanz bedingen religiöse Interessen und Stellungnahmen zum Religiösen schlechthin alle Erscheinungen des Kulturlebens, einschließlich insbesondere derjenigen des politischen und des Wirtschaftslebens. Alle Vorgänge auch auf diesen Gebieten sind letztlich Wiederspiegelungen bestimmter Stellungnahmen der Menschheit zu religiösen Problemen. Sie sind also in letzter Instanz nur Ausdrucksformen [A 97]religiöser Kräfte und Ideen und also auch erst dann überhaupt wissenschaftlich erklärt, wenn man sie auf diese Ideen kausal zurückgeführt hat. Eine solche Zurückführung ist zugleich die einzig mögliche Art, das Ganze der „sozialen“ Entwicklung nach festen Gesetzen als eine Einheit wissenschaftlich zu begreifen (S. 61 unten, 62 oben),13[491] Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 61 f.: „Entweder, man zeigt, daß die naturgesetzliche Entwicklung der ökonomischen Phänomene unserer Zeit im einzelnen eine andere ist, als die Marxisten sie angeben; man leugnet, daß das Wesen und die Tendenz unserer Wirtschaft und Produktionsweise die sei, sich zu sozialisieren, und daß deshalb die Kollektivierung der Produktionsmittel nicht unvermeidlich notwendig ist. Wer dieses tut, der nimmt die Grundgedanken des sozialen Materialismus als richtig hin und will nur dartun, daß dessen Anwendung auf unsere sozialen Zustände nicht unvermeidlich zum Sozialismus hindrängt. Oder, es wird die Lehre der materialistischen Geschichtsauffassung als begründetes Fundament der Sozialphilosophie in Zweifel gezogen und kritisch erörtert. Dieses letztere Verfahren ist an sich zweifellos das allein berechtigte. Man muß bis zu dem Punkte zurückgehen, wo sich die Ansichten wirklich spalten: das ist bis zur Scheidung des sozialen Materialismus vom sozialen Idealismus. Hängt eine Gesellschaftsordnung wirklich notwendig von der Entwicklung der ökonomischen Phänomene ab; und wie steht es mit dieser gesetzmäßigen Bedingtheit des näheren?“ Zum letzten Satz finden sich An- und Unterstreichungen im Handexemplar Webers sowie sein Randkommentar: „Gesetzmäßig und notwendig sind nicht identisch!“ und die Ergänzung von „allein“ hinter „Phänomene“. so wie es die Naturwissenschaften mit der „natürlichen“ Entwicklung tun.“b[491] Bei Zitationen im fiktiven Zitat bleiben doppelte An- und Ausführungszeichen erhalten. – Auf den Einwurf eines „Empirikers“, daß doch aber zahlreiche konkrete Erscheinungen des politischen und des Wirtschaftslebens offenbar nicht die geringste Einwirkung reli[492]giöser Motive erkennen lassen, würde unser „Spiritualist“ – nehmen wir weiter an – antworten: „Zweifellos ist nicht für jedes einzelne Vorkommnis nur eine einzige Ursache gegeben, und es sind daher ganz fraglos in der Kausalkette zahllose einzelne, jeden religiösen Charakters entbehrende Vorgänge und Motivationen als Ursachen eingeschaltet. Allein man kann den kausalen Regressus15[492] Vgl. Weber, Objektivität, S. 164 mit Anm. 65. Vgl. auch Einleitung, oben, S. 18. bekanntlich ins Unendliche fortsetzen, und dabei wird man (S. 67 Zeile 11)16 Hier und im Folgenden wird stets der ganze Satz nachgewiesen, wobei die von Weber genannte Zeile jeweils durch * markiert wird. Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 67: „Aber da jede ursachlich wirkende Erscheinung selbst wieder als Wirkung einer anderen Ursache erachtet werden muß, so käme man bei *solchem Regressus im sozialen Leben schließlich auf materielle* Bedingungen, auf denen im letzten Grunde, wie das einzelne Menschenleben, so auch das soziale Dasein der Menschen sich aufbaut.“ Im Handexemplar Webers sind „da“ (doppelt) sowie „als Wirkung“ und „materielle“ unterstrichen und mit dem Randkommentar versehen: „beweislos“. immer schließlich irgendwann auf den „maßgebenden“ Einfluß religiöser Motive auf die Art der menschlichen Lebensführung stoßen. Alle anderen Änderungen von Lebensinhalten gehen also auf Änderungen der Stellungnahme zum Religiösen in letzter Instanz zurück (S. 31, Zeile 26)17 Vgl. ebd., S. 31: „Aber es sind dieses nicht Faktoren, die aus einer eigenartigen und selbständigen Welt stammen, welche von der materiellen Welt der Art nach geschieden wäre und ihre eigenen kausalen Entwicklungsgänge besäße; sondern jene Ideen gehen in ihrer Ent*stehung auf die materielle Grundlage des sozialen Lebens zurück* und sind in ihrer Besonderheit durch die Art und Weise jener materiellen Basis notwendig bedingt.“ Im Handexemplar unterstreicht Weber die Passage „gehen … zurück“ und fügt den Kommentar an: „Das ist etwas Anderes als: ,haben keine selbst[ändige] Existenz‘“. und besitzen, da sie nur diese wiederspiegeln, gar keine selbständige reale Existenz (S. 30 Zeile 11 von unten).18 Vgl. ebd., S. 30: „Denn da nach der materialistischen Geschichtsauffassung alle Ideen von Gerechtigkeit nur Spiegelbilder der wahren Realitäten *ökonomischer Zustände sind und eine eigene selbständige Existenz* gar nicht besitzen, so sind auch alle Rechtsänderungen, die im Namen der sozialen Gerechtigkeit gefordert oder durchgesetzt werden, in Wahrheit durch die unterliegenden Wirtschaftsverhältnisse bewirkt worden, für welche die angenommene Formel der sozialen Gerechtigkeit nur ein anderer Ausdruck ist; so zwar, daß die Wirtschaft die Realität, die Idee dagegen nur ein reflektiertes Abbild derselben ist.“ Im Handexemplar markiert Weber die Zeile von „ökonomischer … Existenz“ und kommentiert: „falsch formuliert“. Denn jede Veränderung der religiösen Bedingungen hat eine entsprechende parallele (S. 24 Zeile 5)19 Vgl. ebd., S. 24: „Wenn daher in der sozialen Wirtschaft eines Menschenkreises bedeutsame Veränderungen vor sich gehen, so machen diese eine entsprechende [493]Umänderung der seitherigen Rechtsordnung nötig; wesentlich geänderte wirtschaftliche Verhältnisse bedingen notwendig *eine parallel gehende Reform des geltenden Rechtes. Und da das* […].“ Im Handexemplar sind „machen“ und „nötig“ unterstrichen und mit dem Kommentar versehen: „unrichtig!“; an das unterstrichene „parallel“ schließt sich der Kommentar: „was heißt das?“ Änderung der [493]Lebensführung auf allen Gebieten zur Folge. Jene sind eben die überall in Wahrheit allein treibenden Kräfte des sozialen Lebens wie auch – bewußt oder unbewußt – des einzelnen Menschendaseins, und bei vollständiger Kenntnis der Ursachenkette in ihrem „einheitlichen Zusammenhang“ gelangt man daher immer zu ihnen (S. 67, Zeile 20).20 Vgl. ebd., S. 67: „Rollt man die Kette der Ursachen weiterhin auf und erkennt sie in ihrem ein*heitlichen Zusammenhange vollständig, so gelangt man schließlich* immer zu der Unterlage des sozialen Lebens, – zu der sozialen Wirtschaft.“ Im Handexemplar ist die zweite Satzhälfte mit einem doppelten Randstrich und dem Kommentar versehen: „beweislos!“ Wie sollte es denn auch anders sein? Die politischen und wirtschaftlichen äußeren Formen des Lebens bestehen doch nicht als abgeschlossene Welten selbständig in eignen Kausalreihen (S. 26 Zeile 7 v. unten)21 Vgl. ebd., S. 26: „Dabei leugnet der materialistische Historiker keineswegs das Auftreten idealer Ziele in menschlichen Vorstellungen und Bestrebungen, noch auch die Tatsache, daß Rechtsänderungen im Namen der Gerechtigkeit gefordert und ererbte Institutionen bald als gut oder böse beurteilt werden; aber er stellt in Abrede, daß die *menschlichen Vorstellungen über Recht und Gerechtigkeit eine selb*ständige Existenz in einer abgegrenzten Welt für sich hätten, mit eigener Entstehung in einer zweiten und abgesonderten Kausalreihe; und er behauptet, daß nicht die Ideen die wahren Ursachen im gesellschaftlichen Leben seien, sondern daß sie als Widerschein bestimmter Sozialwirtschaft jeweils erst entständen.“ Im Handexemplar sind „Vorstellungen“, „in einer … hätten“ und „einer zweiten … Kausalreihe“ unterstrichen und mit dem Kommentar versehen: „wie stellt sich St[ammler] dazu?“ für sich, sie sind doch überhaupt keine eignen Realitäten (S. 29, Zeile 8 v. unten),22 Vgl. ebd., S. 29: „In dieser Weise lehrt der soziale Materialismus, daß die gemein*samen Geisteserscheinungen in der Menschengeschichte nichts als* widergespiegelte Abbilder der wirtschaftlichen Verhältnisse sind.“ sondern können doch nur als unselbständige, lediglich im Wege der Abstraktion aus dem Ganzen der Einheit des Lebens gewonnene „Einzelbetrachtungen“ gelten (S. 68 Zeile 11).“c[492] c-c(S. 493) Bei Zitationen im fiktiven Zitat bleiben doppelte An- und Ausführungszeichen erhalten.23 Vgl. ebd., S. 68: „Es kann das Recht als eine Form des sozialen Lebens nur in sehr relativer Selbständigkeit er*wogen werden, nämlich als eine Einzelbetrachtung, die ab*strahiert aus dem Ganzen der Einheit des sozialen Lebens herausgehoben ist.“ Im Handexemplar ist der 2. Satzteil markiert und mit der Randbemerkung versehen: „gewiß!“.

Der „gesunde Menschenverstand“ unseres „Empirikers“ würde nun wohl geneigt sein, hiergegen geltend zu machen, daß man über [494]die Art und das Maß der Bedingtheit „sozialer Erscheinungen“ verschiedener Gattungen unter einander a priori nichts Generelles aussagen könne. Die Tatsache und weiter die Art und das Maß der gegenseitigen Bedingtheit lassend[494]A: lasse sich zunächst nur am Einzelfall ausmachen. Es sei alsdann vielleicht möglich, durch Vergleichung wirklich (oder anscheinend) ähnlicher Fälle über die bloße Ermittlung des Maßes religiöser Bedingtheit einer einzelnen sozialen Erscheinung hinaus auch [A 98]zu generelleren „Regeln“ zu gelangen, – aber, wohlgemerkt, sicherlich nicht über die kausale Bedeutung „des Religiösen“ überhaupt für „das soziale Leben“ überhaupt, – das sei eine ganz verfehlte und vage Fragestellung, – sondern über die kausale Bedeutung ganz bestimmt zu bezeichnender Gattungen von religiösen Kulturelementen zu ebenso bestimmt zu bezeichnenden Gattungen anderer Kulturelemente unter ebenfalls bestimmt zu bezeichnendeneA: bezeichnende Konstellationen.24[494] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 177 mit Anm. 9. – Und er würde etwa noch hinzufügen: Die einzelnen „Gesichtspunkte“,25 Vgl. ebd., oben, S. 189 mit Anm. 53 und 54. unter die wir die Kulturerscheinungen rubrizieren: „politische“, „religiöse“, „ökonomische“ u.s.w., seien bewußt einseitige Betrachtungsweisen, die lediglich zum Zweck der „Ökonomie“26 Zur Denkökonomie vgl. ebd., oben, S. 202 mit Anm. 98. der wissenschaftlichen Arbeit überall da vorgenommen werden, wo sie aus diesem Grunde praktisch wünschenswert seien. Die „Totalität“ der Kulturentwicklung im wissenschaftlichen Sinn jenes Wortes, d. h. also das „uns Wissenswerte“ an ihr, könne mithin doch nur durch eine Integration, durch den Fortschritt von der „Einseitigkeit“ zur „Allseitigkeit“ der „Auffassung“ wissenschaftlich erkannt werden, nicht aber durch den aussichtslosen Versuch, historische Gebilde als durch eine einzelne jener nur künstlich vereinzelten Komponenten allein determiniert und qualifiziert hinzustellen. Der kausale „Regressus“27 Vgl. ebd., oben, S. 164 mit Anm. 65. führe in dieser Hinsicht doch offenbar zu nichts: so weit man auch zurückgehe, bis in die früheste „Urzeit“,28 Vgl. ebd., oben, S. 177. stets sei die Heraushebung der „religiösen“ Komponenten aus der Gesamtheit der Erscheinungen und das Abbrechen des Regressus grade bei ihnen die gleiche „Einseitigkeit“, wie in demjenigen [495]geschichtlichen Stadium, von dem aus der Regressus begonnen worden sei. Die Beschränkung auf die Feststellung der kausalen Bedeutung „religiöser“ Momente könne im einzelnen Fall heuristisch vielleicht von größtem Wert sein: darüber entscheide nur der „Erfolg“ an neuer kausaler Erkenntnis. Aber die These von der Bedingtheit der Gesamtheit der Kulturerscheinungen „in letzter Instanz“29[495] Stammler verwendet diese Formulierung an einer Stelle. Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 64. nur durch religiöse Motive sei eine schon in sich haltlose, überdies mit feststehenden „Tatsachen“ nicht vereinbare Hypothese.

Mit diesen Argumenten käme aber der „gesunde Menschenverstand“ bei unserem „Geschichtsspiritualisten“ übel an. Hören wir, was dieser entgegnen würde: „Derf[495] f-f(S. 498, bis geführt worden“.“) Bei Zitationen im fiktiven Zitat bleiben doppelte An- und Ausführungszeichen erhalten. Zweifel, ob das kausal entscheidende religiöse Moment auch überall erkennbar sei, müßte, wenn er ins Gewicht fallen sollte, das Ziel einer prinzipiellen Methode gesetzmäßiger Erkenntnis aus einem Gesichtspunkt überhaupt in Frage stellen (S. 66 Zeile 11).30 Vgl. ebd., S. 66: „In der Tat würde aber mit der Beschränkung auf derartige Einzelfragen und auf den Zweifel, ob das kausal bedeutsame und letztlich entscheidende Eingreifen wirtschaftlicher Momente überall erkennbar sei, ein verhängnisvoller Irrweg eingeschlagen sein, auf dem man zu einer rechten Würdigung der materialistischen Geschichtsauffassung niemals gelangen kann, vielmehr das Ziel einer prinzipi*ellen Methode gesetzmäßiger Erkenntnis des sozialen Lebens not*wendig verfehlen muß.“ Im Handexemplar Unterstreichung von „einer prinzipiellen … sozialen Lebens“ und Randkommentar: „das will aber nur ein so großer Geist wie Stammler!“. Alle wissenschaftliche Einzelbetrachtung steht aber unter dem Grundsatz des Kausalitätsgesetzes31 Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 52, Fn. 16 mit Anm. 59. und muß daher als grundlegende Bedingung die durchgängige Verbindung aller Sondererscheinungen nach einem allgemeinen Gesetz annehmen: sonst hat ja die Behauptung einer gesetzmäßig geschehenen Erkenntnis gar keinen Sinn (S. 67 Zeile 5 v. unten).32 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 67: „Alle menschlichen Bestrebungen, alle Bewegungen der Gesellschaft, mögen sie auf Abänderung oder auf Beibehaltung bestehenden Rechtes gerichtet sein, oder sich sonst in Moral oder Religion, in erkennender Wissenschaft oder künstlerischem Gestalten äußern, sie alle müssen doch, wenn man ihre konkrete Bedingtheit nach bewirkenden Ursachen wissenschaftlich erforschen will, in Wirklichkeit in einem einheitlichen Ge*samtzusammenhange gedacht werden. Denn alle Einzelbetrachtung,* die unter dem Grundsatze des Kausalitätsgesetzes vollzogen wird, muß als grundlegende Bedingung die durchgängige Verbindung aller Sondererscheinungen nach einem allgemeinen Gesetze annehmen, welches Gesetz [496]dann im einzelnen aufzuweisen ist.“ Weber kommt unten, S. 513 mit Anm. 7 und S. 521 mit Anm. 44, nochmals auf diese Passage zu sprechen. [496]Das Postulat der Zurückführung aller [A 99]sozialen Erscheinungen auf religiöse Triebfedern denkt gar nicht daran, zu behaupten, daß der Regressus auf diese Triebfedern immer oder überwiegend oder überhaupt jemals wirklich ganz gelinge (S. 69, Zeile 10 v. unten).33 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 69: „Wie häufig läßt auch sonst die Durchführung allgemeingültiger Grundsätze für Gewinnung gesetzmäßiger Erkenntnis *den Menschen schwach und unbefriedigt stehen! So kann es auch* in der Sozialwissenschaft für die Begründetheit der Methode gar nichts ausmachen, wenn bei einer einzelnen Gelegenheit ihre Verwirklichung nicht glücken will, und es nicht gelingen mag, die zusammenhängende Kette wirkender Einzelursachen von sozialen Veränderungen bis zu der untersten Grundlage des Gesellschaftslebens, bis zu bedingender sozialer Wirtschaft, in klarer Einsicht zu verfolgen und darzulegen.“ Im Handexemplar ist die Passage „So kann … gelingen mag“ mit einem dreifachen Randstrich und zwei Ausrufezeichen versehen. Denn es will ja nicht eine bloße Behauptung von Tatsachen, sondern eine Methode sein (S. 68 Zeile 6 v. unten),34 Vgl. ebd., S. 68: „Man sieht, daß der Vorwurf ganz ungerecht ist, als ob die materialistische Geschichtsauffassung nichts weiter bedeute, als eine zu weit getriebene Generalisation von einzelnen sozialgeschichtlichen *Geschehnissen. Nein, sie will eine Methode sein, nach der über*haupt erst die Einzeldaten der Gesellschaftsgeschichte in wissenschaftlich begründeter Weise erforscht und recht gewürdigt, also unter einem obersten einheitlichen Gesichtspunkte für alles soziale Leben begriffen werden können.“ Im Handexemplar markiert Weber „Nein, sie will eine Methode sein“ mit doppeltem Randstrich und kommentiert: „die aber doch so formuliert, nicht ausschließen würde, daß man ,bis auf andre‘ Elemente geht“. und der Vorwurf, als bedeute es nur eine zu weit getriebene Generalisation von einzelnen sozialgeschichtlichen Geschehnissen, ist deshalb schon begrifflich ganz verfehlt. Denn nicht durch solche Generalisationen, sondern a priori an der Hand der Frage: „mit welchem Recht wird überhaupt generalisiert?“ (S. 69 Zeile 3)[,]35 Vgl. ebd., S. 68 f.: „Ihr Prinzip, das ich nannte und erläuterte, ist nicht gefunden und wird nicht bewiesen durch eine Verallgemeinerung von Einzelheiten sozialer Geschichte; – denn, wenn eine solche die grundlegende Methode liefern sollte, so müßte man doch *immer fragen: Mit welchem Rechte und nach welchem ein*heitlichen Grundgedanken wird denn ,verallgemeinert‘?“ Im Handexemplar ist die Frage Stammlers mit doppeltem Randstrich markiert und mit dem Kommentar versehen: „Ganz unverständlich! Die gleiche Frage gälte doch auch f[ür] die Naturwissenschaft!“ ist ja jenes Postulat gewonnen worden. Generalisieren setzt, als Methode zur Gewinnung kausaler Erkenntnis, einen letzten einheitlichen Gesichtspunkt voraus, der die letzte grundsätzliche Einheit des sozialen Lebens darzustellen unternehmen muß, da sonst ja alles kausale Erkennen ins Uferlose auseinanderstieben müßte. Jenes Postulat ist also eine systematische Methode dafür, in welcher all[497]gemeingültigen Art und Weise die konkreten Vorgänge des Gesellschaftslebens überhaupt erst wissenschaftlich begriffen werden können (S. 69 Zeile 14),36[497] Vgl. ebd., S. 69: „Der soziale Materialismus ist eine systematische Methode dafür, in welcher allgemeingültigen Art und Weise die kon*kreten Vorgänge des Gesellschaftslebens überhaupt erst wissen*schaftlich werden können.“ Im Handexemplar sind die kursiv gesetzten Passagen zusätzlich unterstrichen und mit einem Randstrich markiert. also ein grundlegendes Formalprinzip (das[elbst] Zeile 26)37 Ebd.: „Bietet danach die materialistische Geschichtsauffassung die grundsätzlich begründete formale Methode für die gesetzmäßige Einsicht in konkretes gesellschaftliches Da*sein dar?*“ Der Satz beendet eine längere Passage, die Weber in seinem Handexemplar mit einem Randstrich markiert und dem Kommentar: „Hier die Metabase!“ versehen hat. der sozialen Forschung. Eine Methode aber kann man nicht an der Hand historischer Tatsachen angreifen oder „widerlegen“, denn für die Frage nach der prinzipiell rechten Art solcher Formalprinzipien macht es offenbar nicht das geringste aus, ob ihre Anwendung im besonderen Fall gelingt: oft läßt ja auch die Anwendung der zweifellos allgemeingültigsten Grundsätze der Gewinnung gesetzmäßiger Erkenntnis den Menschen unbefriedigt (S. 69, Zeile 10 von unten).38 Vgl. bereits oben, S. 496 mit Anm. 33. Jenes grundlegende Prinzip ist von allem besondern Inhalt sozialen Geschehens mithin ganz unabhängig, es würde gelten, auch wenn keine einzige Einzeltatsache ihm entsprechend wirklich erklärt wurde: das läge dann eben an der besonderen Schwierigkeit, welche – wie keiner besonderen Ausführung bedarf (S. 70 oben)39 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 69 f.: „Daß auch die Verfolgung des sozialen Lebens der Menschen im besprochenen Sinne ganz besondere und weit größere Schwierigkeit für den nach dem Grundsatz der Kausalität wissen*schaftlich beobachtenden Forscher bietet, als die Erscheinungen äußerer Natur, bedarf keiner besonderen Ausführung.*“ Im Handexemplar ist der Schlußpassus ab „wissenschaftlich“ markiert und mit dem Randkommentar versehen: „Auch das ist falsch./ cf. meinen Aufsatz“, womit Weber, Objektivität, oben, S. 135–234, gemeint sein dürfte. – die Erforschung des sozialen Lebens der Menschen nach dem Grundsatz der Kausalität, im Gegensatz zur „Natur“, bietet. Aber wenn anders man das Formalprinzip aller kausalen Erkenntnis auch auf das soziale Leben anwenden darf, muß jenem Postulat Genüge geschehen, und das ist nur durch die Reduktion aller sozialen Gesetzmäßigkeit auf eine „grundlegende Gesetzmäßigkeit“: die Abhängigkeit vom Religiösen, möglich. Folglich ist die Behauptung: – daß „in letzter Instanz“40 Vgl. oben, S. 495 mit Anm. 29. religiöse [498]Triebfedern das soziale Leben bedingen und daß nur durch „Zurückführung“ aller Erscheinungen auf diese Bedingungen es als eine „nach mechanischen Gesetzen“ wissenschaftlich zu begreifende Einheit darzustellen ist, – überhaupt nicht auf dem Boden der „Tatsachen“ zu widerlegen; ebensowenig wie sie bloßer Generalisierung von Tatsachen entspringt (S. 69 Zeile 16).41[498] Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 69: „Dieses grundlegende *Prinzip ist von allem besonderen Inhalte sozialer Einzelgescheh*nisse mithin ganz unabhängig.“ [A 100]Der Satz folgt vielmehr aus der Natur unseres Denkens, sofern dieses überhaupt auf die Gewinnung gesetzmäßiger Erkenntnis ausgeht, wie dies doch jede mit dem Gesetz der Kausalität arbeitende Wissenschaft tun muß. Wer also gegen jene Behauptung Widerspruch erheben will, der greift damit eben dies Erkenntnisziel selbst an. Er muß sich folglich auf den Boden der Erkenntnistheorie begeben und fragen: was ist und was heißt „gesetzmäßige“ Erkenntnis des sozialen Lebens? (S. 69, Zeile 22).42 Vgl. ebd., S. 69: „Was ist und heißt * überhaupt Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens der* Menschen?“ Der Satz ist im Handexemplar vollständig unterstrichen. Nur wenn der Begriff der „Gesetzmäßigkeit“ selbst zum Problem gemacht wird, kann man die erwähnte Methode der Zurückführung aller sozialen Erscheinungen auf einen einheitlichen Gesichtspunkt angreifen, und nur so könnte die Berechtigung der Behauptung, daß „in letzter Instanz“ religiöse Motive maßgebend sind, überhaupt in Frage gestellt werden. „Bisherg[498] Anführungszeichen fehlt in A. aber“ – unser Geschichtsspiritualist weiß offenbar noch nichts von Stammlers Auftreten – „hat das noch kein Mensch versucht, sondern es ist ein bloßer, über das Prinzip selbst gar nichts besagender Scharmützelkrieg (S. 63 Zeile 2 von unten)43 Vgl. ebd., S. 63, bzgl. der materialistischen Geschichtsauffassung: „Anstatt auf das Ganze zu gehen und dem Feinde in offener Feldschlacht entgegenzutreten, hat sie das Mittel des Schar*mützelkrieges gewählt, der mehr im einzelnen plagen kann, als daß* er das Gesamtschicksal des Kampfes entschiede.“ Weber unterstreicht im Handexemplar „Mittel des Scharmützelkrieges“ und kommentiert: „? Es wird dabei bleiben, daß eine Geschichtsauffassung an der Geschichte zu prüfen ist.“ über Einzeltatsachen geführt worden“.“ff(S. 495, ab „Der Zweifel)f Bei Zitationen im fiktiven Zitat bleiben doppelte An- und Ausführungszeichen erhalten. Das abschließende Ausführungszeichen fehlt in A und wird ergänzt.

Was wird der gesunde Menschenverstand unseres „Empirikers“ zu diesen Ausführungen sagen? Ich denke, wenn er Jemand ist, der [499]sich nicht „verblüffen“ läßt, so wird er sie als eine, sei es naive, sei es dreiste, scholastische Mystifikation44[499] Mystifikation referiert einerseits auf die Mystik bzw. den Mystizismus der Scholastik, andererseits auf das Verb mystifizieren, das Weber im Folgenden wiederholt gebraucht. Vgl. Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens, 4., gänzlich umgearbeitete Aufl., Band 11. – Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts 1888, S. 957: „Mystifizieren (frz., hinters Licht führen), d. h. jemand durch Benutzung seiner Leichtgläubigkeit zum besten haben, foppen; daher Mystifikation.“ Vgl. in diesem Sinne Balzac, Honoré de, Die Gefahr der Mystificationen, in: ders., Sämmtliche Werke, Band 17. – Quedlinburg und Leipzig: Gottfried Basse 1843. behandeln und der Ansicht sein, daß man mit der gleichen „Logik“ auch das „methodische Prinzip“ aufstellen könnte, „soziales Leben“ sei „in letzter Instanz“ nur aus Schädel-Indices oder aus der Einwirkung von Sonnenflecken oder etwa aus Verdauungsstörungen abzuleiten und diese Ansicht dann so lange für unanfechtbar anzusehen, als nicht durch erkenntnistheoretische Untersuchungen der „Sinn“ der „sozialen Gesetzmäßigkeit“ anderweit festgestellt sei. – Ich persönlich würde dem „gesunden Menschenverstand“ darin recht geben. –

Anders aber müßte offenbar Stammler denken. In den obigen absichtlich möglichst weitschweifig, ganz in Stammlers Stil, gehaltenen Ausführungen unseres „Geschichtsspiritualisten“ braucht man nämlich nur überall statt des Wortes „religiös“ das Wort „materiell“ (im Sinne von: „ökonomisch“) einzusetzen, – und man hat, wie jeder sich an den in Klammern beigesetzten Stellen von Stammlers Buch überzeugen kann, größtenteils wörtlich, immer aber sinngetreu, diejenige Darstellung der „materialistischen Geschichtsauffassung“, welche dort gegeben ist und – darauf allein kommt es uns hier an – die Stammler sich als schlechthin stichhaltig aneignet2)[499][A 100] Man vergleiche S. 63 ff., wo unzweideutig Stammler selbst, und nicht der „Sozialist“, den er S. 51 f. auftreten läßt, das Wort führt.45 In Stammler, Wirtschaft2, erstreckt sich das „Zwiegespräch“, das Stammler zwischen „Bürger“ und „Sozialist“ inszeniert, von S. 51 bis S. 55 und wird von S. 55 bis S. 62 diskutiert. Auf S. 63 beginnt der Abschnitt „Gegner der materialistischen Geschichtsauffassung“. , mit dem einzigen Vorbehalt, daßh[499]A: das nunmehr in ihm, Stammler, der Mann ge[A 101]kommen sei, der, indem er sich auf den Boden der „Erkenntnistheorie“ begab, diesen bis dahin von niemand bezwungenen Goliath „überwand“, d. h. aber nicht etwa als [500]sachlich „unrichtig“, sondern als „unfertig46[500] Für Stammler, Wirtschaft2, S. 19, wird sich zeigen, daß die materialistische Geschichtsauffassung „nach jeder Richtung hin unfertig und nicht ausgeführt ist; und daß daher vor allem genau zu fragen und zu bestimmen ist, was unter den von ihr sorglos verwendeten sozialen Grundbegriffen mit Fug allein verstanden und festgehalten werden kann“. erwies, – als „unfertig“ wiederum nicht im Sinn von „einseitig“, sondern im Sinn von „unvollendet“. Diese „Vollendung“ und „Überwindung“ geschieht dann in der Art, daß mittelst einer Reihe von gedanklichen Manipulationen demonstriert wird, daß „soziale Gesetzmäßigkeit“ im Sinn von „grundlegender Einheit“ des sozialen Lebens und seiner Erkenntnis (beides wird, wie wir sehen werden,47 Unten, S. 501 ff. konfundiert) als „Formalprinzip“48 Für Stammler, Wirtschaft2, S. 69, ist die „materialistische Geschichtsauffassung“ ein „grundlegendes Formalprinzip der sozialen Forschung“. Diese Aussage kommentiert Weber im Handexemplar mit: „Unglaublich!“ lediglich in der „Welt der Zwecke“,49 Stammler verwendet diese Formulierung nicht. als ein die „Form des gesellschaftlichen Daseins der Menschen“50 Vgl. ebd., S. 115, 173, 212, 440, 544. bestimmendes Prinzip, als ein „einheitlicher formaler Gedanke, der als Leitstern für alle empirischen sozialen Bestrebungen zu dienen habe“,51 Vgl. ebd., S. 577: „Das soziale Ideal ist ein einheitlicher formaler Gedanke, der als Richtmaß und Leitstern für alle irgend welche empirisch erwachsenden Bestrebungen im sozialen Leben zu dienen hat“. sinnvoll denkbar sei.

