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MWG digital

Die digitale Max Weber-Gesamtausgabe.

[572]Editorischer Bericht

I. Zur Entstehung

Max Webers Beitrag mit dem Titel „R. Stammlers ,Überwindung‘ der materialistischen Geschichtsauffassung“ wurde Anfang 1907 in Heft 1 des 24. Bandes des „Archiv[s] für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ publiziert.1[572] Weber, Stammler, oben, S. 481–571. Er endet mit dem Hinweis: „(Ein weiterer Artikel folgt.)“2 Ebd., oben, S. 571. Dieser weitere Artikel ist zu Webers Lebzeiten nicht mehr erschienen. Es fand sich aber im Nachlaß ein Manuskript, das im Zusammenhang damit entstanden sein dürfte3 Davon zeugen eine Reihe von Rückverweisen auf den veröffentlichten Aufsatz, vgl. dazu unten, S. 580 mit Anm. 14 („Diplomatie der Unklarheit“); S. 591 mit Anm. 61 („,äußere‘ Normen“); S. 591 mit Anm. 62 („Spielregeln“); S. 592 mit Anm. 64 („,Der Gegenstand der Sozialwissenschaft‘“); S. 593 mit Anm. 68 („Regel“); S. 597 mit Anm. 74 (nochmals; „Diplomatie der Unklarheit“); S. 598 mit Anm. 79 („,Triebfeder‘“/„,die Regel‘“); S. 599, Fn. 9 mit Anm. 84 (direkter Verweis mit Seitenblockade); S. 605 mit Anm. 6 („Satzungen“); S. 614 f. mit Anm. 31 („In den früheren Abschnitten“ und „Natur“-Begriffe). Umgekehrt fanden sich im Stammler-Aufsatz Vorausverweise auf die Fortsetzung, vgl. dazu den Editorischen Bericht zu Weber, Stammler, oben, S. 485 mit Anm. 34. und das von Marianne Weber in den „Gesammelte[n] Aufsätze[n] zur Wissenschaftslehre“ nach Webers Tod als „Nachtrag“ zu seiner Kritik an Stammler veröffentlicht wurde.4 Vgl. Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1922, S. 556–579. – Während der Drucklegung zu diesem Band teilte Marianne Weber dem Verleger Werner Siebeck am 30. Juni 1922 mit: „Ich finde im Schreibtisch meines Mannes noch die einliegenden Blätter, eine Fortführung des methodologischen Aufsatzes gegen R. Stammler. Nach meiner Prüfung ist dieses Manuskript ganz gut zu setzen, besser als viele Teile von ,Wirtschaft und Gesellschaft‘. Leider habe ich nicht rechtzeitig daran gedacht[,] die Sache zu prüfen – ich hatte sie ganz vergessen – so daß sie nun nicht mehr als unvollendete Fortführung des betr. Aufsatzes, wohl aber m. E.s am Schluß sämmtlicher Aufsätze als ,Anhang‘ gedruckt werden kann. Das Manuskript enthält zweifellos noch wertvolle Gedanken, die man nicht verloren gehen lassen sollte.“ Vgl. Brief von Marianne Weber an Werner Siebeck vom 30. Juni 1922, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), A 0703, 29. Dankend antwortete Oskar Siebeck am folgenden Tag: „Es ist mir eine grosse Freude, dass der Sammelband durch diesen [573]wertvollen Fund, den Sie im Schreibtisch Ihres Mannes gemacht haben, eine derartige Bereicherung erfährt.“ Vgl. Karte von Oskar Siebeck an Marianne Weber vom 1. Juli 1922, ebd. Wenige Tage später meldete sich Werner Siebeck mit der Mitteilung: „[…] wie ich an Hand der Korrektur des Aufsatzes über Stammler nachgeprüft habe, ist der Nachtrag, den Sie mir zu diesem Aufsatz am vergangenen Samstag übersandten, in dem Aufsatz noch nicht enthalten.“ Vgl. Brief von Werner Siebeck an Marianne Weber vom 4. Juli 1922, ebd.