Uns interessiert hier nun vorerst nicht die Frage, ob Stammler die „materialistische Geschichtsauffassung“ richtig dargestellt hat. Diese Theorie hat vom „Communistischen Manifest“52 Marx/Engels, Manifest. bis zu den modernen Epigonen sehr verschiedenartige Formen durchgemacht; – geben wir also hier a priori getrost als möglich und wahrscheinlich zu, daß sie auch in einer der von Stammler gewählten wenigstens ähnlichen anzutreffen sein mag3)[500][A 101] Über den Sinn von „materialistisch“ bei Marx s[iehe] Max Adler, Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft (aus den „Marx“-Studien, Band I) S. 108 Anm. 1 und S. 111 (richtig gegen Stammler), S. 116 Anm. 1 und öfter.53 Vgl. Adler, Kausalität. . Und wenn etwa nicht, dann könnte der Versuch einer eigenen Konstruktion der Form, die sie konsequenterweise „hätte haben sollen“, seitens ihres Kritikers immer noch seine Berechtigung haben. Hier aber befassen [501]wir uns nicht mit ihr, sondern mit Stammler. Und daher fragen wir hier nur, auf welchem Wege er denn jene „Erkenntnistheorie“, die er, sei es mit Recht oder Unrecht, ihr unterschiebt und die er für unanfechtbar oder doch nur vom Boden seiner eignen Auffassung aus korrigierbar ansieht, entwickelt und begründet. Vielleicht taten wir ihm Unrecht und identifiziert er sich in Wahrheit doch nicht so weit mit ihr, als wir prima facie annahmen? Sehen wir uns daraufhin die einleitenden, „erkenntnistheoretischen“ Abschnitte seines Buches an.

3.

Um Einsicht in die Eigenart von Stammlers Argumentationsweise zu gewinnen, ist es nicht zu umgehen, wenigstens einige Schlußketten aus diesem einleitenden Teil beispielshalber in extenso anzuführen. Nehmen wir zuerst gleich einmal den Anfang und gliedern ihn in eine Serie von Sentenzen, die wir dann unter einander vergleichen wollen. Auf den ersten Seiten (3–6) des Textes wird ausgeführt:54[501] Weber zitiert im folgenden aus dem 1. Kapitel „Idee einer Sozialphilosophie“ von Stammler, Wirtschaft2, S. 3–6, wobei er die Hervorhebungen der Vorlage zumeist nicht übernimmt, sondern durch eigene Hervorhebungen Akzente setzt. Diese Differenz wird nicht nachgewiesen, sondern nur Abweichungen im Inhalt. Jede „genaue Einzelforschung“ bleibe wertlos und „zufällig“ 1) ohne „abhängigen [A 102]Zusammenhang mit“ einer „allgemeinen Gesetzmäßigkeit“, 2) ohne Leitung durch eine „allgemeingültige Richtlinie der Erkenntnis“, 3) ohne „Beziehung auf“ eine „grundlegende Gesetzmäßigkeit“,55 Im Handexemplar von Weber mit der Randnotiz versehen: „πρ. ψ!“, einer Abkürzung für „proton pseudos“ (altgriech., erste Lüge, Grundirrtum), einem Begriff der aristotelischen Logik, der die erste falsche Prämisse bezeichnet, aus der dann weitere Fehlaussagen folgen. 4) ohne Beziehung auf einen „einheitlichen unbedingten Gesichtspunkt“ (S. 3), 5) (S. 4) ohne Einsicht „in einen allgemeingültigen gesetzmäßigen Zusammenhang“, da ja 6) die Annahme jener Gesetzmäßigkeit „Voraussetzung“ sei, wo immer man über „die festgestellte Einzelbeobachtung als solche hinausgehen“ wolle.56 Bei Stammler, Wirtschaft2, S. 4: „jedes Hinausgehen über festgestellte Einzelbeobachtung als solche“. Die Frage sei dann aber 7) [502](S. 5),57[502] Gemeint ist: ebd., S. 4 f. ob sich „eine allgemeine Gesetzmäßigkeit im sozialen Leben der Menschen ebenso aufstellen“58 Bei Stammler, ebd., S. 5, heißt es: „des sozialen Lebens“. lasse, „wie die Gesetzmäßigkeit der Natur als Grundlage der Naturwissenschaften“59 Stammler, ebd., verwendet den Singular „Naturwissenschaft“. es sei. Zu dieser Frage aber, bei der es sich 8) „um die Gesetzmäßigkeit aller unserer Erkenntnisi[502]A: Erkenntnis von sozialen Dingen“ handle,60 Bei Stammler, ebd., S. 4, heißt es: „in sozialen Dingen“. sei man leider bisher nicht vorgeschritten. Die Frage aber 9)61 Vgl. ebd., S. 6. nach der „obersten Gesetzmäßigkeit, unter der das soziale Leben in Abhängigkeit (!) zu erkennen ist“, „mündet praktisch in die grundsätzliche Auffassung über das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit sofort aus“ (!), und in der Tat: „das Ringen .. nach gesetzmäßiger Ausgestaltung des gesellschaftlichen Lebens ist da …. es heißt: soziale Frage“. 10) „Durch die wissenschaftliche Einsicht in die für menschliches Gemeinschaftsleben überhaupt geltende Gesetzmäßigkeit ist daher die Möglichkeit bedingt, das menschliche Zusammenleben …. gesetzmäßig zu gestalten“.62 Ebd., S. 6.

Hiermit vorerst einmal genug. Man muß, angesichts dieses Weichselzopfs63 Verfilzte Kopfhaare. In der Neuzeit noch in Mitteleuropa verbreitet; oft verbunden mit Entzündungen der Kopfhaut, neuralgischen Schmerzen und Neurosen. Vgl. Neumann, Wladyslaw, Über den sogenannten Weichselzopf. – Leipzig: Benno Konegen 1904. von Aufstellungen, die alle mit dem Begriff der „Gesetzmäßigkeit“ operieren, bedauern, daß Stammler seine eigene Bemerkung (S. 3):64 Gemeint ist: Stammler, Wirtschaft2, S. 4. derjenige, der von „gesetzmäßigen Vorgängen“ spreche, müsse vor allen Dingen wissen, was er damit eigentlich sagen will“, sich selbst so ganz und gar nicht zu Herzen genommen hat. Denn während es doch wohl auf der Hand liegt, daß in fast jeder der obigen 10 Sentenzen von etwas anderem die Rede ist als in den übrigen, ergibt die Lektüre des Buchs ebenso zweifellos die allerdings erstaunliche Tatsache, daß Stammler sich vortäuscht, er rede beständig, nur in wechselnden Wendungen, von einem und demselben Problem. Dies wird ermöglicht durch die in einer mit solchem AplombjA: Applomb auftretenden Arbeit wohl beispiellose [503]Verschwommenheit und Zweideutigkeit seiner Formulierungen. Sehen wir uns die obigen in den entscheidenden Punkten im Wortlaut herausgegriffenen Sentenzen daraufhin noch einmal etwas an, so ist Nr. 1 überhaupt dem Sinn nach dunkel; was ein „abhängiger Zusammenhang mit einer Gesetzmäßigkeit“ bedeuten kann,65[503] Vgl. ebd., S. 3. ist nicht einzusehen, es sei denn, daß gemeint wäre entweder, man könne sinnvoll nur Einzelforschung treiben, um allgemeine (generelle) Gesetzmäßigkeiten daraus zu abstrahieren (nomothetisches Er[A 103]kennen) oder aber: man könne Einzelzusammenhänge nicht ohne Verwendung genereller (Gesetzes-)Erkenntnisk[503]A: (Gesetzes)-Erkenntnis kausal deuten (historisches Erkennen).66 Stammler verwendet weder Windelbands Unterscheidung zwischen nomothetisch versus idiographisch noch Rickerts Unterscheidung zwischen naturwissenschaftlich versus geschichtswissenschaftlich. Vgl. Windelband, Geschichte, S. 12; Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S. 10, Anm. 62), S. 38 f.; Rickert, Grenzen, S. 302 f. Daß Eins von diesen beiden oder auch beides in der Tat gemeint sei, könnte man aus Nr. 767 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 5. zu entnehmen geneigt sein, wonach die „Hauptfrage“lA: „Hauptfrage“, die sein soll, ob – so wird man die wiederum sehr verschwommene Fassung zu deuten geneigt sein – Gesetze des „sozialen Lebens“ in gleicher Art wie „Naturgesetze“ für die „tote“ Natur sich ermitteln lassen. Aus Nr. 368 Vgl. ebd., S. 3. und Nr. 669 Vgl. ebd., S. 4. (Notwendigkeit der Beziehung auf eine „grundlegende Gesetzmäßigkeit“, welche „Voraussetzung“ auch jeder gültigen Erkenntnis einzelner „Tatsachen“ als „notwendiger“ ist) könnte man des weiteren schließen, daß jene Thesen durch Bezugnahme auf die universelle Geltung der Kategorie der Kausalität (im Sinn von „Gesetzlichkeit“) in allerdings ganz unzulänglicher Weise motiviert werden sollten. Allein Nr. 270 Vgl. ebd., S. 3. und Nr. 871 Vgl. ebd., S. 5. sprechen demgegenüber plötzlich nicht mehr von der „Gesetzlichkeit“ des zu erkennenden Geschehens, sondern von der „Gesetzlichkeit“ unseres Erkennens, nicht mehr also von „Gesetzen“, die das Erkannte, resp. zu Erkennende: die Welt der „Objekte“ (die „Natur“ oder das „soziale Leben“)[,] empirisch beherrschen und [504]die zu ermitteln Aufgabe der Induktion72[504] Zu Induktion vgl. ebd., S. 8 f., 657. (des „Hinausgehens über die Einzelbeobachtung“: – Nr. 673 Vgl. ebd., S. 4: „jedes Hinausgehen über festgestellte Einzelbeobachtung“. – , um „besondern Tatsachen den Charakter der Notwendigkeit beizulegen“: – S. 4 unten)74 Ebd.: „legt besonderen Tatsachen […] die Eigenschaft der Notwendigkeit bei“. wäre, sondern sprechen statt dessen von Normen, die für unser Erkennen gelten. Denn etwas anderes wird man unter „allgemeingültigen Richtlinien der Erkenntnism[504] Ausführungszeichen fehlt in A. (Nr. 2)75 Vgl. ebd., S. 3. und unter „GesetzmäßigkeitnA: „Gesetzmäßigkeit“ aller unserer Erkenntnis von sozialen Dingen“ (Nr. 8)76 Vgl. ebd., S. 5; vgl. dazu auch oben, S. 302 mit Anm. 60. nicht wohl verstehen können. Hier verschwimmen also „Denknormen“ und „Naturgesetze“ miteinander. Aber damit nicht genug: die (nach Nr. 5)77 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 4. unentbehrliche Einsicht in den Tatsachen-Zusammenhang (Nr. 5)78 Vgl. ebd. (ein Konkretum) wird nicht nur gänzlich vermischt mit derjenigen in die „Gesetzmäßigkeit“ (ein Abstraktum) – obwohl, wenn diese letztere als Naturgesetzlichkeit verstanden werden sollte, beides einander entgegengesetzte, wenn aber als Erkenntnis-„Norm“, überhaupt gegeneinander disparate logische Beziehungen sind, – sondern jener „gesetzmäßige Zusammenhang“ (Nr. 5)79 Vgl. ebd. wird überdies auch noch mit dem Prädikat „allgemeingültig“ versehen. Daß es sich dabei nicht um die „Gültigkeit“ des empirisch-wissenschaftlichen Urteils über einen reinen „Tatsachen“-Zusammenhang handeln soll, deutet schon die an sich ganz unverständliche Formulierung in Nr. 380 Vgl. ebd., S. 3. an, wo von der Notwendigkeit der „Beziehung“ auf einen einheitlichenGesichtspunkt“ die Rede ist, und zwar auf einen „unbedingten“ Gesichtspunkt. Sowohl das Einordnen von Tatsachen in einen konkreten Zusammenhang wie die Abstraktion von „Gesetzmäßigkeiten“ aus Tatsachen81 Gemeint ist die generalisierende Abstraktion. Vgl. Einleitung, oben, S. 16 f. pflegen freilich beide jeweils unter besondern „Gesichtspunkten“ zu erfolgen: darauf beruht ja die Arbeitsteilung der meisten Spezialwissen[A 104]schaften unter einander. Aber von einem [505]„unbedingten“ Gesichtspunkt kann eben deshalb für die Gesamtheit der empirischen Disziplinen doch wohl keine Rede sein. Das Prinzip der Quantifikation und mathematischen Formung aber, an welches ebenfalls gedacht sein könnte, ist den im fachlichen Sinne sogenannten „Naturwissenschaften“ keineswegs durchweg gemeinsam, und die üblicherweise sogenannten „Geisteswissenschaften“ sind ja grade durch die Vielheit und Differenzierung der „Gesichtspunkte“ gekennzeichnet, unter denen sie die Wirklichkeit betrachten. Am allerwenigsten aber kann „einheitlicher Gesichtspunkt“ in diesem Sinn mit grundlegender „Gesetzmäßigkeit“ identifiziert und allen Wissenschaften zugeschrieben werden. Und selbst, wenn man schließlich die ihnen allen gleich konstitutive Kategorie der Kausalität einen „Gesichtspunkt“ nennen wollte – worüber später82[505] Unten, S. 514 ff. –, würde in den historischen Disziplinen, welche individuelle Objekte im kausalen Regressus aus anderen individuellen Objekten erklären,83 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 177 mit Anm. 10. die „Gesetzlichkeit“ des Geschehens zwar in einem sehr speziellen Sinne, vielleicht als eine der allgemeinen „Voraussetzungen“, aber sicherlich nicht als das, worauf die „Einzelbetrachtung“ bezogen wird, bezeichnet werden können. Während also Stammler „Einheitlichkeit“, „Gesetzmäßigkeit“, „Zusammenhang“, „Gesichtspunkt“ mit größter Unbefangenheit durcheinanderwirbeln läßt, handelt es sich dabei doch um ganz offensichtlich grundverschiedene Dinge, und die ganze Größe der angerichteten Konfusion wird vollends deutlich, wenn man aus der Sentenz Nr. 984 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 6. ersieht, woran denn nun eigentlich bei jenem „Gesichtspunkt“ gedacht ist. Die „oberste Gesetzmäßigkeit“ des sozialen Lebens „mündet“ – wie es da, wiederum äußerst verschwommen, heißt – in die „grundsätzliche Auffassung über das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit“ aus. Nehmen wir den Satz in seiner überaus liederlichen Formulierung so hin, wie er ist, so fragt sich nun offenbar: handelt es sich bei jener „Auffassung“ um die wissenschaftliche Erklärung der „faktischen“ Beziehungen des „Einzelnen“ zur „Gesamtheit“, oder aber wird hier ein salto mortale in die „Weit der Werte“,85 Stammler verwendet diese Formulierung nicht. des Sein-Sollenden also, gemacht? Die [506]Sentenz Nr. 10,86[506] Vgl. Stammler, ebd., S. 6; dort heißt es: „Durch die wissenschaftliche Einsicht in die für menschliches Gemeinschaftsleben überhaupt geltende Gesetzmäßigkeit ist daher die Möglichkeit bedingt, das menschliche Zusammenleben in jeweils besonderer geschichtlicher Lage gesetzmäßig zu gestalten […]“. wonach „die Einsicht in die für menschliches Gemeinschaftsleben geltende Gesetzmäßigkeit“ die „Möglichkeit seiner gesetzmäßigen Ausgestaltung“ bedingt, könnte an und für sich noch so verstanden werden, daß es sich um eine „Einsicht“ in Gesetze des Geschehens handele. In der Tat: wenn es möglich sein sollte, „Gesetze“ des sozialen Geschehens nach Art der „Naturgesetze“ zu finden – und die Nationalökonomie an ihrem Teil hat solche wieder und wieder gesucht87 So z. B. Roscher. Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 49 f. [,] dann ist, für die „zweckvolle“ Beherrschung des sozialen Geschehens und die Beeinflussung seines Verlaufs gemäß unsern Absichten, deren Kenntnis uns zweifellos ebenso wertvoll, wie die Kenntnis der Gesetze der „toten“ Natur es für deren technische Beherrschung ist. Allein wie schon die Bezugnahme auf die [A 105]„soziale Frage“ in der Sentenz Nr. 988 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 6. zeigt, könnte im Sinn dieses Satzes jedenfalls unter „gesetzmäßiger Ausgestaltung“ des sozialen Lebens nicht schon ein solches sozialpolitisches Vorgehen verstanden werden, welches lediglich die nach Art der Naturgesetze als faktisch geltend erkannten „Gesetze“ des Geschehens gebührend berücksichtigt, sondern offenbar nur eine den Gesetzen des Sein-Sollens, also praktischen Normen genügende „Ausgestaltung“. Und obwohl Stammler unter Umständen mit der größten Gemütsruhe dasselbe Wort in demselben Satz in zwei verschiedenen Bedeutungen braucht, so ist nach alledem doch wohl anzunehmen, daß auch das „Gelten“ der „Gesetzmäßigkeit“ hier imperativisch zu verstehen ist und die „Einsicht“ in sie mithin die Erkenntnis eines „Gebots“ und zwar des „höchsten“, „grundlegenden“ Gebots für alles soziale Leben sein soll. Der vermutete salto mortale ist also in der Tat gemacht worden, und wir stehen nun vorläufig einmal auf dem Gipfel dieser Verwirrung: Naturgesetze, Denk-Kategorien und Imperative des Handelns, „Allgemeinheit“, „Einheitlichkeit“, „Zusammenhang“ und „Gesichtspunkt“, Geltung als empirische Notwendigkeit, als methodisches Prinzip, als logische und als praktische Norm, – das [507]Alles und noch Einiges wird hier am Eingang des Buches89[507] Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 3–6; vgl. dazu oben, S. 501 mit Anm. 54. in einer Art durcheinander geschoben, die denn doch für eine Erörterung, welche den Gegner auf dem Boden der „Erkenntnistheorie“ schlagen will, wahrlich keine gute Prognose ergeben kann.

Aber vielleicht stellt sich Stammler hier nur so konfus! Sein Buch ist ja keineswegs frei von dem Wunsch, „Effekte“, namentlich „Spannungs“-Effekte,90 Stammler verwendet diese Formulierung nicht. zu erzielen, und es könnte also sein, daß er sich auf den ersten Seiten absichtlich nur einer rund um ihn herrschenden Unklarheit des Ausdruckes angepaßt hätte, um dann, allmählich, logische Klarheit und gedankliche Ordnung vor dem nach Erlösung aus jenem wirren Dunkel lechzenden Leser erstehen zu lassen, bis dieser reif wird, das endgültige, erlösende, ordnende Wort zu vernehmen. – Bei der Weiterlektüre nimmt nun aber, wenigstens innerhalb der „Einleitung“ (S. 3–20), die Verwirrung vorerst nicht ab, sondern zu. Wir finden (S. 12 unten)91 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 12 f.: „Wenn also soziale Lehren in ihrer Verallgemeinerung beweisende Kraft haben sollen, so müssen sie in formal einheitlicher Art und Weise, unter Verwendung allgemein zu grunde gelegter Begriffe und gestützt auf einheitliche Grundauffassung des sozialen Lebens und seiner Entwicklung auftreten.“ Im Handexemplar unterstreicht Weber „auffassung“ und „seiner Entwicklung“ und vermerkt am Rand: „? Begriff ?“. wieder die Zweideutigkeit von Ausdrücken wie „soziale Lehren“ und „einheitliche Grundauffassung“ des sozialen Lebens benützt, um (S. 13, vorletzter Absatz) die „Einsicht“ in die „Gesetzmäßigkeit“ als einen „Leitfaden“ hinzustellen, []nach dem alle Einzelwahrnehmungen (NB.!) der sozialen Geschichte (NB.!)[] „in übereinstimmender Weise aufgefaßt, beurteilt und gerichtet werden können“, – wir finden also in den zuletzt gesperrten Worten offenkundig Wert-Beurteilung zum Ziel der „Sozialwissenschaft“ gemacht, während in dem Leser durch die beiden zuerst gesperrten4)[507][A 105] Die Sperrungen bei Zitaten aus Stammler rühren, wo nicht ein anderes gesagt ist, durchweg von mir her. der Ein[A 106]druck erweckt wurde, es handle sich um theoretisches Erkennen. Auf S. 14 aber, in dem folgenden, die Grundlage der „Sozialphilosophie“ (S. 13 unten) erläuternden Satz: – „Wer von Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens“ (zweideutig! s. o.), „von [508]gesellschaftlicher Entwicklung“ (theoretisch), „von sozialen Schäden“ (normativ) „und der Möglichkeit oder Unmöglichkeit“ (theoretisch5)[508][A 106] „Theoretisch“ nämlich, nachdem feststeht, welcher Zustand als „Heilung“ und „Fortschritt“ gelten soll. Denn alsdann ist die Frage, ob die Herstellung dieses Zustandes „möglich“ und ob eine Annäherung an ihn, also ein „Fortschritt“, zu konstatieren sei, natürlich eine rein faktische Frage, auf welche die empirische Wissenschaft (im Prinzip) Antwort geben kann.) „ihrer Heilung“ (normativ) „spricht, wer die Gesetze der sozialökonomischen Phänomene“ (der Fassung nach theoretisch) „aufbringt“ (!), „von sozialen Konflikten“ (ebenso) „handelt und an einen Fortschritt“ (normativ) „im gesellschaftlichen Dasein der Menschen glaubt oder ihn leugnen“ (theoretisch5) „Theoretisch“ nämlich, nachdem feststeht, welcher Zustand als „Heilung“ und „Fortschritt“ gelten soll. Denn alsdann ist die Frage, ob die Herstellung dieses Zustandes „möglich“ und ob eine Annäherung an ihn, also ein „Fortschritt“, zu konstatieren sei, natürlich eine rein faktische Frage, auf welche die empirische Wissenschaft (im Prinzip) Antwort geben kann. N1 Max Weber verwendet den Index 5) zweimal, so daß in MWG digital der Fußnotentext dupliziert worden ist.) „will, ein solcher muß, bei Meidung irrelevanten (?) subjektiven“ (gilt nur für die Werturteile) „Geredes, vor allem über die Besonderheiten der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis“ (also nicht der sozialphilosophischen,92[508] Dies entspricht Webers Randbemerkung im Handexemplar zu ebd., S. 14 oben. von der bis dahin die Rede war) „sich Klarheit verschaffen“, – in diesem Satz pendelt, wie man sieht, die Erörterung innerhalb jedes einzelnen Satzteils zwischen Tatsachen-Erkenntnis und Tatsachen-Bewertung hin und her. Wenn ferner (S. 15 unten) gesagt wird: „Die allgemeingültige (NB.!) Gesetzmäßigkeit des in der Geschichte sich abrollenden sozialen Lebens“ (also „Gesetzmäßigkeit“ des Erkenntnis-Objektes) „bedeutet (!) einheitliche (?) und (?) allgemeingültige (NB.!) Art ihrer (NB.!) Erkenntnis“, – so liegt die Ineinanderschiebung von Gesetzlichkeit des Geschehens und Norm des Erkennens, der Erörterung von „Erkenntnisgrund“ und von „Realgrund“,93 Vgl. die Randbemerkung Webers zu ebd., S. 15 unten: „Realgrund u. Erkenntnisgrund verwechselt“. Zu dieser Unterscheidung vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 53 mit Anm. 63. ebenso auf der Hand, wie auf S. 16 in dem Satz, daß die „oberste Einheit für alle soziale Erkenntnis“ einerseits „als Grundgesetz für alles soziale Leben gelten“,94 Für Stammler, Wirtschaft2, S. 16, soll „diese Einheit, als Grundgesetz des gesellschaftlichen Daseins der Menschen, den obersten Gesichtspunkt für die Untersuchung des sozialen Lebens abgeben“. Diesen Passus versieht Weber im Handexemplar mit der Randbemerkung: „wieder etwas Andres!“. andrerseits (einige Zeilen später) die „allgemeingültige Grundlage“ sein soll, „auf der sich die Möglichkeit gesetzmäßiger Beobachtung menschlichen Gemeinschaftslebens dann ergibt“,95 Bei Stammler, ebd., heißt es: „Gesellschaftslebens im einzelnen dann ergibt“. [509]Stammler sogar die Ineinandermischung von Naturgesetz, praktischer und logischer Norm geglückt ist. Dabei hat man bei aufmerksamer Lektüre unaufhörlich das fatale Gefühl, daß die Zweideutigkeit solcher Ausdrücke wie „Gesetzmäßigkeit“, „allgemeingültig“ e tutti quanti in seinem Sprachgebrauch Stammler keineswegs ganz unbewußt geblieben ist, und selbst die gegenüber der ersten Auflage96[509] Stammler, Wirtschaft1. vorgenommenen Streichungen und Zusätze sind oft geeignet, diesen Eindruck zu steigern: St[ammler] weiß in vielen Fällen unzweifelhaft, daß seine Ausdrucksweise verschwommen und zweideutig ist. Aus dieser, wie gesagt, schwerlich überall unbewußten Zweideutigkeit seiner Ausdrücke nun, die uns auf [A 107]Schritt und Tritt auffällt, St[ammler] einen in irgend einem noch so indirekten Sinn „sittlichen“ Vorwurf zu machen, liegt – wie ausdrücklich bemerkt sei – mir absolut fern: – nein, es ist jene eigentümliche, instinktive „Diplomatie“ des in eine von ihm, wirklich oder vermeintlich, neu entdeckte „Weltformel“ verbissenen Dogmatikers, für den es a priori feststeht, daß sein „Dogma“ und die „Wissenschaft“ sich unmöglich widersprechen könneno[509]A: könne, und der deshalb aus dieser seiner Glaubensgewißheit heraus es mit der Sicherheit eines Nachtwandlers vermeidet, sich an bedenklichen Stellen seiner Argumentation durch Unzweideutigkeit „festzulegen“, sondern die Konfusion, die seine undeutliche und zweideutige Ausdrucksweise mit sich führt, getrost Gott anheimstellt, überzeugt, daß sie sich schon irgendwie der einmal erkannten „Formel“ anpassen und ihr entsprechend ordnen lassen müsse. Dem Unbefangenen freilich muß es höchst unwahrscheinlich erscheinen, daß, wenn man mit so leichtem Gepäck, mit einer solchen schülerhaften Vermengung der allereinfachsten Kategorien, wie wir sie bei St[ammler] schon auf den ersten Seiten fanden, die Fahrt beginnt, man zu irgend einem Verständnis dessen gelangen kann, was eine „empirische“ Disziplin, wie es die „Sozialwissenschaft“, in unserem Sinn,97 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 174 mit Anm. 97. ist, überhaupt als Erkenntniszweck wollen kann und soll. Und es ist nun auch leicht verständlich, daß St[ammler] die oben parodierte98 Oben, S. 491 ff. – sei es angebliche oder wirkliche – Argumentation [510]des Geschichtsmaterialismus so, wie er es tut, wiedergeben und für (außer von seinem „erkenntnis-theoretischen“ Standpunkt aus) unwiderleglich halten kann: wem „Naturgesetze“ und logische „Normen“ ineinanderschwimmen, der ist eben Scholastiker im strikten Sinn des Worts und der ist deshalb auch gegen scholastische Argumentationen machtlos. Daß dies in Wahrheit der Grund ist, zeigt sich denn auch sehr deutlich schon auf S. 19, wo erstmalig das allgemeine wissenschaftliche Wesen des Geschichtsmaterialismus gekennzeichnet wird. Nachdem auf S. 18, Absatz 3 scheinbar ausdrücklich der empirische Charakter des Problems anerkannt ist, folgt darauf im Absatz 4 die Feststellung, daß der Geschichtsmaterialismus ein festes „Rangverhältnis“ unter den Elementen des sozialen Lebens zu ermitteln suche, – d. h. also, wenigstens dem Anschein nach, daß er die kausale Bedeutung jener „Elemente“ in ihren Beziehungen zu einander generell feststellen wolle. Allein im selben Absatz war bereits kurz vorher davon gesprochen worden, daß die dem Geschichtsmaterialismus eigne Auffassung dieses Punktes ein „methodisches Prinzip“ von „formaler Bedeutung“ sei, und auf S. 1999[510] Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 18 f. schließt sich daran, in der bei St[ammler] üblichen Verschwommenheit, die weitere Behauptung, daß, der „Grundmeinung“ der „materialistischen Geschichtsauffassung“ gemäß – es wird nicht gesagt, ob dies die bewußte Ansicht ihrer Vertreter oder eine von Stammler ihnen imputierte „Konsequenz“ ihrer Ansicht sein soll – man zu unterscheiden habe zwischen den „erkannten [A 108]Einzelgesetzen“ und: der „allgemeinen formalen Gesetzmäßigkeit, das ist die grundlegende Art der reinen Synthesis von Tatsachen zu Gesetzen“.1 Bei Stammler, ebd., S. 19, heißt es: „der rechten Synthesis“. Nichts ist nun bekanntlich vieldeutiger als das Wort „formal“ und der Sinn des Gegensatzes: Inhalt – Form. Was darunter verstanden sein soll, bedarf in jedem einzelnen Fall einer ganz präzisen Feststellung. Da – nach Stammler selbst – die „Grundmeinung“ des Geschichtsmaterialismus dahin geht, daß durchweg die „ökonomischen Phänomene“ in ihrer Eigenart und Entwicklung es sind, welche für die Gestaltung aller übrigen historischen Vorgänge den Ausschlag geben, d. h. sie ursächlich eindeutig bestimmen, so mag man zwar die Unbe[511]stimmtheit des Begriffs „ökonomische Phänomene“2[511] Stammler bestimmt diesen Begriff im zweiten Abschnitt („Ökonomische Phänomene“) des dritten Buches („Monismus des sozialen Lebens“). Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 234 ff., hier S. 253: „Ein ökonomisches Phänomen heißt daher eine gleichheitliche Massenerscheinung von Rechtsverhäitnissen.“ Im Handexemplar mit doppeltem Randstrich und einem großen Fragezeichen versehen. rügen, sicher ist aber jedenfalls Eins: daß diese Behauptung eine sachliche, die Art des Kausalzusammenhangs des empirischen Geschehens betreffende ist, eine These mithin, die sich von der Behauptung: daß in einem oder mehreren konkreten Einzelfällen oder in bestimmten enger oder weiter gefaßten Gattungen von Fällen „ökonomische“ Ursachen ausschlaggebend seien, in durchaus gar nichts anderem als in ihrer größeren Allgemeinheit unterscheidet. Sie ist eine Hypothese, welche man z. B. versuchen kann, „deduktiv“ aus den allgemeinen faktischen Bedingungen des menschlichen Lebens wahrscheinlich zu machen und dann „induktiv“ immer erneut an den „Tatsachen“ zu verifizieren, – stets aber bleibt sie eine sachliche Hypothese. Daran ändert natürlich es auch ganz und gar nichts, wenn z. B. jemand erklärt, die geschichtsmaterialistische Theorie nicht als einen Lehrsatz, sondern als ein „heuristisches Prinzip“ anzuerkennen und damit eine spezifische „Methode“ der Durchforschung des geschichtlichen Materials „unter ökonomischen Gesichtspunkten“ zu statuieren sucht. Denn dies, wie die Erfahrung lehrt, bei sachgemäßem und nüchternem Vorgehen, unter Umständen höchst fruchtbare Verfahren bedeutet ja doch wiederum lediglich, daß jene generelle Behauptung von der Bedeutung der ökonomischen Bedingungen als sachliche Hypothese behandelt und an den Tatsachen auf ihre Tragweite und die Grenzen ihrer Richtigkeit hin geprüft werden soll. Es ist absolut nicht abzusehen, wie jene Hypothese dadurch oder überhaupt irgendwie ihren Sinn als einer generellen sachlichen Behauptung wechseln und einen „formalen“ Charakter gewinnen sollte, der sie mit einer gegenüber den „Einzelgesetzen“, – d. h.: Behauptungen oder Lehrsätzen, die weniger umfassende Generalisationen enthalten, – spezifischen logischen Dignität ausstattete, dergestalt, daß jene „besonderen Gesetze“ ihren „Geltungswert“ und ihre „wissenschaftliche Existenzberechtigung“ nunmehr logisch auf sie „stützen“.3 Für Stammler, ebd., S. 19, strebt die materialistische Geschichtsauffassung danach, „das Ganze der sozialen Entwicklung als einen Naturprozeß darzutun, welchem man [512]seine Gesetze jeweils abzulauschen im stande ist“. Dabei unterscheidet er zwischen „besonderen Gesetze[n], welche für die einzelnen geschichtlichen Erscheinungen innerhalb eines sozialen Lebens Geltung haben“, wie z. B. „die der kapitalistischen Produktionsweise immanent innewohnenden Einzelgesetze, wie dasjenige der notwendigen Erzeugung von Mehrwert“; und dem „für alles irgendwelche soziale Leben geltende[n] formale[n] Grundgesetz der notwendigen Abhängigkeit alles gesellschaftlichen Daseins von der sozialen Wirtschaft“ – Weber unterstreicht im Handexemplar „formale“ und notiert am Rand dazu: „warum formale?“ –, worauf „dann jene Einzelgesetze, die unter besonderen empirischen Bedingungen gelten, ihren Geltungswert und ihre wissenschaftliche Existenzberechtigung stützen“ – Weber unterstreicht „stützen“ und setzt ein großes Fragezeichen an den Rand mit dem Kommentar: „absolut nicht“. Es [512]steht natürlich terminologisch frei und geschieht oft, daß die jeweilig letzten („höchsten“) Generalisationen einer Disziplin – so etwa der Satz von der „Erhaltung der Energie“4 Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 255 mit Anm. 54. – um deswillen als „formal“ bezeichnet werden, weil sie mit einem Maximum von [A 109]Geltungs-„Umfang“ ein Minimum von sachlichem „Inhalt“ – aber wohlgemerkt nicht etwa: keinen sachlichen Inhalt! – verbinden. Jede „höhere“ Generalisation überhaupt ist aber alsdann „formal“ im Verhältnis zu allen „niedrigeren“ d. h. weniger umfassenden. Alle „Axiome“ der Physik5 Vgl. Wundt, Axiome. Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S. 342. z. B. sind „höchste“ Generalisationen jener Art, d. h. Hypothesen von mathematischer „Evidenz“ und außerordentlich hohem Grade empirischer „Erprobtheit“ an den Tatsachen, der sich seither bei jeder Verwendung ihrer als „heuristischer Prinzipien“ gesteigert hatp[512]A: hat, (der aber trotzdem, wie z. B. die Radioaktivitätsdebatte zeigte, ganz und gar von der immer wiederkehrenden „Bewährung“ an den „Tatsachen“ abhängt). Allein schon ein Student der Logik im ersten Semester ist verpflichtet zu wissen, daß sie damit nicht den logischen Charakter „formaler“ Erkenntnisprinzipien im Sinn von erkenntnistheoretischen „Kategorien“ a priori erreicht haben und ihn auch nie und nimmer zu erreichen imstande sind. Es ist, wenn man denn einmal, wie St[ammler], als „Erkenntnistheoretiker“ aufzutreten beabsichtigt und sich dabei gar noch ausdrücklich auf Kant stützen will,6 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 17; allerdings bezeichnet sich Stammler dort nicht als „Erkenntnistheoretiker“. natürlich ganz der gleiche unentschuldbar schülerhafte Fehler, wenn man „Axiome“, d. h. Sätze, welche Erfahrung „vereinfachen“[,] [513]zum Range einer „Kategorie“ erhebt, wie wenn man die „Kategorien“, deren formende Macht „Erfahrung“ erst sinnvoll „möglich“ werden läßt, zu generellen Erfahrungssätzen stempelt und z. B., weil wir, höchst ungenau, zuweilen vom „Kausalgesetz7[513] Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 52, Fn. 16 mit Anm. 59. Stammler verwendet diese Formulierung häufig; vgl. dazu z. B. oben, S. 495 mit Anm. 32. reden, die einzelnen „Naturgesetze“ als das jeweils unter besonderen Bedingungen „wirkende“ Kausal-„Gesetz“, als dessen „Spezialfälle“ also, ansieht, das „Kausalgesetz“ selbst aber, dem entsprechend, als die umfassendste Tatsachen-Generalisation. Der zuletzt genannte Fehler ist ein Rückschritt hinter Kant bis (mindestens) auf Hume, der erstgenannte aber noch sehr viel weiter, nämlich bis in die Scholastik. Auf diesem Rückfall in die massivste Scholastik beruht aber Stammlers ganze Argumentation: man lese noch einmal die oben gegebene Parodie8 Oben, S. 491 ff. und überzeuge sich eventuell noch einmal, daß sie dem, was an den dort zitierten Stellen und auf S. 18 und 19 des Stammlerschen Buches gesagt ist, auch in der Tat entspricht. Den andern grade entgegengesetzten Fehler: Verwandlung der Kategorien in Erfahrungssätze, hat er zwar nicht „ausdrücklich“ begangen, – im Gegenteil: er bemüht sich ja, auf dem Boden der Kantschen Lehre zu stehen –; daß er ihn implicite ebenfalls macht, werden wir aber bald sehen9 Unten, S. 517 f. und überdies, wenn wir die Schwächlichkeit und Inkonsequenz, mit der er die „Frage“ der Kausalität behandelt, später näher kennen lernen, uns überzeugen, daß es im praktischen Effekt nicht allzu viel ausmacht, ob man die „Axiome“ zu „Kategorien“ empor- oder die „Kategorien“ zu „Axiomen“ herabschraubt. Vollends die Erhebung rein methodologischer „Grundsätze“ zum Range erkenntnistheoretisch verankerter „Formalprinzipien“, wie Stammler sie [A 110]in seiner eingangs (in parodierter Form) wiedergegebenen Darlegung der „materialistischen Geschichtsauffassung“ zum Besten gibt,10 Vgl. oben, S. 497 und S. 500 mit Anm. 48. ist – nur im umgekehrten Sinn – natürlich ganz dasselbe, wie die Verwandlung des Satzes vom Grunde11 Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S. 364 mit Anm. 49. in ein „heuristisches Prinzip“, d. h. aber: in eine an der Erfahrung zu erprobende Hypothese: – und solche Schnitzer tischt uns ein angeblicher „Jünger“ Kants auf!

[514]Ein Weichselzopf12[514] Vgl. oben, S. 502 mit Anm. 63. all dieser und ähnlicher elementarer logischer Fehler endlich ist es, wenn Stammler die „Kategorien“ schließlich auch noch zu „Gesichtspunkten“ stempelt, „unter denen“ die Generalisationen erfolgen, wie er auf S. 12 unten tut. Dort erklärt er die stete Frage für unentbehrlich, „nach welchem einheitlichen Gesichtspunkt“ bei den „Generalisationen bestimmter Beobachtungen“ (NB!) verfahren worden sei: „Geschieht es im Sinne der Kausalität oder der Zweckidee; warum das eine oder das andere, und in welchem Sinn jedes des Nähern?“13 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 12; im Handexemplar markiert Weber den hier zitierten Satz mit einem doppelten Randstrich und kommentiert: „Das hätte auch Stammler S. 3–8 beachten sollen“; das Wort „Zweckidee“ unterstreicht er und notiert am Rand: „was ist das?“. – Zunächst ist nun diese Alternative, wenn sie besteht, keineswegs eine ausschließliche. Der generelle Begriff „weiße Gegenstände“ z. B. ist weder unter „kausalen“ Gesichtspunkten noch unter dem Gesichtspunkt einer „Zweckidee“ gebildet, er ist nichts als eine logisch bearbeitete Allgemein-Vorstellung, ein einfacher klassifikatorischer Begriff.14 Zur „classificatorischen Begriffsbildung“ vgl. Sigwart, Logik II (wie oben, S. 5, Anm. 31), S. 231 ff.; Rickert, Grenzen, S. 68 ff. Aber auch wenn wir von dieser Unexaktheit des Ausdrucks absehen, bleibt vollständig offen, was eigentlich mit jener Alternative gemeint ist. Denn was heißt: „Generalisieren von Beobachtungen im Sinne der Zweckidee?“15 Vgl. dazu oben, S. 514 mit Anm. 13. Wir wollen uns die Möglichkeiten dessen kurz vergegenwärtigen, da diese Betrachtung einigen späteren Erörterungen zu Gute kommen kann. Heißt es etwa die deduktive Erschließung von metaphysischen „Naturzwecken“ aus empirischen „Naturgesetzen“, – etwa in dem Sinn, in welchem E[duard] v. Hartmann gelegentlich aus dem sog. „zweiten Hauptsatz“ der Energielehre16 Vgl. Clausius, Robert, Über den zweiten Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie. Ein Vortrag gehalten in einer allgemeinen Sitzung der 41. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Frankfurt a.M. am 23. September 1867. ‒ Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn 1867. Dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zufolge nimmt in einem abgeschlossenen System die Entropie zu. Ein Zustand der Ordnung geht von selbst in einen Zustand der Unordnung über. den „Zweck“ des endlichen Weltprozesses zu demonstrieren sucht?17 Für Hartmann, Eduard von, Die Weltanschauung der modernen Physik. – Leipzig: Hermann Haacke 1902, S. 29 ff., bes. S. 33, beinhalten die Hauptsätze der Energieleh[515]re, daß „die Welt endlich sein“ muß; „ist aber die Welt endlich, so folgt aus dem zweiten Hauptsatz, dass auch ihr Prozess nach vorwärts hin endlich sein muss, dass er wenigstens immer schwächer wird und sich immer mehr einem ruhenden Gleichgewichtszustand nähert“. Im Anschluß daran kommt Hartmann, ebd., S. 40 f., auf eine „objektive Teleologie“ zu sprechen, derzufolge der alleinige „Daseinszweck der unorganischen Natur in der Hervorbringung des organischen Lebens“ bestehe. In Webers Handexemplar (Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München) ist „Daseinszweck“ unterstrichen, mit einem doppelten Randstrich und der Notiz versehen: „Umschlag in Metaphysik“. Oder heißt es die Verwen[515]dung „teleologischer Begriffe“, wie z. B. in der Biologie,18 Vgl. Rickert, Grenzen, S. 455 ff. Vgl. auch Weber, Roscher und Knies 3, oben, S. 359 f. als heuristischer Prinzipien zur Gewinnung von genereller Einsicht in die Zusammenhänge der Lebenserscheinungen? Im ersteren Fall soll metaphysischer Glaube durch Erfahrungssätze gestützt werden, im zweiten wird „anthropomorphe“ Metaphysik heuristisch verwendet, um Erfahrungssätze zu entbinden. Oder sollen damit Erfahrungssätze über die für gewisse, generell bestimmte „Zwecke“ generell „geeigneten Mittel“ gemeint sein? In diesem Fall würde es sich aber natürlich um einfache generelle kausale Erkenntnis handeln, welche in die Form eines praktischen Raisonnements gekleidet wäre. Der Satz z. B.: „die wirtschaftspolitische Maßregel x ist für den Zweck y dienlich“ ist lediglich eine Umstilisierung des empirischen, eine generelle Kausalverknüpfung behauptenden Lehrsatzes: „wenn x stattfindet, so ist y die generelle (und zwar entweder: die ausnahmslose, oder: die „adäquate“) Folge“.19 Zum Begriff der adäquaten Verursachung vgl. Einleitung, oben, S. 23. Den ersten der drei Fälle dürfte Stammler, der ja keine Metaphysik, [A 111]am wenigsten naturalistische, treiben will, schwerlich meinen, die beiden anderen würde er doch wohl als „Generalisationen im Sinn der Kausalität“20 Vgl. dazu oben, S. 514 mit Anm. 13. anerkennen müssen. Oder sollte etwa die logische Bearbeitung genereller Werturteile und ethischer oder politischer Postulate gemeint sein? Der Satz: „der Schutz der Schwachen ist Aufgabe des Staates“,21 In der Sozialpolitik des Deutschen Reiches verbreitete Formulierung. Vgl. sinngemäß z. B. Kautsky, Karl, Die Klassengegensätze von 1789. Zum hundertjährigen Gedenktag der großen Revolution. Separat-Abdruck aus der „Neuen Zeit“. Heft 1–4. ‒ Stuttgart: J.H.W. Dietz 1889, S. 10 f. Stammler verwendet diese Formulierung nicht. ist, – wenn wir hier einmal von der Verschwommenheit der Begriffe „Schutz“ und „schwach“ abstrahie[516]ren, – eine „generelle“ praktische Maxime,22[516] Zum Begriff „Maxime“ vgl. unten, S. 530 ff. deren Wahrheits-Gehalt im Sinn des Gelten-Sollens selbstverständlich auch der Diskussion fähig ist. Nur selbstredend in einem absolut andern Sinn als dem der Feststellung als empirischer Tatsache oder „Naturgesetz“. Enthält sie aber etwa eine „Generalisation von Beobachtungen“? oder ist die Auseinandersetzung über ihren Wahrheitsgehalt durch „Generalisationen von Beobachtungen“ zu Ende zu führen? Da ist zu unterscheiden. Der Maxime wird entweder direkt der Charakter eines gültigen „Imperativs“ bestritten: dann bewegt sich die Diskussion auf dem Gebiet der ethischen „Normen“. Oder es wird ihre faktische „Durchführbarkeit“ bestritten: dann handelt es sich um den oben erwähnten23 Oben, S. 515. dritten Fall: es wird ein x gesucht, dessen Herbeiführung y (hier: den „Schutz der Schwachen“) zur generellen Folge haben würde[,] und diskutiert, ob es eine staatliche Maßregel gebe, welche dieses x sei: eine rein kausale Betrachtung unter Verwendung von „Erfahrungsregeln“. Oder endlich ‒ der weitaus häufigste Fall –: es wird ohne direkte Anfechtung der Geltung der gedachten Maxime nachzuweisen gesucht, daß sie um deswillen kein Imperativ sein könne, weil ihre Befolgung in ihren unvermeidlichen Konsequenzen andre, als Imperative anzuerkennende Maximen in ihrer Durchführbarkeit gefährde. Zu diesem Behuf nun werden die Gegner des diskutierten Satzes zweifellos generelle Erfahrungssätze über die Folgen der Durchführung jener sozialpolitischen Maxime zu gewinnen trachten und[,] nachdem sie solche, sei es durch direkte Induktion oder durch Aufstellung von Hypothesen, die an der Hand anderweitig anerkannter Lehrsätze zu demonstrieren versucht werden, gewonnen haben oder gewonnen zu haben glauben, werden sie die „Gültigkeit“ der Maxime wegen einer im Fall ihrer Durchführung zu gewärtigenden Verletzung z. B. etwa der „Maxime“: daß es Pflicht des Staates sei, die physische Gesundheit der Nation und die Träger der ästhetischen und intellektuellen „Kultur“ vor „Degeneration“ zu „schützen“ (wir sehen auch hier von der Art der Formulierung natürlich ganz ab), bestreiten. Die Erfahrungssätze, welche ins Feld geführt werden, fallen dann wiederum unter den oben erwähnten24 Ebd. „dritten“ [517]Fall: sie sind durchweg generelle Urteile über Kausalzusammenhänge nach dem Schema: auf x folgt – immer, oder: der „Regel“ nach – y. Wo aber sind dabei Generalisierungen von Beobachtungen „unter dem Gesichtspunkt der Zweckidee“ im [A 112]Gegensatz zu generellen Kausalsätzen vorgenommen? – Die beiden einander bekämpfenden Maximen selbst schließlich sind Werte, die letztlich gegeneinander „abgewogen“ und zwischen denen eventuell gewählt werden muß. Aber diese Wahl kann sicherlich nicht im Wege der „Generalisierung“ von „Beobachtungen“, sondern nur im Wege der „dialektischen“ Ermittlung ihrer „inneren Konsequenz“, d. h. also der „höchsten“ praktischen „Axiome“, auf die jene Maximen zurückgehen, begründet werden. Ganz so verfährt ja auch Stammler, wie wir später sehen werden, in seinen Deduktionen im letzten Kapitel seines Buchs.25[517] Vgl. den dritten Abschnitt („Sozialer Idealismus“) des fünften Buches („Das Recht des Rechtes“) in Stammler, Wirtschaft2, S. 560 ff. Und nicht nur bei dieser Gelegenheit hebt auch er durchaus zutreffend die absolute logische Disparatheit von kausaler „Erklärung“ und „Werturteil“, von Entwicklungsprognose und Sollen hervor, sondern schon im Verlauf der Darstellung des Geschichtsmaterialismus erläutert er diesen Gegensatz (S. 51–54)26 Ebd., S. 51–55. in einem „Dialog“ zwischen „Bürger“ und „Sozialisten“ in dankenswerter Anschaulichkeit. Beide Gegner „tummeln sich in getrennten Elementen“,27 Ebd., S. 56. weil der eine von dem spricht, was – nach (wirklich oder vermeintlich) feststehenden Erfahrungsregeln – unvermeidlich wird, der andere von dem, was, mit Rücksicht auf bestimmte (wirkliche oder angebliche) Kulturwerte, unbedingt nicht sein soll: „es ist“ – sagt Stammler „der Kampf des Bären mit dem Haifisch“.28 Ebd. Gut! – aber sollte man es angesichts dessen für möglich halten, daß Stammler seinerseits es schon einige Seiten später fertig bringt, ganz in der uns schon mehrfach begegneten Art, beide, wie er doch selbst weiß, gänzlich verschiedenartigen Fragestellungen als mit einander identisch zu behandeln? – Oder geschieht dies etwa nicht, wenn er (S. 72) fragt: „welches ist denn nun das allgemeingültige …Verfahren, nach dem man Einzelwahrnehmungen (NB!) aus der Geschichte …. verallgemeinert (NB.!) [518]und als ,gesetzmäßige‘ Erscheinungen erkennt und bestimmt?“29[518] Vgl. ebd., S. 72. Den hier zitierten Passus hat Weber in seinem Handexemplar ab „verallgemeinert“ unterstrichen und mit dem Randkommentar versehen: „ein ganz unklarer Ausdruck!“. ‒ und gleich im selben Atem, ohne mit der Wimper zu zucken, fortfährt: „Wenn Jemand aber gar nicht weiß, was es überhaupt heißt: eine Erscheinung des Gesellschaftslebens rechtfertigen (NB.!), so hat es auch keinen Sinn, im Einzelnen darüber zu streiten, ob ein bestimmtes soziales Meinen und Streben gerechtfertigt (NB.!) sei oder nicht“.30 Vgl. ebd. Weber unterstreicht im Handexemplar „rechtfertigen“ und „bestimmtes“ und fügt eine längere Randnotiz an: „Sprung in das Gebiet des Werthens! Unglaublich! Stammler spricht hier an sich selbst vorbei, er ist ‚Bürger‘ u. ‚Sozialist‘ in einer Person.“ Wer hier nicht sieht, daß Stammler sich „in getrennten Elementen tummelt“ und es dabei wahrhaftig fertig bringt, „den Kampf des Bären mit dem Haifisch“31 Vgl. oben, S. 517 mit Anm. 28. sich in eine friedlich-milde konfuse Verbrüderung beider auflösen zu lassen, ‒ der, scheint mir, will es nicht sehen. ‒

Allein diese, wie jede Lektüre des Buches zeigt, auf Schritt und Tritt sich wiederholende Mystifikation des Lesers durch das beständige Jonglieren mit zwei heterogenen Fragestellungen ist bei weitem nicht die schlimmste unter jenen beständigen Tergiversationen,32 Von frz., Ausflüchte. mit denen der „erkenntnistheoretische“ Unterbau der Stammlerschen „Kritik“ des [A 113]Geschichtsmaterialismus operiert. Was heißt denn eigentlich, wollen wir nachgerade einmal fragen, bei Stammler „sozialer Materialismus“, – derjenige Begriff, den er umschichtig mit „materialistischer Geschichtsauffassung“ braucht?33 Vgl. den ersten Abschnitt („Sozialer Materialismus“) des ersten Buches („Stand der Frage“) in Stammler, Wirtschaft2, S. 21 ff. „Materialistisch“ nennt oder, richtiger, nannte sich die von St[ammler] (angeblich) kritisierte „Auffassung“ deshalb, weil sie – so dürfen wir wohl, trotz allem, die „communis opinio“ ihrer Anhänger formulieren – die eindeutige Bedingtheit der „historischen“ Vorgänge durch die jeweilige Art der Beschaffung und Verwendung „materieller“, d. h. ökonomischer, Güter und insbesondere auch die eindeutige Determiniertheit des „historischen“ Handelns der Menschen durch „materielle“, d. h. ökonomische, Interessen behauptete. Das bereitwilligste nochmalige Zugeständ[519]nis an Stammler, daß alle einzelnen Begriffe, die zu dieser, hier rein provisorischen, Definition verwendet sind, Probleme enthalten und ihrem Inhalt nach höchst unbestimmt, ja vielleicht mit absoluter Schärfe gar nicht abgrenzbar[,] sondern flüssig sind, und die ausdrückliche (aber für jeden, der die Bedingungen wissenschaftlicher Arbeit kennt, ganz selbstverständliche) Feststellung, daß es bei der Unterscheidung „ökonomischer“ von nicht-ökonomischen Determinanten des Geschehens sich stets um gedankliche Isolationen34[519] Vgl. Einleitung, oben, S. 16. handelt, – dies alles ändert nicht das Mindeste daran, daß „ökonomische“ Interessen, „ökonomische“ Phänomene, „materielle“ Verhältnisse etc. dabei jedenfalls durchweg als ein sachlicher Teil der Gesamtheit der „historischen“ oder der „Kultur“-Erscheinungen, vor allem auch als ein Teil des „Gesellschaftslebens“ oder des „sozialen Lebens“ im Sinne von Stammlers Terminologie gedacht sind. Stammler selbst hatte (S. 18) anerkannt, daß der Geschichtsmaterialismus über das „Rangverhältnis“ eines „Elements“ des sozialen Lebens zu andren etwas Generelles aussagen wolle, und an andrer Stelle (S. 64–67) führt er selbst, ganz dieser, mit der üblichen Redeweise übereinstimmenden, Ansicht gemäß, Beispiele an und erläutert sie kritisch, welche das gegenseitige Kausalverhältnis „wirtschaftlicher“ („materieller“) und nicht „wirtschaftlicher“ Motive betreffen.35 Stammler, Wirtschaft2, S. 64 f., nennt z. B. die Kreuzzüge. Drei Seiten später aber (S. 70, vorletzter Absatz) heißt es plötzlich: „wenn man aber erst einmal den Begriff der Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens mit demjenigen des kausal erklärten Werdegangs sozialer Veränderungen identifiziert: wie will man dem Satze ausweichen, daß schließlich einmal alle gesetzmäßig erkannten Vorkommnisse des Gesellschaftslebens auf die Grundlage der sozialen Wirtschaft in Abhängigkeit (!) zurückgehen?“q[519]A: „zurückgehen?“?“6)[519][A 113] Beispiel – auf S. 71 oben –: der „maßgebliche“ Einfluß „im letzten Grunde“ der wirtschaftlichen Bedingungen auf die Entwicklung der Architektur (ein an sich, beiläufig bemerkt, schwerlich überzeugender Fall, der aber überdies, da er auf sachliche Beweisgründe zu stützen versucht wird, in Widerspruch [A 114]mit dem angeblich „formalen“ [520]Charakter des Prinzips steht). – Jene eigentümliche Diplomatie der Unklarheit, von der früher schon gesprochen wurde,40 Oben, S. 509. macht sich auch hier bemerklich: „in Abhängigkeit zurückgehen“,41 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 70. „maßgeblicher Einfluß“,42 Ebd., S. 71. Im Handexemplar ist „maßgeblichen“ von Weber doppelt unterstrichen, mit doppeltem Randstrich, einem großen Ausrufezeichen und dem Kommentar versehen: „aber von ausschließlichem?“. – das sind Ausdrücke, welche Stammler dem Wortsinn nach immer noch den Rückzug auf die Ausflucht gestatten würden, er habe ja nicht (wie dies der strikte „Materialist“ tut) von ausschließlich wirtschaftlicher Bedingtheit gesprochen. Aber das „im letzten Grunde“ ist doch zu echt geschichtsmaterialistisch formuliert, als daß er sich ihrer würde bedienen dürfen. 36 Im Handexemplar hat Weber diesen Passus mit drei dicken Randstrichen und dem Kommentar: „Unglaublich!“ versehen.