[573]Der Briefwechsel Webers aus dem Jahr 1907 unterstützt diese Vermutung, daß es sich hier tatsächlich um einen Teil der im Stammler-Aufsatz angekündigten Fortsetzung handelt. Denn am 5. März 1907 teilte Oskar Siebeck Weber mit: „Herr Dr. Jaffé, der uns gestern besuchte, sagte mir, Sie hätten die Fortsetzung Ihrer Kritik des Stammler’schen Buches so gut wie fertig. Wie Sie wissen, kann sie ja leider erst im Juliheft des Archivs kommen. Im Einverständnis mit Herrn Dr. Jaffé möchte ich Sie aber doch schon jetzt bitten, uns Ihr Manuskript möglichst bald zu schicken, damit die Druckerei bei Zeiten darüber verfügen kann. Sie kann dann eher wieder einen guten Setzer hineinstellen.“5 Brief von Oskar Siebeck an Max Weber vom 5. März 1907, ebd., K. 232. Weber antwortete am 7. März 1907: „Es ist leider ein Irrtum, daß mein Mscr. (Stammler-Rezension) ,so gut wie fertig‘ sei. Da ich sah, daß kein Platz sein würde, habe ich ganz andre Dinge getrieben. Es wird nicht vor Ende April möglich sein, das Mscr. zu liefern.“6 Karte von Max Weber an Oskar Siebeck vom 7. März 1907, MWG II/5, S. 269. Am 9. März 1907 schrieb Oskar Siebeck an Weber: „Wenn das Manuskript für die Fortsetzung Ihrer Stammler-Recension bis Ende April in unseren Händen ist, haben wir immer noch reichlich Zeit, um es in Ruhe setzen zu lassen.“7 Brief von Oskar Siebeck an Max Weber vom 9. März 1907, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), K. 232. Doch Weber lieferte nicht.

Daß er seine Kritik an Stammler gleichwohl fortsetzen wollte, geht aus zwei späteren Briefen hervor. Am 30. Oktober 1908 schrieb er Hermann Kantorowicz zu dessen Aufsatz über die Lehre vom richtigen Recht,8 Kantorowicz, Hermann, Die Lehre vom Richtigen Recht, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Band 2, 1908, S. 42–74. „daß ich in der vorliegenden Frage durchaus Ihrer Ansicht bin und mich sehr freue, bei der Fortsetzung meiner Analyse von Stammler (an der ich durch Krankheit, dann durch andre Arbeiten gehindert wurde) nun der Aufgabe, den Unfug des ,richtigen Rechts‘ auch noch totzuschlagen, durch die gründliche Arbeit eines Berufeneren enthoben bin“.9 Brief von Max Weber an Hermann Kantorowicz vom 30. Okt. 1908, MWG II/5, S. 690 f., hier S. 690. Am 11. Mai 1909 teilte er Heinrich Herkner mit, daß er den Vorsitz der Deutschen Gesellschaft für Soziologie auch darum nicht übernehmen könne, weil dieses Amt ihn zu „Rücksichten“ zwingen würde, die er zu nehmen „nicht bereit“ wäre: „Ich beabsichtige mich immer ausschließlicher der wissenschaftlichen Kritik zuzuwenden. Dabei muß ich [574]Leute wie Stammler, Ostwald, Lamprecht, Vierkandt, auch Simmel, mit der größten sachlichen Rücksichtslosigkeit angreifen, mit einer solchen, die – möge ich auch (was ich bei Stammler aus guten Gründen nicht that) die denkbar höflichste Form wählen, – hie und da Verstimmungen erzeugen kann, jedenfalls aber mich in jedem Fall als (methodisch-wissenschaftlichen!) Parteimann stempelt, der ich auch sein will.“10[574] Brief von Max Weber an Heinrich Herkner vom 11. Mai 1909, MWG II/6, S. 121-123, hier S. 121 f. Weber setzte sich auch weiterhin mit Stammler auseinander, was in seine Auffassung von Soziologie und in seine Rechtsoziologie einfloß.11 Vgl. Gephart, Werner, Einleitung, in: MWG I/22–3, S. 1–133. hier S. 9 ff. Hinweise auf die geplante Fortschreibung seiner Rezension finden sich allerdings keine mehr.