[520][A 114]Man fragt sich vergebens, womit Stammler diese Argumentation, die im Ergebnis ja dem Geschichtsmaterialismus, wie man sieht, schlechthin alles gibt, was er braucht – und noch weit mehr – plausibel machen will. Denn wieso aus der Geltung des Satzes vom zureichenden Grunde37[520] Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S. 364 mit Anm. 49. für alles historische Geschehen und jede Erscheinung des Gesellschaftslebens folgen soll, daß alles historische Geschehen und jede Erscheinung des gesellschaftlichen Lebens in letzter Instanz aus einem seiner Elemente allein müsse erklärt werden können, widrigenfalls ein Verstoß gegen die Kategorie der Kausalität vorliege, das ist denn doch wahrlich nicht einzusehen. Zwar halt! – wenn wir zwei Seiten zurückblättern, finden wir (S. 68) die Behauptung, es sei unmöglich, eine Mehrzahl von „grundlegenden Einheiten“ anzunehmen, „in denen ganz getrennte Kausalreihen neben einander herliefen“.38 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 68. Im Handexemplar hat Weber die hier zitierten Passagen mit doppeltem Randstrich markiert, die Aussage „ganz getrennte Kausalitätsreihen“ unterstrichen und dazu am Rand vermerkt: „wer behauptet denn das?“. Da auf dem Gebiet des Historischen kein Verständiger etwas derartiges annimmt, jedermann vielmehr weiß, daß der kausale Regressus jeder „Einzelerscheinung“ ins Unendliche auseinanderläuft39 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 177 mit Anm. 10. und von „wirtschaftlichen“ Phänomenen – d. h. solchen, deren „wirtschaftliche Seiten“ im gegebenen Fall allein unser Interesse und Erklärungsbedürfnis erregen – ebenso auf Bedingungen politischer, religiöser, ethischer, geographischer etc. Art wie umgekehrt von politischen Phänomenen auf „wirtschaftliche“ und alle übrigen führt, so ist natürlich mit diesem Satz umsoweniger etwas für Stammlers These bewiesen, als er ja selbst sich gleich nachher darauf besinnt, daß jede Betrach[521]tung einer einzelnen „Seite“ – also doch wohl auch der wirtschaftlichen – zum Zweck gesonderter Analyse, lediglich eine gedanklich vorgenommene Abstraktion aus dem „Allzusammenhang“43[521] Möglicherweise von Gottl übernommen, der diesen Begriff häufig verwendet. Vgl. z. B. Gottl, Herrschaft, S. 128. bedeutet. Wir sind also über die Begründung des erwähnten Sentiments (S. 70) noch nicht klarer geworden. Blättern wir nun aber noch eine Seite weiter zurück (S. 67 unten)[,] so finden wir, daß da behauptet wird: „… alle Einzelbetrachtung, die unter dem Grundsatz des Kausalitätsgesetzes vollzogen wird, muß als grundlegende Bedingung die durchgängige Verbindung aller Sondererscheinungen nach einem (!) allgemeinen Gesetz annehmen, welches Gesetz dann im einzelnen aufzuweisen (?) ist.“44 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 67. Im Handexemplar unterstreicht Weber „Kausalitätsgesetzes“ und „nach einem allgemeinen Gesetze“, versieht die erste Unterstreichung mit dem Randkommentar: „= gesetzes!“ und verbindet sie mit der zweiten durch ein Fragezeichen und die Frage: „ein anderes als eben das Causalgesetz?“. Vgl. dazu bereits oben, S. 495 f. mit Anm. 32. Hier haben wir offenbar einen – wenigstens nach Stammlers Meinung – erkenntnistheoretischen Kernsatz des Geschichtsmaterialis[A 115]mus, den er, wie seine nunmehr als Konsequenz daraus freilich sofort verständliche These auf S. 70, die uns hier beschäftigt, zur Evidenz zeigt, sich auch seinerseits bedingungslos aneignet. Fragt man, wie Stammler zu dieser Aufstellung gelangt ist, so sind dabei wahrscheinlich – denn Sicherheit ist aus dem Wirrwarr seines Buches nicht zu gewinnen ‒ Trugschlüsse von unter sich verschiedener Provenienz im Spiel. Zunächst hat ihm – wie mehrfache entsprechende Äußerungen andeuten – wohl vorgeschwebt, daß die „exakten“ Naturwissenschaften mit dem Gedanken der „Reduktion“45 Rickert konzipiert die naturwissenschaftliche Begriffsbildung im Sinne einer solchen Reduktion. Vgl. Rickert, Grenzen, S. 75 ff., 228 ff. der Qualitäten auf Quantitäten, der Licht-, Ton-, Wärme- usw. Erscheinungen z. B. auf Bewegungsvorgänge qualitätsloser materieller „letzter“ Einheiten[,] arbeiten und deshalb die Vorstellung nähren, daß nur jene quantitativen Veränderungen der Materie wahre „Realitäten“, die „Qualia“46 Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S. 346 mit Anm. 83. aber deren „subjektive Wiederspiegelungen“ im Bewußtsein und also „ohne wahre Realität“ seien. So seien, meint er deshalb, nach der Lehre des Geschichtsmaterialismus im geschichtlichen Leben die „Materie“ (die wirtschaftlichen Verhält[522]nisse und Interessen) und ihre „Veränderungen“ das allein Reale,47[522] Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 23: „Die gesellschaftliche Wirtschaft ist das Bestimmende und Befehlende; sie ist als Materie des sozialen Lebens das wahrhaft Reale, die wirkliche Substanz desselben.“ Im Handexemplar unterstreicht Weber „ist“ und „Materie“ und vermerkt am Rand: „= soll sein?“. alles andere nur ideologischer „Überbau“ und „Wiederspiegelung“.48 Vgl. ebd., S. 28 f.: „Das gesamte geistige Leben eines Volkes ist nach der materialistischen Geschichtsauffassung weiter nichts, als ein von der Materie der betreffenden Gesellschaft, der sozialen Wirtschaft derselben, hervorgebrachter und abhängiger Widerschein dieser sozialen Wirtschaft. […] In diesem Sinne bezeichnen die sozialen Materialisten alle geistigen Gesamtanschauungen, die einer gewissen Kulturepoche eigen sind, als einen ,Überbau‘ der betreffenden gesellschaftlichen Wirtschaft.“ Es ist bekannt genug, daß diese grundschiefe und wissenschaftlich ganz wertlose Analogie tatsächlich noch immer die Köpfe mancher „Geschichtsmaterialisten“ beherrscht, – mit ihnen offenbar auch den unseres Autors. Aber dazu tritt bei Stammler nun vielleicht ein weiterer, ebenfalls nicht ungewöhnlicher Trugschluß, dem wir schon einmal begegneten.49 Oben, S. 508 f. Weil wir, in ungenauer und zweifellos direkt irreführender Art, von Kausal„gesetz“ reden, so erscheint der „Satz vom Grunde“, wenigstens in seiner generalisierenden Wendung, recht leicht einfach als die höchste Verallgemeinerung, die innerhalb des empirischen Geschehens möglich ist, als der abstrakteste „Lehrsatz“ also der empirischen Wissenschaft, dessen, je für besondere „Bedingungen“ geltende, „Anwendungsfälle“ alsdann die „Naturgesetze“ seien. Nun sagt das so interpretierte „Kausalitätsgesetz“ als solches zwar schlechthin noch gar nichts über die Realität irgend welcher Wirklichkeit aus. Es muß aber – meint man dann leicht –, wenn man es nun auf die Wirklichkeit „anwendet“, doch jedenfalls ein erster, absolut allgemeingültiger Satz entstehen, ein „allgemeines Gesetz“, dessen sachlicher Gehalt nichts andres sein kann, als eben einfach das auf die allgemeinsten und einfachsten „Elemente“ der Wirklichkeit angewendete, für sie geltende Kausal-„Gesetz“. Das wäre dann die kausale „Weltformel“, wie sie manche Adepten des Naturalismus erträumen.50 Das Ideal einer „Weltformel“ wird dem mechanistisch-deterministischen Weltbild zugeschrieben. Ohne diese Bezeichnung zu verwenden, wurde es bündig formuliert in Laplace, Wahrscheinlichkeiten (wie oben, S. 2, Anm. 8), S. 3 f., und popularisiert durch Du Bois-Reymond, Grenzen (wie oben, S. 3, Anm. 16), S. 106 f. Die Bezeichnung „Weltformel“ findet sich z. B. in Windelband, Geschichte, S. 25, und Rickert, Grenzen, S. 508 ff. Die Einzelvorgänge der Wirklichkeit wären „in letzter [523]Instanz“51[523] Vgl. oben, S. 495 mit Anm. 29. das unter besonderen Bedingungen „wirkende“ Kausalgesetz, wie die Erdbahn ein „Fall“ der „Wirkung“ des Gravitationsgesetzes wäre. Stammler spricht diese Verwechslung von Naturgesetzen und „Kategorien“, die einem Jünger Kants ja freilich schlecht genug anstehen müßte, zwar – wie schon früher konstatiert52 Oben, S. 512 f. [A 116] – nirgends mit ausdrücklichen Worten aus, – ja, wenn man sie ihm als seine Ansicht entgegenhält, wird er dagegen sehr wahrscheinlich protestieren. Allein dann frage ich, auf welche andre Art alsdann der „chemisch reine“ Unsinn, den er an den beiden hier besprochenen Stellen (S. 67 unten und S. 70, vorletzter Absatz)53 Vgl. oben, S. 495 mit Anm. 32, S. 519 mit Anm. 36, und S. 521 mit Anm. 44. niedergeschrieben hat, in Verbindung mit seiner uns schon bekannten Vorstellung, daß der generellste Lehrsatz einer Wissenschaft ihr „formales“ Prinzip sei, und endlich mit der steten Verwechslung von „Gesichtspunkten“ und „methodischen Prinzipien“ mit (im Kantschen Sinne) transzendentalen und daher apriorischen „Formen“, d. h. logischen Voraussetzungen der Erfahrung, überhaupt zu erklären ist? ‒

Wie dem nun sei, jedenfalls trägt der Satz von der Notwendigkeit eines allgemeinen Gesetzes, welches als einheitlicher Gesichtspunkt für die Gesamtheit aller überhaupt kausal zu erklärenden Erscheinungen der sozialen Wirklichkeit konstitutiv sein müsse, in Verbindung mit der Vorstellung, daß diese „höchste“ Allgemeinheit „Form“ des Seins und zugleich des Erkennens der sozialen Wirklichkeit, als der entsprechenden „Materie“ sei, alsbald seine verwirrenden Früchte.54 Zur Unterscheidung von Form und Materie vgl. § 22 („Form und Materie“) in Stammler, Wirtschaft2, S. 112 ff. Dem Wort „Materie“ entspricht das Adjektivum „materialistisch“, und es läßt sich also ein Begriff einer „materialistischen“ Geschichtsauffassung konstruieren, deren Eigenart in der Behauptung gipfelt, daß die „Form“ des geschichtlichen oder, – was Stammler ohne weitere Erläuterung als damit synonym gebraucht, – des „sozialen“ Lebens durch die „Materie“ desselben bestimmt werde. Zwar hätte diese „Auffassung“ mit dem, was man gewöhnlich „Geschichtsmaterialismus“ nennt, und [524]was auch Stammler, wie wir sahen,55[524] Oben, S. 510 f. wiederholt so genannt hat, ganz und gar nichts außer eben dem Namen gemein. Denn es ist klar, daß im Sinne dieser Terminologie alle einzelnen „Elemente“ (mit Stammler zu reden)56 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 18. des „Gesellschaftslebens“, also Religion, Politik, Kunst, Wissenschaft, ganz ebenso wie „Wirtschaft“ zur Materie desselben gehören, und daß also der gewöhnlich und bisher auch von Stammler so genannte Geschichtsmaterialismus, indem er die Abhängigkeit aller anderen Elemente von der „Wirtschaft“ behauptet, etwas über die Abhängigkeit eines Teils der „Materie“ von einem anderen Teil der Materie aussagt, keineswegs aber etwas über die Abhängigkeit der „Form“ des „sozialen Lebens“ – in dem nunmehr neu gewonnenen Sinn des Worts – von der „Materie“ desselben. Denn wenn die gewöhnlich so genannte „materialistische“ Geschichtsauffassungr[524]A: Geschichtsauffaßung gelegentlich wohl auch sich so ausdrückt, daß bestimmte Gegensätze von politischen oder religiösen Gedanken usw. „lediglich die Form“ seien, in der sich „materielle Interessenkonflikte“ äußern,57 Möglicherweise Anspielung auf Marx, Karl, Zur Kritik der Politischen Oekonomie, hg. von Karl Kautsky. – Stuttgart: J.H.W. Dietz Nachf. 1897, S. XI f. Für Marx bilden die Produktionsverhältnisse die „ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Ueberbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen“. Bei der Betrachtung gesellschaftlicher Umwälzungen müsse man „unterscheiden zwischen der materiellen naturwissenschaftlich treu zu konstatirenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten“. oder wenn man die Erscheinungen des Lichts, der Wärme, der Elektrizität, des Magnetismus usw. etwa als verschiedene „Formen“ von „Energie“ bezeichnet,58 Wahrscheinlich bezieht sich Weber auf Riehl, Mayers Entdeckung (wie oben, S. 265, Anm. 89), S. 167, wonach „dieselbe ,Energie‘ verschiedene Erscheinungsformen annehmen“ kann. – so liegt es ja doch auf der Hand, daß hier das Wort „Form“ im grade umge[A 117]kehrten Sinn gebraucht ist, als in jenen Argumentationen Stammlers das Wort „formal“ verwendet wurde. Denn während dort, bei Stammler, als „formal“ das Einheitliche, Generelle, „grundlegend Allgemeine“ im Gegensatz zur Mannigfaltigkeit des „Inhalts“ bezeichnet wurde, ist hier die „Form“ ja [525]grade das Wechselnde und Mannigfaltige der „Erscheinung“, hinter dem sich die Einheit des allein wahrhaft Realen verbirgt. Die wechselnden „Formen“ im Sinne der materialistischen Geschichtsauffassung sind hier also gerade das, was Stammler „Materie“ nennt. Man sieht eben, wie bedenklich es ist, mit solchen Kategorien, wie „Form – Inhalt“ ohne jeweils gänzlich unzweideutige Interpretation zu hantieren. Allein eben die Zweideutigkeit ist Stammlers eigentlichstes Element, grade sie und nur sie ermöglicht es ja seiner Scholastik, im gedanklich „Trüben“ zu fischen. Das alsbald beginnende Jonglieren mit den beiden grundverschiedenen Begriffen von „materialistisch“ allein ist es, welches Stammler die Möglichkeit bietet, auf Seite 37 die Abhängigkeit von Religion und Moral, Kunst und Wissenschaft, sozialen Vorstellungen u.s.w. vom Wirtschaftsleben,59[525] Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 37. Im Handexemplar unterstreicht Weber „Religion und der Moral“ „Kunst und Wissenschaft“ und notiert am Rand dazu: „Materie also“. und ebenso auf S. 64 einerseits die Frage der ökonomischen Bedingtheit der Kreuzzüge, der Rezeption des römischen Rechts usw., andrerseits diejenige der politischen Bedingtheit des Bauernlegens60 Das „Bauernlegen“ bezeichnet die Einziehung des gutszugehörigen Bauernlandes durch die Gutsherrschaft. „[D]er Bauer wird, damit er sich der Arbeit für den Gutsherrn nicht entzieht, unfrei; er wird […] ein frohnfähiger Bauer“. Vgl. Knapp, Georg Friedrich, Die Bauern-Befreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preußens. Erster Theil: Ueberblick der Entwicklung. – Leipzig: Duncker & Humblot 1887, S. 49. als Beispiele, an denen die Richtigkeit der geschichtsmaterialistischen Konstruktion zu erhärten sei, anzuführen, dann aber auf S. 132 „das auf Bedürfnisbefriedigung“ (d. h. aber, nach S. 136, auf „Erzeugung von Lust und Abwehr von Unlust“) „gerichtete menschliche Zusammenwirken“ schlechthin als „Materie“ zu bezeichnen61 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 136: „So ist das auf Bedürfnisbefriedigung gerichtete Zusammenwirken der Stoff, der durch eine äußere Regelung in seiner formalen Art bestimmt ist: – die Materie des sozialen Lebens.“ Im Handexemplar vermerkt Weber zum folgenden Anmerkungsindex: „cf. die Erschleichung hinten unter der Anmerkung“. Darin (ebd., S. 649 f.) beruft sich Stammler auf Natorp, Paul, Sozialpädagogik. Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Gemeinschaft. – Stuttgart: Fr. Frommann 1899, was Weber wiederum kritisch kommentiert. und in ihr „den empirischen Verlauf des Menschenlebens ohne Rest aufgehen“ zu lassen (S. 136, vorletzter Absatz), unter entschiedenster Verwerfung irgend einer Scheidung innerhalb dieser „Materie“ nach der „Art“ der Bedürfnisse, die befriedigt werden und (sofern nur ein „Zusammenwir[526]ken“ stattfinde) nach den Mitteln, welche dafür verwendet werden (S. 143), – und dann sich einzubilden, ein Operieren mit diesem Begriff des „Materiellen“ (im Gegensatz zum „Formalen“) des sozialen Lebens könne zur „Widerlegung“ eines Geschichtsmaterialismus dienen, der mit einem gänzlich andern Begriff des „Materiellen“ (als dem Gegensatz in erster Linie zum „Ideologischen“) operiert. Allein wir haben hier etwas vorgegriffen.

In den Bemerkungen auf S. 132 f., auf die wir exemplifizierten, hatte Stammler nämlich bereits längst wieder einen engeren Sinn des Gegensatzpaares: Inhalt – Form eingeführt, der, nach seiner Ansicht, speziell für das „soziale Leben“ Gültigkeit besitzt, ihm eigentümlich und für seinen Begriff konstitutiv ist. Wir werden uns ihm, und damit, nach so viel Kritik an Stammlers vorbereitenden Erörterungen, dem positiven Kern seiner Lehre nunmehr um so mehr zuzuwenden haben, als Stammler ja selbst (oder durch den Mund eines seiner Adepten)62[526] Möglicherweise ist Wilhelm Eduard Biermann gemeint. Vgl. Weber, Roscher und Knies 3, oben, S. 355 f., Fn. 32 mit Anm. 22. [A 118]vielleicht gegenüber allen bisherigen Feststellungen sagen könnte: „Ihr habt euch von mir mystifizieren lassen, indem ihr mich ernst nahmt! Ichs[526]A: ich habe, notgedrungen, zunächst in der Begriffs-Sprache des Geschichtsmaterialismus geredet, – mein Zweck ist aber grade, diese Begriffs-Sprache ad absurdum zu führen, indem ich sie im Sumpfe ihrer eignen Konfusion ersticken lasse. Lest weiter, und ihr werdet die innere Selbstauflösung dieser Auffassung und zugleich ihren Ersatz durch die neue, reine Lehre erleben! Ich, ihr Prophet, habe zunächst nur sozusagen incognito mit den Wölfen geheult.“

Freilich, die Imitation – wenn es eine solche sein sollte –tA: sollte –, wäre von verdächtiger Güte, aber mit der Möglichkeit, von St[ammler] bisher nur mystifiziert worden zu sein, müssen wir immerhin rechnen. Er vermeidet es, überall ganz unzweideutig erkennbar zu machen, wo der historische Materialismus aufhört und er anfängt zu sprechen. Und er schließt das bisher allein – soweit nötig – analysierte erste Buch seines Werkes63 Das erste Buch trägt den Titel „Stand der Frage“ und enthält die Abschnitte „Sozialer Materialismus“ (Nr. 6–13) und „Gegner der materialistischen Geschichtsauffassung“ (Nr. 14–15). Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 21–62 und 63–74. mit einer feierlich-ernsten Ver[527]weisung auf die „carmina non prius audita“,64[527] Wörtlich: „Lieder, die nie zuvor gehört waren“. Vgl. Des Quintus Horatius Flaccus Werke von Heinrich Voss in zwei Bänden, Band 1: Oden und Epoden, 3. Ausgabe. – Braunschweig: Friedrich Vieweg 1822, S. 117: „Odi profanum vulgus et arceo. Favete linguis: carmina non prius audita Musarum sacerdos virginibus puerisque canto.“ („Verhaßte Meng’ Unheiliger, fern hinweg! Seid still in Andacht. Frommen Gesang, wie vor Nie scholl, ein Musenpriester, sing’ ich Blühenden Knaben zugleich und Jungfraun.“) die uns nunmehr bevorstehen.65 Bei Stammler, Wirtschaft2, S. 70, findet sich dieses Horaz-Zitat nicht, wohl aber eine Anspielung auf Tacitus und ein Kant-Zitat. Im Handexemplar vermerkt Weber: „wie wichtig sich St[ammler] nimmt!“ Wohlan! Sehen wir uns die Bescherung an, die er uns bereitet. Aber es wird doch gut sein, wenn wir die Skepsis, welche die bisherigen Proben in uns erweckt haben, und die Erinnerung an die Art, wie grundverschiedene Kategorien des Erkennens durcheinander geworfen wurden bei Gelegenheiten, wo zweifellos Stammler selbst für sich und nicht als Mandatar des Geschichtsmaterialismus sprach, nicht ganz vergessen. –

Ausgesprochener Zweck Stammlers ist, die „Wissenschaft vom sozialen Leben“ als eine von den „Naturwissenschaften“ schlechthin verschiedene dadurch zu erweisen, daß „soziales Leben“ als ein von der „Natur“ gänzlich verschiedenes Objekt der Betrachtung aufgezeigt und damit ein von der „naturwissenschaftlichen Methode“ verschiedenes Prinzip der Sozialwissenschaft als logisch unvermeidlich dargetan wird.66 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 14: „Die Wissenschaft vom sozialen Leben der Menschen will von einer bloßen Erkenntnis der äußeren Natur verschieden sein. Es ist in jenem ein sicher empfundenes eigenes Objekt für menschliche Einsicht gegeben. Indem wir die allgemeinen Begriffe, die hier notwendig auftreten, nach ihrem Erkenntnisinhalte zergliedern, so werden wir demnach zuzusehen haben, durch welche begrifflichen Elemente die Möglichkeit einer sozialwissenschaftlichen Erkenntnis, gegenüber der bloßen Naturbetrachtung, überhaupt geliefert wird; welche von ihnen das soziale Leben als einen eigenen Gegenstand unserer Erkenntnis allererst begründen.“ Mit An- und Unterstreichungen im Handexemplar; zum ersten Satz bemerkt Weber: „vielleicht nur wie Physik u. Biologie!“: zum letzten: „also doch auch der Erfahrungs-Erkenntnis“. Da der Gegensatz offenbar als eine exklusive Alternative gedacht wird, wäre von größter Wichtigkeit offenbar die eindeutige Feststellung dessen, was unter „Natur“, „Naturwissenschaften“, „naturwissenschaftlicher Methode“ verstanden sein, ihr entscheidendes Kriterium bilden soll. Daß dies letztere sich keineswegs etwa von selbst versteht, dürften die logischen Diskussionen der letzten Jahre – die Stammler freilich nicht oder doch nur ganz oberflächlich kennt – deutlich genug gezeigt [528]haben.67[528] Zu Stammlers Rezeption der „modernen Logiker“, auf die sich Weber beruft, vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 658, Anm. 126 (Rickert), S. 108, 642, Anm. 52, S. 644, Anm. 62 (Simmel), S. 665, Anm. 175 (Windelband). Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 45, Fn. 5, und ders., Objektivität, oben, S. 143, Fn. 1. Es ist dabei von vornherein zuzugeben, daß wir alle die Worte „Natur“ und „naturwissenschaftlich“ oft genug in unpräziser Sorglosigkeit brauchen, meinend, daß ihr Sinn im konkreten Fall unzweideutig sei. Aber das kann sich rächen, und für jemanden, der seine ganze Doktrin auf den unversöhnlichen begrifflichen Gegensatz der Objekte „Natur“ und „soziales Leben“ aufbaut,68 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 7 f.: „Denn das Gegenstück zur Natur, als dem Inbegriff der in Raum und Zeit uns gegebenen Erscheinungen, bildet nicht der Begriff des Rechtes, sondern das soziale Leben der Menschen.“ ist zum mindesten die Besinnung darauf, was denn unter „Natur“ verstanden sein soll, gradezu Lebensfrage. Nun pflegt man unter [A 119]„Natur“ schon im gemeinen Sprachgebrauch mehrerlei, und zwar entweder (1.) die „tote“ Natur oder (2.) diese und die nicht spezifisch menschlichen „Lebenserscheinungen“ oder (3.) diese beiden Objekte und außerdem auch diejenigen Lebenserscheinungen „vegetativer“ und „animalischer“ Art zu verstehen, die der Mensch mit den Tieren gemein hat, mit Ausschluß also der sog. „höhern“, „geistigen“ Lebensbetätigungen spezifisch menschlicher Art. Alsdann läge die Grenze des Begriffs „Natur“, je nachdem, ungefähr (denn ohne sehr starke Unpräzision geht es dabei keineswegs ab) da, wo (ad 1) die Physiologie (Pflanzen- und Tierphysiologie) oder wo (ad 2) die Psychologie (Tier- und menschliche Psychologie) oder endlich, wo (ad 3) die empirischen Disziplinen von den „Kultur-Erscheinungen“ (Ethnologie, „Kulturgeschichte“, im weitesten Sinn) ihr Objekt aus der Gesamtheit des empirisch Gegebenen herauszugrenzen beginnen.69 Dieser dritte Punkt entspricht dem „materiale[n] Gegensatz von Natur und Kultur“, den Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S. 10, Anm. 62), S. 17, einführt. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 166 mit Anm. 71. Stets aber wird hier „Natur“ als ein Komplex bestimmter Objekte gegen andere heterogene abgegrenzt. Ein zweiter[,] von diesem landläufigen logisch verschiedeneru[528]A: verschiedenen[,] „Natur“-Begriff entsteht, wenn man die Untersuchung der empirischen Wirklichkeit auf das „Generelle“, die zeitlos geltenden Erfahrungsregeln („Naturgesetze“)[,] hin als „Naturwissenschaft“ der Betrachtung der gleichen empirischen Wirklichkeit auf das [529]„Individuelle“ in seiner kausalen Bedingtheit hin entgegensetzt: hier entscheidet die Art der Betrachtungsweise; der Gegensatz von „Natur“ ist dann „Geschichte“,70[529] Für Rickert, Kulturwissenschaft (wie oben, S, 10, Anm. 62), S. 19, entspricht dem „materialen Gegensatz von Natur und Kultur“ ein „formale[r] Gegensatz von naturwissenschaftlicher und historischer Methode“. Die naturwissenschaftliche Methode betrachtet die empirische Wirklichkeit auf das Generelle hin, wodurch diese Wirklichkeit „Natur“ wird; die kulturwissenschaftliche Methode betrachtet sie auf das Individuelle hin, wodurch sie „Geschichte“ wird (ebd., S. 38; vgl. Rickert, Grenzen, S. 255). Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 166 mit Anm. 71, und ders., Roscher und Knies 1, oben, S. 44 ff. und Wissenschaften wie die „Psychologie“, die „Sozialpsychologie“, „Soziologie“, „theoretische Sozialökonomik“,v[529]A: theoretische Sozialökonomik „vergleichende Religions-“wA: Religions“– und „vergleichende Rechtswissenschaft“ gehören zu den „Naturwissenschaften“, während die dogmatischen Disziplinen ganz jenseits des Gegensatzes bleiben. Endlich7)[529][A 119] „Endlich“ nicht etwa in dem Sinn, daß hier eine auch nur annähernd erschöpfende Aufzählung der möglichen und faktisch verwendeten „Natur“-Begriffe gegeben wäre. S[iehe] auch weiter unten.71 Unten, S. 542. entsteht ein dritter Begriff von „Naturwissenschaft“ und dadurch also indirekt auch von „Natur“, wenn man die Gesamtheit der eine empirisch-kausale „Erklärung“ erstrebenden Disziplinen denjenigen entgegenstellt, welche normative oder dogmatisch-begriffsanalytische Ziele verfolgen: Logik, theoretische Ethik und Ästhetik, Mathematik, Rechtsdogmatik, metaphysische (z. B. theologische) Dogmatiken. Hier entschiede der Gegensatz der Urteilskategorien („Sein“ und „Sollen“), und es fällt mithin auch die Gesamtheit der Objekte der „Geschichtswissenschaften“ einschließlich z. B. auch der Kunst-, Sitten-, Wirtschafts- und Rechtsgeschichte unter den Begriff der „Naturwissenschaft“, deren Umfang dann genau so weit reichte, als die Untersuchung mit der Kategorie der Kausalität arbeitet.

Wir werden zwei fernere mögliche „Natur“-begriffe noch weiterhin kennen lernen und brechen hier vorerst einmal ab: die Vieldeutig[A 120]keit des Ausdrucks liegt zu Tage. Angesichts ihrer werden wir weiterhin stets zu beachten haben, in welchem Sinn Stammler, wo er von dem Gegensatz des „sozialen Lebens“ gegen die „Natur“ spricht, diesen letztern Begriff braucht. Zunächst fragen wir nunmehr aber, welche Merkmale denn für den von ihm ent[530]deckten Gegenpol der „Natur“, also für „soziales Leben“ konstitutiv sein sollen, denn auf diesem Begriffe baut sich ja seine ganze Argumentation auf.

4.

Das entscheidende Merkmal des „sozialen Lebens“, seine „formale“ Eigenart, ist, nach Stammler, daß es „geregeltes“ Zusammenleben ist, aus Wechselbeziehungen „unter äußeren Regeln“ besteht.72[530] Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 84: „Soziales Leben ist äußerlich geregeltes Zusammenleben von Menschen.“ Machen wir hier sofort Halt und fragen, ehe wir Stammler weiter folgen, was man sich alles unter den Worten: „geregelt“ und „Regel“ denken kann.73 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 179. Unter „Regeln“ können zunächst 1) generelle Aussagen über kausale Verknüpfungen verstanden sein: „Naturgesetze“. Will man dabei unter „Gesetzen“ nur generelle Kausalsätze von unbedingter Strenge (im Sinn der Ausnahmslosigkeit) verstehen, dann wird man (a) für alle Erfahrungssätze, die dieser Strenge nicht fähig sind, nur den Ausdruck „Regel“ beibehalten können. Nicht minder (b) für alle jene sog. „empirischen Gesetze“,74 Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 59 mit Anm. 88, und ders., Roscher und Knies 3, oben, S. 360. denen umgekehrt zwar empirische Ausnahmslosigkeit, aber ohne oder doch ohne theoretisch genügende Einsicht in die für jene Ausnahmslosigkeit maßgebliche kausale Bedingtheit eignet. Es ist eine „Regel“ im Sinn eines „empirischen Gesetzes“ (ad b), daß die Menschen „sterben müssen“,75 Weber bezieht sich bei der Wahl dieses Beispiels möglicherweise auf seine Kritik an Roscher, in der er bereits von empirischen Gesetzen spricht. Vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 79. es ist eine „Regel“ im Sinn eines generellen Erfahrungssatzes (ad a), daß einer Ohrfeige gewisse Reaktionen spezifischer Natur von selten eines davon betroffenen Couleurstudenten „adäquat“76 Möglicherweise Anspielung auf Kries. Vgl. Einleitung, oben, S. 23. sind. – Unter „Regel“ kann ferner 2) eine „Norm“ verstanden sein, an welcher gegenwärtige, vergangene oder zukünftige Vorgänge im Sinn eines Werturteils „gemessen“ werden, die generelle Aussage also eines (logischen, ethischen, ästhetischen) Sollens, im Gegensatz zum [531]empirischen „Sein“, mit dem es die „Regel“ in den Fällen ad 1 allein zu tun hat. Das „Gelten“ der Regel bedeutet im zweiten Fall einen generellen7a)[531][A 120] Ob notwendig „generell“, lassen wir vorerst auf sich beruhen. Imperativ, dessen Inhalt die Norm selbst ist. Im ersten Fall bedeutet das „Gelten“ der Regel lediglich den „Gültigkeits“-Anspruch der Behauptung, daß die ihr entsprechenden faktischen Regelmäßigkeiten in der empirischen Wirklichkeit „gegeben“ oder aus ihr durch Generalisierung erschließbar seien.