1914 erschien die dritte Auflage von Stammlers „Wirtschaft und Recht“,12 Stammler, Rudolf, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung. 3., verbesserte Auflage. – Leipzig: Veit & Comp. 1914 (hinfort: Stammler, Wirtschaft3). Die 4. Auflage erschien 1921, die 5. Auflage 1924. in der dieser in den Anmerkungen auch auf Webers „Rezension“ der zweiten Auflage zu sprechen kam.13 Ebd., S. 670: „Der Leser dieser Rezension wird finden, daß sie kein Muster einer klaren Widerlegung ist.“ Tatsächlich hatten auch andere Probleme mit der Lektüre. Vgl. Weber, Marianne, Lebensbild, S. 369: „Rickert findet den Aufsatz sehr schwer und sagt, es sei ein Jammer, daß Du Deine ganze Philosophie im Archiv ablagertest und es dem Leser so schwer machst, etwas davon zu haben. Siehst Du, alle sagen dasselbe.“ Wie ein Brief an Paul Natorp, dem „Wirtschaft und Recht“ zugeeignet war, erhellt, nahm Stammler Weber offenbar nicht ernst: „Die 3. Aufl. […] wirst Du nun erhalten haben. Ich denke, Du wirst auch die Anmerkungen mit dem Behagen lesen, mit dem sie geschrieben worden sind und den zwischen den Zeilen steckenden Humor gerne begrüßen. Max Weber erweist sich bei näherem Zusehen als unfertiger Empirist durchschnittlichster Art, der von der kritischen Methode keine Ahnung hat“. Vgl. Brief von Rudolf Stammler an Paul Natorp vom 25. Mai 1914, UB Marburg, HS 831 : 403. Nach kurzer Vorstellung und Entgegnung stellte Stammler fest: „Die besprochene Rezension bricht nach dem ersten Artikel ab. Sie ist unvollendet geblieben.“14 Stammler, Wirtschaft3 (wie oben, S. 574, Anm. 12), S. 673. Als Weber am 8. November 1919 Paul Siebeck fragte, ob er „eine Sammlung der methodologisch-logischen Aufsätze für richtig“ halte, führte er auch seine „Auseinandersetzung“ mit „Stammler“ auf. Von einer Fortsetzung sprach er dabei nicht.15 Brief von Max Weber an Paul Siebeck vom 8. Nov. 1919, MWG II/10, S. 833 f., hier S. 833. Vgl. bereits Brief von Max Weber an Paul Siebeck vom 24. Mai 1917, MWG II/9, S. 648 f.

[575]II. Zur Überlieferung und Edition

Dem Abdruck liegt das Originalmanuskript Max Webers zugrunde, das sich im Deponat Max Weber, Bestand BSB München, Ana 446 (vormals Privatbesitz Wolfgang J. Mommsen, Düsseldorf),16[575] Wolfgang J. Mommsen teilte in einem Schreiben an Horst Baier vom 4. Juli 1979 (Kopie Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München) mit, daß er die „Manuskriptteile des Stammler-Aufsatzes“ – neben Korrekturfahnen zu „Wirtschaft und Gesellschaft“, der „Protestantischen Ethik“ sowie der „Vorbemerkung“ zu GARS I und „Teilen des Konfuzianismus“ – „vermutlich im Winter 1957“ bei einem Besuch bei Alfred Weber und Else Jaffé in Heidelberg erhalten habe. „Bei dieser Gelegenheit händigte mir Else Jaffé beim Weggehen in der Diele, gleichsam als Ersatz dafür, daß ,hardware‘ für meine damaligen Fragen nicht zu haben war, einige Weber-Überreste aus“. – Die Witwe von Wolfgang J. Mommsen hat die Originale Ende 2015 dem Akademie-Deponat in der Bayerischen Staatsbibliothek übergeben. befindet (A). Es ist auf Blatt 1 von der Hand Marianne Webers mit der Überschrift „Nachtrag zu dem Aufsatz über R. Stammler’s ,Überwindung‘ der materialistischen Geschichtsauffassung“ versehen und diente als direkte Druckvorlage für den postumen Abdruck17 Vgl. Brief von Werner Siebeck an Marianne Weber vom 4. Juli 1922, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Nl. 488 (Archiv des Verlages Mohr Siebeck), A 0703, 29: „Ich gebe das Manuskript sofort in Satz und lasse Ihnen davon Fahnenkorrektur zugehen.“ in: Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, [hg. von Marianne Weber]. – Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1922, S. 556–579. Dort merkt die Herausgeberin auf S. 556 an: „Diese Fortsetzung des Aufsatzes fand sich im Nachlaß des Verfassers.“