Neben diesen dem Sinne nach sehr einfachen beiden Grundbedeutungen des Begriffs: „Regel“ und „Geregeltheit“ finden sich nun aber andre, die nicht ohne weiteres glatt in einer jener beiden aufzugehen scheinen. Dahin gehört zunächst das, was man „Maximen“ des Han[A 121]delns zu nennen pflegt. Defoes Robinson z. B. – Stammler operiert mit ihm gelegentlich ganz ebenso,77[531] Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 84, 105 f., 132, 186, 188, 238. wie die theoretische Nationalökonomie es tut,78 Vgl. Weber, Allgemeine („theoretische“) Nationalökonomie, MWG III/1, S. 203, 236, dazu Mommsen, Einleitung, ebd., S. 26 f., und Weber, Objektivität, oben, S. 211 mit Anm. 29. wir müssen es daher auch tun – führt in seiner Isoliertheit eine, den Umständen seiner Existenz gemäß, „rationale“ Wirtschaft, und das heißt ohne allen und jeden Zweifel: er unterwirft seinen Güterverbrauch und seine Gütergewinnung bestimmten „Regeln“ und zwar spezieller: „ökonomischen“ Regeln. Wir ersehen daraus zunächst, daß die Annahme, die ökonomische „Regel“ könne begrifflich nur dem „sozialen“ Leben eignen: sie setze eine Mehrheit von ihr unterstellten, durch sie verbundenen Subjekten voraus, jedenfalls dann irrig ist8)[A 121] Für die „Regel“ im Sinn der sittlichen Norm versteht es sich von selbst, daß sie begrifflich nicht auf „soziale Wesen“ beschränkt ist. Auch „Robinson“ kann begrifflich „widersittlich“ handeln (z. B. etwa die im § 175x[531]A: 275 RStGB., zweiter Fall, zum Gegenstand eines Rechtsschutzes gemachte sittliche Norm).yA: Norm.) 79 Gemeint ist § 175 (nicht: § 275) RStGB, dessen zweiter Fall die „Unzucht“ mit „Thieren“ regelt: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ Vgl. Gesetz, betreffend die Redaktion des Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund als Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, Fassung vom 15. Mai 1871, in: Reichsgesetzblatt, Band 1871, Nr. 24, S. 127–205, hier S. 161. , wenn man überhaupt mit Robinsonaden etwas beweisen kann. Nun ist [532]Robinson gewiß ein sehr irreales Produkt der Dichtung, ein bloßes Begriffswesen, mit dem der „Scholastiker“ operiert, – allein einmal ist Stammler selbst ein Scholastiker und muß sich also gefallen lassen, daß seine Leser ihn ebenso bedienen wie er sie, und überdies: wenn denn einmal strikt „begriffliche“ Abgrenzungen in Frage stehen und der „Regel“-Begriff als logisch konstitutiv für „soziales Leben“ behandelt wird, und wenn ferner „ökonomische Phänomene“ als „begrifflich“ nur auf dem Boden „sozialer Regelung“80[532] Stammler verwendet diese Formulierung häufig. Vgl. z. B. Stammler, Wirtschaft2, S. 117. denkbar hingestellt werden, wie dies bei Stammler geschieht, dann darf eben auch ein solches, ohne „logischen“ Widerspruch und – was nicht dasselbe ist – ohne absoluten Widerspruch gegen das nach Erfahrungsregeln überhaupt „Mögliche“,81 Kries, Möglichkeit, S. 6 [181 f.], nennt „das Eintreten eines Ereignisses unter gewissen ungenau bestimmten Umständen dann objectiv möglich, wenn Bestimmungen dieser Umstände denkbar sind, welche gemäss den factisch geltenden Gesetzen des Geschehens das Ereigniss verwirklichen würden“. Daher ist „in einer Aussage über objective Möglichkeit stets ein Wissen nomologischen Inhalts ausgedrückt“. Vgl. Einleitung, oben, S. 19 ff. konstruiertes Wesen wie Robinson keine Bresche in den „Begriff“ schlagen können. Und es steht Stammler höchst übel zu Gesicht, wenn er, vorbeugend, hiergegen geltend macht (S. 84), ein Robinson sei eben kausal doch auch nur als Produkt „sozialen Lebens“, aus dem er durch Zufall hinausverschlagen worden, konstruierbar:82 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 84: „Zwar ist es richtig, daß der vereinzelte Mensch, als ein isoliert lebendes Wesen vorzustellen ist. Denn dazu würde gehören, daß er niemals in geregelter Gemeinschaft gestanden hätte, daß er zu dem Erzeuger und der Mutter in keinem anderen Verhältnis wie das Tierjunge gestanden […].“ Im Handexemplar unterstreicht Weber die letzte Passage ab „in keinem“ und bemerkt am Rand: „also dies letztere steht in nicht geregelter Gemeinschaft?“ mit einem Pfeil nach oben zum „isoliert lebenden Wesen“. er selbst hat ja, mit vollem Recht, aber mit einem auch hier wieder grade bei sich selbst sehr mangelhaften Erfolg, gepredigt, daß die kausale Herkunft der „Regel“ etwas für ihr begriffliches Wesen durchaus Irrelevantes sei. Wenn Stammler nun ferner (S. 146 und öfter) geltend macht, ein solches isoliert gedachtes Einzelwesen sei mit den Mitteln der „Naturwissenschaft“ zu erklären, da lediglich „die Natur und ihre technische (NB!) Beherrschung“ das Objekt der Erörterung bilde,83 Vgl. ebd., S. 134. so ist zunächst an die früher erörterte84 Oben, S. 527 ff. Viel[533]deutigkeit der Begriffe „Natur“ und „Naturwissenschaft“ zu erinnern: welche der verschiedenen Bedeutungen ist hier gemeint? Dann aber, und vor allem, daran, daß – wenn es denn einmal auf den Begriff der „Regel“ allein ankommen soll – „Technik“ doch grade [A 122]ein Verfahren nach „zweckvoll gesetzten“85[533] Stammler verwendet diese Formulierung nicht. „Regeln“ ist. Das Zusammenwirken von Maschinenteilen z. B. erfolgt ganz in dem gleichen „logischen“ Sinne nach „menschlich gesetzten Regeln“,86 Stammler verwendet diese Formulierung häufig. Vgl. z. B. Stammler, Wirtschaft2, S. 185, 245. Im Handexemplar kommentiert Weber S. 185: „Norm ist nicht Regel! was heißt das? braucht geschaffen? als Regel geschaffen?“, und S. 245: „immer der bedenkliche Ausdruck!“. wie das Zusammenwirken gewaltsam zusammengekoppelter Zugpferde oder Sklaven oder endlich – dasjenige „freier“ menschlicher Arbeiter in einer Fabrik. Denn wenn in dem letzteren Fall richtig kalkulierter „psychischer Zwang“, – bewirkt durch den „Gedanken“ an die, im Fall des Abweichens von der „Arbeitsordnung“ geschlossene Tür der Fabrik, an den leeren Geldbeutel, die hungernde Familie etc., daneben vielleicht durch allerlei andere Vorstellungen, z. B. solche ethischer Art, endlich durch einfache „Gewohnheit“, – es ist, welcher den Arbeiter im Gesamtmechanismus festhält, bei den sachlichen Maschinenteilen dagegen ihre physikalischen und chemischen Qualitäten, – so macht das für den Sinn des Begriffs „Regel“ im einen und im andern Fall natürlich keinerlei Unterschied aus. Die Vorstellungen im Kopf des „Arbeiters“, sein Erfahrungswissen davon, daß seine Sättigung, Bekleidung, Erwärmung „davon abhängen“, daß er auf dem „Kontor“ gewisse Formeln ausspricht oder andre Zeichen von sich gibt (welche für einen von „Juristen“ sogenannten „Arbeitsvertrag“ üblich sind) und daß er sich alsdann jenem Mechanismus auch physisch einfügt, also bestimmte Muskelbewegungen vollzieht, daß er ferner, wenn er dies alles tut, periodisch gewisse spezifisch geformte Metallplatten oder Papierzettel zu erhalten die Chance87 Zum Begriff „Chance“ vgl. Weber, Kritische Studien, oben, S. 472 mit Anm. 41. hat, welche, in die Hände andrer Leute gelegt, bewirken, daß er Brot, Kohlen, Hosen etc. an sich nehmen kann und zwar mit dem Ergebnis, daß, wenn jemand ihm alsdann diese Gegenstände wieder wegnehmen wollte, auf sein Anrufen mit einer gewissen Wahrscheinlich[534]keit Leute mit Pickelhauben erscheinen und helfen würden, sie wieder in seine Hände zurückzulegen, – diese ganze hier nur möglichst grobschlächtig angedeutete Serie höchst komplizierter Vorstellungsreihen, auf deren Vorhandensein in den Köpfen der Arbeiter mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gezählt werden kann, werden vom Fabrikanten durchaus in der gleichen Art als kausale Bestimmungsgründe88[534] Stammler verwendet diese Formulierung häufig. So ist z. B. in Stammler, Wirtschaft2, S. 71, von „kausalen Bestimmungsgründen“ die Rede, S. 278 von „Bestimmungsgründe[n] für soziales Handeln“. des Zusammenwirkens der menschlichen Muskelkräfte im technischen Produktionsprozeß in Betracht gezogen, wie die Schwere, Härte, Elastizität und andre physikalische Qualitäten der Stoffe, welche die Maschinen zusammensetzen und wie die physikalischen Qualitäten derjenigen, durch welche sie in Bewegung gesetzt werden. Die einen lassen sich ganz genau im logisch gleichen Sinn als kausale Bedingungen eines bestimmten „technischen“ Ergebnisses – z. B. der Entstehung von x Tonnen Roheisen aus y Tonnen Erzen innerhalb des Zeitraums z – ansehen wie die andren. Und bei den einen ist dabei das „Zusammenwirken nach Regeln89 Diese Formulierung verwendet Stammler nicht. Vgl. aber ebd., S. 99: „Soziale Regeln, als Normen eines äußeren Zusammenlebens und Zusammenwirkens“, und S. 84: „Soziales Leben ist äußerlich geregeltes Zusammenleben von Menschen.“ jedenfalls in logisch genau dem gleichen Sinn „Vorbedingung“ jenes technischen Erfolges wie bei den andren; daß dabei bei den einen „Bewußtseinsvorgänge“ in die Kausalkette ein[A 123]geschoben sind, bei den andern nicht, macht ,,logisch“ auch nicht den allermindesten Unterschied aus. Wenn also Stammler „technische“ und „sozialwissenschaftliche“ Betrachtung einander gegenüberstellt,90 Ebd., S. 133, spricht Stammler vom „Gegensatz der technischen und der sozialen Betrachtungsweise“. so kann jedenfalls das Moment des Vorhandenseins einer „Regel des Zusammenwirkens“91 Diese Formulierung verwendet Stammler nicht. Vgl. aber die oben, S. 534, Anm. 89, zitierte Stelle. für sich allein noch nicht den ausschlaggebenden Unterschied konstituieren. Der Fabrikant setzt das Faktum, daß Leute vorhanden sind, welche Hunger haben und welche durch jene andern Leute mit den Pickelhauben daran gehindert werden, ihre physische Kraft zu benützen, um die Mittel, die zur Stillung ihres Hungers dienen könnten, einfach da zu nehmen, wo sie sie finden, in denen deshalb jene [535]oben entwickelten Vorstellungsreihen entstehen müssen, ganz ebenso in seine Rechnung ein, wie ein Jäger die Qualitäten seines Hundes. Und ebenso wie der Jäger darauf rechnet, daß der Hund auf seinen Pfiff in bestimmter Art reagiert oder nach einem Schuß bestimmte Leistungen vollzieht, so der Fabrikant darauf, daß das Anschlagen eines in bestimmter Art bedruckten Papiers („Arbeitsordnung“) einen gewissen Erfolg mehr oder minder sicher hervorbringt. Ganz entsprechend dem „ökonomischen“ Verhalten Robinsons bezüglich der auf seinem Eiland vorhandenen „Gütervorräte“ und Produktionsmittel ist nun ferner auch – um noch ein Beispiel zu nehmen – die Art, wie ein Einzelindividuum der Gegenwart mit den „Geld“ genannten Metallplättchen verfährt, die es in seiner Tasche hat oder die es, nach seiner, begründeten oder unbegründeten, Ansicht, die Chance hat, durch bestimmte Manipulationen (z. B. ein bestimmtes Kritzeln auf einem „Check“ genannten Papierfetzen oder das Abschneiden eines, „Coupon“ genannten, anderen und dessen Vorzeigung an einem bestimmten Schalter) in seine Tasche befördern zu können, und von denen es weiß, daß sie, in bestimmter Art und Weise verwendet, bestimmte Objekte in den Bereich seiner (faktischen) Verfügungsgewalt bringen, welche er hinter Glasfenstern, auf Restaurationsbüffets etc. bemerkt und von denen er – durch persönliche Erfahrung oder Belehrung durch andre – weiß, daß er sich an ihnen nicht ohne weiteres vergreifen könnte, ohne daß jene Leute mit den Pickelhauben kommen und ihn hinter Schloß und Riegel setzen würden. Wie es eigentlich kommt, daß jene Metallplättchen diese eigentümliche Fähigkeit entwickeln, davon braucht dies moderne Individuum so wenig einen Begriff zu haben, wie davon, wie seine Beine es machen, zu gehen: es kann sich begnügen mit der von Kindheit auf gemachten Beobachtung, daß sie dieselbe in jedermanns Hand mit ebensolcher Regelmäßigkeit entfalten, wie, ebenfalls im allgemeinen, jedermanns Beine gehen können und wie ein geheizter Ofen wärmt und der Juli wärmer ist als der April. Diesem seinem Wissen von der „Natur“ des Geldes entsprechend richtet es seine Art ihrer Verwendung ein, „regelt“ es dieselbe, „wirtschaftet“ es damit. Wie diese Regelung de facto von einem konkreten Individuum, wie [A 124]sie von Tausenden und Millionen seinesgleichen infolge der, selbst gemachten oder durch andre übermittelten, „Erfahrungen“ über die „Folgen“ der verschiedenen möglichen Arten von „Regelung“ [536]vorgenommen wird und wie sie je nach der Verteilung der Chancen, derartige Metallplättchen (oder entsprechend „wirkende“ Papierfetzen) künftig im Geldschrank zu haben und darüber verfügen zu können, zwischen verschiedenen unterscheidbaren Gruppen in einer gegebenen Menschenvielheit von jeder dieser Gruppen verschieden vorgenommen wird, – dies alles zu beobachten und, soweit nach Lage des Materials möglich, verständlich zu machen, müßte nach Stammler, da es sich jeweils um Erklärung des Verhaltens der Einzelindividuen handelt, ebenfalls Aufgabe „technisch“-naturwissenschaftlicher, nicht „sozialwissenschaftlicher“ Betrachtung sein. Denn jene „Regeln“, nach denen die Individuen verfahren, sind hier, durchaus wie bei Robinson, „Maximen“,92[536] Vgl. dazu auch unten, S. 549 mit Anm. 24. welche in dem einen Fall ganz ebenso wie in dem andern, in ihrer das empirische Verhalten des Individuums kausal beeinflussenden Wirksamkeit gestützt werden durch entweder selbst gefundene oder von andren erlernte Erfahrungsregeln von dem Typus: wenn ich x tue, ist, nach Erfahrungsregeln, y die Folge. Auf der Basis solcher „Erfahrungssätze“ vollzieht sich das „geregelte Zweckhandeln“93 Diese Formulierung verwendet Stammler nicht. Robinsons, – auf der gleichen dasjenige des „Geldbesitzers“. Die Kompliziertheit der Existenzbedingungen, mit denen dieser zu „rechnen“ hat, mag im Verhältnis zu denen Robinsons eine noch so ungeheure sein: logisch ist ein Unterschied nicht vorhanden. Der eine wie der andre hat die erfahrungsmäßige Art des Reagierens seiner „Nichtichs“94 Dieser Begriff findet sich in Fichte, Johann Gottlieb, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre und Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen, 2., unveränderte Aufl. – Tübingen: J. G. Cotta 1802, S. 19: „Es ist ursprünglich nichts gesetzt als das Ich; und dieses nur ist schlechthin gesetzt. (§ 1) Demnach kann nur dem Ich schlechthin entgegengesetzt werden. Aber das dem Ich entgegengesetzte ist = Nicht-Ich.“ Vgl. auch Simmel, Geschichtsphilosophie2, S. 29 f. Auch Marianne Weber, Fichte’s Sozialismus (wie oben, S. 33, Anm. 1), S. 26 f., war auf diesen Begriff zu sprechen gekommen. auf bestimmte Arten seines Verhaltens zu kalkulieren. Daß sich unter diesen im einen Fall Reaktionen von Menschen, im andern nur solche von Tieren, Pflanzen und „toten“ Naturobjekten befinden, macht für das „logische“ Wesen der „Maxime“ nicht das Mindeste aus. Ist Robinsons „ökonomisches“ Verhalten, wie Stammler will, „nur“ Technik und daher [537]nicht Gegenstand „sozialwissenschaftlicher“ Betrachtung, dann auch nicht das Verhalten des Einzelnen zu einer wie immer gearteten Vielheit von Menschen, sofern es auf seine „Regelung“ durch „ökonomische“ Maximen und auf deren Wirkung hin untersucht wird. Die „Privatwirtschaft“ des Einzelnen wird – so können wir uns in der üblichen Sprache jetzt ausdrücken – von „Maximen“ beherrscht. Diese Maximen würden nach Stammlers Terminologie, als „technische“ Maximen zu bezeichnen sein. Sie „regeln“ das Verhalten des Einzelnen empirisch mit wechselnder Stetigkeit, aber sie können nach dem, was Stammler über Robinson gesagt hat,95[537] Vgl. oben, S. 531 mit Anm. 77. nicht die „Regeln“ sein, die er meint. Ehe wir uns diesen letztern zu nähern suchen, fragen wir nun noch: Wie verhält sich der Begriff der „Maxime“, mit dem wir so ausführlich operiert haben, zu den beiden einleitend erwähnten „Typen“ des „Regel“-Begriffs: „empirische Regelmäßigkeit“ [A 125]einerseits, „Norm“ andrerseits?96 Oben, S. 530 f. Das erfordert nochmals eine kurze allgemeine Betrachtung über den Sinn, den es hat, wenn ein bestimmtes Sich-Verhalten als „geregelt“ bezeichnet wird.

Mit dem Satz: „meine Verdauung ist geregelt“[,] sagt jemand zunächst nur die einfache „Naturtatsache“ aus: sie vollzieht sich in bestimmter zeitlicher Abfolge. Die „Regel“ ist Abstraktion aus dem Naturverlauf. Aber er kann in die Notwendigkeit versetzt werden, sie seinerseits durch Beseitigung von „Störungen“ zu „regeln“, – und wenn er dann den gleichen Satz ausspricht, so ist der äußere Hergang zwar der gleiche wie vorher, aber der Sinn des „Regel“-Begriffes ein anderer: im ersten Fall war die „Regel“ das an der „Natur“ Beobachtete, im zweiten Fall ist sie das für die „Natur“ Erstrebte. Beobachtete und erstrebte „Regelmäßigkeit“ können dabei nun de facto koinzidieren, und dies ist dann sehr erfreulich für den Betreffenden, – aber dem Sinn nach bleiben sie „begrifflich“ zweierlei: die eine ein empirisches Faktum, die andre ein erstrebtes Ideal, eine „Norm“, an der die Fakta „wertend“ gemessen werden. Die „ideale“ Regel ihrerseits aber kann in zweierlei Arten der Betrachtung eine Rolle spielen. Einmal 1) kann gefragt werden: welche faktische Regelmäßigkeit ihr entsprechen würde, dann aber auch 2) welches Maß faktischer Regelmäßigkeit durch [538]das Streben nach ihr kausal herbeigeführt ist. Denn das Faktum, daß z. B. Jemand jene „Messung“ an der hygienischen Norm vornimmt und sich nach dieser „richtet“, ist ja seinerseits eine der kausalen Komponenten der an seiner Physis zu beobachtenden empirischen Regelmäßigkeit. Diese letztere ist in dem vorausgesetzten Fall kausal beeinflußt durch eine unendliche Vielheit von Bedingungen,97[538] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 184 mit Anm. 34. unter denen sich auch das Medikament befindet, welches er, um die hygienische „Norm“ zu „verwirklichen“, zu sich nimmt. Seine empirische „Maxime“ ist – wie man sieht – die Vorstellung von der „Norm“, als reales Agens des Handelns wirkend.98 Im Sinne psychophysischer Kausalität. Vgl. Rickert, Causalität (wie oben, S. 46, Anm. 31), S. 84, zum „Begriff des Wirkens“ hinsichtlich des „Zusammenhang[s] physischer und psychischer Vorgänge“. Nicht anders steht es mit der „Geregeltheit“ des Verhaltens der Menschen zu Sachgütern und andren Menschen, insbesondere ihres „ökonomischen“ Verhaltens. Daß Robinson und die Geldbesitzer, von denen wir redeten,99 Oben, S. 531 ff. sich in bestimmter Art zu ihren Gütern bezw. Geldvorräten verhalten, dergestalt zwar, daß dies Verhalten als ein „geregeltes“ erscheint, kann uns veranlassen, die „Regel“, die wir jenes Verhalten, mindestens teilweise, „beherrschen“ sehen, theoretisch zu formulieren: als „Grenznutzprinzip“1 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 202 mit Anm. 99. z. B. Diese ideale „Regel“ enthält dann einen Lehrsatz darüber, welcher die „Norm“ enthält, der entsprechend Robinson verfahren „müßte“, wenn er sich schlechthin an das Ideal „zweckmäßigen“ Handelns halten wollte. Sie läßt sich mithin einerseits als Wertungsstandard behandeln – nicht natürlich als „sittlicher“, sondern als „teleologischer“, der „zweckvolles“ Handeln als „Ideal“ voraussetzt. Andrerseits aber, und namentlich, ist sie ein heuristisches Prinzip, um das empi[A 126]rische Handeln Robinsons – wenn wir ad hoc einmal die reale Existenz eines solchen Individuums annehmen – in seiner faktischen kausalen Bedingtheit erkennen zu lassen: sie dient in letztrem Fall als „idealtypische“ Konstruktion, und wir verwenden sie als Hypothese,2 Vgl. aber ebd., oben, S. 203: „Für die Forschung will der idealtypische Begriff das Zurechnungsurteil schulen: er ist keine ,Hypothese‘, aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen.“ deren Zutreffen an den „Tatsachen“ zu „erpro[539]ben“ wäre und dazu hülfe, die faktische Kausalität seines Handelns und das Maß von Annäherung an den „Idealtypus“ zu ermitteln8a)[539][A 126] Über den logischen Sinn des „Idealtypus“ s. meine Abhandlung im „Archiv“ Band XIX Heft 1 S. 64 ff.4 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 203 ff. .

Für die empirische Erkenntnis des Verhaltens Robinsons käme dabei jene „Regel“ zweckmäßigen Handelns in zweierlei sehr verschiedenem Sinn in Betracht. Einmal, möglicherweise, als Bestandteil der, das Objekt der Untersuchung bildenden „Maximen“ Robinsons, als reales „Agens“ seines empirischen Handelns. Zweitens als Bestandteil des Wissens- und Begriffsvorrats, mit dem der Untersuchende an seine Aufgabe geht: sein Wissen von dem ideell möglichen „Sinn“3[539] Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 310 ff. des Handelns ermöglicht ihm dessen empirische Erkenntnis. Beides ist logisch scharf zu scheiden. Auf dem Boden des Empirischen ist die „Norm“ eine zweifellose Determinante des Geschehens, aber eben nur eine, logisch betrachtet, ganz im selben Sinn wie bei der „Regelung“ der Verdauung der „normgemäße“ Konsum des Medikaments und also die „Norm“, welche der Arzt gab, eine, aber eben auch nur eine, der Determinanten des faktischen Erfolges ist. – Und diese Determinante kann in einem sehr verschiedenen Maß von Bewußtheit das Handeln bestimmen. Wie das Kind das Gehen, die Reinlichkeit, die Meldung gesundheitsschädlicher Genüsse „lernt“, so wächst es überhaupt in die „Regeln“ hinein, nach denen es das Leben andrer sich vollziehen sieht, lernt sich sprachlich „auszudrücken“, im „Geschäftsverkehr“ sich zu bewegen, teils 1) ohne alle subjektive gedankliche Formung der „Regel“, der gemäß es nun selbst – in sehr verschiedener Constanz – faktisch handelt, teils 2) auf Grund bewußter Verwertung von „Erfahrungssätzen“ des Typus: auf x folgt y, teils 3) weil ihm die „Regel“ als Vorstellung einer um ihrer selbst willen gesollten „Norm“ durch „Erziehung“ oder einfache Nachahmung eingeprägt und dann an der Hand seiner „Lebenserfahrung“ durch eigenes Nachdenken fortentwickelt wurde und sein Handeln mitbestimmt. Wenn man in den letztgenannten Fällen (ad 2 und 3) sagt, daß die betreffende, sittliche, konventionelle, teleologische, Regel „Ursache“ eines bestimmten Handelns sei, so ist dies natürlich höchst [540]ungenau ausgedrückt: nicht das „ideelle Gelten“ einer Norm, sondern die empirische Vorstellung des Handelnden, daß die Norm für sein Verhalten „gelten solle“, ist der Grund. Das gilt für die „sittlichen“ Normen ebenso wie für Regeln, deren „Geltensollen“ reine „Konventionssache“ oder „Weltklugheit“ ist: die Konven[A 127]tionalregel5[540] Stammler, Wirtschaft2, S. 121, unterscheidet zwischen „rechtlichen Satzungen“ und „Konventionalregeln“, d. h. der „Masse jener Normen, die in den Weisungen von Anstand und Sitte, in den Forderungen der Etikette und den Formen des geselligen Verkehres im engeren Sinne, in der Mode und den vielfachen äußeren Gebräuchen, wie in dem Kodex der ritterlichen Ehre uns entgegentreten“. Vgl. dazu auch den Abschnitt „Rechtsordnung, Convention und Sitte“ in: Weber, Die Wirtschaft und die Ordnungen, MWG I/22-3, S. 210–238, dort auch zur Konventionalregel, ebd., S. 219 mit Hg.– Anm. 68 (mit Bezug auf Stammler). des Grußes z. B. ist es natürlich nicht, welche in eigner Person meinen Schädel entblößt, wenn ich einen Bekannten treffe, sondern meine Hand tut es, – ihrerseits aber ist diese dazu veranlaßt, entweder durch meine bloße „Gewöhnung“ daran, nach einer solchen „Regel“ zu handeln, oder daneben durch das Erfahrungswissen darum, daß es von andern für unschicklich angesehen wird, es nicht zu tun[,] und deshalb Unfreundlichkeiten zur Folge hat: durch eine „Unlust“-Kalkulation also, oder endlich auch noch durch meine Ansicht, daß es sich für mich „nicht gezieme“, eine nun einmal allseitig befolgte und unschädliche „Konventionalregel“ ohne zwingende Veranlassung nicht zu beachten: durch eine „Normvorstellung“ also8b)[540][A 127] Diese wie manche weiter folgende fast übermäßig triviale Bemerkung muß der Leser mit der Notwendigkeit, gewissen stark ad hominem gemachten Argumentationen Stammler’s von vornherein entgegenzutreten, entschuldigen..

Mit den letzten Beispielen waren wir schon bei dem Begriff der „sozialen Regelung“6 Vgl. oben, S. 532 mit Anm. 80. angelangt, d. h. einer „für“ das Verhalten der Menschen zu einander „geltenden“ Regel, also bei dem Begriff, an dem Stammler das Objekt: „soziales Leben“ verankert. Wir erörtern nun hier noch nicht die Berechtigung dieser Begriffsbestimmung Stammlers, sondern führen vorerst unsre Erörterung des „Regel“-Begriffes unabhängig von der Rücksicht auf Stammler noch eine Strecke weiter.

Nehmen wir gleich das Elementarbeispiel, welches auch Stammler gelegentlich zur Veranschaulichung der Bedeutung der „Regel“ für den Begriff des „sozialen Lebens“ verwendet. Zwei, im übrigen [541]außer jeder „sozialen Beziehung“ stehende Menschen: – also zwei Wilde verschiedener Stämme, oder ein Europäer, der im schwärzesten Afrika einem Wilden begegnet, und dieser letztere, „tauschen“ zwei beliebige Objekte gegeneinander aus.7[541] Vgl. z. B. Stammler, Wirtschaft2, S. 103. Man legt alsdann – und ganz mit Recht – den Nachdruck darauf, daß hier eine bloße Darstellung des äußerlich wahrnehmbaren Hergangs: der Muskelbewegungen also und eventuell, wenn dabei „gesprochen“ wurde, der Töne, welche sozusagen die „Physis“ des Hergangs ausmachen, dessen „Wesen“ in gar keiner Weise erfassen würde. Denn dies „Wesen“ bestehe ja in dem „Sinn“, den beide diesem ihrem äußern Verhalten beilegen, und dieser „Sinn“ ihres gegenwärtigen Verhaltens wiederum stelle eine „Regelung“ ihres künftigen dar. Ohne diesen „Sinn“ sei – so sagt man – ein „Tausch“ überhaupt weder real möglich noch begrifflich konstruierbar. Ganz gewiß! Der Umstand, daß „äußere“ Zeichen als „Symbole“ dienen, ist eine der konstitutiven Voraussetzungen aller „sozialen“ Beziehungen. Aber, fragen wir gleich wieder, nur dieser? Offenbar in gar keiner Weise. Wenn ich mir ein „Lesezeichen“ in ein „Buch“ lege, so ist das, was nachher von dem Resultat dieser Handlung „äußerlich“ wahrnehmbar ist, offenbar lediglich „Symbol“: der Umstand, daß hier ein Streifen [A 128]Papier oder ein andres Objekt zwischen zwei Blätter eingeklemmt ist, hat eine „Bedeutung“, ohne deren Kenntnis das Lesezeichen für mich nutz- und sinnlos und die Handlung selbst auch kausal „unerklärbar“ wäre. Und doch ist hier doch wohl keinerlei „soziale“ Beziehung gestiftet. Oder, um lieber wieder ganz auf den Boden der Robinsonade zu treten: wenn Robinson sich, da der Waldbestand seiner Insel „ökonomisch“ der Schonung bedarf, bestimmte Bäume mit der Axt „bezeichnet“, welche er für den kommenden Winter zu schlagen gedenkt, oder wenn er, um mit seinen Getreidevorräten „Haus zu halten“, diese in Rationen teilt, einen Teil als „Saatgut“ besonders verstaut, – in all solchen und zahllosen ähnlichen Fällen, die sich der Leser selbst konstruieren möge, ist der „äußerlich“ wahrnehmbare Vorgang auch hier nicht „der ganze Vorgang“: der „Sinn“ dieser ganz gewiß kein „soziales Leben“ enthaltenden Maßnahmen ist es, der ihnen erst ihren Charakter aufprägt, ihnen „Bedeutung“ gibt, im Prinzip ganz genau ebenso, wie die „Lautbedeutung“ den schwarzen Fleckchen, die [542]man in ein Faszikel von Papierblättern „gedruckt“ hat[,] oder wie die „Wortbedeutung“ den Lauten, die ein anderer „spricht“, oder endlich wie der „Sinn“, den jeder der beiden Tauschenden mit seinem Gebahren verbindet, dem äußerlich wahrnehmbaren Teil desselben. Scheiden wir nun, gedanklich, den „Sinn“, den wir in einem Objekt oder Vorgang „ausgedrückt“ finden, von den Bestandteilen desselben, die übrig bleiben, wenn wir von eben jenem „Sinn“ abstrahieren, und nennen wir eine Betrachtung, die nur auf diese letzteren Bestandteile reflektiert, eine „naturalistische“, – dann erhalten wir einen weiteren, von den früheren wohl zu unterscheidenden Begriff von „Natur“. Natur ist dann das „Sinnlose“, richtiger: „Natur“ wird ein Vorgang, wenn wir bei ihm nach einem „Sinn“ nicht fragen. Aber selbstverständlich ist dann der Gegensatz zur „Natur“ als dem „Sinnlosen“ nicht „soziales Leben“, sondern eben das „Sinnvolle“, d. h. der „Sinn“, der einem Vorgang oder Objekt zugesprochen, „in ihm gefunden werden“ kann, von dem metaphysischen „Sinn“ des Weltganzen innerhalb einer religiösen Dogmatik angefangen bis zu dem „Sinn“, den das Bellen eines Hundes Robinsons bei Annäherung eines Wolfes „hat“. – Nachdem wir uns überzeugt haben, daß die Eigenschaft, „sinnvoll“ zu sein, etwas zu „bedeuten“, durchaus nichts dem „sozialen“ Leben Eigentümliches ist, kehren wir zu dem Vorgang jenes „Tausches“ zurück. Der „Sinn“ des „äußern“ Verhaltens der beiden Tauschenden kann dabei seinerseits in zweierlei logisch sehr verschiedenen Arten betrachtet werden. Einmal als „Idee“:8[542] Zum Begriff „Idee“ vgl. Weber, Roscher und Knies 1, oben, S. 71 f. Zum Zusammenhang von Idee und Idealtypus vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 202 ff. wir können fragen, welche gedanklichen Konsequenzen in dem „Sinn“, den „wir“ – die Betrachtenden – einem konkreten Vorgang dieser Art zusprechen, gefunden werden können oder wie sich dieser „Sinn“ einem umfassenderen „sinnvollen“ Gedankensystem einfügt. Von diesem so zu gewinnenden „Stand[A 129]punkt“ aus können wir alsdann eine „Wertung“ des empirischen Ablaufs des Vorgangs vornehmen. Wir könntenz[542]A: konnten z. B. fragen: wie „müßte“ das „ökonomische“ Verhalten Robinsons sein, wenn es in seine letzten gedanklichen „Konsequenzen“ getrieben würde. Das tut die Grenznutz[543]lehre.9[543] Gemeint ist die Lehre der von Menger, Böhm-Bawerk und Wieser geprägten österreichischen Schule der Nationalökonomie. Und wir könntena[543]A: konnten dann sein empirisches Verhalten an jenem gedanklich ermittelten Standard „messen“. Und ganz ebenso können wir fragen: wie „müßten“ sich die beiden „Tauschenden“ nach äußerlichem Vollzug der Hingabe der getauschten Objekte von beiden Seiten nun weiter verhalten, damit ihre Gebahrung der „Idee“ des Tausches entspreche, d. h. damit wir sie den gedanklichen Konsequenzen des „Sinns“, den wir in ihrem Handeln fanden, konform finden könnten. Wir gehen also dann von der empirischen Tatsache aus, daß Vorgänge bestimmter Art mit einem gewissen, nicht im einzelnen klar durchdachten, sondern unklar vorschwebenden „Sinn“ vorstellungsmäßig verbunden[,] faktisch vorkommen, verlassen aber alsdann das Gebiet des Empirischen und fragen: wie läßt sich der „Sinn“ des Handelns der Beteiligten derart gedanklich konstruieren, daß ein in sich widerspruchsloses Gedankengebilde10 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 202 ff. entsteht?9)[543][A 129] Jeder Gedanke an eine „Rechts“-Ordnung ist vorerst noch ganz fern zu halten und selbstredend könnten ferner eventuell sehr wohl mehrere, ja viele untereinander verschiedene ideale „Sinne“ eines „Tausch“-Akts konstruierbar sein. Wir treiben dann „Dogmatik“ des „Sinns“. Und wir können auf der andern Seite fragen: war der „Sinn“, den „wir“ einem derartigen Vorgang dogmatisch zusprechen können, auch derjenige, den jeder der empirischen Akteurs desselben seinerseits bewußt in ihn hineinlegte[,] oder welchen andern legte jeder von ihnen hinein, oder schließlich: legten sie überhaupt irgend welchen bewußten „Sinn“ hinein? Wir haben dann zunächst weiter zweierlei „Sinn“ des Begriffes „Sinn“ selbst – nunmehr in empirischer Bedeutung, mit der wir jetzt allein zu tun haben – zu unterscheiden. Es kann, in unsrem Beispiel, damit gemeint sein, einmal: daß die Handelnden bewußt eine sie „verpflichtende“ Norm auf sich nehmen wollten, daß sie also der (subjektiven) Ansicht waren, daß ihr Handeln als solches einen sie verpflichtenden Charakter trage: es wurde eine „Norm-Maxime“ bei ihnen gestiftet10)Wenn man den „Sinn“ des Tauschaktes in dieser ersten der hier unterschiedenen Bedeutungen, derjenigen der „Norm-Maxime“, als eine „Regelung der Beziehungen“ [544]der Tauschenden zu einander, ihr Verhältnis als ein durch die ihnen vorschwebende „Norm“ für ihr künftiges Verhalten „geregelt“ bezeichnet, so ist alsbald festzustellen, daß hier die Worte „geregelt“ und „Regelung“ keineswegs notwendig eine Subsumtion unter eine generelle „Regel“ enthalten, außer etwa der: „daß Abmachungen loyal erfüllt werden sollen“, d. h. aber nichts andres als: „daß die Regelung eben als Regelung behandelt werden solle“. Die beiden Beteiligten brauchen vom generellen ideellen „Wesen“ der Tauschnorm ja gar [A 130]nichts zu wissen, ja wir können natürlich auch unterstellen, daß zwei Individuen einen Akt vollziehen, dessen von ihnen damit verbundener „Sinn“ absolut individuell und nicht – wie der „Tausch“ – einem generellen Typus subsumierbar ist. Mit andern Worten: der Begriff des „Geregelten“ setzt in keiner Weise logisch den Gedanken genereller „Regeln“ bestimmten Inhaltes voraus. Wir stellen diesen Sachverhalt hier nur fest und behandeln auch weiterhin, der Einfachheit halber, die normative Regelung durchweg als eine Unterstellung unter „generelle“ Regeln., [A 130] – oder aber es soll nur gemeint sein, daß [544]jeder von ihnen mit dem Tausch bestimmte „Erfolge“ erstrebte, zu denen sein Handeln nach seiner „Erfahrung“ im Verhältnis des „Mittels“ stand, daß der Tausch einen (subjektiv) bewußten „Zweck“ hatte. Von jeder der beiden Arten von Maximen ist es in jedem einzelnen Fall natürlich zweifelhaft, in welchem Grade, von der „Norm-Maxime“ überdies auch, ob sie überhaupt empirisch vorhanden war. Fraglich ist: 1. wie weit waren sich die beiden Tauschenden unseres Beispieles der „Zweckmäßigkeit“ ihres Handelns wirklich bewußt? 2. wie weit haben sie andrerseits den Gedanken: daß ihre Beziehungen nun so „geregelt“ sein „sollen“, daß das eine Objekt als „Äquivalent“ des anderen gelten, daß jeder den nunmehr durch den Tausch eingetretenen „Besitz“ des anderen an dem früher in seinem eignen Besitz befindlich gewesenen Objekt „achten“ solle u.s.w. – zu ihrer bewußten „Maxime“ – zur „Norm-Maxime“ also[,] gemacht, wie weit also war die Vorstellung von diesem „Sinn“ 1) kausal bestimmend für das Zustandekommen des Entschlusses zu diesem „Tauschakt“ selbst und 2) wie weit bildet sie den Bestimmungsgrund11[544] Vgl. oben, S. 534 mit Anm. 88. ihres weiteren Verhaltens nach dem Tauschakt? Das sind offenbar Fragen, bei denen uns zwar zum Zweck der Hypothesenbildung,12 Vgl. oben, S. 538 mit Anm. 2. als „heuristisches Prinzip“, unser „dogmatisches“ Gedankenbild vom „Sinn“ des „Tausches“ sehr zu statten kommen muß, die aber andrerseits natürlich mit dem einfachen Hinweis darauf, daß eben „objektiv“ der „Sinn“ dessen, was sie getan haben, ein für allemal nur ein spezifischer, nach bestimmten logischen Prinzipien dogmatisch zu [545]erschließender sein „könne“, ganz und gar nicht erledigt würden. Denn es wäre natürlich reine Fiktion, und entspräche etwa der Hypostasierung der „regulativen Idee“ vom „Staatsvertrag“,13[545] Möglicherweise referiert Weber auf Kant. Vgl. Kant, Immanuel, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig seyn, taugt aber nichts für die Praxis, in: ders., Sämmtliche Werke, hg. von Karl Rosenkranz und Friedrich Wilhelm Schubert, Siebenten Theils, Erste Abtheilung: Kleine anthropologisch-praktische Schriften, hg. von Friedrich Wilhelm Schubert. – Leipzig: Leopold Voss 1838, S. 175–229, bes. S. 197–219, hier S. 207: „Allein dieser Vertrag […] ist keinesweges als ein Factum vorauszusetzen nöthig […], gleichsam als ob allererst aus der Geschichte vorher bewiesen werden müsste, dass ein Volk, in dessen Rechte und Verbindlichkeiten wir als Nachkommen getreten sind, einmal wirklich einen solchen Actus verrichtet, und eine sichere Nachricht […] davon, uns […] hinterlassen haben müsse, um sich an eine schon bestehende bürgerliche Verfassung für gebunden zu achten. Sondern es ist eine blosse Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat, nämlich, jeden Gesetzgeber zu verbinden, dass er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können“. wenn man einfach dekretierte: die beiden haben ihre sozialen Beziehungen zu einander in einer, dem idealen „Gedanken“ des „Tauschs“ entsprechenden, Art „regeln“ wollen, weil wir, die Beobachtenden, diesen „Sinn“, vom Standpunkt der dogmatischen Klassifikation aus gesehen, hinein legen. Man könnte – logisch betrachtet – ebensogut sagen: der Hund, der bellt, habe, wegen des „Sinnes“, den dies Bellen für seinen Besitzer haben kann, die „Idee“ des Eigentumsschutzes verwirklichen „wollen“. Der dogmatische „Sinn“ des „Tauschs“ ist für die empirische Betrachtung ein „Idealtypus“, der, weil in der empirischen Wirklichkeit sich massenhaft [A 131]Vorgänge finden, welche ihm in einer mehr oder minder großen „Reinheit“ entsprechen, „heuristisch“ einerseits, „klassifizierend“ andrerseits, von uns verwendet wird. „Norm“-Maximen, welche diesen „idealen“ Sinn des Tauschs als „verpflichtend“ behandeln, sind zweifellos eine der verschiedenen möglichen Determinanten des faktischen Handelns der „Tauschenden“, aber eben nur eine, deren empirisches Vorhandensein im konkreten Akt Hypothese ebenso für den Beobachter wie auch, nicht zu vergessen, für jeden der beiden Akteurs hinsichtlich des anderen ist. Der Fall ist natürlich ganz gewöhnlich, daß einer von beiden oder auch beide Tauschenden den normativen „Sinn“ des Tausches, von dem ihnen bekannt ist, daß er als ideell „geltend“, d. h. als geltensollend behandelt zu werden pflegt, seinerseits nicht zu seiner „Norm-Maxime“ macht, daß dagegen jener eine oder auch jeder [546]von beiden auf die Wahrscheinlichkeit spekuliert, daß der andere Beteiligte es tun werde: seine eigene Maxime ist dann reine „Zweck“-Maxime. Daß der Vorgang in diesem Fall empirisch im Sinn der ideellen Norm „geregelt“ sei, die Akteurs ihre Beziehungen so geregelt haben, – diese Behauptung hat natürlich gar keinen empirischen Sinn. Wenn wir uns dennoch gelegentlich so ausdrücken, so ist das die gleiche Doppelsinnigkeit des Wortes „geregelt“, wie wir sie bei dem Mann mit der künstlich „geregelten“ Verdauung schon fanden14[546] Oben, S. 537 f. und noch öfter wiederfinden werden. Sie ist unschädlich, wenn man sich stets gegenwärtig hält, was in concreto darunter verstanden ist. Dagegen vollends sinnlos wäre es natürlich, wenn man weiterhin die „Regel“, der sich (dem dogmatischen „Sinn“ ihres Verhaltens nach) die beiden Tauschenden unterstellt haben sollen, als die „Form“ ihrer „sozialen Beziehung“, also als eine „Form“ des Geschehens bezeichnen wollte.15 Vgl. Oben, S. 523 ff. Denn jene dogmatisch erschlossene „Regel“ selbst „ist“ ja in jedem Fall eine „Norm“, welche für das Handeln ideell „gelten“ will, nimmermehr aber eine „Form“ von etwas empirisch „Seiendem“.

Wer „soziales Leben“ als empirisch Seiendes erörtern will, darf natürlich nicht eine Metabase16 Als metábasis eis állo génos (griech. μετάβασις εἰς ἄλλο γένος) bezeichnet Aristoteles den Übergriff in eine andere Gattung bei der Beweisführung: „Folglich darf man auch Behufs eines Beweises, nicht in ein anderes Gebiet übergreifen; so darf z. B. das Geometrische nicht durch arithmetische Sätze bewiesen werden.“ Vgl. Aristoteles, Zweite Analytiken, oder: Lehre vom Erkennen. Uebersetzt und erläutert von J. H. v. Kirchmann. – Leipzig: Erich Koschny 1877, S. 16. in das Gebiet des dogmatisch Seinsollenden vollziehen. Auf dem Gebiet des „Seins“ gibt es jene „Regel“ in unsrem Beispiel nur im Sinn einer kausal erklärbaren und kausal wirksamen empirischen „Maxime“ der beiden Tauschenden. Im Sinne des zuletzt entwickelten „Natur“-Begriffes17 Oben, S. 542. würde man das so ausdrücken: auch der „Sinn“ eines äußeren Vorgangs wird dann im logischen Sinn „Natur“, wenn auf seine empirische Existenz reflektiert wird. Denn dann wird eben nicht nach dem „Sinn“ gefragt, den der äußere Vorgang dogmatisch „hat“, sondern nach dem „Sinn“, welchen in concreto die „Akteurs“ mit ihm entweder wirklich verbanden oder etwa auch, nach den erkennbaren „Merkmalen“, zu verbinden sich den Anschein gaben. [547]– Ganz ebenso steht es nun natürlich im Speziellen mit der „Rechtsregel“.18[547] Stammler verwendet diese Formulierung häufig.

[A 132]Ehe wir aber auf den Boden des „Rechts“ im üblichen Sinn des Wortes treten, wollen wir uns einige der bisher noch offen gelassenen Seiten unsres allgemeinen Problems noch an einem weiteren Beispiel verdeutlichen. Stammler selbst erwähnt gelegentlich auch die Analogie von „Spielregeln“,19 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 132 f. – wir müssen für unsere Zwecke diese Analogie wesentlich eingehender durchführen, und wollen dazu den Skat hier einmal gleich einer jener grundlegenden Komponenten der Kultur behandeln, von denen die „Geschichte“ kündet und mit denen sich die „Sozialwissenschaft“ befaßt. –

Die drei Skatspielenden „unterwerfen sich“ der Skatregel, sagt man, und meint damit: sie haben die „Norm“-Maxime, daß nach gewissen Merkmalen bestimmt werden solle, 1) ob jemand „richtig“ – im Sinne von „normgemäß“ – gespielt habe, 2) wer als „Gewinner“ gelten solle. An diese Aussage können sich nun logisch sehr verschiedene Arten von Betrachtungen knüpfen. Zunächst kann die „Norm“: die Spielregel also, als solche zum Gegenstand rein gedanklicher Erörterungen gemacht werden. Dies wiederum entweder praktisch wertend: so wenn z. B. ein „Skat-Kongreß“, wie es seinerzeit geschah,20 Zwischen 1886 und 1907 fanden in Deutschland acht Skatkongresse statt. Auf dem ersten Kongreß in Altenburg wurde die Allgemeine Deutsche Skatordnung beschlossen, die auf den folgenden Kongressen verändert wurde. Wann man sich mit der von Weber aufgeworfenen Frage befaßte, ist nicht belegt. sich damit befaßt, ob es nicht vom Standpunkt jener („eudämonistischen“) „Werte“, denen der Skat dient, angebracht sei, fortan die Regel aufzustellen: jeder Grand geht über Null Ouvert, – eine skatpolitische Frage. Oder aber dogmatisch: ob z. B. eine bestimmte Art des Reizens „konsequenterweise“ eine bestimmte Rangfolge jener Spiele im Gefolge haben „müßte“, – eine Frage der allgemeinen Skatrechtslehre in „naturrechtlicher“ Problemstellung. In das Gebiet der eigentlichen Skatjurisprudenz gehört sowohl die Frage, ob ein Spiel als „verloren“ zu gelten habe, wenn der Spieler sich „verworfen“ hat, wie alle Fragen darnach, ob in concreto ein Spieler „richtig“ (= normgemäß) oder „falsch“ gespielt habe. Lediglich empirischen und zwar näher: „historischen“ [548]Charakters ist dagegen die Frage, warum ein Spieler in concreto „falsch“ gespielt hat (wissentlich? versehentlich? usw.). Eine „Wertfrage“, die aber rein empirisch zu beantworten ist, ist sodann die: ob ein Spieler in concreto „gut“, d. h. zweckmäßig gespielt hat. Sie ist nach „Erfahrungsregeln“ zu entscheiden, welche z. B. angeben, ob die Chance, „die Zehn anzuschneiden“, durch ein bestimmtes Verhalten generell gesteigert zu werden pflegt oder nicht. Diese generellen Regeln der praktischen Skatweisheit enthalten also Erfahrungs-Sätze, welche an der Hand der „möglichen“ Konstellationen und daneben eventuell der Lebenserfahrung über die Art des wahrscheinlichen Reagierens der Mitspieler kalkuliert und zu einem verschieden hohen Grade von Stringenz erhoben werden können: „Kunstregeln“, an denen die Zweckmäßigkeit des Verhaltens des Skatspielers „gewertet“ wird. Endlich könnte das Verhalten der Spieler an „skatsittlichen“ Normen gemessen werden: unaufmerksames Spiel, welches den gemeinsamen [A 133]Gegner gewinnen läßt, pflegt der Mitspieler pathetisch zu rügen, – die „menschlich“ höchst verwerfliche Maxime, ein sog. „Opferlamm“ als dritten Mann behufs gemeinsamer Ausbeutung zu engagieren, pflegt dagegen von der empirischen Skatethik nicht allzu streng beurteilt zu werden. Diesen verschiedenen möglichen Richtungen von Wertungen entsprechend können wir auf dem Gebiet des empirischen Skats „Sittlichkeits“-, „Rechtlichkeits“-, „Zweckmäßigkeits“-Maximen unterscheiden, welche gedanklich auf sehr verschiedenen Wertungsprinzipien ruhen und deren „normative“ Dignität daher, vom „Absoluten“ bis zur reinen „Faktizität“ herabsteigend, entsprechend verschieden ist. Das gleiche fand aber bei unsrem Tausch-Beispiel21[548] Vgl. oben, S. 540 ff. statt, und ebenso wie dort lösen sich hier, sobald wir das Gebiet der rein empirisch-kausalen Betrachtung betreten, die verschiedenen Orientierungspunkte der Maximen, welche die normative (skatpolitische, skatjuristische) Betrachtung als „ideell geltende“ behandelt, in faktische Gedankenkomplexe auf, welche das faktische Verhalten des Spielenden determinieren, entweder in Konflikt miteinander (sein Interesse kann z. B. gegen Innehaltung der „Rechtlichkeitsmaxime“ sprechen) oder, regelmäßig, in Kombination miteinander. Der Spielende legt sein As auf den Tisch, weil er infolge seiner „Deutung“ der „Spielregel“, seiner generel[549]len „Skaterfahrung“ und seiner „ontologischen“22[549] Zu ontologischem Wissen vgl. Weber, Kritische Studien, oben, S. 461 mit Anm. 4. Abschätzung der Konstellation dies für das adäquate Mittel dafür: den Tatbestand herbeizuführen, an den die ihm vorschwebende „Spielregel“ die Konsequenz knüpft, daß er als „Gewinner“ gelte, hält. Er kalkuliert als Erfolg seines Tuns z. B., daß der andere die Zehn dazu legen werde und daß dies in Verbindung mit einer Serie weiterer, von ihm erwarteter Ereignisse, eben jenen Enderfolg herbeiführen werde. Er zählt dabei einerseits darauf, daß die andern sich durch die auch ihnen gleichförmig vorschwebende „Spielregel“ in ihrem Handeln bestimmen lassen werden, da er der bestimmenden Kraft ihrer subjektiven „Rechtlichkeitsmaxime“ diese Konstanz zutraut, weil er sie generell als Menschen kennt, die nach „Sittlichkeitsmaximen“ zu handeln pflegen. Andrerseits zieht er die Wahrscheinlichkeit in Rechnung, welche nach seiner Kenntnis ihrer Skatqualifikation dafür besteht, daß sie teleologisch mehr oder minder „zweckmäßig“, ihren Interessen gemäß, handeln werden, daß sie also ihre „Zweckmäßigkeitsmaxime“ auch in concreto zu verwirklichen imstande sind. Seine, für sein Verhalten maßgebliche Erwägung kleidet sich also dabei in Sätze von der Form: wenn ich x tue, so ist, da die andren die Spielregel a nicht bewußt verletzen und zweckmäßig spielen werden, und da die Konstellation z vorliegt, y die wahrscheinliche Folge.

Man kann nun zweifellos die „Spielregel“ als „Voraussetzung“ eines konkreten Spieles bezeichnen. Dann muß man aber darüber im Klaren sein, was dies für die empirische Betrachtung, bei der wir uns jetzt befinden, bedeutet. Die „Spielregel“ ist zunächst ein kausales [A 134]„Moment“.23 Vgl. Kries, Möglichkeit, S. 21 f. [197]. Natürlich nicht die „Spielregel“ als „ideale“ Norm des „Skatrechts“, wohl aber die Vorstellung, welche jeweils Spielende von ihrem Inhalt und ihrer Verbindlichkeit haben, gehört zu den Mitbestimmungsgründen für ihr faktisches Handeln. Die Spielenden „setzen“ – normalerweise – voneinander „voraus“, daß jeder die Spielregel zur „Maxime“ seines Handelns machen werde:24 Möglicherweise Anspielung auf Kants kategorischen Imperativ: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“. Vgl. Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hg. und [550]erläutert von J. H. von Kirchmann. – Berlin: L. Heimann 1870, S. 44 (Handexemplar, Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München). diese faktisch normalerweise gemachte Annahme, – wel[550]che nachher empirisch mehr oder minder realisiert werden kann, – ist regelmäßige sachliche „Voraussetzung“ dafür, daß jeder von ihnen sich dazu entschließt, seinerseits sein Handeln durch die entsprechende Maxime – wirklich oder, wenn er ein Gauner ist, scheinbar – bestimmen zu lassen. Wer den Hergang eines konkreten Skatspiels kausal ergründen wollte, würde also natürlich beim kausalen Regressus die Spekulation jedes Spielers darauf, daß die andern einer faktisch üblichen „Regel“ folgen, also auch ihr „erlerntes“ Wissen von dieser „Regel“, als eine – normalerweise – ebenso konstant wirkende Determinante einzustellen haben, wie alle andern kausalen „Voraussetzungen“ des Gebahrens des Spielers. Es besteht insoweit keinerlei Unterschied zwischen ihr und den „Bedingungen“, deren der Mensch überhaupt zum Leben und bewußten Handeln bedarf.

Einen wesentlich andern logischen Sinn hat es aber natürlich, wenn wir die Skatregel als die „Voraussetzung“ der empirischen Skat-Erkenntnis bezeichnen. Das heißt dann: sie ist – im Gegensatz zu jenen andern „allgemeinen“ sachlichen „Voraussetzungen“ des Geschehens – für uns charakteristisches Merkmal des „Skats“. Etwas umständlicher formuliert: solche Vorgänge, welche vom Gesichtspunkt einer üblicherweise als „Skatregel“ bezeichneten Spielnorm aus gesehen, als relevant gelten, charakterisieren uns einen Komplex von Hantierungen als „Skatspiel“. Der gedankliche Inhalt der „Norm“ ist also maßgebend für die Auslese des „Begriffswesentlichen“ aus der Mannigfaltigkeit von Zigarrenrauch, Bierkonsum, Auf-den-Tisch-schlagen, Raisonnements aller Art, in welcher sich ein echter deutscher Skat uns zu präsentieren pflegt, und aus dem zufälligen „Milieu“ des konkreten Spieles. Wir „klassifizieren“ einen Komplex von Vorgängen dann als „Skat“, wenn solche für die Anwendung der Norm als relevant geltende Vorgänge sich darin flnden. Sie sind es ferner, deren kausale Erklärung sich eine „historische“ Analyse eines konkreten „Skats“ in seinem empirischen Verlauf zur Aufgabe stellen würde, – sie konstituieren das empirische Kollektivum eines „Skatspiels“ und den empirischen Gattungsbegriff „Skat“. In summa: die Relevanz vom Standpunkt [551]der „Norm“ grenzt das Untersuchungs-Objekt ab. Es ist klar, zunächst, daß der Sinn, in dem die Skatregel hier „Voraussetzung“ unserer empirischen Skat-Erkenntnis, d. h. spezifisches Begriffs-Merkmal, ist, streng von dem Sinn, in welchem sie, d. h. ihre Kenntnis und Inrechnung[A 135]stellung seitens der Spieler, „Voraussetzung“ des empirischen Ablaufs von „Skatspielen“ ist, zu sondern ist, – ferner aber, daß dieser Dienst des Normbegriffs bei der Klassifikation und Objekt-Abgrenzung an dem logischen Charakter der empirisch-kausalen Untersuchung des mit ihrer Hilfe abgegrenzten Objekts nichts ändert.