Das Originalmanuskript umfaßt 23 Blätter, die von der Hand Marianne Webers ab Blatt 2 durchnummeriert sind. Die Blätter sind in einen Doppelbogen eingelegt, der nur auf der Vorderseite beschrieben ist. Unterhalb einer gestrichenen Textpassage Max Webers findet sich dort der Zusatz von der Hand Marianne Webers (mit blauem Stift): „Nachtrag zu Stammler / Ob schon gedruckt ist zu prüfen“. Die Manuskriptblätter sind von Max Weber vorderseitig mit schwarzer Tinte beschrieben, die Blätter 2 und 3 tragen auf der Rückseite gestrichene Textpassagen.18 Vgl. den Abdruck der gestrichenen Passagen im Anhang zum Editionstext, unten, S. 618 f. Blatt 5 und Blatt 6 sind durch angeklebte Allongen erweitert. Der Text enthält viele Streichungen, Einfügungen und Ergänzungen, zumeist am linken Blattrand. Im Manuskript finden sich auch Zusätze von dritter Hand, wie „Fahnen!“ (auf Bl. 1), „Fahnen-Korr.?“ und „An den Schluss von 10 / In Fahnen liefern“ (auf der Vorderseite des Doppelbogens), oder auch einige Markierungen und Fragezeichen an schwer lesbaren Stellen, die belegen, daß das Originalmanuskript als direkte Satzvorlage für [576]den postumen Druck diente.19[576] Vgl. dazu die Mitteilungen in der Verlagskorrespondenz oben, S. 572, Anm. 4. Die Veröffentlichung in den „Gesammelten Aufsätzen zur Wissenschaftslehre“ wird nicht berücksichtigt. Zur Orientierung werden aber die Seitenangaben des Erstdrucks unter der Sigle WL am Rand mitgeführt.

Der Text Max Webers wird nach dem Manuskript wiedergegeben. Zeitgenössische, divergierende (z. B. „Causalität“ / „Kausalität“) und Weber-typische Schreibweisen (z. B. „allmählig“) bleiben erhalten. Die Blattzählung von Marianne Weber ist übernommen und als A (1), A 2 etc. sigliert, wobei in zwei Fällen die Vorderseiten als A 2r, A 3r in Abgrenzung zu den Rückseiten (A 2v, A 3v) ausgewiesen sind. Einfügungen Max Webers in den laufenden Text sind nicht ausgewiesen, jedoch werden Einschübe vom Blattrand textkritisch indiziert und Streichungen im textkritischen Apparat nachgewiesen. Die Fußnoten Max Webers, im Original mit Asterisken versehen, sind vom Editor mit arabischen Ziffern fortlaufend nummeriert. Von Weber nicht ausgefüllte Blockaden (Seitenverweise) werden als solche belassen und erläutert.20 Vgl. unten, S. 599, Fn. 9 mit Anm. 84; S. 615 mit Anm. 31 und 32.

Webers explizite Verweise (mit Seitenangabe) auf Stellen in Stammlers Buch werden vollständig dokumentiert.21 Es handelt sich um folgende Seiten: Stammler, Wirtschaft2, S. 52, 77, 83–94, 96–102, 105–108, 321–322, 337, 339–347, 350–352, 355, 358, 368, 371–372, 374–375, 378–379, 641. Im Fall von Zeilenangaben Max Webers werden die entsprechenden Buchzitate mit * (für Zeilenanfang und -ende) kenntlich gemacht. Weiterhin wird das von Weber intensiv bearbeitete Handexemplar22 Das Handexemplar zu Stammler, Wirtschaft2, befindet sich in der Max Weber-Arbeitsstelle, BAdW München. herangezogen und auf Webers An- und Unterstreichungen sowie Randkommentare verwiesen.