Vom Norminhalt aus ersehen wir – darauf beschränkt sich sein wichtiger Dienst – diejenigen Tatsachen und Vorgänge, auf deren kausale Erklärung sich ein eventuelles „historisches Interesse25[551] Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 256 mit Anm. 57. konzentrieren würde: sie grenzen, heißt das, die Ansatzpunkte des kausalen Regressus und Progressus26 Vgl. Weber, Kritische Studien, oben, S. 411, Fn. 17 mit Anm. 13. aus der Mannigfaltigkeit des Gegebenen heraus. Von diesen Ansatzpunkten aus aber ginge nun ein kausaler Regressus, – wenn jemand ihn an einem konkreten Skatspiel vornehmen wollte –, alsbald über den Kreis der vom Standpunkt der Norm aus „relevanten“ Vorgänge hinaus. Er müßte, um den Verlauf des Spiels zu „erklären“, z. B. die Veranlagung und Erziehung der Spieler, das Maß der ihre Aufmerksamkeit bedingenden „Frische“ im gegebenen Moment, das Maß des Bierkonsums jedes einzelnen in seinem Einfluß auf den Grad der Konstanz seiner „Zweckmäßigkeits“-Maxime etc. etc. feststellen. Nur der Ausgangspunkt des Regressus also wird durch die „Relevanz“ vom Standpunkt der „Norm“ aus bestimmt. Es handelt sich um einen Fall der sog. „teleologischen“ Begriffsbildung,27 Vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 300, Fn. 38 mit Anm. 96. wie er nicht nur auch außerhalb der Betrachtung des „sozialen“ Lebens, sondern auch außerhalb der Betrachtung „menschlichen“ Lebens sich findet. Die Biologie „liest“ aus der Mannigfaltigkeit der Vorgänge diejenigen „aus“, welche in einem bestimmten „Sinn“, nämlich von der „Lebenserhaltung“ her gesehen, „wesentlich“ sind. Wir „lesen“ bei Erörterung eines Kunstwerkes aus der Mannigfaltigkeit der Erscheinung diejenigen Bestandteile „aus“, welche vom Standpunkt der „Ästhetik“ aus „wesentlich“ – d. h. nicht etwa: ästhetisch [552]„wertvoll“, sondern: „für das ästhetische Urteil relevant“ – sind, und zwar auch dann, wenn wir nicht eine ästhetische „Wertung“ des Kunstwerks, sondern die historisch-kausale „Erklärung“ seiner individuellen Eigenart oder seine Benutzung als Exemplar für die Erläuterung genereller Kausalsätze über die Entwicklungsbedingungen der Kunst – in beiden Fällen also rein empirische Erkenntnis – beabsichtigen. Unsre Auslese des Objekts, welches empirisch erklärt werden soll, wird „instradiert“28[552] Von ital. Strada: Straße; gewöhnlich für „Soldaten in Marsch setzen“ oder „einen Weg festlegen“. durch die Beziehung auf ästhetische resp. biologische resp. (in unsrem Beispiel) skatrechtliche „Werte“, – das Objekt selbst „sind“ in diesen Fällen nicht künstlerische Normen, vitalistische „Zwecke“ eines Gottes oder Weltgeistes, oder Skatrechtssätze, sondern beim Kunstwerk die durch kausal (aus „Milieu“, „Anlage“, „Lebensschicksalen“ und konkreten „Anregungen“ usw.) zu erklärende seelische Verfassungen des Künstlers determinierten Pinselstriche desselben, beim „Organismus“ bestimmte physisch wahrnehmbare Vorgänge, beim Skatspiel die durch faktische [A 136]„Maximen“ bedingten Gedanken und äußeren Hantierungen der Spieler.

Wiederum ein anderer Sinn, in welchem die „Skatregel“ als „Voraussetzung“ des empirischen Erkennens des Skats bezeichnet werden kann, knüpft an die empirische Tatsache an, daß die Kenntnis und Beachtung der „Skatregel“ zu den (normalen) empirischen „Maximen“ der Skatspielenden gehört, ihr Hantieren also kausal beeinflußt. Die Art dieser Beeinflussung und also die empirische Kausalität des Handelns der Spieler erkennen zu können, dazu hilft uns natürlich nur unsre Kenntnis des „Skatrechts“. Wir verwenden dieses unser Wissen von der ideellen „Norm“ als „heuristisches Mittel“, ganz ebenso wie z. B. der Kunsthistoriker seine ästhetische (normative) „Urteilskraft“ als ein de facto ganz unentbehrliches heuristisches Mittel benutzt, um die faktischen „Intentionen“ des Künstlers im Interesse der kausalen Erklärung der Eigenart des Kunstwerks zu ergründen. Und ganz entsprechendes gilt, wenn wir generelle Sätze über die „Chancen“ eines bestimmten Verlaufs des Spiels bei einer gegebenen Karten-Verteilung aufstellen wollen. Wir würden dann die „Voraussetzung“, daß 1) die ideale Spielregel (das „Skatrecht“) faktisch innegehalten und daß [553]2) streng rational, d. h. teleologisch „zweckmäßig“ gespielt werde, – so etwa, wie es in den „Skataufgaben“ (oder für das Schachspiel, den Schachaufgaben), welche die Blätter publizieren, unterstellt wird11)[553][A 136] Sie30 Die „Skataufgaben“, hier im Sinn der oben genannten „generellen Sätze über die ,Chancen‘ eines bestimmten Verlaufs des Spiels“. entsprechen darin in logischer Hinsicht den „Gesetzen“ der theoretischen Nationalökonomie.31 Weber nennt z. B. das „Grenznutzgesetz“. Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 202 mit Anm. 99, und ders., Roscher und Knies 3, oben, S. 361, Fn. 35. , – dazu benützen, um, da erfahrungsgemäß generell eine gewisse „Annäherung“ an diesen „Idealtypus“ erstrebt und erreicht wird, die größere oder geringere „Wahrscheinlichkeit“, daß Spiele mit dieser Kartenverteilung den jenem Typ entsprechenden Verlauf nehmen, behaupten zu können.

Wir haben also gesehen, daß die „Skatregel“ als „Voraussetzung“ in drei logisch ganz verschiedenen Funktionen bei der empirischen Erörterung eine Rolle spielen kann: klassifikatorisch und begriffskonstitutiv bei der Abgrenzung des Objekts, heuristisch bei seiner kausalen Erkenntnis, und endlich als eine kausale Determinante des zu erkennenden Objekts selbst. Und wir haben ferner schon vorher uns überzeugt, in wie grundverschiedenem Sinne die Skatregel selbst Objekt des Erkennens werden kann: skatpolitisch, skatjuristisch, – in beiden Fällen als „ideelle“ Norm, endlich empirisch, als faktisch wirkend und bewirkt. Daraus mag man vorläufig entnehmen, wie unbedingt nötig es ist, jeweils auf das sorgsamste festzustellen, in welchem Sinn man von der „Bedeutung“ der „Regel“ als „Voraussetzung“ irgend welchen Erkennens spricht, wie vor allem die stete Gefahr der hoffnungslosen Konfusion des Empirischen mit dem Normativen auf das Maximum steigen muß, wenn man nicht sorgsam jede Zweideutigkeit des Ausdrucks vermeidet.

[A 137]Gehen wir nun vom Gebiet der „konventionellen“ Normen des Skats und der Quasi-„Jurisprudenz“ des „Skatrechts“ zum „echten“ Recht über (ohne hier vorerst nach dem entscheidenden Unterschiede von Rechtsregel und Konventionsregel zu fragen) und nehmen wir also an, unser obiges „Tausch“-Beispiel29[553] Oben, S. 540 ff. bewege sich innerhalb des Geltungsbereichs eines positiven Rechts, welches auch den Tausch „regle“, dann tritt zu den bisher erörterten [554]scheinbar eine weitere Komplikation. Für die Bildung des empirischen Begriffs „Skat“ war die Skatnorm begriffsabgrenzende „Voraussetzung“ im Sinn der Bestimmung des Umkreises des Objekts: die skatrechtlich relevanten Hantierungen sind es, welche einer empirisch-historischen Skatanalyse – wenn jemand sie unternehmen wollte – die Ansatzpunkte liefern. Das liegt nun hinsichtlich des Verhältnisses der Rechtsregel und des empirischen Ablaufs des menschlichen „Kulturlebens“12)[554][A 137] Der hier verwendete „Kultur“-Begriff ist der Rickertsche. (Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, viertes Kapitel, Abschnitt II und VIII.)34 Vgl. Rickert, Grenzen. Das vierte Kapitel trägt die Überschrift „Die historische Begriffsbildung“ (S. 305 ff.), davon Abschnitt II. „Das historische Individuum“ (S. 336 ff.) und Abschnitt VIII. „Die historischen Kulturwissenschaften“ (S. 570 ff.). Absichtlich wird hier, vor der Auseinandersetzung mit Stammler, der Begriff „soziales Leben“ vermieden. Ich verweise im Übrigen auf meine verschiedenen Aufsätze in dieser Zeitschrift Band XIX und ΧΧΙΙ.35 Weber, Objektivität, oben, S. 135–234, und Weber, Kritische Studien, oben, S. 380–480; beide – 1904 bzw. 1906 – im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ erschienen. anders, sobald ein vom Recht normiertes Gebilde Gegenstand nicht rechtsdogmatischer und auch nicht rein rechtshistorischer, sondern – wie wir uns vorerst einmal allgemein ausdrücken wollen – „kulturgeschichtlicher“ oder „kulturtheoretischer“ Betrachtung unterworfen wird, d. h. sobald – wie wir ebenfalls vorerst möglichst unbestimmt sagen wollen – entweder („historische“ Betrachtung) bestimmte, mit Beziehung auf „Kulturwerte“32[554] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 153 mit Anm. 43 und S. 166 mit Anm. 71. bedeutsame Bestandteile einer ideell auch vom Recht normierten Wirklichkeit in ihrem kausalen Gewordensein erklärt oder (kulturtheoretische Betrachtung) generelle Sätze über die kausalen Bedingungen des Entstehens solcher Bestandteile oder über ihre kausale Wirkung gewonnen werden sollen. Während bei der in den obigen Erörterungen unterstellten Absicht, eine empirisch-historische Ergründung des Verlaufs eines konkreten „Skatspiels“ vorzunehmen, die Formung des Objekts (des „historischen Individuums“)33 Vgl. ebd., oben, S. 185 mit Anm. 40. schlechthin an der Relevanz der Tatbestände vom Standpunkt der „Skatnorm“ aus hing, ist dies bei einer nicht rein rechts-, sondern „kultur“historischen Betrachtung [555]bezüglich der Rechtsnorm durchaus nicht so.12a)[555] Genau das Gleiche würde natürlich der Skatnorm widerfahren, wenn wir einmal unterstellen, ein skatrechtlich normierter Tatbestand würde Bestandteil eines unter „welthistorischen“ Gesichtspunkten interessierenden Forschungsobjekts.b[555] Index zu Fußnote 12a) fehlt in A; hier sinngemäß eingefügt. Wir klassifizieren ökonomische, politische etc. Tatbestände auch nach andern als rechtfichen Merkmalen, auch rechtlich ganz irrelevante Tatsachen des Kulturlebens „interessieren“ uns historisch[,]36[555] Zum historischen Interesse vgl. Weber, Roscher und Knies 2, oben, S. 256 mit Anm. 57. und folglich ist es dann eine offene Frage, inwieweit im einzelnen Fall die vom Standpunkt eines ideell gelten[A 138]den Rechts und der demgemäß zu bildenden juristischen Begriffe aus relevanten MerkmalencA: Merkmale solcher Tatbestände es auch für die zu bildenden historischen oder „kulturtheoretischen“dA: „kulturtheoetrischen“ Begriffe sind. In ihrer Stellung als „Voraussetzung“ der Bildung des Kollektivbegriffs scheidet die Rechtsnorm alsdann im Prinzip aus. Aber der Fall ist trotzdem um deswillen nicht einfach dahin zu erledigen, daß beide Arten von Begriffsbildung schlechthin nichts miteinander zu tun hätten, weil, wie wir sehen werden, ganz regelmäßig rechtliche Termini für Begriffsbildungen, z. B. ökonomische, verwendet werden, welche unter wesentlich abweichenden Gesichtspunkten relevant sind. Und dies wieder ist um deswillen nicht einfach als terminologischer Mißbrauch zu verwerfen, weil einmal der betreffende Rechtsbegriff, empirisch gewendet, sehr häufig als „Archetypos“37 Vgl. ebd., oben, S. 271 mit Anm. 7. des betreffenden ökonomischen Begriffs gedient hat und dienen konnte, und dann, weil selbstredend die „empirische Rechtsordnung“, – ein Begriff, von dem alsbald zu reden sein wird,38 Unten, S. 561. – von (wie wir vorerst nur allgemein sagen wollen) sehr erheblicher Bedeutung z. B. auch für die unter ökonomischen Gesichtspunkten relevanten Tatbestände zu sein pflegt. Aber – wie später zu erörtern sein wird39 Unten, S. 559 f. – beide koinzidieren schlechterdings nicht. Schon den Begriff des „Tauschs“ z. B. dehnt die ökonomische Betrachtung auf Tatbestände des allerheterogensten Rechtscharakters aus, weil [556]die für sie relevanten Merkmale sich bei allen finden. Und umgekehrt erfaßt sie, wie wir sehen werden,40[556] Gemeint ist möglicherweise unten, S. 565. sehr oft rechtlich durchaus irrelevante Merkmale und knüpft an sie ihre Distinktionen. Auf die daraus entstehenden Probleme werden wir weiterhin immer wieder zurückkommen. Hier vergegenwärtigen wir uns vorläufig nur noch, einerseits, daß die an unsrem Skatbeispiel demonstrierten Arten von logisch möglichen Betrachtungsweisen auf dem Gebiete der „Rechtsregel“ wiederkehren, und stecken, andrerseits, zunächst nur rein provisorisch, die Grenzen für diese Analogie ab, ohne jedoch an dieser Stelle schon eine endgültige und korrekte Formulierung des logischen Sachverhalts zu unternehmen13)[556][A 138] Es sei auf die eindringenden Bemerkungen verwiesen, welche G[eorg] Jellinek in der 2. Auflage seines „Systems der subjektiven öffentlichen Rechte“ Kap. III (S. 12 f., vgl. seine „Allgem[eine] Staatslehre“, 2. Aufl., Kap. VI) zu unserm Problem gemacht hat.41 Vgl. Jellinek, System2, S. 12 ff., mit Verweis (S. 12) auf das Kapitel VI. („Das Wesen des Staates“) von Jellinek, Staatslehre2, S. 130 ff. Ihn interessiert dasselbe unter dem grade umgekehrten Gesichtspunkt wie uns hier. Während er naturalistische Eingriffe in das rechtsdogmatische Denken abzuwehren hat, haben wir hier rechtsdogmatische Verfälschungen des empirischen Denkens zu kritisieren. Der einzige, der bisher dem Problem der Beziehungen zwischen empirischem und juristischem Denken vom Standpunkt des ersteren aus prinzipiell zu Leibe gerückt ist, ist F[riedrich] Gottl, dessen „Herrschaft des Worts“ darüber ganz vorzügliche Andeutungen – aber allerdings nur Andeutungen – enthält.42 Vgl. Gottl, Herrschaft, S. 101, 108, 112 ff., 172, 175 f. Die Behandlung rechtlich geschützter Interessen („subjektiver [A 139]Rechte“) vom Standpunkt speziell des ökonomischen Denkens aus hat seiner Zeit, wie bekannt, v. Böhm–Bawerk in seiner Abhandlung „Rechte und Verhältnisse vom Standpunkt der volkswirtschaftlichen Güterlehre“ (1881) in konsequenter Klarheit entwickelt.43 Vgl. Böhm-Bawerk, Rechte, S. 36 ff. . Eingehender kommen wir erst darauf zurück, nachdem [A 139]wir weiterhin an Stammlers Argumentationen gelernt haben werden, wie man mit diesen Problemen nicht umspringen darf. –

Ein bestimmter „Paragraph“ des Bürgerlichen Gesetzbuchs kann in verschiedenem Sinn Gegenstand des Nachdenkens werden. Zunächst rechtspolitisch: man kann von ethischen Prinzipien aus seine normative „Berechtigung“, ferner von bestimmten „Kulturidealen“ oder von politischen, – „machtpolitischen“ oder „sozialpolitischen“, – Postulaten aus seinen Wert oder Unwert für die Verwirklichung jener Ideen, oder vom „Klassen“- oder persönlichen Interessenstandpunkt aus seinen „Nutzen“ oder „Schaden“ für jene Interessen diskutieren. Diese Art von direkt wertender [557]Erörterung der „Regel“ als solcher, die uns mutatis mutandis schon beim „Skat“ begegnet ist,44[557] Oben, S. 547 ff. scheiden wir hier vorerst einmal gänzlich aus, da sie logisch keine prinzipiell neuen Probleme bietet. Dann bleibt zweierlei. Man kann bezüglich des gedachten Paragraphen nun noch fragen, einmal: was „bedeutet“ er begrifflich? – und ein andres Mal: was „wirkt“ er empirisch? Daß die Beantwortung dieser beiden Fragen Voraussetzung einer fruchtbaren Erörterung der Frage des ethischen, politischen u.s.w. Wertes des Paragraphen ist, ist eine Sache für sich: die Frage nach dem „Wert“ ist deshalb natürlich doch eine durchaus selbständige, streng von diesen beiden letztgenannten zu scheidende. Sehen wir uns nun diese beiden Fragen auf ihr logisches Wesen hin an. In beiden Fällen ist grammatisches Subjekt des Fragesatzes: „er“, d. h. der betreffende „Paragraph“, – und doch handelt es sich beide Male um ganz und gar verschiedene Gegenstände, die sich hinter diesem „er“ verstecken. In dem ersten Fall ist „er“, der „Paragraph“ nämlich, eine in Worte gefaßte Gedankenverbindung, die nun immer weiter als ein rein ideelles, vom juristischen Forscher destilliertes Objekt begrifflicher Analyse behandelt wird. Im zweiten ist „er“ – der „Paragraph“ – zunächst einmal die empirische Tatsache, daß, wer eines von den „Bürgerliches Gesetzbuch“ genannten Papierfaszikeln zur Hand nimmt, an einer bestimmten Stelle regelmäßig einen Aufdruck findet, durch den in seinem Bewußtsein nach den „Deutungs“-Grundsätzen, die ihm empirisch anerzogen sind – mit mehr oder minder großer Klarheit und Eindeutigkeit – bestimmte Vorstellungen über die faktischen Konsequenzen, welche ein bestimmtes äußeres Verhalten nach sich ziehen könne, erweckt werden. Dieser Umstand hat nun weiter zur empirisch regelmäßigen – wenn auch keineswegs faktisch ausnahmslosen – Folge, daß gewisse psychische und physische „Zwangsinstrumente“ demjenigen zur Seite stehen, der gewissen, üblicherweise „Richter“ genannten, Per[A 140]sonen in einer bestimmten Art die Meinung beizubringen weiß, daß jenes „äußere Verhalten“45 Stammler verwendet diese Formulierung an einer Stelle. Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 574. in einem konkreten Fall vorgelegen habe oder vorliege. Er hat zur ferneren Folge, daß jeder auch ohne diese Bemühung jener, „Richter“ genannten[,] Personen, mit einem starken Maß von Wahrscheinlichkeit auf ein bestimmtes Verhalten [558]andrer ihm gegenüber „rechnen“ kann, – daß er m.a. W. eine gewisse Chance hat, z. B. auf die faktisch ungestörte Verfügung über ein bestimmtes Objekt zählen zu können, und daß er nun auf Grund dieser Chance sich sein Leben gestalten kann und gestaltet. Das empirische „Gelten“ des betreffenden „Paragraphen“ bedeutet also im letzteren Fall eine Serie von komplizierten Kausalverknüpfungen in der Realität des empirisch-geschichtlichen Zusammenhangs, ein durch die Tatsache, daß ein bestimmtes Papier mit bestimmten „Schriftzeichen“ bedeckt wurde13a)[558][A 140] Wir vereinfachen hier künstlich! , hervorgerufenes reales Sich-Verhalten von Menschen zu einander und zur außermenschlichen „Natur“. Das „Gelten“ eines Rechtssatzes in dem oben zuerst behandelten „idealen“ Sinn bedeutet dagegen ein für das wissenschaftliche Gewissen desjenigen, der „juristische Wahrheit“ will, verbindliches gedankliches Verhältnis von Begriffen zu einander: ein „Gelten-Sollen“ bestimmter Gedankengänge für den juristischen Intellekt. Der Umstand andererseits, daß ein solches ideales „Gelten-Sollen“ eines bestimmten „Rechtssatzes“ aus bestimmten Wortverbindungen von solchen empirischen Personen, welche „juristische Wahrheit“ wollen, faktisch „erschlossen“ zu werden pflegt, ist seinerseits natürlich wieder keineswegs ohne empirische Konsequenzen, vielmehr von der allergrößten empirisch-historischen Bedeutsamkeit. Denn auch die Tatsache, daß es eine „Jurisprudenz“ gibt[,] und die empirisch-historisch gewordene Art der sie jeweils de facto beherrschenden „Denkgewohnheiten“ ist von der erheblichsten praktisch-empirischen Tragweite für die faktische Gestaltung des Verhaltens der Menschen schon deshalb, weil in der empirischen Realität die „Richter“ und andre „Beamte“, welche dies Verhalten durch bestimmte physische und psychische Zwangsmittel zu beeinflussen in der Lage sind, ja eben dazu erzogen werden, „juristische Wahrheit“ zu wollen und dieser „Maxime“ – in faktisch sehr verschiedenem Umfang – nachleben. Daß unser „soziales Leben“ empirisch „geregelt“, d. h. hier: „in Regelmäßigkeiten“, verläuft, in dem Sinne, daß z. B. alltäglich der Bäcker, der Metzger, der Zeitungsjunge sich einstellt u.s.w. u.s.w. – diese „empirische“ Regelmäßigkeit ist von dem Umstand, daß eine „Rechtsordnung“ empirisch, d. h. aber: als eine das Handeln von Menschen kausal mitbestimmende Vorstellung von etwas, das sein soll, als [559]„Maxime“ also, existent ist,46[559] Vgl. oben, S. 538 mit Anm. 98. natürlich auf das allerfundamentalste mit determiniert. Aber nicht nur jene empirischen Regelmäßigkeiten, son[A 141]dern auch diese empirische „Existenz“ des „Rechts“ sind natürlich etwas absolut anderes als die juristische Idee seines „Gelten-Sollens“. Das „empirische“ Gelten kommt ja dem „juristischen Irrtum“ eventuell in genau dem gleichen Maße zu wie der „juristischen Wahrheit“, und die Frage nach dem, was in concreto „juristische Wahrheit“ ist, d. h. gedanklich nach „wissenschaftlichen“ Grundsätzen als solche „gelten“e[559]A: ver„gelten“ solle oder hätte „gelten“ sollen, ist logisch gänzlich verschieden von der: was de facto empirisch in einem konkreten Fall oder in einer Vielheit von Fällen als kausale „Folge“ des „Geltens“ eines bestimmten „Paragraphen“ eingetreten ist. Die „Rechtsregel“ ist in dem einen Fall eine ideale gedanklich erschließbare Norm, im andren Fall ist sie eine empirisch, als mehr oder minder konsequent und häufig befolgt, feststellbare Maxime des Verhaltens konkreter Menschen. Eine „Rechtsordnung“ gliedert sich in dem einen Fall in ein System von Gedanken und Begriffen, welches der wissenschaftliche Rechtsdogmatiker als Wertmaßstab benützt, um das faktische Verhalten gewisser Menschen: der „Richter“, „Advokaten“, „Delinquenten“, „Staatsbürger“ u.s.w. daran, juristisch wertend, zu messen und als der idealen Norm entsprechend oder nicht entsprechend anzuerkennen oder zu verwerfen, – im andern Fall löst sie sich in einen Komplex von Maximen in den Köpfen bestimmter empirischer Menschen auf, welche deren faktisches Handeln und durch sie indirekt das anderer kausal beeinflussen. Soweit ist alles relativ einfach. Komplizierter aber steht es mit dem Verhältnis zwischen dem Rechtsbegriff „Vereinigte Staaten“ und dem gleichnamigen empirisch-historischen „Gebilde“. Beide sind, logisch betrachtet, schon deshalb verschiedene Dinge, weil in jedem Fall die Frage entsteht, inwieweit das, was vom Standpunkt der Rechtsregel aus an der empirischen Erscheinung relevant ist, es auch für die empirisch-historische, politische und sozialwissenschaftliche Betrachtung bleibt. Man darf sich darüber nicht durch den Umstand täuschen lassen, daß beide sich mit dem gleichen Namen schmücken. – „Die Vereinigten Staaten sind, den Einzelstaaten gegenüber, zum Abschluß von Handels[560]verträgen zuständig.“ „Die Vereinigten Staaten haben demgemäß einen Handelsvertrag des Inhalts a mit Mexiko abgeschlossen“. „Das handelspolitische Interesse der Vereinigten Staaten hätte jedoch den Inhalt b erfordert.“ „Denn die Vereinigten Staaten exportieren von dem Produkt c nach Mexiko die Quantität d.“ „Die Zahlungsbilanz der Vereinigten Staaten befindet sich daher im Zustande x.“ „Diesf[560] Anführungszeichen fehlt in A. muß auf die Valuta der Vereinigten Staaten den Einfluß y haben.“ In den 6 Sätzen hat das Wort „Vereinigte Staaten“ einen jedesmal verschiedenen Sinn14)[560] S[iehe] auch Gottl a. a. O. S. 192 Anm. 1 und folgende Seiten.49 Vgl. Gottl, Herrschaft, S. 192 ff., mit Beispiel „Deutsches Reich“. . Hier also liegt ein Punkt, an [A 142]dem die Analogie mit dem „Skat“-Beispiel abbricht. Der empirische Begriff eines konkreten „Skats“ ist identisch mit den vom Standpunkt des Skatrechtes relevanten Vorgängen. Zu einem davon abweichenden Gebrauch von Skatbegriffen haben wir keinen Anlaß14a)[A 142] Aus dem rein faktischen Grunde der geringen Tragweite der „Skatregel“ für das Kulturleben.. Anders bei dem Begriff „Vereinigte Staaten“. Dies hängt eben offenbar mit der schon oben erwähnten Gepflogenheit,47[560] Oben, S. 555. juristische Terminologien (z. B. den Begriff „Tausch“) auf andere Gebiete zu übertragen, zusammen. Machen wir uns auch hier in den allgemeinsten Zügen noch näher klar, wie dies den logischen Sachverhalt beeinflußt. – Zuerst einige Rekapitulationen. Was sich schon aus dem bisher Gesagten48 Oben, S. 523 ff. jedenfalls ergibt, ist, daß es sinnlos ist, die Beziehung der Rechtsregel zum „sozialen Leben“ derart zu fassen, daß das Recht als die – oder eine – „Form“ des „sozialen Lebens“ aufgefaßt werden könnte, welcher irgend etwas anderes als „Materie“ gegenüberzustellen sei und nun daraus „logische“ Konsequenzen ziehen zu wollen. Die Rechtsregel, als „Idee“ gefaßt, ist ja keine empirische Regelmäßigkeit oder „Geregeltheit“, sondern eine Norm, die als „gelten sollend“ gedacht werden kann, also ganz gewiß keine Form des Seienden, sondern ein Wertstandard, an dem das faktische Sein wertend gemessen wird, wenn wir „juristische Wahrheit“ wollen. Die Rechtsregel, empirisch betrachtet, ist aber erst recht keine „Form“ des sozialen Seins, wie [561]immer das letztere begrifflich bestimmt werden möge, sondern eine sachliche Komponente der empirischen Wirklichkeit, eine, in mehr oder minder großer „Reinheit“, das empirisch zu beobachtende Verhalten eines in jedem einzelnen Fall unbestimmt großen Teils der Menschen kausal bestimmende, im Einzelfall mehr oder minder bewußt und mehr oder minder konsequent befolgte, Maxime. Der Umstand, daß die Richter erfahrungsgemäß die „Maxime“ befolgen, gemäß einer bestimmten Rechtsregel „Interessenkonflikte“ zu „entscheiden“, daß dann andre Leute: Gerichtsvollzieher, Polizisten etc. die „Maxime“ haben, sich nach dieser Entscheidung zu „richten“, daß ferner überhaupt die Mehrzahl der Menschen „rechtlich“ denkt, d. h. die Innehaltung der Rechtsregeln normalerweise zu einer der Maximen ihres Handelns macht, – dies alles sind Bestandteile, und zwar ungemein wichtige Bestandteile, der empirischen Wirklichkeit des Lebens, spezieller: des „sozialen Lebens“. Das „empirische Sein“ des Rechts als Maxime-bildenden „Wissens“ konkreter Menschen nannten wir hier: die empirische „Rechtsordnung“. Dies Wissen, diese „empirische Rechtsordnung“ also, ist für den handelnden Menschen einer der Bestimmungsgründe seines Tuns, und zwar, sofern er zweckvoll handelt, teils eines der „Hemmnisse“, [A 143]dessen er, sei es durch möglichst ungefährdete Verletzung ihrer, sei es durch „Anpassung“ an sie, Herr zu werden trachtet, – teils ein „Mittel“, welches er seinen „Zwecken“ dienstbar zu machen sucht, genau im gleichen Sinn wie sein Wissen von irgend einem andren Erfahrungssatz. Diesen ihren empirischen Bestand sucht er seinen „Interessen“ gemäß eventuell durch Beeinflussung andrer Menschen zu ändern in – logisch betrachtet – ganz dem gleichen Sinn wie irgend eine Naturkonstellation durch technische Benützung der Naturkräfte. – Will er z. B. – um ein gelegentliches Beispiel Stammlers zu gebrauchend50[561] Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 133. – das Qualmen eines benachbarten Schornsteins nicht dulden, so befragt er sein eignes Erfahrungswissen oder das anderer (z. B. eines „Anwalts“) darüber, ob bei Vorlegung bestimmter Schriftstücke an einer bestimmten Stelle (dem „Gericht“) zu erwarten ist, daß gewisse, „Richter“ genannte, Leute nach Vornahme einer Serie von Prozeduren ein Schriftstück („Urteil“ genannt) unterzeichnen, welches zur „adäquaten“ Folge hat, daß auf gewisse Personen ein psychi[562]scher oder eventuell physischer Zwang geübt wird, den betreffenden Ofen nicht mehr anzuheizen. Für den Kalkül darüber, ob dies mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, prüft er, oder sein „Anwalt“, natürlich vor allem auch die Frage, wie, nach dem „begrifflichen“ Sinn der Rechtsregel, die Richter den Fall entscheiden „müßten“. Aber mit dieser „dogmatischen“ Prüfung ist ihm nicht geholfen. Denn für seine empirischen Zwecke ist das noch so „unbefangene“ Ergebnis dieser Prüfung nur ein Posten in der Wahrscheinlichkeitsrechnung betreffend den zu gewärtigenden empirischen Verlauf: aus den verschiedensten Gründen kann es, wie er sehr wohl weiß, geschehen, daß, trotzdem nach gewissenhafter Prüfung des Anwalts die „Norm“, auf ihren idealen Sinn hin geprüft, zu seinen Gunsten sprechen würde, er dennoch vor Gericht „verspielt“, – wie der Volksmund bezeichnenderweise den Vorgang sehr charakteristisch benennt.51[562] Das Sprichwort lautet: „Kopf und Kragen verspielen“. Zu den Zufallsspielen der Wahrscheinlichkeitstheorie vgl. Weber, Kritische Studien, oben, S. 389, Fn. 3 mit Anm. 15.

Und in der Tat: der Prozeß weist die vollkommenste Analogie zum „Skatspiel“ auf, wie wohl keiner weiteren Erläuterung bedarf. Nicht nur ist die empirische Rechtsordnung hier „Voraussetzung“ des empirischen Hergangs, d. h. „Maxime“ der entscheidenden Richter, „Mittel“ der agierenden Parteien, und nicht nur spielt für die empirisch-kausale „Erklärung“ des faktischen Hergangs eines konkreten Prozesses die Kenntnis ihres gedanklichen „Sinns“, also ihrer dogmatisch-juristischen Bedeutung, als unentbehrliches heuristisches Mittel eine ganz ebenso große Rolle, wie bei einer „historischen“ Analyse eines Skats die Skatregel, sondern sie ist ferner auch konstitutiv für die Abgrenzung des „historischen Individuums“:52 Vgl. oben, S. 554 mit Anm. 33. die rechtlich relevanten Bestandteile des Vorgangs sind es, an welche das Interesse der „Erklärung“ sich knüpft, wenn wir einen konkreten Prozeß eben als Prozeß kausal erklären wollen. – Hier ist also die Analogie mit [A 144]der Skatregel komplett. Der empirische Begriff des konkreten „Rechtsfalls“ erschöpft sich – ganz ebenso wie der konkrete Skatfall – in den vom Standpunkt der „Rechtsregel“ – wie dort der „Skatregel“ – relevanten Bestandteilen des betreffenden Wirklichkeitsausschnitts. Aber wenn wir nun nicht eine „Geschichte“ eines konkreten „Rechtsfalls“ im Sinn der [563]Erklärung seines juristischen Ergebnisses als Aufgabe denken, sondern z. B. schon die „Geschichte“ eines so durch und durch von der Rechtsordnung beeinflußten Objekts, wie etwa des „Arbeitsverhältnisses“ in einer bestimmten Industrie, etwa der Textilindustrie Sachsens,53[563] Vgl. z. B. Bein, Louis, Die Industrie des sächsischen Voigtlandes. Eine wirtschaftsgeschichtliche Studie, Zweiter Theil: Die Textil-Industrie. – Leipzig: Duncker & Humblot 1884. so verschiebt sich dieser Sachverhalt. Das, worauf es uns dabei „ankommt“, ist keineswegs notwendig in denjenigen Bestandteilen der Wirklichkeit beschlossen, welche für irgend eine „Rechtsregel“ relevant sind. Daß die Rechtsregel die gewaltigste kausale Bedeutung für das „Arbeitsverhältnis“, welches auch immer der „Gesichtspunkt“ sein mag, unter dem wir es betrachten, besitzt, ist dabei selbstredend ganz unbestreitbar. Sie ist eine der allgemeinen sachlichen „Bedingungen“, welche bei der Betrachtung in Rechnung gestellt werden. Aber die, von ihr aus gesehen, „relevanten“ Tatsachen sind nicht mehr, wie bei der „Skatregel“ im Verhältnis zum konkreten Skat und der Rechtsregel zum Prozeß, notwendigerweise die Bestandteile des „historischen Individuums“, d. h. derjenigen „Tatsachen“, auf deren Eigenart und kausale Erklärung es uns „ankommt“, obwohl vielleicht für alle diese Tatsachen die Eigenart der konkreten örtlich-zeitlichen „Rechtsordnung“ eine der entscheidendsten kausalen „Bedingungen“, und das Vorhandensein einer „Rechtsordnung“ überhaupt ebenso unerläßliche, allgemeine (sachliche) „Voraussetzung“ ist wie das Vorhandensein von Wolle oder Baumwolle oder Leinen und deren Verwertbarkeit für bestimmte menschliche Bedürfnisse.

Man könnte – was jedoch an dieser Stelle nicht geschehen soll – eine Serie von Gattungen möglicher Objekte der Untersuchung zu konstruieren suchen, bei der in jedem folgenden Beispiel die generelle kausale Bedeutung der konkreten Eigenart der „empirischen Rechtsordnung“ immer weiter zurücktritt, andre Bedingungen in ihrer Eigenart immer mehr an kausaler Bedeutung gewinnen, und so zu generellen Sätzen über das Maß der kausalen Tragweite empirischer Rechtsordnungen für Kulturtatsachen zu gelangen suchen. Hier begnügen wir uns, die prinzipielle Wandelbarkeit dieser Tragweite je nach der Art des Objekts generell festzustellen. Auch die künstlerische Eigenart der Sixtinischen Madonna z. B. hat eine sehr spezifische empirische „Rechtsord[564]nung“ zur „Voraussetzung“, und der kausale Regressus, denken wir ihn uns erschöpfend durchgeführt, müßte auf sie als „Element“ stoßen. Und ohne irgend eine „Rechtsordnung“ als allgemeine „Bedingung“ wäre ihr Entstehen empirisch bis an die Grenze der Unmöglichkeit unwahrscheinlich. Aber die Tatsachen, welche das „historische [A 145]Individuum“: „Sixtinische Madonna“ konstituieren, sind hier rechtlich gänzlich irrelevant.

Der Fachjurist freilich ist begreiflicherweise geeignet, den Kulturmenschen54[564] Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 189 mit Anm. 50. im allgemeinen als potentiellen Prozeßführer zu betrachten, in demselben Sinn, wie etwa der Schuster ihn als potentiellen Schuhkäufer und der Skatspieler ihn als potentiellen „dritten Mann“ ansieht. Aber der eine wie der andere hätten natürlich ganz gleich Unrecht, wenn sie behaupten wollten,g[564] Zu erwarten wäre: hätte natürlich ganz gleich Unrecht, wenn er behaupten wollte, daß der Kulturmensch nur insofern Gegenstand kulturwissenschaftlicher Erörterung sein dürfe oder könne, als er das eine oder das andere ist, wenn also der Jurist sozusagen den Menschen nur als potentiellenRechtsskat-Spieler“ ansehen wollte, indem er den Glauben hegte, ausschließlich die unter dem Gesichtspunkt eines eventuellen Prozesses relevanten Bestandteile der Beziehungen zwischen Menschen seien mögliche Bestandteile eines „historischen Individuums“. Das empirische Erklärungsbedürfnis kann an Bestandteile der Wirklichkeit und insbesondere auch des Sich-Verhaltens der Menschen zu einander und zu der außermenschlichen Natur anknüpfen, welche, vom Standpunkt der „Rechtsregel“ aus gesehen, schlechthin irrelevant sind, und dieser Fall tritt in der Praxis der Kulturwissenschaften fortgesetzt ein. Dem gegenüber steht nun die Tatsache, daß, – wie den früheren Bemerkungen55 Oben, S. 555, 560. über diesen Punkt ergänzend hinzuzufügen ist, – wichtige Zweige der empirischen Disziplinen vom Kulturleben: die politische und ökonomische Betrachtung insbesondere, sich der juristischen Begriffe nicht nur, wie schon hervorgehoben, terminologisch, sondern auch sozusagen als einer Vorformung ihres eignen Materials bedienen. Zunächst ist es die hohe Entwicklung des juristischen Denkens, welche diese Entlehnung zum Zweck einer provisorischen Ordnung der uns umgebenden Mannigfaltigkeit faktischer Beziehun[565]gen bedingt. Aber eben deshalb ist es notwendig, stets darüber im Klaren zu bleiben, daß diese juristische Vorformung alsbald verlassen wird, sobald die politische oder die ökonomische Betrachtung nun ihre „Gesichtspunkte“ an den Stoff bringt und dadurch die juristischen Begriffe in Faktizitäten mit einem notwendig anderen Sinn umdeutet. Nichts aber steht dieser Erkenntnis mehr im Wege, als wenn man wegen jener wichtigen Dienste der juristischen Begriffsbildung die rechtliche Regelung zu einem „Formalprinzip“56[565] Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 69. der das menschliche Gemeinschaftsleben betreffenden Erkenntnis erheben wollte. Der Irrtum liegt deshalb so nahe, weil die faktische Tragweite der empirischen „Rechtsordnung“ eine so bedeutende ist. Denn wenn, nach dem Gesagten, sobald die Sphäre der Betrachtung von Vorgängen, die nur ihrer rechtlichen Relevanz wegen als „interessant“ gelten, verlassen ist, damit zugleich auch die Bedeutung der „Rechtsregel“ als „Voraussetzung“ im Sinn des die Objektabgrenzung leitenden Prinzips schwindet, so ist andrerseits die Universalität der kausalen Bedeutung [A 146]der „Rechtsregel“ für jede Betrachtung des Verhaltens der Menschen zu einander – wenn wir z. B. wieder den Skat als Vergleich heranziehen – außerordentlich groß, weil sie als Rechtsregel empirisch normalerweise mit Zwangsgewalt ausgestattet und überdies von höchst universellem Geltungsbereich ist. In einen Skat braucht sich im allgemeinen niemand hineinziehen und damit den Wirkungen der empirischen „Geltung“ der Skatregel aussetzen zu lassen. Dagegen kann er es de facto unmöglich vermeiden, das Gebiet der vom Standpunkt von empirischen Rechtsordnungen aus „relevanten“ Tatbestände konstant – schon vor seiner Geburt – zu kreuzen und also – empirisch betrachtet – unausgesetzt „potentieller Rechtsskat-Spieler“ zu werden und also, sei es aus reinen Zweckmäßigkeits- oder sei es aus Rechtlichkeits-Maximen[,] sein Verhalten dieser Situation anpassen zu müssen. In diesem Sinn gehört gewiß, rein empirisch gesprochen, das Bestehen einer „Rechtsordnung“ zu den universellen empirischen „Voraussetzungen“ eines solchen faktischen Verhaltens der Menschen zu einander und zu den außermenschlichen Objekten, welches „Kulturerscheinungen“ erst möglich macht. Allein sie ist, in diesem Sinn, ein empirisches Faktum, wie z. B. etwa ein gewisses Mindestmaß von Sonnenwärme auch, und gehört also [566]wie diese einfach zu den kausalen „Bedingungen“, welche jenes Verhalten determinieren helfen. Und ähnlich wie mit der „objektiven Rechtsordnung“ im empirischen Sinn steht es mit dem Umstand, daß in einer konkreten örtlich-zeitlichen Situation ein bestimmter konkreter „Tatbestand“ zu den „rechtlich geordneten“ gehört, z. B. – um damit zu unsrem Beispiel von dem qualmenden Schornstein zurückzukehren57[566] Vgl. oben, S. 561 mit Anm. 50. – das Maß von Einwirkungen lästiger Rauchentwicklung, bei dessen Abwehr dem Nachbar die Unterstützung der „Rechtsordnung“ in Aussicht steht: er ein entsprechendes „subjektives Recht hat“.58 Vgl. dazu Jellinek, oben, S. 556, Fn. 13, mit Anm. 41. Dies letztere stellt dann für die ökonomische Betrachtung lediglich eine faktische Chance für ihn dar. Diese Chance aber, daß nämlich die „Richter“ 1) die Entscheidung „gemäß der Norm“ als „Maxime“ streng festhalten werden, – also unbestechlich und gewissenhaft sind –[,] und 2) daß sie den Sinn der Rechtsnorm ebenso „deuten“ wie der von jenem Schornstein Belästigte oder sein Anwalt, 3) daß es gelingt, ihnen diejenigen faktischen Überzeugungen beizubringen, welche die Anwendung jener „Norm“ nach ihrer Auffassung bedingen, 4) daß die faktische Erzwingung der Durchführung der normgemäßen Entscheidung erfolgt, – diese Chance ist „kalkulierbar“ im gleichen logischen Sinn wie irgend ein „technischer“ Vorgang oder ein Erfolg im Skat. Wird der erwünschte Erfolg nun erzielt, so hat dann zweifellos „die Rechtsregel“ kausal das künftige Nichtqualmen des Schornsteins beeinflußt – trotz Stammlers Protest gegen diese Möglichkeit –,59 Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 133: „Wodurch der mir lästige Dampf und Ruß in einem nachbarlichen Betriebe verursacht wird […], das ist eine Betrachtung für sich; wenn ich aber frage, ob ich es zu dulden brauche oder Abstellung oder Entschädigung verlangen kann, so habe ich nicht etwa ein von der Rechtsordnung kausal beeinflußtes Qualmen in Gedanken, sondern eine geregelte Wechselbeziehung zum Nachbar. Und falls dieser danach seinen Fabrikbetrieb einzustellen genötigt würde, so hat nicht das Recht die Ursachen der Rauchentwicklung alteriert, – die bleiben nach wie vor dieselben und können vom Staatsgesetze nicht mediatisiert werden“. natürlich nicht als ideales „Sollen“ („Norm“) gedacht, sondern als faktisch ein bestimmtes [A 147]Verhalten der beteiligten Menschen, z. B. der Richter, in deren Köpfen sie als „Maxime“ ihrer „Entscheidung“ lebendig war, und des Nachbarn oder der Exekutoren bewirkend.

Und ebenso wirkt der „Regel“-Charakter der „empirischen Rechtsordnung“, d. h. der als Faktum feststellbare und als solches [567]auch einer Vielheit von Menschen bekannte Umstand, daß die „Maxime“ der „Richter“ dahin geht, an gewisse generell bestimmte Tatbestände eine generell gleiche Entscheidung von Interessenkonflikten zu knüpfen und zu erzwingen, – der Umstand also, daß die „Rechtsnormen“ eben den Charakter generalisierter Sätze: „Rechtsregeln“, besitzen und in dieser Form als „Maximen“ in den Köpfen der Richter leben, – dieser Umstand wirkt teils direkt[,] teils indirekt zur Erzeugung empirischer Regelmäßigkeiten im faktischen Verhalten der Menschen zu einander und den Sachgütern mit. Kein Gedanke natürlich, daß die empirischen Regelmäßigkeiten des „Kulturlebens“ generell „Projektionen“ von „Rechtsregeln“ bildeten. Aber der „Regel“-Charakter des Rechts kann empirische Regelmäßigkeiten zur „adäquaten“ Folge haben. Er ist dann ein kausales Element für diese empirische Regelmäßigkeit neben andern. Daß er eine höchst wichtige Determinante in dieser Richtung ist, beruht natürlich darauf, daß die empirischen Menschen normalerweise „vernünftige“, d. h. (empirisch betrachtet) der Erfassung und Befolgung von „Zweckmaximen“ und des Besitzes von „Normvorstellungen“ fähige Wesen sind. Darauf beruht es, daß rechtliche „Regelung“ ihres Verhaltens unter Umständen mehr an empirischer „Regelmäßigkeit“ dieses letzteren zu erzwingen vermag, als die ärztliche „Regelung“ der Verdauung eines Menschen an physiologischer „Regelmäßigkeit“ zu erreichen imstande ist. Allein sowohl die Art wie das Maß, in welchem die empirisch (als „Maxime“ bestimmter Menschen) vorhandene „Rechtsregel“ als kausale Determinante empirischer Regelmäßigkeiten anzusprechen ist, wechselt – wo es überhaupt zutrifft – von Fall zu Fall und ist durchaus nicht generell bestimmbar. Sie ist für das empirisch „regelmäßige“ Erscheinen des Kanzlisten auf seinem Bureau in ganz andrer Art und ganz andrem Grade die entscheidende Ursache, wie für das empirisch regelmäßige Erscheinen des Metzgers, oder wie für die empirischen Regelmäßigkeiten in der Art der Disposition eines Menschen über Geld- und Gütervorräte, die er in seiner faktischen Verfügung hat, oder für die Periodizitäten der mit „Krisen“15)[567][A 147] Es wird hier von einer Analyse des empirischen Gehalts der diesen Begriffen entsprechenden Tatbestände abgesehen.60[567] Vgl. Sombart, Wirtschaftskrisen (wie oben, S. 139, Anm. 36). und „Arbeitslosigkeit“ bezeichneten Erscheinun[568]gen oder der „Preis“-Bewegungen nach den Ernten, oder für die Geburtenziffern bei steigendem „Vermögen“ oder steigender intellektueller „Kultur“ bestimmter Menschengruppen. Und da die [A 148]„Wirkung“ der Tatsache, daß ein bestimmter „Rechtssatz“ empirisch neu „geschaffen“ wird, d. h. aber, daß in einer spezifischen Art und Weise, welche eine empirische Vielheit von Menschen gewohnt isth[568]A: sind, als die für die „Fixierung“ von Rechtsregeln übliche und für sie verbindliche anzusehen, ein diesen ihren Gewohnheiten entsprechender „symbolischer“ Vorgang sich vollzieht, – da die „Wirkung“ dieser Tatsache auf das faktische Verhalten dieser und anderer von ihneniA: ihren in ihrem Verhalten beeinflußbarer Menschen der erfahrungsmäßigen „Kalkulation“ im Prinzip ganz ebenso zugänglich ist, wie die Wirkung beliebiger „Naturtatsachen“, so sind auch generelle Erfahrungssätze über diese „Wirkungen“ durchaus im gleichen Sinn wie andre Sätze nach dem Schema: auf x folgt y, möglich – und uns allen aus dem Alltagsleben der Politik geläufig. Diese empirischen „Regeln“, welche die adäquate „Wirkung“ der empirischen Geltung eines Rechtssatzes aussagen, sind, logisch betrachtet, natürlich die äußersten Antipoden jener dogmatischen „Regeln“, welche als gedankliche „Konsequenz“ ganz desselben Rechtssatzes, wenn er als Objekt der „Jurisprudenz“ behandelt wird, entwickelt werden können. Und dies, obwohl beide in gleicher Art von der empirischen „Tatsache“, daß eine Rechtsregel bestimmten Gehalts als geltend angesehen wird, ausgehen, weil eben beide alsbald gänzlich heterogene gedankliche Operationen mit dieser „Tatsache“ vornehmen. – Man kann nun eine „dogmatische“ Betrachtung „formal“ nennen, weil sie in der Welt der „Begriffe“ bleibt, – dann ist als Gegensatz dazu aber gemeint: „empirisch“ im Sinn der kausalen Betrachtung überhaupt. Nichts steht andrerseits im Wege, die empirisch-kausale „Auffassung“ der „Rechtsregeln“ eine „naturalistische“ zu nennen im Gegensatz zu ihrer Behandlung in der juristischen Dogmatik. Nur muß man sich darüber klar sein, daß dann als „Natur“ die Gesamtheit alles empirischen Seins überhaupt bezeichnet ist,61[568] Zum Begriff Natur vgl. oben, S. 527 ff., 542 und 546. daß also z. B. alsdann auch die „Rechtsgeschichte“, logisch betrachtet, eine [569]„naturalistische“ Disziplin ist, weil auch sie die Faktizität der Rechtsnormen, nicht ihren idealen Sinn, zum Objekt hat16)[569][A 148] Die gedanklichen Operationen der „Rechtsgeschichte“ sind im übrigen zuweilen, wie nur beiläufig bemerkt sein mag, logisch keineswegs so einfach zu klassifizieren, wie es zunächst scheint. Was heißt es z. B., empirisch betrachtet, daß ein bestimmtes Rechtsinstitut in einer bestimmten Vergangenheit „galt“, da doch die Tatsache, daß das Prinzip sich mit Symbolen aus Druckerschwärze in einem als „Gesetzbuch“ überlieferten Faszikel aufgedruckt findet, zwar ein höchst wichtiges, aber nicht notwendig das allein entscheidende Symptom dafür ist, oft aber auch diese Erkenntnisquelle gänzlich fehlt, die überdies ja immer der „Interpretation“ und „Anwendung“ auf den konkreten Fall bedarf, deren Art wiederum problematisch sein kann? Es ließe sich der logische „Sinn“ jenes „Ge[A 149]goltenhabens“ im Sinn der Rechtsgeschichte wohl in dem hypothetischen Satze ausdrücken, daß, wenn damals ein „Jurist“ um die Entscheidung eines Interessenkonflikts nach Rechtsregeln bestimmter Art angegangen worden wäre, nach den uns, gleichviel aus welchen Quellen, als faktisch vorherrschend bekannten, juristischen Denkgewohnheiten eine Entscheidung bestimmten Inhaltes mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten gewesen wäre. Aber wir werden nur allzu leicht geneigt sein, die Frage zu stellen, nicht, wie „hätte“ der Richter wahrscheinlich faktisch entschieden? sondern: wie „hätte“ er gegebenenfalls entscheiden sollen? also eine dogmatische Konstruktion in die empirische Betrachtung hineinzutragen. Dies um so mehr, als 1) wir tatsächlich eine solche Konstruktion als „heuristisches Mittel“ gar nicht entbehren können: wir verfahren ja ganz regelmäßig unwillkürlich so, daß wir zuerst die historischen „Rechtsquellen“ unsrerseits dogmatisch interpretieren und alsdann erforderlichen- und möglichenfalls das historisch-empirische Gegoltenhaben dieser unsrer Interpretation an den „Tatsachen“ (überlieferten Urteilen etc.) „erproben“. Und 2) müssen wir, um überhaupt zu einer Feststellung des „Gegoltenhabens“ zu gelangen, sehr häufig, ja regelmäßig[,] unsre Interpretation als ein Darstellungsmittel benützen, indem sonst eine in sich zusammenhängende Wiedergabe historischen Rechtes gar nicht in verständlicher Form möglich wäre, weil ein fester eindeutiger und widerspruchsloser juristischer Begriff empirisch gar nicht entwickelt oder nicht allgemein akzeptiert war (man denke an die „Gewere“63 Vgl. [Art.] Gewere, in: Neues Konversations-Lexikon für alle Stände, Band 7. – Hildburghausen: Verlag des Bibliographischen Instituts 1858, S. 625: „Gewere (Gewehre, Gewäre, Gewähre, Were, warandia), in der ältern deutschen Rechtssprache der Schutz, welchen der Richter Jemandem in Beziehung auf Sachen gewährte, oder das von dem Richter geschützte Verhältniß einer Person zu einer Sache.“ Vgl. auch Heusler, Andreas, Die Gewere. – Weimar: Hermann Böhlau 1872. in gewissen mittelalterlichen Quellen). Wir werden in diesem letztgenannten Fall natürlich sorgsam zu konstatieren suchen, inwieweit die eine oder die mehreren von uns als möglich entwickelten „Theorien“ dem empirischen „Rechtsbewußtsein“ der Zeitgenossen entsprechen, – die eigene „Theorie“ dient uns nur als provisorisches Schema der Ordnung. Aber das „Rechtsbewußtsein“ der Zeitgenossen ist eben ganz und gar nicht notwendig etwas eindeutig, noch weniger etwas in sich widerspruchlos Gegebenes. In jedem Fall verwenden wir unsre dogmatische Konstruktion als „Idealtypus“ in dem von mir in diesem Archiv Band XIX, Heft 1 entwic[570]kelten Sinn.67 Vgl. Weber, Objektivität, oben, S. 203 ff.; 1904 im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ erschienen. Ein solches Gedankengebilde ist nie Endpunkt der empirischen Erkenntnis, sondern stets entweder heuristisches oder Darstellungs-Mittel (oder beides). Ähnlich funktioniert nun, nach dem oben Entwickelten, eine rechtshistorisch, also für einen räumlich-zeitlichen Geschichtsausschnitt, als empirisch „geltend“ festgestellte „Rechtsregel“ ihrerseits wieder als „Idealtypus“ des faktischen Verhaltens der von ihr potentiell erfaßten Menschen: wir gehen von der Wahrscheinlichkeit aus, daß das faktische Verhalten der betreffenden Zeitgenossen ihr sich wenigstens bis zu einem gewissen Grade angepaßt habe und „erproben“ erforderlichen- und möglichenfalls die Hypothese des Bestehens der entsprechenden „Rechtlichkeitsmaxime“ bei den Zeitgenossen an den „Tatsachen“. Eben daher rührt ja das so häufige Einstehen der „Rechtsregel“ für die empirische „Regelmäßigkeit“ und der juristischen Termini für ökonomische Tatbestände..

[A 149]Wir unterlassen es, hier auch noch die „Konventionalregel“, auf deren Begriffsbestimmung durch Stammler wir bald zu sprechen zu [A 150]kommen haben,62[569] Nicht belegt. zu analysieren und in ähnlicher Art zu den [570]faktischen „Regelmäßigkeiten“ in Beziehung zu setzen. „Regel“ im Sinn eines Imperativs und empirische „Geregeltheit“ sind hier ebenso himmelweit logisch verschiedene Dinge wie bei der „Rechtsregel“. Und für eine Betrachtung, welche empirische Regelmäßigkeiten zum Objekt hat, ist die „Konventionalregel“ ganz im gleichen Sinn eine der kausalen Determinanten, die sie in ihrem Objekt vorfindet, wie die „Rechtsregel“ und gleich wenig „Form“64[570] Vgl. Stammler, Wirtschaft2, S. 112 ff. des Seins oder „Formalprinzip“65 Vgl. ebd., S. 69. des Erkennens wie diese. –

Der Leser wird ohnedies unsrer umständlichen Darlegungen von absoluten Selbstverständlichkeiten – zumal ihre Formulierung vorstehend noch höchst grobschlächtig und wenig präzis, weil, wie gesagt, nur provisorisch ist, – längst satt sein. Aber er wird sich überzeugen müssen, daß die Sophismen des Stammlerschen Buchs eben leider zu diesen Distinktionen nötigen, weil alle paradoxen „Effekte“, die er erstrebt und erzielt, u. a. auch auf der steten Ineinandermischung von „regelmäßig“, „geregelt“, „rechtlich geregelt“, „Regel“, „Maxime“, „Norm“, „Rechtsregel“, – „Rechtsregel“ als Objekt begrifflich-juristischer Analyse, „Rechtsregel“ als empirische Erscheinung, d. h. kausale Komponente menschlichen Handelns, beruhen. „Sein“ und „Sollen“, „Begriff“ und „Begriffenes“ wirbeln dabei stets – wie wir es ja von ihm schon kennen – durcheinander, von der, wie sich zeigen wird,66 Vgl. Weber, Nachtrag zu Stammler, unten, S. 592 ff. stets wiederholten Vermischung der verschiedenen Bedeutungen, in denenj[570]A: dem die „Regel“ [571]„Voraussetzung“ ist, ganz zu schweigen. Stammler selbst freilich würde, bei etwaiger Lektüre dieser Zeilen, wahrscheinlich geneigt sein, mit Emphase darauf hinzuweisen, daß all das oder doch fast all das, was hier weitläufig auseinandergesetzt ist, sich an den verschiedensten Stellen seines Buchs als richtig zugestanden, manches ausdrücklich betont finde. Wiederholt habe er insbesondere sehr nachdrücklich gesagt, daß man selbstverständlich die „Rechtsordnung“ ebenso gut zum Gegenstand einer rein kausalen wie einer „teleologischen“ Fragestellung machen könne. Gewiß! – wir werden das selbst zu konstatieren haben. Aber, ganz abgesehen von den Halbheiten, die dabei, wie sich zeigen wird, mit unterlaufen, wird sich vor allem auch hier wieder ergeben: daß er selbst diese einfachen Wahrheiten mit ihren ebenso einfachen Konsequenzen an andren, und zwar grade an den entscheidenden Stellen seines Buchs vollkommen vergessen hat. Diese Vergeßlichkeit kam freilich dem „Effekt“ seines Buches sehr zustatten. Würde er nämlich z. B. von Anfang an klipp und klar gesagt haben, daß es ihm allein auf das Seinsollende ankomme, daß er ein „formales“ Prinzip aufzeigen wolle, welches dem Gesetzgeber auf die Frage de lege ferenda,68[571] Lat. (Rechtssprache): nach dem zu erlassenden Gesetz. dem Richter in den Fällen, wo an sein billiges „Ermessen“ appelliert ist, einen Wegweiser in die Hand geben solle, – dann hätte ein solcher Versuch, wie man auch über den Wert der gegebenen Lösung denken [A 151]möge, sicherlich ein gewisses Interesse erregt. Aber für die empirische „Sozialwissenschaft“ wäre er dann alsbald als absolut irrelevant kenntlich gewesen[,] und Stammler hätte, vor allen Dingen, jene breiten und dabei doch unpräzisen Auseinandersetzungen über das Wesen des „sozialen Lebens“ gar nicht zu schreiben Anlaß gehabt, deren Kritik wir uns nunmehr zuwenden, um dabei zugleich den bisher nur ganz provisorisch umrissenen Gegensatz empirischer und dogmatischer Betrachtungsweise weiter zu analysieren.k[571] In A folgt: (Ein weiterer Artikel folgt.)69 Ein weiterer Artikel Webers zu Stammler ist nicht im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ erschienen. Ein „Nachtrag“ wurde postum von Marianne Weber veröffentlicht; vgl. Weber, Nachtrag zu Stammler, unten, S. 572–617.